Sie müssen sich vorgaukeln, dass nichts passieren wird
Am 23. März wurde in Mexiko durch das Gesundheitsministerium die sogenannte „Nationale Zeit der gesunden Distanz“ (Jornada Nacional de Sana Distancia) ausgerufen. Es geht darum, weitere Ansteckungen mit Covid-19 zu verhindern. Doch in den ärmeren Vierteln und Nachbarschaften, den colonias populares, barrios und vecindades, läuft das Leben normal weiter. Die Märkte sind voll mit Händler*innen, die Kinder spielen in den Straßen, die Kioske, Metzgereien, Geflügelgeschäfte und Tortilla-Läden sind immer noch ein Treffpunkt für Familien und Freund*innen. Händeschütteln, Küsse und Umarmungen überall.
Der Kontrast zu den Vierteln der Mittel- und Oberschicht könnte nicht größer sein. Dort dominieren menschenleere Straßen und geschlossene Tore. Es herrscht Stille. Gut ausgerüstet warten die Familien dort auf das Virus SARS-Cov-2, welches die Erkrankung Covid-19 verursacht. Sie sind sich der Pandemie voll bewusst, die bis zum jetzigen Zeitpunkt bereits weltweit eine halbe Million Infizierte und 30.000 Tote verursacht hat. Vor allem aber haben diese Familien die Möglichkeit, sich zu schützen und wochen- oder monatelang mit gut gefüllten Vorräten auszuharren.
Ein Sturm zieht auf, aber viele scheinen das nicht wahrhaben zu wollen. Täglich werden mehr positiv Getestete des Coronavirus in Mexiko gemeldet. Und doch ist es bei einem großen Teil der Bevölkerung üblich, von der „Lüge" des Coronavirus zu sprechen. In den Vierteln der Unterschicht gibt es diejenigen, die voller Überzeugung argumentieren, dass alles nur ein großer Mythos sei und schon nichts passieren werde. Das hat nicht nur mit der äußerst widersprüchlichen Informationspolitik der Regierung des mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zu tun. Denn ungeachtet der Einschätzungen und Aufforderungen der Mächtigen müssen sich die Armen dieses Landes einreden, dass es nichts zu befürchten gäbe. Die Ungeschützten versuchen, ihren Glauben daran zu nähren, dass die angekündigte und absehbare Tragödie nicht kommen wird. Und tatsächlich haben sie auch keine andere Wahl. Wie sollten sie auch akzeptieren, dass die Gefahr auf der Straße liegt, wenn sie nicht aufhören können, hinauszugehen.
Nach Angaben des Nationalen Instituts für Statistik und Geographie (Instituto Nacional de Estadística y Geografía - Inegi) sind 57 Prozent der mexikanischen Arbeiter*innen informell beschäftigt. In der Sprache der Neoliberalen werden diese prekären, verarmten und völlig ungeschützten Arbeiter*innen emprendedores (Unternehmer*innen) genannt. Nach Jahrzehnten wachsender Ungleichheit in Mexiko, kann die überwiegende Mehrheit der Arbeiter*innen keinerlei Arbeitsrechte beanspruchen. Für sie gibt es keine Sozialversicherung, keine Altersvorsorge, keine Gesundheitsfürsorge und keine der gesetzlichen Sozialleistungen. Sie haben nicht einmal ein Gehalt. Sie verdienen das, was sie tagtäglich verkaufen und herstellen. Es gibt kein Morgen.
„Wovon sollen wir denn leben? Was werden wir essen?“, hört man diejenigen sagen, die sich um die Stände in den überfüllten Märkten kümmern; diejenigen, die jeden Morgen in den Gemüseläden die Vorhänge aufziehen, diejenigen, die schon am frühen Morgen ihre Töpfe mit tamales (traditionelles Gericht aus Maisteig) auf die Straße tragen, die Taxifahrer*innen ohne eigenes Auto, die beim Taxiunternehmer erst „die Quote“ abtreten und dann den ganzen Tag arbeiten müssen, um für sich und ihre Familien wenigstens ein wenig Geld zu verdienen, die Ärzt*innen, die von den Apotheken im Akkord „angestellt“ werden und ihre verarmten Patient*innen in schmutzigen und verrosteten Räumen, die sie consultorios nennen, behandeln. Dazu kommen noch diejenigen, die der Markt ausgespuckt hat und die von dem leben, „was der Tag so bringt“. Ganz zu schweigen vom Lumpenproletariat: die Menschen ohne Zuhause, die Migrant*innen auf dem Weg nach Norden; diejenigen, die nicht einmal mehr ihre Identität besitzen. Das Schlimmste ist, dass viele von ihnen zum der durch Covid-19 am stärksten gefährdeten Bevölkerungsteil zählen. Es handelt sich um ältere Erwachsene, die unterernährt sind oder an Diabetes und erhöhtem Blutdruck leiden. Für sie gibt es keinen Ausweg. Sie haben die „Freiheit“ zu wählen, nichts zu essen oder zu erkranken.
Die Pandemie hat in Mexiko zunächst Kreise der Oberschicht erfasst. Und doch können wir bereits jetzt sagen, wo sie die größten Verwüstungen anrichten wird. Über den Armenvierteln leuchtet die Sonne in einem klaren, wolkenlosen Himmel. Eine kühle Brise lässt manche Menschen die Augen schließen. Was sie hören, ist das Donnern eines Sturms. Trotzdem müssen sie sich vorgaukeln, dass nichts passieren wird.
Übersetzung von Alexander Gorski.
Anmerkungen
Zósimo Camacho ist investigativer Journalist und arbeitet bei dem mexikanischen Magazin Contralínea. Dort erschien dieser Artikel im Original am 27. März 2020. Zum besseren Verständnis wurde der Text für die deutsche Fassung an einigen Stellen durch Alexander Gorski leicht abgewandelt. Die obige Grafik zeigt die ungefähre Infektionsrate je 100.000 Einwohner*innen in den unterschiedlichen Bundesstaaten Mexikos (Stand 26.03.2020).