re:volt magazine Archivhttps://revoltmag.org/articles/?2023-10-18T18:05:23.878270+00:00Kalaschnikow und Olivenzweig2023-10-18T18:05:23.878270+00:002023-10-18T18:05:23.878270+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kalaschnikow-und-olivenzweig/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Kalaschnikow und Olivenzweig</h1>
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<img alt="Olivenzweig" height="420" src="/media/images/IMAGE_2023-10-18_205140.2e16d0ba.fill-840x420-c100.jpg" width="840">
<span class="content-copyright">Jeremy Perkins</span>
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<div class="rich-text"><p>Ich bin, seit ich politisch denken kann, ein pro-palästinensisch eingestellter Linker und werde das bis zur Befreiung Palästinas auch bleiben. Dennoch befremdet mich, wie derzeit im pro-palästinensischen linken Lager mit der militärischen Aktion vom 7. Oktober 2023 unter der Führung der Hamas, dem Al-Aqsa-Sturm, umgegangen wird. Unter Bezugnahme auf die Angaben der israelischen Regierung (ich sehe derzeit keinen Grund, Gegenteiliges anzunehmen) von rund 1000 getöteten Nichtkombatant*innen und etwa 300 getöteten Sicherheitskräften muss die Aktion ganz offensichtlich als eine terroristische eingestuft werden. Mehr noch könnte man schon fast argumentieren, dass Sicherheitskräfte per Zufall am Rande der Massenerschießungen <i>auch</i> <i>mit</i>getötet wurden, und nicht Hauptziel waren.</p><p>Ideologie wie Diskurs der Hamas triefen vor ganz klassischem Antisemitismus, wie üblich für reaktionäre islamistische Organisationen. Ich habe mir zahlreiche kaum erträgliche Bodycam-Videos der Aktion, fast alle von der Hamas selbst veröffentlicht, angeschaut. Diese und die oben erwähnten Zahlen zusammen lassen den Schluss zu, dass einfach wahllos Massenmord betrieben wurde, der durch seine differenzlose Ausrichtung gegen Jüd*innen meines Ermessens nach auch als genozidal-antisemitisch in der Intention charakterisiert werden kann – wenn auch natürlich nicht in der Realität, da die Hamas keine Mittel hat, um einen Genozid zu verüben.</p><p>Natürlich hieß kaum eine pro-palästinensische Linke diese Aktionsform im Konkreten gut. Stattdessen wurde an vielen Stellen recht allgemein das Recht des palästinensischen Widerstands verteidigt und das israelische Vorgehen beziehungsweise die Kolonialgeschichte skandalisiert. Aber kaum eine pro-palästinensische Linke kritisierte die konkrete Aktionsform explizit oder präsentierte eine linke Alternative, die dagegen in den Vordergrund zu rücken sei. Ich wende mich gegen diesen Umgang mit der aktuellen Situation.</p><h2><b>Der Terrorismus der Guten</b></h2><p>Ich bin der Ansicht, die meisten Linken im pro-palästinensischen Lager sind sich derzeit nicht ganz bewusst, was sie mit ihrem Schweigen oder ihrem Ausweichen bewirken. Vielleicht sind sie auch darauf bedacht, nicht selbst eine koloniale Mentalität einzunehmen, also den Unterdrückten die Widerstandsform vorzuschreiben oder ähnliches. Hinzu kommt, dass im Mainstream des Westens mit inquisitorischem Eifer pro-Israel-Propaganda betrieben und vor und während jeder Kritik – wenn überhaupt eine geäußert wird – und Meinungsäußerung so eine Art permanente katholische Beichte abverlangt wird, dass man natürlich die Hamas total schlimm findet. Bezeichnend hierfür der Umgang mit Husom Zomlot, dem palästinensischen Botschaftes in UK, zuerst <a href="https://twitter.com/hzomlot/status/1710750718024409484">bei Christiane Amanpour</a> und <a href="https://twitter.com/hzomlot/status/1711105509900566905">dann nochmal</a> und <a href="https://twitter.com/hzomlot/status/1711387200804315348">dann nochmal</a>.</p><p>Hinsichtlich des Vorgehens der Israel Defense Forces (IDF), die – sogar <a href="https://www.telegraph.co.uk/world-news/2023/10/11/israel-abandon-precision-bombing-eliminate-hamas-officials/">explizit</a>, <a href="https://www.dailymail.co.uk/news/article-12634915/Were-giving-people-opportunity-leave-Gaza-Hamas-didnt-families-slaughtered-beds-Israeli-diplomat-defends-militarys-response-terror-atrocity-2-750-killed-Palestine.html">teils</a> mit Verweis auf die Bombardierung deutscher Städte durch die Royal Airforce im Zweiten Weltkrieg, also mittels <a href="https://www.ndtv.com/world-news/israel-hamas-war-israel-gaza-war-naftali-bennett-you-serious-were-fighting-nazis-israel-ex-pm-on-gaza-siege-question-4476869">Relativierung des deutschen Faschismus</a> – im Ausmaß der Zerstörung und des wahllosen Massenmords den Terror der Hamas bei weitem übertrifft, ist dies <a href="https://www.lrb.co.uk/the-paper/v45/n20/judith-butler/the-compass-of-mourning">natürlich nicht der Fall</a>. Die weltweit unerbittlichste Massenbelagerung und der weltweit abscheulichste Revanchismus der letzten Jahrzehnte wird gerade seitens des israelischen Staates über den Gaza-Streifen <a href="https://www.newyorker.com/news/q-and-a/the-humanitarian-catastrophe-in-gaza">entfesselt</a> – und doch ist dieser Furor tagelang kaum mehr wert als eine Randnotiz im Liveticker der Nachrichtenagenturen à la „die UN warnt, es könne zu einer humanitären Katastrophe im Gaza kommen“. Es ist eben das legitime Selbstverteidigungsrecht Israels. Zivilisatorische Barbarei at its peak.</p><p>Was Israel-Palästina angeht, wird dann im besten Fall von einem „Konflikt“ gesprochen, anstatt klar die Asymmetrien und Strukturen zu benennen, namentlich, dass Israel Palästina seit Jahrzehnten kolonisiert und unterdrückt und nicht umgekehrt. Und dass dieses Verhältnis in den letzten zwei Jahrzehnten und insbesondere unter Netanyahu so sehr eskaliert wurde, dass man im Mindesten von einer Taktik der systematischen Vertreibung aller Palästinenser*innen durch den Staat Israel, <a href="https://www.972mag.com/ben-gvir-sorry-mohammad-apartheid/">wenn nicht sogar</a> von einer <a href="https://jewishcurrents.org/a-textbook-case-of-genocide">genozidalen Intention</a> bei einigen der schärfsten Wortführer*innen und Politiker*innen des rechtszionistischen/kahanistischen Spektrums sprechen muss. Der Gaza-Streifen ist <a href="https://thenextrecession.wordpress.com/2021/05/16/the-unending-nightmare-of-gaza/">auch schon vor</a> der derzeitigen Abriegelung zu einer <a href="https://www.jadaliyya.com/Details/45383">Hölle auf Erden</a> gemacht worden durch die Belagerung. Wer das nicht sieht, dem ist nicht zu helfen; es ist noch keine Sonne geboren worden, die die Herzen der Finsternis erwärmen könnte.</p><p>In völliger Ignoranz dessen wird zusätzlich derzeit in der Bundesrepublik eine beispiellose Repressionsmaschinerie gegen alles Arabische und Pro-palästinensische in Gang gesetzt. Fast jede – auch jüdische – Demo oder Stimme, die irgendwie einen positiven Bezug auf Palästina beinhaltet, wird verboten oder niedergebrüllt, ganze Viertel wie Neukölln de facto in Polizeireviere umgewandelt, rassistisch der Generalverdacht gegen alles Arabische erhoben und nach der Gesinnungspolizei gerufen. Weite Teil der politischen Entscheider*innen und der Medien ummanteln dieses Vorgehen mit erhabenen Begriffen wie Freiheit, Demokratie und Menschenrechten. Nicht wenige Linke tragen diese Repression mit. Unter anderem aus berechtigtem Zorn über diese Doppelmoral wird in der pro-palästinensischen Linken davon ausgehend wiederum eine Thematisierung des Vorgehens der Hamas abgelehnt.</p><h2><b>Der Horizont des Völkerfriedens</b></h2><p>Den Zorn über diese sich zivilisatorisch gebende Heuchelei, die zudem die Kolonisation Palästinas verschweigt, teile ich. Es ist aber trotzdem grundlegend falsch, dass das pro-Palästina-Spektrum zum Vorgehen der Hamas weitestgehend schweigt und keine eindeutige linke Perspektive vertritt.</p><p>Das Töten von Menschen und erst recht als Terrorakt ist immer abscheulich. Hier geht es mir im Folgenden aber nicht um moralische und emotionale Einordnungen terroristischen Massenmords – der immer von sehr zweifelhafter Tugend und höchst fraglich in seiner politischen Langzeitwirkung ist –, sondern um die praktischen Konsequenzen. Das Schweigen – auch der an der Aktion mitbeteiligten marxistischen Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP) – legitimiert die Hamas und ihre in der Intention genozidalen Vorgehensmethoden als leitende und führende Kraft der derzeitigen Aktion (und eigentlich auch schon seit geraumer Zeit). Sie werden damit mit dem Befreiungskampf an sich identifiziert.</p><p>Denn es gibt einfach keine automatische Ontologie, also Seinslogik des Befreiungskampfes. Aus einer Situation unerträglicher Unterdrückung und Ausbeutung leitet sich nichts <i>an sich</i> ab, etwa die Form oder Zielrichtung antikolonialer Gewalt, die vom Kolonisierten ausgeht, wie das in derzeitigen Stellungnahmen oft durchklingt. Sondern das Ansich wird geformt durch das Fürsich, Basis durch Überbau, das heißt, durch die führenden Ideologien und Parteien des Befreiungskampfes. Befreiungskampf ist immer an und für sich, niemals jeweils nur eine gegebene Struktur oder nur „der Überbau“ der Ideologien und Parteien. Man kann daher nicht einfach das palästinensische Widerstandsrecht verteidigen, und dabei über den Massenmord schweigen in der Hoffnung, dass dann eines Tages von selbst die „wahre“ Essenz des Befreiungskampfes hervorgeht. Was die „wahre“ Essenz eines Kampfes ist, genau darüber wird und muss gekämpft werden, auch im Befreiungskampf um Palästina. Wer dazu schweigt, stärkt gewollt oder ungewollt die dominierende Form.</p><p>Der wahllose Massenmord verbaut aber die Perspektive eines Zusammenlebens der Völker, um das es Linken ja letztlich gehen muss. Es fördert die hassgeformte klassenübergreifende Polarisierung und den klassenübergreifenden Revanchismus entlang national-religiöser Bruchlinien beiderseits – und damit zugleich die führenden Akteure dieser Polarisierung und dieses Revanchismus (in diesem Fall die islamistischen Organisationen auf der einen, den reaktionären faschistoiden israelischen Machtblock auf der anderen Seite). In Israel sorgt sie derzeit für eine relative Re-Mobilisierung der Eliten und der Bevölkerung hinter Netanyahu, dessen Faschisierungsprojekt sich in der letzten Zeit in einer tiefen Hegemoniekrise befand. Netanyahu und seine Regierung würden zwar jede x-beliebige Aktion von Palästinenser*innen als <a href="https://www.akweb.de/politik/krieg-in-israel-und-gaza-die-linke-muss-ihren-moralischen-kompass-neu-ausrichten/">Vorwand für eine genozidale Kriegsführung</a> nutzen. Für ihn sind nur schweigend sterbende oder sich vertreiben-lassende Palästinenser*innen gute Palästinenser*innen. Aber nicht immer mag er mit seinen Vorwänden auch die gespaltene israelische Gesellschaft überzeugen.</p><p>Wäre die militärische Offensivaktion der Palästinenser*innen beispielsweise eine gewesen, die sich auf bewaffnete Kräfte und (ökonomische) Infrastruktur konzentrierte, dabei in ihrer Propaganda klar hervor gehoben hätte, dass es nicht darum gehe, Jüd*innen als Jüd*innen anzugreifen, sondern nur Menschen in der Funktionsausübung der Kolonialisierung und Infrastruktur nur, um die Kosten der Kolonialisierung in die Höhe zu treiben, weil sonst die Unterdrückung intensiviert wird – Netanyahu hätte es schwerer gehabt, die israelische Gesellschaft relativ hinter sich zu vereinigen.</p><p>Ohne Illusion, dass ein Befreiungskrieg absolut integer vonstatten gehen kann: Es gibt Spielraum, Befreiungskämpfe sauberer oder schmutziger zu gestalten, das Ausmaß von Zerstörung und Tod zu glorifizieren, zu beschweigen oder zu bedauern. Siehe die Kurd*innen in der Türkei, die keine wahllosen Massenmorde begehen. Und das ist vor allem nicht allein eine Frage von Moral und Emotionen, sondern durch und durch eine politische Frage: <i>Was will man wie erreichen?</i> Die Menschen, die prinzipiell offen für das Anliegen der palästinensischen Befreiung sind – und derer gibt es ja doch nicht wenige in Israel – würden die Botschaft, die von einer solchen oben skizzierten Aktion ausgeht, zumindest viel eher wahrnehmen als in der jetzigen Situation, in der einfach wahllos und brutal gemordet wurde. Heute sind viele von ihnen fassungslos, paralysiert vor Schmerz, Trauer, Wut. Die Erhöhung der Kosten der Kolonisation – militärischer und ökonomischer Schaden – würde Schwankende eher dazu bringen, von der Kolonisation abzurücken, als jetzt, wo die Erhöhung der Kosten (= wahllos ermordete Menschen) zusammenschweißt, weil sie die historisch berechtigte Auslöschungserfahrung und -furcht von Jüd*innen mit voller Gewalt bestätigt und reproduziert. Mit der Kalaschnikow in der einen Hand hätte man dann zugleich <a href="https://www.nytimes.com/1974/11/14/archives/dramatic-session-plo-head-says-he-bears-olive-branch-and-guerrilla.html">den Olivenzweig in der anderen Hand</a> ausgestreckt und der israelischen Bevölkerung Frieden unter der Bedingung der Aufhebung der Ungleichheitsstrukturen angeboten.</p><p>Und vielleicht hätten sich jetzt die Reservist*innen der IDF dann geweigert, sich einziehen zu lassen für einen Vernichtungsfeldzug gegen Gaza – wie ja auch noch vor kurzer Zeit auch Pilot*innen der israelischen Reserve <a href="https://www.nytimes.com/2023/07/25/world/middleeast/israel-military-reservists-quit.html">offen angekündigt hatten</a>, sich aufgrund Netanyahus Faschisierungsprojekt nicht mehr einziehen zu lassen und auch hochrangige <a href="https://www.timesofisrael.com/ex-idf-general-likens-military-control-of-west-bank-to-nazi-germany/">ex-Generäle</a> sich nicht nur gegen Netanyahu, sondern auch gegen seine „Lösung“ der „Palästinafrage“ gestellt hatten. Noch heute, inmitten der kriegshetzerischen Rekonsolidierung Netanyahus, blickt ein Großteil der Israelis <a href="https://www.jpost.com/israel-news/article-767880">kritisch</a> auf ihre Regierung. Neben der Mobilisierung der Kolonisierten und der Befreiung von kolonisierten Gebieten ist doch das, also das Herbeiführen einer Legitimationskrise der herrschenden kolonialistischen Allianz durch Verlust popularen Rückhalts aufgrund der Kosten einer als Unrecht empfundenen Kolonisation, immer eines der zentralen Ziele militärischer antikolonialer Aktionen gewesen. Ein Vorgehen dieser Art, also militärisch-antikolonial, aber mit einer linken Taktik, Strategie und vor allem Vision, war eines der wichtigsten Elemente des Erfolgs des Vietcongs, der der amerikanischen Bevölkerung immer Frieden angeboten hatte, was wiederum bei der us-amerikanischen Antikriegsbewegung auf fruchtbaren Boden fiel. Man stelle sich vor, der Vietcong hätte wahllos us-amerikanische Bürger*innen in den USA umgebracht. Zweifellos wäre der Friedenswille in den USA dann schwächer gewesen, die Erfolgsaussichten des Vietcongs trüber.</p><p>Das ist jetzt einigermaßen idealistisch, schon allein deshalb, weil es keine relevante palästinensische Linke in diesem Format mehr gibt. Aber die verbleibenden Kräfte könnten – mit einer klaren Kritik an der neuesten Aktionsform und dem Verweis auf solche ja doch nicht völlig abwegige alternative Strategien – versuchen, sich wieder als eigenständiger Pol herauszukristallisieren. Irgendwo muss man ja wieder anfangen. In der glorreichen Zeit nach ihrer Gründung 1969 war für die PFLP <a href="http://pflp-documents.org/documents/PFLP_StrategyforLiberationofPalestine1969.pdf">immer klar</a>, dass ein nationaler Befreiungskampf, der die (Klassen-)Unterschiede und Konflikte innerhalb des Unabhängigkeitskampfs verdeckt, nur Israel und der arabischen Reaktion dient, und dass das Ziel das gemeinsame Leben von Araber*innen und Jüd*innen frei von Unterdrückung sein muss. An diese Kerneinsicht, die unter anderem es der PFLP damals erlaubte, zur führenden links-revolutionären Kraft der palästinensischen Befreiungsbewegung zu werden, ließe sich heute unter veränderten Bedingungen anknüpfen. Wenn die Linke sich im Krieg nicht durch solche oder ähnliche Positionen und Vorgehensweisen grundlegend von Hamas und islamischem Dschihad unterscheidet, kommt es schlicht zur Eskalation des wechselseitigen Terrorismus und der Blutbäder. Und an diesen erstarken immer reaktionäre und faschistoide Kräfte, ob jetzt Netanyahu oder die Hamas, und fast nie linke Gesellschaftsentwürfe. Klar befinden sich Netanyahu und Hamas strukturell gesprochen auf ganz unterschiedlichen Ebenen und Punkten, aber man kann noch so oft hervorheben, dass die (abscheuliche) Gewalt des Kolonisierten moralisch etwas anderes ist als die des Kolonisators – im Endeffekt läuft die Kombination des rechtszionistischen Terrors auf kolonisierender israelischer Seite und des islamistischen Terrors auf kolonisierter palästinensischer Seite darauf hinaus, dass es zu keiner Befreiung Palästinas kommt. Und genau das müsste im Zentrum einer linken pro-palästinensischen Perspektive stehen.</p><h2><b>Freies Palästina, freies Israel</b></h2><p>Israel weist Elemente klassisch europäischen Kolonialismus (politische Herrschaft über Indigene und ihre Ausbeutung), des Siedlerkolonialismus (Vertreibung der Indigenen vom Land, Besitzergreifung des Landes) und der Apartheid (juristische und faktische Ungleichbehandlung von Bevölkerungsgruppen) auf. Das alles freilich unter dem Dach einer eingeschränkt demokratischen Republik. So ähnlich ist es zum Beispiel auch mit der Türkei und den Kurd*innen sowie den (übriggebliebenen) nicht-muslimischen Minderheiten.</p><p>Trotz dieser von mir zur Analyse genutzten Begriffe möchte ich hier allerdings hervorheben, dass die Befreiung Palästinas eine Befreiung von den Strukturen der Unterdrückung ist, und nicht eine von den Menschen, die in Israel leben. Menschen als schuldig anzusehen aufgrund der Funktionen, die sie im Rahmen struktureller Unterdrückung und Ausbeutung ausüben, heißt eben auch, davon auszugehen, dass sie sich ändern können, indem sie andere Funktionen übernehmen oder alte ablegen. Diese Option mag zwar nicht immer sehr realistisch sein; man muss sie im Befreiungskampf aber immer auch offenhalten. Das ist die Humanität der Linken, die die Zerstörungen und das Leid des Befreiungskrieges mildert, ihn damit sogar stärkt und die für humanere Ausgangsbedingungen für eine sozialistische Zukunft nach einem potenziell erfolgreichen Unabhängigkeitskampf bemüht ist.</p><p>Die meisten Menschen, die in Israel leben, haben keine andere Heimat oder Alternative – und es ist auch nicht einleuchtend, warum sie eine Alternative haben sollten, wenn das ihre Heimat ist. Genauere Rechenschaft muss indes über solche Heimatorte, also Dörfer, Häuser, Grund- und Boden, abgelegt werden, die zuvor anderen gehörten und/oder legitimerweise gehören können. Ich denke natürlich in erster Linie an diejenigen fanatisierten Siedler*innen, die sich mit vollem Wissen und brachialer Gewalt Orte palästinensischer Orte zu eigen machten und machen. Millionen von palästinensischen Geflüchteten und ihre Nachfahren harren der Gerechtigkeit. Aber ein Großteil der jüdischen Bürger*innen Israels übt keine direkte Funktion in der Ausführung und Aufrechterhaltung von Ungleichheitsstrukturen aus. Privilegiert in Israel, das heißt jüdisch-israelisch zu sein, heißt<i> nicht automatisch</i>, aktiv an der Produktion und Reproduktion von kolonialer Herrschaft beteiligt zu sein. Die Kinder der Israelis, die die Palästinenser*innen vertrieben haben, oder Jüd*innen, die selbst nach Israel geflüchtet sind, sind nicht automatisch schuld an der Vertreibung und ihrer Folgen, wenn sie diese nicht explizit verteidigen und reproduzieren. Auch im letzteren Fall hat sich die Forderung nach Rechenschaft und Gerechtigkeit an eine wie auch immer im Konkreten gearteten Proportionalität auszurichten und die kann nicht einfach darin bestehen, dass alles niedergemetzelt wird. Wenn auf alles und jeden die Tötungsaktion, der Massenmord folgt – wer kontrolliert dann den von seinen Ketten entfesselten Terror? Und wie soll je aus entfesselter Brutalisierung etwas Besseres als das Bestehende folgen? Der entfesselte Terror ist immer selbstzerstörerisch. Einmal abgesehen davon, dass ein solcher Terror im Falle Palästinas auch einfach keine Erfolgsaussichten hat.</p><p>Daher ist es nicht zielführend und moralisch wie politisch verkehrt, die gesamte (jüdische) Bevölkerung Israels gleichermaßen und in der gleichen Form zur Verantwortung zu ziehen, wie es die Hamas de facto in ihren Aktionen und den ihnen zugrundeliegenden Intentionen macht und in ihren Verlautbarungen mal direkter, mal indirekter auch verlangt. In letzter Instanz ist die Einstaatenlösung die einzige Perspektive, die auch das Recht der Vertriebenen durch Rückkehr gewährleistet. Ob dieser dann ein Einheitsstaat mit zwei großen, jeweils in sich unterteilten Gebieten Israel und Palästina oder schlicht der Staat Israel-Palästina ohne klare geographische Separation (ich für meinen Teil glaube, letzteres wäre die allerbeste Lösung) oder etwas anderes ist, das sind dann Konkretisierungsfragen. Der gesellschaftliche Frieden, der sich durch eine Befreiung Palästinas einstellen würde, wäre schließlich auch eine Befreiung Israels, nämlich eine Befreiung Israels von den Kosten und den Identitäten der Kolonisation und der Apartheid.</p><p>Es ist natürlich klar, dass nicht nur die Einstaatenlösung, sondern auch die viel kümmerlichere Zweistaatenlösung so weit weg von der heutigen Realität sind, wie sie es wahrscheinlich noch nie in der Geschichte von Israel und Palästina waren. Die revolutionären Lösungskräfte müssen erst wieder erstarken und zusammenkommen, die fragilen Banden auch zwischen (pro-)palästinensischer Linker und (pro-)israelischer/jüdischer Linker erneut geschmiedet werden.</p><p>Ich sehe einige Dinge bezüglich Israel-Palästina anders als (Teile der) (pro-)israelischen/jüdischen Linken (damit meine ich keine Antideutschen, die gehören für mich da nicht dazu). Eines ist jedoch festzuhalten: <a href="https://yachad.org.uk/wp-content/uploads/2023/10/Statement-on-Behalf-of-Israel-based-Progressives-and-Peace-Activists-Regarding-Debates-over-Recent-Events-in-Our-Region.pdf">Sie</a> bleiben <a href="https://www.akweb.de/politik/israel-palaestina-gaza-eskalation-der-entmenschlichung/">standfest</a> in ihren <a href="https://www.akweb.de/politik/krieg-in-israel-und-gaza-die-linke-muss-ihren-moralischen-kompass-neu-ausrichten/">sehr klaren Positionen</a> gegen die Okkupation, gegen Netanyahu, gegen die Barbarei, die über Gaza und die Palästinenser*innen gestern wie heute entfesselt wird. <a href="https://www.labournet.de/internationales/israel/friedensbewegung/nahostkonflikt-folge-2023-israelische-und-palaestinensische-zivilbevoelkerung-erneut-opfer-fundamentalistischer-hamas-und-rechtsradikaler-israelischer-regierung/">Sie strecken</a> in ihrer Mehrheit <a href="https://btselem.org/press_releases/human_rights_organizations_raise_a_loud_and_clear_voice_against_the_harming_of_all_innocent_civilians">weiterhin beharrlich</a> den Olivenzweig aus. Eine solche Linke beweist ihre Größe trotz der Tiefe der Erschütterung, für dessen Bearbeitung sie <a href="https://jewishcurrents.org/we-cannot-cross-until-we-carry-each-other">um die richtigen Worte kämpft</a>, <a href="https://twitter.com/AGvaryahu/status/1712565145212436575">trotz der Ermordung</a> oder Entführung von Familienmitgliedern und Freundin*innen, von anti-Apartheid Aktivist*innen wie Hayim Katsman, Vivan Silver, oder Shahar Tzemach durch die Hamas. Die Kalaschnikow hat die (pro-)palästinensische Seite ja schon in der einen Hand, wenn auch mehr schlecht als recht. Mit der anderen Hand den Olivenzweig wieder ausstrecken, das kann und muss sie auch wieder dringend tun. Sonst wird es mit dem Erfolg des Befreiungskampfes um Palästina noch schwieriger, als es sowieso schon geworden ist.</p></div>
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Unschuldig in Haft - aber schuld am eigenen Tod?2023-09-21T07:55:43.320793+00:002023-09-21T07:56:19.923759+00:00Çağan Varolredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/unschuldig-haft-aber-schuld-am-eigenen-tod/
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<h1>Unschuldig in Haft - aber schuld am eigenen Tod?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Ameds Familie kommt aus dem hauptsächlich kurdisch besiedelten Afrin. Er verbrachte aber seine frühe Kindheit in Libyen und kehrte erst mit zehn Jahren nach Syrien zurück. Dort war er politisch aktiv und flüchtete mit seiner Familie in die Türkei, um später über die Balkanroute im März 2016 Deutschland zu <a href="https://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2021/91-kr-218-november-dezember/1191-amed-ahmad-das-war-mord">erreichen</a>. Haft- und Foltererfahrungen in Syrien führten bei ihm zu psychischen Problemen und zu post-traumatischen Belastungsstörungen, die auch seinem Umfeld bekannt waren. Ende 2016 wird er aber nach Ungarn abgeschoben und auch dort während der Haft misshandelt. Anfang 2017 wird die Abschiebung revidiert und er kann nochmals im Kreis Kleve Asyl <a href="https://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2021/91-kr-218-november-dezember/1191-amed-ahmad-das-war-mord">beantragen</a>. Aufgrund fehlender Ausweisdokumente, die in Ungarn abhandenkamen, erhält er in Deutschland auch keine Asylbewerberleistungen oder finanzielle Hilfen. Er muss sich allein durchschlagen und lebt teilweise in Obdachlosigkeit.</p><p>Bei einem Badeseeaufenthalt im nordrhein-westfälischen Geldern am 06.07.2018 näherte er sich einer Gruppe junger Frauen. Er legte sich nach einem Gespräch in ihre Nähe und soll laut den Zeug:innen anzügliche Bemerkungen gemacht haben. Der junge Mann wirkte jedoch laut einem <a href="https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-16940.pdf">späteren PUA-Bericht</a> (Parlamentarischer Untersuchungsausschuss, im Folgenden wird daraus mit PUA Kleve zitiert; Anm. Red) relativ hilflos auf die Gruppe und aufgrund seiner schmächtigen Figur nicht bedrohlich. Den jungen Frauen fielen auch die körperlichen Wunden und Narben an Ameds Körper auf; Resultate seiner Hafterfahrungen in Syrien. Nach einiger Zeit wollten sie, dass er geht und warnten ihn, dass sie ansonsten die Polizei rufen werden. Amed entfernte sich auch. Dennoch rief eine Frau aus der Gruppe ihren Vater an, einen Polizisten, der wiederum seine im Dienst befindlichen Kollegen verständigte, die mit zwei Streifenwagen zum See fuhren. Sie nahmen Amed mit auf die Polizeiwache, da er sich nicht ausweisen konnte. Doch dabei blieb es nicht: Er kam nicht nur aufs Revier, sondern von dort aus direkt in die JVA Kleve, da die Polizisten einen mutmaßlichen Straftäter in ihm zu erkennen glaubten. Das ihm unterstellte Sexualdelikt stellte sich bereits vier Tage danach, am 10.07.2018, als <a href="https://taz.de/Tod-von-Amad-Ahmad-in-der-JVA-Kleve/!5690973/#:~:text=Andreas%20Wyputta&text=Am%2017.,die%20Eingeschlossenen%20gegen%20ihre%20Zellent%C3%BCren.">erfunden</a> heraus. Für den bereits Inhaftierten blieb dies jedoch <a href="https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kleve-verwechslungsopfer-haette-gefaengnis-fuer-285-euro-verlassen-koennen-a-1236434.html">ohne positive Folgen</a>.</p><h2><b>Wegsperren und Vergessenmachen</b></h2><p>Amed wurde angeblich auch aufgrund eines fehlerhaften Abgleichs und einer Namensähnlichkeit mit einem mittels Haftbefehl gesuchten malischen Geflüchteten, Amedy G., in die Justizvollzugsanstalt (JVA) Kleve transportiert. Die vorhandenen Bilder in der Landesdatenbank ViVa und auf INPOL wurden nicht abgeglichen, aber seine Daten mit denen Amedy G.‘s zusammengeführt. In der ViVa Datenbank war er nunmehr als Amedy G. abgespeichert, der wegen kleinerer Delikte polizeilich gesucht wurde. Ein Blick in die Akte und die dort gespeicherten Bilder hätten gezeigt, dass zwischen beiden Personen keinerlei Ähnlichkeit bestand. Aber die kurze Mühe machte sich im Polizeirevier oder in der JVA Kleve niemand.</p><p>Amed verblieb zwei Monate in der JVA, obwohl schon nach drei Wochen jede:r von der Anstaltspsychologin bis zur Polizei Kleve wusste, dass es sich bei Amed nicht um Amedy G. handelte.</p><p>Ginge man davon aus, dass die Sicherheitsbehörden tatsächlich dachten, Amedy G. vor sich haben, dann hätte Amed <a href="https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kleve-verwechslungsopfer-haette-gefaengnis-fuer-285-euro-verlassen-koennen-a-1236434.html">nach Zahlung von 285,- Euro</a> die JVA jederzeit verlassen können, wobei es<a href="https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Kleve-Fehlerkette-bei-Tod-eines-Haeftlings,kleve108.html#:~:text=Das%20Opfer%20ist%20ein%2026,des%20nordrhein%2Dwestf%C3%A4lischen%20Landtages%20kl%C3%A4ren."> unklar blieb</a>, ob er darauf hingewiesen wurde. Gegen Amedy G. liefen zwei Verfahren wegen Diebstahlsdelikten in Hamburg für die er zu einer Geldstrafe von 285,- Euro verurteilt wurde, die als Ersatzfreiheitsstrafe zu vollstrecken war. Insgesamt 20 Beamt:innen waren mitunter mit dem Fall befasst, doch keine:r gab sich die Mühe, Fotos abzugleichen, auf Ungereimtheiten oder auf den Fehler beim Namensabgleich hinzuweisen.</p><p>Nach zwei Monaten verbrannte Amed in seiner Zelle.</p><p>Der Bericht des Untersuchungsausschusses bestätigt, dass Amed am Tag des Brandes am 17.09.2018 dreimal unproblematisch die Rufanlage in seinem Haftraum betätigt hatte, um zu duschen und am Abend zu essen. Zuletzt wollte er wohl noch Feuer für eine Zigarette. Gegen 19:00 Uhr soll er laut Abschlussbericht seine Laken, die Matratze und Toilettenpapier angezündet haben. Um 19:19 Uhr soll die Notrufanlage (Lichtruf) mehrfach betätigt worden sein, worauf sich aber nach Aussagen der JVA niemand aus der Zelle gemeldet haben soll. Nachdem Amed das Fenster seiner Zelle öffnete und der Rauch nach draußen strömte, meldeten sich die anderen Gefangenen und es entstand ein Tumult. Die Beamten begannen ihre Suche nach dem Brandherd allerdings zunächst in den oberen Etagen, so dass sie erst 15 Minuten später in seiner Zelle ankamen. Die Brandmeldeanlage der JVA Kleve war zudem nicht mit der Leitstelle der Berufsfeuerwehr verbunden. Amed erlitt in seiner Zelle erhebliche Brandverletzungen und eine Rauchgasvergiftung. Rund 40 Prozent seiner Haut waren verbrannt und seine Organe innerlich kollabiert. Er verstarb an seinen inneren und äußerlichen Verletzungen knapp zwei Wochen später im Krankenhaus. Dass Amed die Sprechanlage aus seiner Zelle, während der Zeit des Brandes betätigt hatte, konnte erst über die Protokolldaten des privaten Anbieters bewiesen werden. Der Justizminister und die Landesregierung NRW hatten zunächst bestritten, dass in der JVA-Zentrale ein Hilferuf eingegangen war und dies erst dann zugestanden, als die Daten offenkundig vorlagen (PUA Kleve 2022: 1177 f.). Der Beamte in der Zentrale hatte den Anruf angenommen und behauptete, auf die mehrfache Nachfrage, was denn los sei, habe niemand geantwortet.</p><p>Während dieser Aspekt im Hauptbericht des PUA Kleve vernachlässigt wird, geht dieser aber sehr dezidiert auf einen <a href="https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/kleve-jva-100.html">Bericht des WDR-Magazins <i>Monitor</i></a> aus dem Jahr 2019 ein, um die dortigen Bedenken über die Ereignisse an dem Tod von Amed Ahmad als effekthascherischen und unseriösen Journalismus darzustellen. Der Bericht stütze sich auf aus dem Zusammenhang gerissene Halbsätze der Expert:innen, so der Befund des Ausschusses (ebd., 719 ff.).</p><h2><b>Blaming the victim</b></h2><p>Zusammenfassend kommt der Bericht des Untersuchungsausschusses zu dem Ergebnis, es habe sich um vorsätzliche Brandlegung durch Amed in seiner eigenen Zelle gehandelt, wobei die Gründe der Inhaftierung in den Hintergrund rücken und als tragische Verwechslung bezeichnet werden. Im Gesamtergebnis steht zudem, dass Amed sich trotz ausreichender Deutschkenntnisse nicht an die Anstaltsleitung gewendet habe, um den Fall aufzuklären, seinen Pflichtverteidiger hätte er nicht besucht und seine eigenen Rechtsanwaltskontakte nicht hinzugezogen (ebd., 1111 ff.).Damit wird die Schuld auf den unschuldig in der JVA sitzenden Amed Ahmad geschoben. Und es ist obendrein eine Lüge. Zeug:innen aus der JVA gaben im Gegenzug dazu an, dass Amed sich auf seine Entlassung freute und zuvor keine suizidalen Äußerungen gemacht habe. Der Haftanstaltsleiter der JVA Kleve hatte erst am 19.09.2018, also zwei Tage nach dem Brand, um eine Haftunterbrechung für den Verletzten bei der Staatsanwaltschaft Hamburg gebeten, die am 28.09.2018 dessen unverzügliche Entlassung aus der Strafhaft angeordnet hatte. Nur einen Tag später, am 29.09.2018, verstarb Amed im Krankenhaus (ebd., 762). Die rechtswidrige Inhaftierung in der JVA sei, so verbleibt dennoch der Befund des PUA, nur ein technisches und individuelles Versagen gewesen. Also alles nur eine Verkettung unglücklicher Umstände?</p><p>Per Sondervotum kritisieren SPD und Bündnis 90/Grünen im Abschlussbericht, dass der Ausschussvorsitzende (CDU) nicht genügend Zeit für die Durcharbeitung der 1.400 Seiten gelassen und der Bericht sensible Daten über Amed Ahmad offenbart habe. Zudem schreibe der Bericht die Schuld an den Ereignissen auch dem Verhalten des Toten zu, während zeitgleich fünf verschiedene Behörden im Verantwortungsbereich von NRW-Innenminister Herbert Reul an den Ereignissen maßgeblich beteiligt waren. Auch nachdem die Fahndungsdatensätze von Amed Ahmad und Amedy G. am 23.08.2018 getrennt wurden, hinterfragte niemand die darin vermerkte Haft von Amed (ebd., 1141 ff.). Weder wurde die Unschuldsvermutung zugunsten des Inhaftierten ausgelegt, noch interessierte sich jemand in den Behörden für dessen Freiheitsrechte.</p><p>Bereits eine Nachnamen-Suche des Amedy G. im ViVA-Datensatz hätte ein Lichtbild gezeigt, auf dem ein anderer Mann zu sehen war. Auch die Haftbefehle liefen nicht auf den Nachnamen Ahmad, sondern auf den von Amedy G. In der Datenbank tauchte Amed Ahmad aufgrund der Zusammenlegung dreimal auf: Er wurde in rassifizierende Kategorien, einmal als „hellhäutig“ und, wegen der Zusammenlegung mit Amedy G., zweimal als „schwarzhäutig“ sortiert. Um das dazugehörige Bild aufzurufen wären nur zwei bis drei Mausklicks erforderlich gewesen (ebd., 1158 f.). Auf der Polizeiwache Geldern wurde Amed anscheinend noch nicht mal über seine Rechte und die Gründe seiner Haft belehrt, da das Dokument von den Polizist:innen nicht unterschrieben wurde. Die beteiligten Beamt:innen zeigten damit nicht einmal das Mindestmaß an zuverlässiger Diensterfüllung.</p><p>Es kommt aber noch schlimmer: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig, bei der ein Verfahren gegen Amedy G. lief, wies die Kreispolizeibehörde Kleve am 27.07.2018 – also mehr als eineinhalb Monate vor seinem Tod - darauf hin, dass Amed nicht der im Haftbefehl gesuchte Täter sei. Der verantwortliche Kriminalhauptkommissar reagierte nicht auf diese Warnung, obwohl er direkt nach der Warnung eine INPOL Abfrage startete, wo die Lichtbilder zu sehen waren (ebd., 1161 ff.). Auf die augenscheinlichen Widersprüche reagierte dieser nicht. In der JVA Geldern wurde der Namensunterschied auf dem Haftbefehl und der Festnahmeanzeige angemerkt, aber ignoriert. Die Ermittlungen gegen sechs Polizist:inen wegen Freiheitsberaubung wurden Ende 2020 eingestellt.</p><h2><b>Defacto Freiheitsstrafe ohne Urteil</b></h2><p>Einem Mitgefangenen gegenüber äußerte Amed, dass er nicht wisse, warum er inhaftiert sei; er denke, es sei wegen einem Handyvertrag, den er nicht bezahlt habe oder wegen einem Fahren ohne Bahnticket. Tatsächlich aber wurden ihm (bzw. Amedy G.) für das Jahr 2015 mehrere Delikte in Hamburg vorgeworfen – einer Stadt, in der er kein einziges Mal in seinem Leben war. 2015 war Amed noch nicht einmal in Deutschland (ebd., 1173). Auch vor der Anstaltspsychologin hatte Amed am 03.09.2018 erklärt, er wisse nicht, warum er im Gefängnis sei, die Urteile habe er nie gesehen, Amedy G. kenne er nicht, sein Geburtsdatum auf den Dokumenten sei falsch und er wäre erst im März 2016 nach Deutschland eingereist. Amed wies damit klar darauf hin, dass er unschuldig inhaftiert wurde. Doch eine Klärung wurde auch von der Psychologin nicht herbeigeführt; sie glaubte ihm nicht und meinte, er hätte sich nicht vehement genug gegen seine Inhaftierung zur Wehr gesetzt. Eine Suizidalität, bestätigt die <a href="https://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2021/91-kr-218-november-dezember/1191-amed-ahmad-das-war-mord">Initiative Amed Ahmad 2021</a> in einem Bericht, konnte sie nicht erkennen. Amed wurde sogar in der JVA Angst davor gemacht, dass er nach Ende der Haft nach Syrien abgeschoben werde, wo er, wie gesagt, bereits gefoltert wurde (PUA Kleve 2022: 1175 f.). Der Pflichtverteidiger, von dem der Untersuchungsausschuss spricht, hatte laut dem Minderheitsvotum nie Kontakt zu ihm aufgenommen, legte aber ohne dessen Kenntnis und Einwilligung Erklärungen in seinem Namen ab (ebd., 1172).</p><p>Das Sondervotum der Minderheitsfraktionen geht ebenfalls von einer eigenen Brandlegung durch Amed aus, kritisiert aber das Brandgutachten vom 26.10.2018. Der Brand- und Explosionsursachengutachter und Chemieingenieur habe in sein Gutachten auch psychologische und medizinische Fragestellungen aufgenommen und gemutmaßt, dass die Brandlegung vorsätzlich und vermutlich in suizidaler Absicht erfolgt sei (ebd., 1185 f.). Dies habe er so in das Gutachten geschrieben, weil in den Akten die Rede davon war, dass Amed depressiv gewesen sei, wobei er komplett außerhalb seines Kompetenzbereiches Schlüsse gezogen habe. Mediziner:innen hingegen konnten eine suizidale Absicht nicht bestätigen; mehrere Gründe seien denkbar gewesen, wie „Aufmerksamkeitserregung, Spieltrieb oder ein Versehen“. Trotz dieser Erkenntnisse nahm das Justizministerium die Sichtweise des Brandgutachters an und wiederholte sie im November 2018 vor dem Rechtsausschuss des Landtags NRW.</p><h2><b>Todesgrund: Staatlicher Rassismus</b></h2><p>Ameds Vater, Zaher Ahmad, wurde weder über die Inhaftierung noch über die Tatsache, dass sein Sohn fast zwei Wochen im Krankenhaus lag und dort verstarb, informiert. Er musste sich selbst am 04.10.2018 bei der Polizei erkundigen, ob der Tote, von dem im Internet Bilder kursierten, sein Sohn sei (ebd., 1191).</p><p>Vor allem Kriege haben in den letzten Jahren zur millionenfachen Vertreibung und Auswanderung von Menschen geführt. Ihre Schicksale interessieren die Dominanzgesellschaft, wie Ameds Foltererfahrungen oder Traumatisierungen, nur rudimentär. Der Bedarf des deutschen Arbeitsmarktes nach neuen Arbeitskräften machte Geflüchtete zu wichtigen Arbeitskräften im Niedriglohnsektor, nach denen in Deutschland bereits vor 2015 eine große Nachfrage bestand. Heute werden schlecht bezahlte Tätigkeiten in der Gastronomie, dem Reinigungsgewerbe, dem Bausektor, der Paketdienste und allgemein in der Zeit- und Leiharbeit hauptsächlich von Geflüchteten und anderen Einwanderer:innen getragen, über deren Existenzkampf heute eher wenig zu hören ist. Die als nicht-nützlich eingestuften hingegen, die die es nicht schaffen, oder die, wie Amed, das Land der Hoffnung nur traumatisiert erreichen, sollen so schnell wie möglich wieder abgeschoben werden.</p><p>Genaue Beobachter:innen <a href="https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/77/der-fall-amad-a/">des Falles</a> schließen aus dem Verhalten der Sicherheitsbehörden und Ameds kafkaesker Inhaftierung eine <a href="https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Kleve-Fehlerkette-bei-Tod-eines-Haeftlings,kleve108.html#:~:text=Das%20Opfer%20ist%20ein%2026,des%20nordrhein%2Dwestf%C3%A4lischen%20Landtages%20kl%C3%A4ren.">Nachwirkung der sogenannten Kölner Silvesternacht</a> 2015/16. In deren Folge war es durch die rechtspopulistische Stimmungsmache zu einer generellen Kriminalisierung und schärferen Repression gegenüber Refugees gekommen. Migrant:innen und vor allem Geflüchtete wurden im Nachgang der Ereignisse anhand der polizeilichen Benennungen (<a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Stichwort „Nafri“),</a> mit anti-muslimischer Zuordnung, monatelang in den Medien und der Politik aber auch in der Gesellschaft skandalisiert. Neben dem chronischen gesellschaftlichen Nicht-Wahrnehmen von Rassismus wurden wir Zeug:innen eines beinahe kollektiv-akzeptierten rassifizierten Sehens und eines flankierenden Schreibens in den Medien. Die anfängliche Begeisterung („Willkommenskultur“) war verschwunden und es konnte beobachtet werden, wie ältere rassistische Formationen, die auch im Sarrazindiskurs dominant waren, ihr hässliches, bürgerliches Gesicht in aller Öffentlichkeit zeigten.</p><p>Die hegemonial inszenierte Moralpanik zur Kölner Silvesternacht 2015/16 und die polarisierende, rassifizierende mediale Darstellung machte aus Geflüchteten ziemlich bald „Feinde der Gesellschaft“, derer sich die Polizei wie auch andere Staatsapparate auf ihre Weise annahmen. Ameds Fall führt diesen Prozess vor Augen. Wie Vanessa E. Thompson (2022) <a href="https://www.akweb.de/bewegung/black-lives-matter-abolitionismus-schwarze-bewegung-protest-marxismus-george-floyd/">schreibt</a>, sind Tötungen an armen Schwarzen, migrantischen und asylsuchenden Menschen im Staatsgewahrsam nichts Neues, so wie es u.a. die Ermordung und Verbrennung Oury Jallohs im Polizeigewahrsam in Dessau 2005 offenbarte. Es gäbe immer schon Rassismus, der nur diskriminiert, und einen Rassismus, der tötet. Teile der Gesellschaft müssten sich ständig dagegen wehren, nicht getötet, sozial isoliert, deportiert und polizeilich inhaftiert zu werden.</p><p>Institutioneller Rassismus drückt sich nicht nur in direkter Gewaltanwendung durch staatliches Personal aus und ist nicht abhängig von einer rassistischen Gesinnung der Beamt:innen. Hier zieht sich die Kette von der Polizei bis zur JVA, von der Psychologin bis zur Anstaltsleitung, und damit zum Innenministerium. Zumeist wirkt der staatliche Rassismus auf subtiler Ebene, nimmt Umwege über neutrale Formulierung und Gesetzestexte, wie auch Verwaltungsvorschriften. Bei der Anzeigeaufnahme, vor Gerichten und Behörden wird den Stimmen der Betroffenen, Asylsuchenden und als kriminell Gebrandmarkten kein Gehör geschenkt, sie werden nicht ernst genommen oder es wird ihnen ein Eigenanteil an den Verletzungen, die sie erlitten haben, zugeschrieben. Es interessierte die Beamt:innen im Gefängnis nicht einmal, ob die Person zu Unrecht im Gefängnis saß, da dieser Geflüchteter war. Und hinter verbrannte. Der besagte Kriminalhauptkommissar (KHK) ignorierte sogar den Hinweis zur Haftentlassung Ameds durch die Staatsanwaltschaft Braunschweig. Hätte er dies bei einem Bio-Deutschen auch so getan?</p><p>Ignoranz ist ein zu schwacher Begriff, um die Umstände am Haftverbleib zu erklären. Man muss sich beispielhaft vorstellen, wie eine Behörde reagiert hätte, wenn es sich um eine Person mit deutschem Namen gehandelt hätte und nicht um einen Asylsuchenden aus dem Nahen Osten mit geringer bis keiner Beschwerdemacht. Die Eltern, selbst Geflüchtete ohne Deutschkenntnisse, wurden von den Behörden nicht einmal informiert. Die gesellschaftliche Dimension nach der Tat ist ebenso erschreckend. Eine Person verstirbt in Haft und es kommt heraus, dass sie unschuldig in Haft war, dass dessen Hilferuf aus der Zelle über die Kommunikationsanlage so lange verheimlicht wurde, bis der private Anbieter die Daten offenbarte, während Justizvollzugsangestellte über mehrere Monate mindestens geschwiegen und ein KHK eine staatsanwaltschaftliche Weisung ignoriert hatte. Die Initiative Amed Ahmad fasst dies wie folgt zusammen:</p><p></p><hr/><h4><i>„Wir klagen ein System der Entmenschlichung und der Abwehr von Verantwortung an, wir klagen diese gesellschaftlichen Verhältnisse an, die so einen Tod möglich machen und bei einem Großteil der Menschen nur Gleichgültigkeit erzeugen.“ (Initiative Amed Ahmad 2021)</i></h4><hr/><p></p><p>Die Sicherheitsbehörden scheinen in Ameds Fall nicht nur ihrem repressiven Auftrag gefolgt und diesen auch Jahre nach der Silvesternacht mit undemokratischer, nicht-rechtstaatlicher Willkür umgesetzt zu haben. Sie folgten anscheinend auch einem „höheren“ öffentlichen Auftrag, die Gesellschaft vor Geflüchteten aus dem Nahen Osten, einer Gruppe von Menschen der unteren Klasse, zu beschützen.</p><p>Der Tod Amed Ahmads ist daher keine „Blamage des Rechtsstaats“ oder eine „behördliche Panne“, sondern das Ergebnis des inhärenten institutionellen Rassismus in den Sicherheitsbehörden und des herrschenden Zweiklassenstrafrechts. Es liefert einen analytischen Blick in die Staatsapparate und zeigt die Gleichgültigkeit erzeugende Macht rechtpopulistischer Diskurse in der bürgerlichen Gesellschaft auf.</p><p></p><h2>Aktuelle Informationen</h2><p>Nach drei Jahren hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen jetzt eingestellt. Die Initiative Amed Ahmad plant eine Dienstaufsichtsbeschwerde beim Justizministerium in NRW und will ein juristisches Fachgutachten zum gesamten Komplex einholen. Am <b>13.10.2023 um 17:00 Uhr</b> findet vor dem Landtag Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf eine Kundgebung zum Tod von Amed Ahmad statt.</p><p>Zudem wurde im Bundespetitionsausschuss in Berlin eine Petition auf Familienzusammenführung für Rafarin Ahmad, die Schwester von Amed, gestartet, die vom Erdbeben in der Türkei betroffen war sowie für Sipan Ahmad, den Bruder von Amed, der im irakischen Kurdistan in einem UNHCR Camp lebt. Mehr Informationen sind auf der <a href="https://initiativeamad.blackblogs.org/">Webseite</a> der Initiative Amed Ahmad zu finden.</p><p></p><h2><b>Im Artikel genutzte Quellen</b></h2><p>Alp Kayserilioğlu (2017): <a href="https://revoltmag.org/articles/doch-keine-terrornacht-der-nafris/">Doch keine ‚Terrornacht der Nafris‘. Ein antirassistischer Nachschlag</a>. In: <i>re:volt magazine</i> vom 24.09.2017.</p><p>Andreas Wyputta (2020): <a href="https://taz.de/Tod-von-Amad-Ahmad-in-der-JVA-Kleve/!5690973/#:~:text=Andreas%20Wyputta&text=Am%2017.,die%20Eingeschlossenen%20gegen%20ihre%20Zellent%C3%BCren.">Tod von Amad Ahmad in der JVA Kleve. Behördenversagen mit Todesfolge</a>, in: <i>Taz Online</i> vom 21.06.2020.</p><p>Bündnis Tag der Solidarität – Kein Schlussstrich Dortmund (2020): <i>Trauer, Wut und Widerstand. Antirassistische Initiativen und Gedenkpolitik.</i> <a href="https://nrw.rosalux.de/fileadmin/ls_nrw/dokumente/Publikationen/2020/Brosch%C3%BCre_Trauer_Wut_und_Widerstand.pdf">[Online-Dokumentation]</a></p><p>Initiative Amed Ahmad (2021): <a href="https://www.kurdistan-report.de/index.php/archiv/2021/91-kr-218-november-dezember/1191-amed-ahmad-das-war-mord">Für das Leben und die Würde, gegen den gesellschaftlichen und institutionellen Rassismus. Amed Ahmad, das war Mord!</a> In: <i>Kurdistan Report 2021</i>.</p><p>Fanny Schneider/Maria Breczinski (NSU-Watch NRW): <a href="https://www.lotta-magazin.de/ausgabe/77/der-fall-amad-a/">Der „Fall Amad A.“ - Einblicke in die Arbeit des „Untersuchungsausschusses Kleve“</a>. In: <i>Lotta-Magazin</i> vom 20.01.2020.</p><p>Fidelius Schmid (2018): <a href="https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/kleve-verwechslungsopfer-haette-gefaengnis-fuer-285-euro-verlassen-koennen-a-1236434.html">Verwechslungsopfer hätte Gefängnis für 285 Euro verlassen können</a>. In: <i>Spiegel-Online</i> vom 02.11.2018.</p><p>Parlamentarischer Untersuchungsausschuss NRW III (Kleve), <a href="https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMD17-16940.pdf">Drucksache 17/16940</a>, Schlussbericht vom 05.04.2022.</p><p>Stefan Buchen/Philipp Henning (2019): <a href="https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Kleve-Fehlerkette-bei-Tod-eines-Haeftlings,kleve108.html#:~:text=Das%20Opfer%20ist%20ein%2026,des%20nordrhein%2Dwestf%C3%A4lischen%20Landtages%20kl%C3%A4ren.">Kleve: Fehlerkette beim Tod eines Häftlings</a>. In: <i>NDR</i> vom 19.01.2019.</p><p>Vanessa E. Thompson (2022): <a href="https://www.akweb.de/bewegung/black-lives-matter-abolitionismus-schwarze-bewegung-protest-marxismus-george-floyd/">Von Black Lives Matter zu Abolitionismus</a>. In: <i>analyse & kritik</i> (ak) vom 25.05.2022.</p><p>WDR Monitor (2019): <a href="https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/kleve-jva-100.html">Tod in der Zelle: Wurde der Syrer Amad A. Opfer von Polizeiwillkür?</a> In: <i>WDR</i> vom 4.4.2019.</p></div>
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Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?2023-05-17T22:46:37.991060+00:002023-05-18T14:41:20.835366+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/den-gordischen-knoten-zerschlagen-aber-wie/
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<h1>Den Gordischen Knoten zerschlagen – aber wie?</h1>
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<div class="rich-text"><p>Um es von Anfang an unmissverständlich zu sagen: Die Ergebnisse der Doppelwahl in der Türkei vom 14. Mai 2023 – für Parlament und Präsidentschaft – waren ein relativer Sieg für den amtierenden türkischen Präsidenten Reccep Tayyip Erdoğan und ein relativer Misserfolg der Opposition, sowohl der linken als auch der rechten. Selbst wenn das Präsidentschaftsrennen noch nicht entschieden ist – keiner der Kandidaten konnte die für den Sieg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen erforderlichen 50 %+1 der Stimmen für sich verbuchen, so dass am 28. Mai eine zweite Runde anberaumt ist – können wir schon jetzt einige wichtige analytische Schlussfolgerungen ziehen und Perspektiven diskutieren. Nicht zuletzt gibt es auch genügend Gründe, den Kampf um den Sieg über Erdoğan am 28. Mai nicht aufzugeben. Nähern wir uns dem vertrackten gordischen Knoten Schritt für Schritt.</p><h2><b>Die Beständigkeit des institutionalisierten autoritären Populismus an der Macht</b></h2><p>Die Wahlergebnisse der ersten Runde zeigen einen relativen Sieg von Erdoğan. Klar, autoritäre Repression, stark ungleiche Ausgangsbedingungen im Vorfeld und am Wahltag sowie Wahlbetrug in einer erneut von mysteriösen Unregelmäßigkeiten überschatteten Wahlnacht sind wie gehabt sehr wichtige Elemente, die diesen relativen Sieg ermöglicht haben. Es gibt bereits deutliche Anzeichen dafür, dass sich der Wahlbetrug vor allem darauf konzentriert hat, Stimmen für die linke, pro-kurdische Grüne Linkspartei (<i>Yeşil ve Sol Partisi,</i> YSP) in Stimmen für die rechtsextreme nationalistische Partei, die Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi,</i> MHP), den wichtigsten Verbündeten von Erdoğan, umzuwandeln (siehe z. B. den Hashtag #YeşilSolPartininOylarıNerede – „Wo sind die Stimmen für die YSP?“ – auf Twitter). Zum Zeitpunkt, an dem ich diesen Artikel schreibe, ist das Ausmaß des Betrugs noch nicht klar und auch nicht, ob dieser entscheidende Auswirkungen auf das Wahlergebnis haben wird. Die Entwicklungen sind, wie so oft in der Türkei, hochdynamisch. Dennoch: Der Betrug kann an sich nicht die enorme Unterstützung der Bevölkerung für Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten und sein regierendes Bündnis, die Volksallianz (<i>Cumhur Ittifakı</i>, CI) erklären.</p><p>Erdoğan kam nach den offiziellen (staatlichen) Zahlen mit bisher 49,50 % der Wähler:innenstimmen (gegenüber 52,60 % und einem Sieg in der ersten Runde im Jahr 2018) knapp an den Sieg in der ersten Runde des Präsidentschaftsrennens heran, während sein Konkurrent, der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (<i>Cumhuriyetçi Halk Partisi,</i> CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, der auch das wichtigste bürgerliche Oppositionsbündnis, die Allianz der Nation (<i>Millet Ittifakı</i>, MI), anführt, etwas weniger als 45 % der Wähler:innenstimmen auf sich vereinte. Obwohl Erdoğans CI mit einer Wähler:innenunterstützung, die nahe an der von Erdoğan liegt (49,46 % gegenüber 53,60 % im Jahr 2018 nach den bisherigen Zahlen), etwas weniger als die absolute Mehrheit gewonnen hat, verfügt die CI aufgrund der Wahlarithmetik mit 322 von 600 Abgeordneten immer noch über die absolute Mehrheit im türkischen Parlament. Obwohl die CI und Erdoğan Stimmenanteile verloren haben und Erdoğan es nicht geschafft hat, in der ersten Runde zu gewinnen, sollte die Tatsache, dass die MI und der zweite, linke Oppositionsblock, das Bündnis für Arbeit und Freiheit (<i>Emek ve Özgürlük Ittifakı,</i> EÖI) unter Führung der YSP, es nicht geschafft haben, die Macht der CI im Parlament zu brechen, sowie die Tatsache, dass Kılıçdaroğlu die erste Runde des Präsidentschaftswahlkampfs weder gewonnen noch angeführt hat, eindeutig als relativer Sieg für Erdoğan verstanden werden. Warum?</p><p>Im Gegensatz zu liberal-demokratischen Behauptungen über das starke Abschneiden der Opposition in der Türkei, wenn man sie mit der Opposition in Russland und Ungarn vergleiche (ein ausgezeichneter Artikel entlang dieser Argumentationslinie findet sich <a href="https://www.journalofdemocracy.org/seven-lessons-from-turkeys-effort-to-beat-a-dictator/">hier</a>), sollte man den entscheidenden Unterschied des autoritären Regimes in der Türkei im Vergleich zu den genannten betonen, der das Wahlergebnis zu einem relativen Sieg für das Regime macht: Es ist nämlich im Verhältnis zu den tiefen und vielfältigen Krisen zu sehen, in die das Regime das Land gestürzt hat. Die Türkei befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit über 20 Jahren (zumindest für die breite Masse der Bevölkerung), wobei das Schlimmste wahrscheinlich erst noch bevorsteht. Das Land hat bei der Pandemie im Bereich der öffentlichen Gesundheit sehr schlecht abgeschnitten und Anfang diesen Jahres die schlimmsten Erdbeben in der modernen Geschichte der Türkei durchlebt, für deren fatale Auswirkungen die Regierung eine <a href="https://revoltmag.org/articles/das-staatsbeben-in-der-t%C3%BCrkei/">große Verantwortung</a> trägt. Trotz alledem behält das Erdoğan-Regime die Oberhand. Und dies, im Übrigen, <a href="https://www.dwturkce.com/tr/erdo%C4%9Fan-deprem-b%C3%B6lgesinde-ilk-s%C4%B1rada-%C3%A7%C4%B1kt%C4%B1/a-65631057">auch im Erdbebengebiet</a>, wo der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-hangi-parti-ve-ittifak-ne-kazandi-ne-kaybetti-hangi-surpriz-sonuclar-var,40007">Rückgang der Unterstützung</a> für die CI und insbesondere für die AKP zwar nicht zu vernachlässigen ist, sie aber trotzdem weitab vorne liegen, während Erdoğan als Präsidentschaftskandidat <a href="https://substackcdn.com/image/fetch/f_auto,q_auto:good,fl_progressive:steep/https://substack-post-media.s3.amazonaws.com/public/images/13bcf876-0874-4b2f-832c-41200a25096d_795x566.jpeg">kaum Verluste</a> hinzunehmen hat im Vergleich zu 2018. Keines der etablierten rechtsautoritären Regime weltweit durchlebte bisher auch nur im Entferntesten derartig tiefe Krisen wie dasjenige unter Führung von Erdoğan.</p><hr/><h4><b>Dies führt zu einer ersten wichtigen theoretischen Schlussfolgerung, die auch im globalen Maßstab relevant ist: Ein institutionalisierter autoritärer Populismus an der Macht und seine Mechanismen der polarisierten Identitätsbildung können selbst angesichts tiefer und massiver Krisen hartnäckig Bestand haben.</b></h4><hr/><p>Einem Großteil der schockierten Reaktionen auf die Wahlergebnisse scheint ein liberaler, aufklärungsphilosophischer Ansatz zugrunde zu liegen, der davon ausgeht, dass niemand aus rationalen Gründen ein Regime wählen würde oder sollte, das die Bevölkerung – erneut aus vermeintlich rationalen Gesichtspunkten betrachtet – immer wieder im Stich lässt. Diese Argumentation war und ist erkenntnistheoretisch und ontologisch offensichtlich unangemessen, um zu verstehen, was in der jetzigen Wahl geschehen ist und was seit Jahren geschieht.</p><p>Erdoğan und die AKP konnten zunächst auf der Welle eines „eingebetteten Neoliberalismus“ reiten, das heißt, den Neoliberalismus in Mechanismen der minimalen Gesundheitsversorgung und oft recht paternalistische und klientelistische Formen der Umverteilung integrieren. Dies ging einher mit Diskursen und Praktiken, die das Gefühl einer umfassenden sozialen Teilhabe vermittelten. Diese waren wiederum vermittelt durch Subjektivierungsmechanismen nach konservativem Muster und einer nur restriktiven, das heißt nicht-strukturellen Ermächtigung der subalternen Teile ihrer Unterstützer:innenbasis. Diese gesellschaftliche Verankerung von Erdoğan und der AKP ist der Schlüssel zum Verständnis, wie es Erdoğan gelungen ist, seinen verschwörungstheoretisch-autoritären Diskurs und seine Politiken der Polarisierung so zu verankern, dass er ein veritables Maß an gesellschaftlicher Zustimmung auf sich vereinen und ein Bündnis mit extrem nationalistischen Kräften wie der MHP schmieden konnte. Ohne diesen tiefenanalytischen Hintergrund bleibt man schlicht an der Oberfläche der Ereignisse kleben, wie so viele <a href="https://www.gmfus.org/news/erdogan-just-short-another-victory-election-not-over-until-its-over">politikwissenschaftliche Analysen</a>, die beispielsweise die Polarisierungstaktiken oder den ökonomischen Populismus von Erdoğan hervorheben, aber nicht erklären können, warum das bei Erdoğan seit Jahren trotz tiefen Krisen klappt, bei Trump, Bolsonaro und Johnson aber nicht.</p><p>Der Erfolg, sich als Führer und die AKP als führende Partei zu präsentieren, die die Anliegen des Volkes vorantreibt entlang der oben genannten Linien und des oben genannten historischen Hintergrunds, verlieh der Anziehungskraft von Erdoğan/CI auch in Krisenzeiten eine gewisse Beständigkeit und verhinderte eine massive Abnahme der Zustimmung unter der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft. Hinzu kommt die reale und symbolische Selbst-Erhebung, die die Unterstützer:innen durch die Annahme des autoritären Angebots, Teil des von Erdoğan/CI vertretenen „nationalen Willens“ (<i>millî irade</i>) zu sein, erlangen. Auch die Auswirkungen der populistischen Wirtschaftspolitik im Vorfeld der Wahlen dürfen nicht unterschätzt werden: Deckelung der Mieten, Erhöhung des Mindestlohns, Ausweitung der Rentenansprüche und Erhöhung der Renten, Energieverbrauchssubventionen, Versprechen, das Erdbebengebiet innerhalb eines Jahres wieder aufzubauen, Versprechen, die Hälfte der Kosten für neue Wohnungen im Erdbebengebiet zu finanzieren und so weiter. Nichts von alledem dürfte nachhaltig sein. Aber die Versprechungen förderten das bereits bestehende erfolgreiche Führerimage. Eine typische Erdoğan/CI-Wähler:inmentalität, die in den letzten Wochen häufig zu sehen und zu hören war, besteht in der Klage über viele Dinge, etwa die Wirtschaft; gekoppelt aber mit dem Glauben, dass immer noch Erdoğan/CI die beste/einzige Option zur Lösung der Probleme sei.</p><p>Es ist also auch die Unzufriedenheit innerhalb der Erdoğan/CI-Wähler:innenschaft groß, was sich in den Stimmenverlusten für Erdoğan und die CI im Vergleich zu 2018 und in bestimmten qualitativen Feldstudien und öffentlichen Umfragen widerspiegelt. Warum ist es der Opposition dann nicht gelungen, diese Unzufriedenheit stärker als bisher von Erdoğan/CI weg zu kanalisieren?</p><h2><b>Die Grenzen eines halbherzigen progressiven Neoliberalismus</b></h2><p>Wie bereits mehrfach von kritischen Stimmen hervorgehoben wurde, ist der wichtigste bürgerliche Oppositionsblock eher schwach darin, eine überzeugende alternative Vision für Staat und Gesellschaft zu präsentieren – und noch weniger gut darin, eine solche Perspektive in sozialen Praktiken zu verankern, die mit den Menschen in Verbindung stehen. Ihre politökonomische Perspektive beinhaltet die Restauration eines klassischen neoliberalen Akkumulationsregimes, möglicherweise mit einem developmentalistischen Einschlag. Sie stehen damit für ein Akkumulationsregime, das hauptsächlich verantwortlich ist für ein Wachstum ohne Beschäftigungszuwachs (<i>jobless growth</i>), die zunehmende Ungleichheit von Einkommen und Vermögen und die Zerstörung der Organisation der Arbeiter:innenklasse – und damit für ein Akkumulations, das die Grundlage bot und bietet für die Bündelung der Unzufriedenheit auf reaktionäre Weise, wie es Erdoğan tat und weiterhin tut.</p><hr/><h4><b>Auch in dieser Hinsicht ähnelt der Fall der Türkei dem globalen Trend einer vorherrschenden innersystemischen Dialektik zwischen progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus vor dem Hintergrund einer tiefen und vielschichtigen Krise der globalisierten neoliberalen Weltordnung. In der Türkei jedoch mit einer noch weniger ausgeprägten „Progressivität“ auf der neoliberalen Seite der Dialektik als etwa bei Macron in Frankreich, Biden in den USA oder der „Fortschrittskoalition“ in Deutschland. Wie und warum ist das so?</b></h4><hr/><p>Die Forderung der MI nach Demokratie bleibt recht unbestimmt, da vor allem die innerstaatliche Dimension der Demokratisierung von der Hauptopposition dargelegt wird im Rahmen einer Perspektive hin zu einem gestärkten parlamentarischen System. In den einschlägigen Dokumenten der MI finden sich viele gute Vorschläge, zum Beispiel in Bezug auf das Justizwesen. Allerdings sollte man nicht vergessen, dass das derzeitige Präsidialregime in der Türkei nicht mit dem Fallschirm vom Himmel auf die Erde gesprungen ist, sondern sich aus eben einem parlamentarischen System heraus entwickelt hat – genauer gesagt dadurch, dass Erdoğan/CI gesellschaftliche Konflikte instrumentalisiert haben, um vor dem Hintergrund einer Hegemoniekrise den Übergang zu einem autoritären Präsidialregime zu forcieren. In dieser Hinsicht bleibt die Forderung der Hauptopposition nach Pluralismus in den gesellschaftlichen Beziehungen weit weniger detailliert, da hoch umstrittene Themen wie die kurdische und alevitische „Frage“ und das Thema der LGBTQI+-Rechte umgangen werden. Positive Verweise auf historische Institutionen ausgrenzender religionsbasierter Politik wie das Direktorat für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) finden sich bei der CHP, aber auch bei anderen Parteien der MI. Ebenso finden sich positive Verweise auf neuere symbolische und institutionelle Elemente des Rechtsnationalismus und Autoritarismus, etwa auf die Einleitung und die ersten vier Paragraphen der vom Militär auferlegten und immer noch gültigen Verfassung von 1982. Diese beinhalten ein ethnisch-ausgrenzendes Verständnis der türkischen Nation und einen autoritären „Atatürkismus“. Elemente wie diese, gepaart mit einem starken Fokus auf aggressiven Nationalismus und patriarchale Werte, waren die Schlüsselthemen, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert wurden, um auf dem Weg zum aktuellen Präsidialsystem auf Zustimmung zu drängen. Und sie bleiben die Schlüsselelemente, die von Erdoğan/CI instrumentalisiert werden, um aktuell den autoritären Konsens zu konsolidieren. Nicht zuletzt ähnelte die Mobilisierung der Hauptopposition jener von Erdoğan/CI: Das hieß, die Menschen kleinzuhalten und zu demotivieren, selbst aktiv zu werden oder auf die Straße zu gehen, indem sie sie vor schlimmen Dingen warnen, die sonst passieren könnten. Sie setzen darauf, dass die Menschen demobilisiert bleiben oder nur auf eine paternalistische und kontrollierte Weise mobilisiert werden.</p><p>Ein ausgrenzender (extremer) Nationalismus, eine ausgrenzenden religionsbasierten Politik sowie die einem autoritären Staatsglauben und der Staatssicherheit eingeräumte Vorrangstellung gegenüber der selbsttätigen Aktivität der Massen und der popularen Demokratie sind zentrale Themen der herrschenden Blöcke seit der Gründung der modernen Republik Türkei. Nichts davon war und ist unangefochten und unverändert. Ein Intermezzo großer sozialer Auseinandersetzungen 1960-80 stellte diese autoritären Grundlagen der Republik in Frage. Diese wurden jedoch von der Militärjunta des Staatsstreichs vom 12. September 1980 und ihrer autoritären Verfassung in modifizierter Form wiederhergestellt.</p><p>Seitdem ist das zunehmende Erstarken eines rechtsgerichteten Konservatismus zu verzeichnen, der Nationalismus und Islamismus einschließt. Er wird von den wichtigsten bürgerlichen Parteien und dem Militär propagiert und instrumentalisiert und füllt das Vakuum, das die zerstörte revolutionäre Linke hinterlassen hat. Stärkere oder schwächere Alternativ- oder Gegentrends gab und gibt es nach wie vor, wie der kurzlebige Aufstieg der Sozialdemokratie in den frühen 1990er Jahren, die illusionären Versuche eines „progressiven Neoliberalismus“ unter der frühen AKP und in jüngerer Zeit vor allem der Gezi-Aufstand von 2013 gezeigt haben. Die Republikaner und die republikanische Linke haben es jedoch vermieden und vermeiden es weiterhin, Gegentendenzen zu einer umfassenden nicht-neoliberalen Alternative zu formulieren, während die revolutionäre Linke nach 1980 viel zu schwach blieb und bleibt oder in Teilen liberal wurde. Das ist der Hauptgrund, warum es seit geraumer Zeit eine unabhängige dritte, linke und pro-kurdische Koalition in der Türkei gibt.</p><p>Dass der wichtigste Oppositionsblock heute ebenfalls versucht, auf der dominierenden Welle des Konservatismus zu reiten, sollte daher nicht überraschen. Noch weniger, wenn man bedenkt, dass im Grunde alle Parteien innerhalb der MI neben der CHP Abspaltungen von der AKP (Davutoğlus GP, Babacans DEVA) oder der MHP (Akşeners IYI) sind, außerdem eine Nachfolgepartei der Vorgängerpartei der AKP (Karamollaoğlus SP) und eine Partei, die in der Haupttradition der rechten Mitte in der Türkei steht (Uysals DP). Es handelt sich also um Parteien der rechten Seite des politischen Spektrums, weswegen die manchmal zu vernehmende Rede von einer „großen, parteienübergreifenden Koalition“ in Bezug auf die MI schlicht falsch ist.</p><p>Es gibt keine offene Zusammenarbeit mit der YSP oder dem EÖI, diese wird von fast allen Parteien innerhalb der MI außer der CHP rundweg abgelehnt. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die YSP und ihre Vorläuferin, die Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP) bei den Kommunalwahlen 2019 maßgeblich zum Erfolg der Opposition beigetragen haben und jetzt wieder dazu beitragen, den Stimmenanteil von Kılıçdaroğlu zu erhöhen. In der Tat erzielte Kılıçdaroğlu in den überwiegend kurdischen Gebieten der Türkei die höchsten Werte, oft weit über 60 % der Stimmen. Im Gegensatz dazu hört man oft Aufrufe aus dem liberalen Lager an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich zugänglich gegenüber konservativen und nationalistischen Wähler:innen zu zeigen, um eine erfolgreiche demokratische Koalition zu schmieden und die Macht von Erdoğan/CI über diese Wähler:innenschaft zu brechen. Ähnliche Aufrufe an Kılıçdaroğlu und die CHP, sich der HDP/YSP oder dem EÖI anzunähern, gibt es allerdings kaum. Offensichtlich ist die MI nicht nur aus pragmatischen Gründen der Ansicht, dass ein Einlenken gegenüber einer scheinbar dominanten konservativen Strömung ihr die Oberhand bei den Wahlen verschaffen würde. Der Schluss ist naheliegend, dass die Mehrheit der MI auch aktiv davon überzeugt ist, dass der Konservatismus die „richtige“ Art und Weise ist, zu regieren und die Gesellschaft zu gestalten. Gerade dieses Appeasement an den rechtskonservativen Trend machte es schon vor den Wahlen fragwürdig, wie weit eine Demokratisierung unter Führung der MI gehen könnte.</p><p>Allerdings scheint diese Anpassung an den dominanten rechtskonservativen Trend als Alternative gar nicht erst überzeugend genug zu sein, um einen Wandel in der Legislative einzuleiten, wie schon vor den Wahlen oft kritisch angemerkt wurde: Die MI blieb bei den Parlamentswahlen im Wesentlichen bei ihren Stimmenanteilen von 2018 (damals 33,94%, jetzt 35%), wobei die IYI etwas weniger (jetzt 9,7% gegenüber 9,96% 2018) und die CHP etwas mehr als bei den letzten Wahlen (25,33% gegenüber 22,65%) erzielte. Da die CHP jedoch nur durch die viel gepriesene Taktik, mit allen MI-Mitgliedern außer der IYI mit gemeinsamen Listen in den Wahlkampf zu ziehen, mehr Abgeordnete gewinnen konnte, werden sich diese Gewinne in Verluste verwandeln, da die CHP mehr Sitze an MI-Mitglieder abgeben wird, als sie gewonnen hat. Man fragt sich schon, ob die Taktik, eine Mitte-Rechts-Koalition zu schmieden, um das demokratische Potenzial gegen den Autoritarismus zu kanalisieren, doch nicht so gut aufgegangen ist und ob ein alternatives Mitte-Links-Bündnis, etwa mit der CHP und der HDP im Kern, bei guter Durchführung, nicht erfolgreicher gewesen wäre.</p><p>Die Lehren aus dem relativen Scheitern der Opposition sind meines Ermessens daher diese hier: Ohne eine umfassende alternative gesellschaftliche Vision, inklusive einer alternativen politökonomischen Vision, plus einer Praxis, die sich im Alltag und in der sozialen Praxis der Menschen mit diesen verbindet, um die Alternative tatsächlich zu verankern und die Menschen umfassend handlungsfähig subjektiviert und daher die reaktionären Subjektivierungsmechanismen ersetzt, wird es kaum gehen. Oder es wird gehen zu einem immer stärker steigenden Preis, das heißt auf dem Hintergrund von immer schwereren Krisen, deren Materialität dann irgendwann die Materialität und Superstruktur des Erdoğanismus brechen wird, allerdings dann mit einer Stoßrichtung, die radikal offen bleibt in alle Richtungen, fortschrittlich wie reaktionär.</p><hr/><h4><b>Schlimmer jedoch als die nur mittelmäßige Performance der MI ist,</b> <b>dass das Einlenken gegenüber dem Rechtskonservatismus, um dessen extremste autoritäre Form, nämlich das faschistoide Regime unter Erdoğan, zu stürzen, dazu beigetragen hat – wohl unbeabsichtigt, nehme ich an, aus der Sicht der Mehrheit der Republikaner:innen –, die steigende Flut des rechten (extremistischen) Konservatismus zu stärken. Auch das war eine große Gefahr, vor der kritische Analysen schon seit geraumer Zeit gewarnt haben.</b></h4><hr/><h2><b>Der Aufstieg des extremen Rechtskonservatismus</b></h2><p>Der heimliche Gewinner der Wahlen in der Türkei vom 14. Mai 2023 scheint derzeit der (extreme) Rechtskonservatismus zu sein, der als allgemeine Tendenz bündnisübergreifend erstarkt und verschiedene Unterströmungen wie extremen Nationalismus und extremen Islamismus umfasst. Zählt man die (rechtsextremen) nationalistischen Parteien aus der Regierungskoalition wie die MHP, aber auch aus der Opposition wie die bereits erwähnte IYI, aber auch die rasend flüchtlingsfeindliche Partei des Sieges (<i>Zafer Partisi</i>, ZP), die ihrerseits eine Abspaltung der IYI ist, zusammen, ergibt sich für diese Strömung ein Gesamtstimmenanteil von etwa 24-25 %. Das große bisher ungelöste Rätsel in dieser Gleichung ist die starke Performance der MHP. Waren ihr im Durchschnitt aller Umfragen vor den Wahlen 6-7% der Stimmen vorhergesagt worden, konnte sie mit knapp über 10% der Stimmen ihre Zustimmungswerte von 2018 im Allgemeinen fast ohne Verluste verteidigen. Eine ähnliche massive Fehlvorhersage fast aller Wahlumfrageinstitute für das Abschneiden der MHP war schon 2018 aufgetreten.</p><p>Auf der anderen Seite, während die AKP als Partei, obwohl sie immer noch die stärkste Partei bleibt, der große Verlierer dieser Wahlen ist (35,58% im Vergleich zu 42,56% im Jahr 2018), werden die extremen Islamisten von Erbakans Neuer Wohlfahrtspartei (<i>Yeniden Refah Partisi,</i> YRP) mit 2,82% der Stimmen als Teil der CI fünf Mitglieder ins Parlament schicken. Darüber hinaus sind vier Abgeordnete der kurdisch-islamistischen Partei der Freien Sache (<i>Hür Dava Partisi,</i>HÜDA-PAR) über die AKP-Listen ins Parlament eingezogen. Die YRP wurde der CI hinzugefügt, um deren Anziehungskraft im islamistischen Lager zu verstärken, während die HÜDA-PAR dem Bündnis hinzugefügt wurde, um die Anziehungskraft unter konservativen Kurd:innen zu erhöhen. Während HÜDA-PAR in der Tradition der türkischen Hizbullah steht, die in den 1990er Jahren für barbarische Massaker und Fälle brutaler Folter verantwortlich war, pflegen sowohl HÜDA-PAR als auch YRP eine aggressive Feindseligkeit gegenüber queeren Menschen und Frauen*rechten. Wie der erfahrene republikanische Journalist Murat Yetkin zu Recht <a href="https://yetkinreport.com/2023/05/16/turkiyenin-en-milliyetci-ve-muhafazakar-meclisi-kuruldu/">feststellt</a>, ist das derzeitige Parlament auf dem besten Wege, das nationalistischste und islamistischste Parlament in der Geschichte der modernen Türkei zu werden. Im Präsidentschaftswahlkampf hat der rechtsextrem-nationalistische Kandidat Sinan Oğan, der sich ebenfalls von der IYI abgespalten hat und sich für das im Rennen um das Parlament an sich unbedeutende ATA-Bündnis (wortwörtlich „Bündnis der Vorfahren“) aufstellen ließ, mit einem Gesamtstimmenanteil von 5,17 % entscheidend dazu beigetragen, dass das Rennen nun in eine zweite Runde geht.</p><p>Auch wenn wir noch nicht über wissenschaftlich fundierte Analysen der Wähler:innenströme verfügen, können wir vorläufig davon ausgehen, dass verärgerte AKP-Wähler:innen für Parteien innerhalb desselben Bündnisses (wie etwa die YRP) und in geringem Maße für Parteien außerhalb der Regierungskoalition, die dieser ideologisch nahe stehen, gestimmt haben.</p><p>Es zeichnet sich ab, dass nationalistisch orientierte Neuwähler:innen und verärgerte Wähler:innen anderer Parteien, <a href="https://turkiyeraporu.com/arastirma/cumhurbaskani-adaylari-hangi-parti-secmenlerinden-oy-aldi-15309/">insbesondere</a> diejenigen, die IYI gewählt haben, Sinan Oğan ihre Stimme gaben. IYI-Parteichefin Meral Akşener scheint durch das Wahlergebnis nicht so sehr aus der Fassung gebracht zu sein zu sein wie die Republikaner oder die Linke; sie hat sich in der Wahlnacht und bis zum jetzigen Zeitpunkt (Mittwoch, 17. Mai) überhaupt nicht zu den Wahlergebnissen geäußert. Man kann nur vermuten, dass ein extremer Nationalist aus der gleichen Tradition wie Akşener als mutmaßlicher Königsmacher in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen sie ebenso erfreut wie das allgemein starke Abschneiden des (extremen) Nationalismus bei den Wahlen.</p><hr/><h4><b>Zusammenfassend haben die jahrelange Dämonisierung der relativ zentristischen CHP und insbesondere der HDP/YSP als terroristisch von einem extrem nationalistischen Standpunkt aus ebenso wie das Fehlen einer Alternative zum Rechtskonservatismus und die Beschwichtigung desselben durch den wichtigsten Oppositionsblock zu diesen Ergebnissen geführt.</b></h4><hr/><p>Das heißt, Politik hat zu dieser Situation beigetragen und nicht irgendeine mysteriöse allgemeine Soziologie der Türkei, derzufolge reaktionärer Konservatismus/Nationalismus irgendwie ein fester Bestandteil der türkischen Nation seit ehedem sei. Dennoch: Wie beispielsweise Cihan Tuğal <a href="https://www.bbc.com/turkce/articles/c3gpj1p1e7eo">hervorgehoben</a> hat, werden diese strukturellen Verschiebungen in der allgemeinen Wähler:innenstimmung und der Identitätsbildung in den wenigen Tagen vor der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen höchstwahrscheinlich nicht mehr rückgängig gemacht werden können, auch wenn Kılıçdaroğlu das wollte (was er, übrigens, offensichtlich nicht tut; siehe weiter unten). Bevor ich mich der Wahlnacht und den Perspektiven für den zweiten Wahlgang zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf den Zustand der Linken werfen.</p><h2><b>Revolutionäre Fehlzündungen</b></h2><p>Nach den aktuell vorliegenden offiziellen Ergebnissen bleibt das Abschneiden des linken EÖI mittelmäßig. Sie könnte sogar Stimmenanteile verloren haben (10,54 % jetzt gegenüber 11,70 % für die HDP im Jahr 2018). Dies gilt insbesondere für die YSP (jetzt 8,81 %), unter deren Dach die HDP kandidierte, da letztere mit einem politisierten Schließungsverfahren vor dem Verfassungsgericht konfrontiert ist. Da sich die Diskussionen um Wahlbetrug jedoch speziell auf die Stimmen für die YSP und in geringerem Maße für die Arbeiterpartei der Türkei (<i>Türkiye Işçi Partisi,</i>TIP), die Teil des EÖI ist, konzentrieren, werden detaillierte Diskussionen über den Wahlerfolg oder das Scheitern des EÖI warten müssen, bis sich der Nebel des Krieges gelichtet hat. Dennoch lassen sich bereits jetzt einige allgemeinere Aussagen treffen.</p><p>Der bereits erwähnte Betrug und die autoritäre Repression sowie der allgemeine Anstieg des Rechtskonservatismus der letzten Jahre haben den Aktionsradius des EÖI eingeschränkt. Dennoch bleibt das EÖI eine wichtige Kraft, mit der man rechnen muss, und zwar seit Jahren. Das Bündnis stellt den einzigen wirklichen Garant für die Demokratisierung in der Türkei dar, und aufgrund der sozialistischen und linken Tendenzen innerhalb des EÖI auch für die Möglichkeit einer sozialen Perspektive für die Türkei über den Neoliberalismus hinaus. Das ist einer der Gründe für die Dämonisierung des EÖI und insbesondere der HDP/YSP durch die meisten Parteien des politischen Spektrums: Sie wollen diese Ausrichtung einer Alternative für die Türkei auf die Kurd:innen und einige marginalisierte Elemente der Linken beschränken, da der Rechtskonservatismus von den dominierenden politischen Parteien als soziale Vision für die Türkei bevorzugt wird.</p><p>Das EÖI wurde erst kurz vor den Wahlen gegründet und bezog noch mehr sozialistische Parteien als zuvor in ein strategisches Bündnis mit den pro-kurdischen linken Kräften ein. Dies war ein wichtiger Schritt, da es die Reichweite eines strategischen Bündnisses von Sozialist:innen und pro-kurdischen Linken um diejenigen Parteien und Organisationen erweiterte, die früher in relativer Distanz zur kurdischen Bewegung standen. Allerdings führten Meinungsverschiedenheiten darüber, ob man über gemeinsame Listen unter dem Dach der HDP/YSP oder über verschiedene Listen in den Parlamentswahlkampf eintreten sollte, zu schwerwiegenden Reibereien innerhalb des Bündnisses. Letztendlich entschied sich nur die TIP aus den Reihen des EÖI, über eine unabhängige Liste neben der HDP/YSP anzutreten, während alle anderen sozialistischen Parteien über HDP-Listen kandidierten. Positiv am Wahlergebnis für das EÖI ist die Tatsache, dass die TIP aus dem Stand heraus vier Abgeordnete mit 1,73% der Stimmen gewinnen konnte, das ist die gleiche Anzahl an Abgeordneten wie bei und nach ihrer ersten Kandidatur 2018 über HDP-Listen. Dies ist prinzipiell zu begrüßen, da es zeigt, dass eine sozialistische Partei in strategischer Allianz mit der HDP/YSP in der Lage ist, selbst als Newcomer im parlamentarischen Wettbewerb Stimmen und Sitze zu gewinnen. Auch hier liegt bislang keine klare Analyse der Wähler:innenströme vor, so dass nicht genau festgestellt werden kann, woher die Stimmen für die TIP kamen. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass TIP Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen, bisherigen Nichtwähler:innen und HDP/YSP-Wähler:innen erhalten hat. Sollte die TIP mehr Stimmen von linksgerichteten CHP-Wähler:innen und Nichtwähler:innen als von HDP/YSP-Wähler:innen erhalten haben, könnte man davon ausgehend argumentieren, dass die eigenständigen Listen der TIP im Prinzip zum Wachstum des Gesamtstimmenanteils des EÖI beigetragen hat.</p><p>Wie auch immer die Wähler:innenströme im Einzelnen aussehen mögen: Auf der negativen Seite des Wahlergebnisses für das EÖI steht die Tatsache, dass die Kandidatur über getrennte Listen nach einigen Berechnungen für das EÖI aufgrund der Spaltung der linken Wähler:innenschaft in bestimmten Wahlbezirken zu einem Verlust von <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/sertug-cicek/14-mayis-secimlerinin-rontgeni-ittifak-politikalari-ne-kazandirdi-ne-kaybettirdi-tip-in-ayri-listesi-hangi-illerde-sonucu-etkiledi,40029">etwa vier Abgeordneten</a> führte (Berechnungen über potenzielle Verluste von Parlamentssitzen bleiben noch provisorisch). Während ein Zusammenschluss mit dem vorrangigen Ziel, mehr Abgeordnete zu erhalten – und damit der Verzicht auf unabhängige Organisation und Propaganda – in normalen Zeiten als eine autoritäre Perspektive des Ausbügelns von Differenzen um des stärksten Teils der Einheit willen aus rein pragmatischen Gründen (= mehr Abgeordnete) angesehen und kritisiert werden muss, war die Türkei am 14. Mai nicht auf normale Wahlen eingestellt: Die absolute Mehrheit der CI im Parlament zurückzudrängen und Erdoğan als Präsidentschaftskandidaten zu schlagen, war und bleibt der Schlüssel, um den konsolidierten Autoritarismus an diesem kritischen historischen Punkt empfindlich zu treffen. Darum ging es am 14. Mai. Der Zeitpunkt der TIP-Initiative, mit eigenen Listen anzutreten und auch dort separat zu kandidieren, wo dies absehbar zu einem Verlust von Abgeordneten für das EÖI insgesamt führen würde, muss daher als grober Fehler gewertet werden, der die gemeinsame Dynamik des Bündnisses beschädigte und als solcher scharf kritisiert werden sollte.</p><p>Andererseits hat der Geist der Debatten über die Listenfrage und die Perspektive nach den Wahlen zuweilen die Grenzen des legitimen Wettbewerbs und der Kritik innerhalb eines Linksbündnisses verlassen und war auch für den Geist des Bündnisses äußerst destruktiv. Wenn wir die bisherigen offiziellen Ergebnisse für bare Münze nehmen (und dabei immer den Betrugsvorbehalt im Hinterkopf behalten), hat die HDP/YSP mehr Stimmen <a href="https://t24.com.tr/haber/hdp-ve-yesil-sol-parti-den-secim-sonuclarina-iliskin-aciklama,1110004">verloren</a> als die TIP gewonnen hat, <a href="https://twitter.com/alkanfrkan/status/1658036982721675264">selbst</a> in Gebieten, in denen die TIP nicht parallel zur HDP/YSP antrat, wie in (Teilen von) Izmir, Ankara, Bursa, Aydın, Kocaeli und Manisa. Die Beschädigung des Bündnisgeistes könnte zu einer Demoralisierung und folglich zu einem Verlust von Stimmenanteilen insgesamt beigetragen haben. Eine nüchterne Selbstreflexion und -kritik ist notwendig, um die Gründe für den relativen Verlust von Stimmenanteilen zu finden. Innerhalb des Bündnisses stehen an den beiden extremen Polen der Debatte die Klage des TIP-Abgeordneten Ahmet Şık über „kurdische Faschisten“ und die Behauptung der HDP-Ko-Vorsitzenden Pervin Buldan, jede Stimme für eine andere Partei innerhalb des EÖI als die HDP/YSP sei eine Stimme für Erdoğan (beide entschuldigten sich später). Auch nach der Wahlnacht ging die Suche nach einem Sündenbock innerhalb des EÖI viral. Dies ist keine akzeptable Form, eine bündnisinterne Debatte zu führen.</p><hr/><h4><b>Die EÖI-Mitglieder und -Mitgliedsparteien sollten sich rasch wieder auf die Wiederherstellung des Bündnisgeistes besinnen, ohne sich dabei berechtigte Kritik zu verkneifen. Gerade jetzt sind alle Kräfte notwendig, um die seit der Wahlnacht einsetzenden allgemeinen Demoralisierungstendenzen umzukehren, um auf dem steinigen Weg zum 28. Mai wieder die Initiative zu ergreifen.</b></h4><hr/><p>Man kann nicht genug betonen, wie wichtig es ist, sich so schnell wie möglich auf die zweite Wahlrunde vorzubereiten. Zudem: Mittel- bis langfristig, unabhängig von den Ergebnissen des 28. Mai, ist eine starke und geeinte EÖI notwendig, um dem Aufstieg des Rechtskonservatismus entgegenzuwirken, mehr Kräfte für eine Demokratisierung der Türkei mit einer starken sozialen Perspektive zu sammeln und das Kräftegleichgewicht in eine solche Richtung zu bewegen. Dies wird der EÖI nicht gelingen, wenn sie in eine Psychologie der Niederlage zurückfällt, die die destruktiven Energien nach innen lenkt, anstatt sie in positive Energien nach außen zu wenden.</p><h2><b>Ein harter Kampf steht bevor</b></h2><p>Momente und Elemente, die keine zentralen Bestandteile von Strukturen oder von mittel- bis langfristigen Tendenzen darstellen, können dennoch kurzfristig von großer Bedeutung sein. Sie werden historisch entscheidend, wenn das Kurzfristige selbst ein kritischer historischer Kreuzungspunkt ist.</p><p>Die Wahlnacht bleibt nach wie vor geheimnisumwittert, da die Veröffentlichung neuer Daten zum Wahlergebnis durch alle relevanten Instanzen, einschließlich des von CHP und MI konstruierten alternativen Systems, mitten in der Nacht für einige Stunden gestoppt wurde. Selbst die sonst sehr lautstarken CHP-Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş, die die offizielle Auszählung und die AKP-Blockademanöver am Abend und in der Nacht angefochten hatten, verstummten ohne jede Erklärung. Dabei hatte Imamoğlu bei den Kommunalwahlen am 31. März 2019 die ganze Nacht hindurch die offizielle Auszählung in ganz ähnlicher Weise angefochten, was als entscheidendes Element für den Sieg der CHP gegen den versuchten Wahlbetrug durch die AKP angesehen wird. Was ist dieses Mal passiert? Drei Tage danach gibt es immer noch keine befriedigende Erklärung. Es gibt viele Gerüchte und Anzeichen – wie den Rücktritt der Person, die innerhalb der CHP für die Wahlsicherheit und die Wahlberichterstattung zuständig ist –, die darauf hindeuten, dass innerhalb der CHP etwas grundlegend schief gelaufen ist. Aber die breite Bevölkerung wird über Details im Unklaren gelassen und dadurch demobilisiert. Hinzu kommt, dass Wahlbetrug, dessen Ausmaß nach wie vor hoch <a href="https://twitter.com/alicanuludag/status/1658580790773440514?t=RD_k8mk4GHrW0UesNWklkw&s=35">umstritten</a> ist, bereits zwei Tage nach den Wahlen aufgedeckt wurde. Vielleicht ist es reiner Zufall und die hohe analytische Begabung des Innenministers Süleyman Soylu (AKP), dass er das Wahlergebnis am Wahltag fast <a href="https://www.sabah.com.tr/yazarlar/ovur/2023/05/16/secimin-kazanani-kaybedeni-ve-surprizi">exakt genau</a> vorhersagte (49,50% für Erdoğan, 320-325 Sitze für CI). Oder vielleicht auch nicht.</p><p>Selbst wenn der Betrug die immer noch hohe Wähler:innenunterstützung für Erdoğan und die CI nicht erklärt: Wenn Betrug das Wahlergebnis auch nur um 1-3% zugunsten von Erdoğan und der MHP und gegen Kılıçdaroğlu und die YSP verändert hat, wird er entscheidend für den Moralfaktor im Vorfeld der zweiten Runde des Präsidentschaftsrennens sein. Was in der Wahlnacht vor aller Augen geschah – zahllose Einwände von AKP-Militanten gegen die Auszählung von Wahlurnen in Istanbul und Ankara – könnte dann als Ablenkungsmanöver interpretiert werden, um Aufmerksamkeit, Zeit und Energie von den Wahlurnen abzulenken, wo der eigentliche Betrug stattfand. Die Entlarvung dieses möglichen Wahlbetrugs wird Kılıçdaroğlu höchstwahrscheinlich keinen Sieg in der ersten Runde bescheren und vermutlich auch nicht die absolute Mehrheit der CI im Parlament zunichte machen. Aber das unerwartet starke Abschneiden der MHP im Parlament und der Beinahe-Sieg von Erdoğan in der ersten Runde waren die beiden Schlüsselelemente der weit verbreiteten Demoralisierung in und nach der Wahlnacht. Sicherlich tragen auch die von den politischen Parteien genährten überzogenen Erwartungen ihren Teil der Verantwortung für diese Demoralisierung. Dennoch würde eine Verringerung des Stimmenanteils der MHP und von Erdoğan durch die Aufdeckung dieser Betrugsfälle die Moral erheblich stärken.</p><hr/><h4><b>Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, den genauen Umfang des Wahlbetrugs so gut wie möglich zu ermitteln und die Ergebnisse so schnell wie</b> <b>möglich zu kippen, um die</b> <b>allgemeine Stimmung auf dem steinigen Weg zum 28. Mai zu ändern. Trotzdem: Auch ohne die Aufdeckung des Betrugs ist der selbst in manchen kritischen Analysen festzustellende Defätismus im Hinblick auf die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen von vornherein ein falscher Ansatz.</b></h4><hr/><p>Sinan Oğan und die rund 5 % der Stimmen, die er auf sich vereinigen konnte, sind entscheidend geworden für den 28. Mai. Oğan hat erklärt, er werde mit beiden Seiten sprechen und seine Forderungen für eine Unterstützung seinerseits am 28. Mai vorlegen. Diese lassen sich im Wesentlichen auf die Forderung reduzieren, dem extremen türkischen Nationalismus und der Anti-Geflüchteten-Hetze Respekt zu zollen. Oğan scheint im Moment dazu zu tendieren, Kılıçdaroğlu am 28. Mai zu unterstützen, während er bereits mit vorgezogenen Neuwahlen in zwei bis drei Jahren rechnet – unabhängig davon, wer gewinnt, da er, nicht ganz zu Unrecht, eine instabile Situation nach dem 28. Mai voraussieht. Andererseits ist der Charakter von Oğans Wähler:innenschaft noch nicht wirklich klar. Sie sind offensichtlich in Opposition zu Erdoğan und durch nationalistische Gefühle motiviert, zugleich aber auch auf Distanz zu Kılıçdaroğlu. Kılıçdaroğlu kann sich entscheiden, dem türkischen Nationalismus noch mehr Zugeständnisse zu machen, als er ohnehin schon gemacht hat, um die Oğan-Wähler:innen für sich zu gewinnen. Hierdurch läuft er jedoch Gefahr, die Unterstützung der Linken und der Kurd:innen zu verlieren. Oder er setzt auf die Betonung der anti-Erdoğan und antifaschistischen, pro-demokratischen Perspektive, die von Teilen der Oğan-Wähler:innen geteilt zu werden scheint – und riskiert, im Gegenzug die Unterstützung der Hardcore-Nationalist:innen zu verlieren. Mit Stand heute (Mittwoch, 17. Mai) scheint er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-vatanimizi-birakmayacagiz-dedi-10-milyon-duzensiz-multeciyi-icimize-soktular,1110466">ersteres zu bevorzugen</a> und beginnt mit einer aggressiven Anti-Geflüchteten-Hetze sowie einem Lob auf das Vaterland und den nationalistischen Militarismus.</p><p>Wie dem auch sei, ein Sieg von Kılıçdaroğlu wäre der Schlüssel zur Schwächung von Erdoğan und der CI, da das autoritäre Präsidialsystem dem Präsidenten die Möglichkeit gibt, die gesamte Regierung und einen großen Teil der oberen Bürokratie zu bestimmen, unabhängig davon, wer das Parlament kontrolliert. Eine Situation der Doppelherrschaft, in der ein Block den Präsidenten und der andere das Parlament kontrolliert, würde also nicht automatisch zu einem Verwaltungschaos führen, wie manche meinen. Die Exekutive und die Bürokratie unter Kılıçdaroğlu, einschließlich der Sicherheitsapparate, der wirtschaftspolitischen Institutionen und großer Teile der oberen Gerichtsbarkeit, könnten so agieren, dass sie die absolute Mehrheit der CI im Parlament umgehen. Aus hegemonialer Sicht wäre eine solche Situation jedoch höchstwahrscheinlich nicht für längere Zeit haltbar, insbesondere angesichts des Versprechens der MI, das Präsidialsystem zu beenden.</p><p>Die Opposition gegen den Faschisierungsprozess in der Türkei hat auf dem steinigen Weg zum 28. Mai einen schweren Stand. Zwar hat die partielle Aufdeckung des Betrugs, dessen Ausmaß nach wie vor umstritten ist, die Moral bis zu einem gewissen Grad wiederhergestellt, doch haben Erdoğan und die CI nach wie vor die Oberhand, und es sieht aus heutiger Sicht wahrscheinlicher aus, dass sie den 28. Mai gewinnen werden. Das ist jedoch keine ausschließliche Notwendigkeit, und es besteht eine realistische Chance, dass auch Kılıçdaroğlu gewinnt. Dies sollte nicht leichtfertig abgetan werden, da der Erfolg oder Misserfolg des Kampfes gegen die Demoralisierung und die Wiedererlangung der Initiative mit darüber entscheidet, ob Erdoğan am 28. Mai besiegt wird oder nicht. Der Erfolg oder Misserfolg am 28. Mai ist nicht nur eine intellektuelle, erkenntnistheoretische Übung der rationalen Analyse dessen, was mehr oder minder wahrscheinlich geschehen wird, sondern eben auch eine Frage der Praxis, die den Ausgang der Wahl mit entscheidet. Nichts anderes bedeutet es in praktischer Hinsicht, von Möglichkeiten statt von Notwendigkeiten zu sprechen. Defätismus à la „Erdoğan hat eh schon gewonnen, ich mach mir überhaupt keine Hoffnungen“ ist eine Luxusware aus der Sicht all jener oppositionellen und dissidenten Menschen, die im Falle eines Erdoğan/CI-Doppelsieges keine realistische Perspektive haben, aus dem Land zu fliehen. Die Depression, die aus der Wahrnehmung einer ausweglosen Perspektive von weiteren fünf Jahren Erdoğan in Koalition mit der Hizbullah entstanden ist, hat schon jetzt die 20-jährige Kübra Ergin <a href="https://sendika.org/2023/05/kadin-savunmasi-genc-kadinin-intihar-ettigi-yenikapi-marmaraya-cicekler-birakti-685070/">in den Freitod</a> getrieben. Die Verbreitung einer solchen Wahrnehmung der Ausweglosigkeit lässt sich stoppen, das sind wir Kübra Ergin und vielen anderen schuldig. Alle Kräfte müssen jetzt gebündelt werden, um für eine Niederlage von Erdoğan am 28. Mai zu kämpfen. Nur so besteht die Möglichkeit, dass der faschistische Ansturm kurzfristig etwas nachlässt, was notwendig ist, um die Grundlagen für den Aufbau einer sozialen Kraft und einer Vision zu schaffen, die den gordischen Knoten durchschlagen könnte. All dies natürlich ohne der Illusion zu verfallen, dass eine Präsidentschaft von Kılıçdaroğlu der Türkei Demokratie und Sozialismus bringen wird, umso weniger, wenn Konzessionen ultranationalistischer Art an Oğan damit einhergehen. Die Alternative ist jedoch, dass die Tore der Hölle sperrangelweit geöffnet werden. Dann kann man sich die revolutionären mittel- bis langfristigen Perspektiven vermutlich auch erst mal gründlich abschminken. Darüber sollte man sich schon im Klaren sein, bevor man in einen bequemen Pessimismus verfällt oder sich umgekehrt in einen <a href="https://umutgazetesi42.org/arsivler/98701">revolutionären Ultralinksradikalismus</a> stürzt.</p></div>
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Das Staatsbeben in der Türkei2023-02-23T10:05:22.886286+00:002023-02-23T13:47:57.275767+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/das-staatsbeben-in-der-t%C3%BCrkei/
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<span class="content-copyright">İpek Yüksek</span>
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<div class="rich-text"><p>Am 6. Februar 2023 erschütterten zwei Erdbeben der Stärke 7,8 beziehungsweise 7,7 im Abstand von neun Stunden mit Zentrum in der türkischen Provinz Kahramanmaraş massiv den Süden der Türkei und den Norden Syriens. In der Türkei war ein Gebiet betroffen, in dem etwa 15 Prozent der Bevölkerung leben und das etwa zehn Prozent des BIP des Landes erwirtschaftet. Es entstand ein <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/turkonfed-raporu-is-dunyasi-72-bin-can-kaybi-84-milyar-dolarlik-hasar-tahmini-yapiyor,38684">geschätzter Sachschaden</a> von über 84 Milliarden US-Dollar. Mit über 41.000 gemeldeten Toten allein in der Türkei bis zum 20. Februar und über 110.000 zerstörten oder nicht mehr reparaturfähigen Gebäuden stellen die beiden Erdbeben die bisher verheerendsten in der Geschichte der modernen Türkei dar. Ebenso erdrückend wie die Ausmaße der Erdbeben selbst ist jedoch das Ausmaß des staatlichen Versagens – das heißt, wenn man die öffentliche Gesundheit und das Wohlergehen der Bevölkerung als Maßstab dafür nimmt, was mit staatlichen Kapazitäten überhaupt erreicht werden soll. Die Türkei erlebte also nicht nur ein katastrophales Naturereignis, sondern auch ein Staatsbeben: den Zusammenbruch des Staates des Kapitals und des autoritären Staates aus einer popularen Sicht.</p><h2><b>Ein tödlicher Bauboom</b></h2><p>Was den ersten Punkt betrifft, so wurde der Bauboom in der AKP-Ära allgemein und sein klientelistischer Charakter im Besonderen von kritischen Analyst*innen regelmäßig erwähnt. In der Tat rühmt sich das Regime um Recep Tayyip Erdoğan häufig damit, den Bau von Flughäfen, Brücken, U-Bahnen, Autobahnen und vor allem von unzähligen Wohneinheiten ermöglicht zu haben. All dies angeblich gemäß der sehr strengen Bauvorschriften, die in der Türkei erlassen wurden, nachdem schon 1999 ein verheerendes Erdbeben Izmit (in der Nähe von Istanbul) erschüttert hatte. Jetzt stellt sich heraus, dass all diese Bauvorschriften bloße Papiertiger sind.</p><p>Entgegen Erdoğans (unbelegter) Behauptung, fast alle der eingestürzten Gebäude seien vor 1999 gebaut worden, zeigen indes <a href="https://www.paraanaliz.com/2023/genel/tuik-yikilan-binalarin-yuzde-51i-2001den-sonra-yapildi-g-47133/">Daten des Statistikinstituts</a> (TÜIK), dass mehr als 50 Prozent der Bevölkerung in der Region in Gebäuden leben, die nach 2001 gebaut wurden. Im Zentrum von Kahramanmaraş – das bei den jüngsten Erdbeben mit am heftigsten zerstört wurde – liegt dieser Anteil sogar bei fast 60 Prozent. Obgleich es zwar noch keine fundierte und umfassende Analyse des Alters der eingestürzten Gebäude gibt (abgesehen von der Regierungspropaganda, die sich was Zahlen angeht schon früher als sehr „kreativ“ erwiesen hat), stellen <a href="https://www.karar.com/guncel-haberler/erdogan-yikilan-binalarin-yuzde-98i-1999-oncesi-insa-edildi-demisti-1728486">Satellitenbilder</a> und <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/tek-tek-siraladi-iste-hatayda-depremde-yikilan-binalar-ve-muteahhitleri-2050995">Berichte</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/depreme-dayanikli-denilen-binalarin-yarisi-2001den-sonra-insa-edildi-2049891">von vor Ort</a> über bestimmte Gebäude Erdoğans Behauptung ernsthaft in Frage. Unter den eingestürzten Gebäuden befanden sich luxuriöse Wohngebäude und Residenzen, die einst mit Pauken und Trompeten eröffnet und als völlig erdbebensicher angepriesen wurden. Selbst zentrale Infrastruktureinrichtungen wie der neu errichtete Flughafen von Hatay und wichtige Autobahnen, die für die Katastrophenhilfe und das Rettungsmanagement von entscheidender Bedeutung waren, aber auch Schulen, Krankenhäuser und Gemeindegebäude wurden zerstört oder waren nach dem Erdbeben aufgrund der massiven Schäden (zeitweilig) unbenutzbar. Selbst wenn Erdoğans Behauptung stimmen sollte, dann lässt sich festhalten: 22 Jahre AKP-Alleinregierung wurden offensichtlich nicht dazu genutzt, erdbebensichere Bausubstanzen von vor 1999 vollständig oder in größerem Rahmen zu erneuern.</p><p>Indes: Im Widerspruch zu Erdoğans oben erwähnter Behauptung hat der Staat mittlerweile <a href="https://www.ft.com/content/a8419771-6cd9-4fec-8075-62c7e604aca7">rund 150 Staatsanwälte</a> angewiesen, gegen mehr als 430 Bauunternehmer, Ingenieure und andere Personen wegen ihrer Verantwortung im Zusammenhang mit der Katastrophe zu ermitteln. Inzwischen sitzen bereits über 130 von ihnen <a href="https://www.diken.com.tr/muteahhit-avi-sehir-sehir-gozalti-ve-tutuklamalar/">im Gefängnis</a>. Einige wurden auf Flughäfen festgenommen, als sie versuchten, aus dem Land zu fliehen; darunter auch diejenigen, die für einige der eingestürzten, angeblich „erdbebensicheren“ Luxusbauten verantwortlich waren. Wie bei den Preisschocks, die die Türkei 2018 und seit 2021 durch die Kombination der Krise ihres Akkumulationsregimes mit einem auf kurzfristige Interessen orientierten wirtschaftspolitischen Rahmen um des politischen Überlebens willen erlebt, versucht das Regime erneut, „einige böse Geschäftsleute“ für die Katastrophe verantwortlich zu machen und sich selbst freizusprechen.</p><h2><b>Amnestierte Massengräber</b></h2><p>Aber die Rentierkapitalisten sind nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist der Staat des Kapitals selbst. Ohne vermeintlich rigide staatliche Kontrollen können in der Türkei keine Gebäude errichtet werden. Es gibt jedoch <a href="https://t24.com.tr/haber/deprem-bolgelerinde-sorusturmalar-denetci-ve-kamu-gorevlilerine-uzandi-iki-denetciye-tutuklama,1093438">zahlreiche Beweise</a> dafür, dass die Vorschriften und Prüfungen <a href="https://time.com/6254024/turkey-syria-earthquake-building-2023/">nicht ausreichend durchgesetzt</a> wurden und dass Bauherren oft nach vermeintlicher Fertigstellung noch erhebliche Änderungen an den Gebäuden vornahmen, die deren Stabilität beeinträchtigten. Hinzu kommt, dass viele illegal gebauten Gebäude von staatlich geförderten Amnestien profitiert haben: Unter der AKP wurden <a href="https://carnegieeurope.eu/strategiceurope/89026">insgesamt sieben</a> solcher großen „Amnestien“ verkündet, <a href="https://www.npr.org/2023/02/13/1156512284/turkey-earthquake-erdogan-building-safety">die letzte</a> im Jahr 2018 im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen, was zu mehr als sieben Millionen Anträgen auf „Amnestie“ führte. Mit solchen Anträgen werden Eigentümer*innen und Bauherren gegen eine geringe Geldsumme von jeglichem Vorwurf freigesprochen, ihre Gebäude würden gegen das Gesetz oder die Vorschriften verstoßen.</p><p>Selbst staatliche Ministerien errechneten in jüngsten Berichten, dass rund 50 Prozent des türkischen Gebäudebestands nicht den aktuellen Bauvorschriften entsprechen. Die seit Jahren wiederholten Warnungen vor der hohen Erdbebengefahr in den nun betroffenen Gebieten und den mangelnden Schutz-Vorbereitungen – etwa von der Kammer der Geologie-Ingenieur*innen und anderer prominenter Wissenschaftler*innen – wurden völlig ignoriert. Der Gipfel der Arroganz und der sicherlich auch durch den Islamismus bedingten Wissenschaftsfeindlichkeit, die dieser Ignoranz zugrunde liegt, wurde vom Bürgermeister von Kahramanmaraş zum Ausdruck gebracht, der dem Chef der Kammer der Geologie-Ingenieur*innen <a href="https://www.tagesspiegel.de/internationales/das-grosste-problem-ist-die-ignoranz-experten-geben-erdogan-mitschuld-an-todeszahlen-9326072.html">gesagt haben soll</a>, er glaube nicht an die Paläoseismologie – also die Wissenschaft der Analyse sehr alter tektonischer Verschiebungen, um Erkenntnisse über aktuelle Erdbeben zu gewinnen. Niemand weiß zudem, was mit den „Erdbebensteuern“ (<a href="https://tr.euronews.com/2023/02/11/deprem-vergisi-22-yilda-ne-kadar-vergi-toplandi-bununla-kac-konut-yapilabilirdi">insgesamt etwa</a> 38 Mrd. US-Dollar) geschehen ist, die seit dem Erdbeben von 1999 eingenommen wurden und die für die erdbebensichere Sanierung von Gebäuden verwendet werden sollten. Erdoğan weigerte sich vor drei Jahren, auf Nachfrage Einzelheiten dazu zu nennen. Stattdessen behauptete er nur verärgert, dass das Geld dort eingesetzt wurde, „<a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-dan-deprem-vergisi-aciklamasi-harcanmasi-gereken-yere-harcadik,858226">wo es gebraucht wurde</a>“. Einer Berechnung zufolge <a href="https://tr.euronews.com/2023/02/11/deprem-vergisi-22-yilda-ne-kadar-vergi-toplandi-bununla-kac-konut-yapilabilirdi">hätte man</a> mit dem gesammelten Geld fast alle Wohneinheiten der betroffenen Regionen erdbebensicher erneuern können.</p><p>Kurzum, die Verquickung der Profitinteressen des Rentierkapitals und des Staates bei der Bereitstellung dieser Profite, aber auch des kleinteiligen Wohneigentums, um die Unterstützung der Bevölkerung zu sichern, war eine Hauptursache für das Ausmaß der Katastrophe. Wie Wissenschaftler*innen <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/berna-abik/hatay-da-hasarli-bazi-binalarda-gozlenen-x-seklindeki-catlaklarin-nedeni-ne-eski-imo-genel-baskani-cemal-gokce-anlatti,38738">unermüdlich betonen</a>, ist es technisch betrachtet problemlos möglich, Gebäude zu bauen, die Erdbeben der aktuellen Größenordnung standhalten können. Offensichtlich war man nicht gewillt, dies zu tun.</p><h2><b>72 Stunden auf sich allein gestellt</b></h2><p>Neben dem Versäumnis, das Gebiet auf die Erdbeben vorzubereiten, gab es auch ein völliges Versäumnis, die Verluste an Menschenleben nach dem Erdbeben zu minimieren, das heißt beim Katastrophenmanagement. <a href="https://t24.com.tr/haber/bir-haftalik-enkaz-ve-hafiza-raporu-yillarca-dinlenmeyen-uyarilar-yerle-bir-olan-sehirler-afallayan-afad-depremzede-feryadindan-kacan-ekranlar-engellenen-sosyal-medya-ohal-ve-deftere-yazilan-ofke,1091847">In</a> <a href="https://apnews.com/article/politics-turkey-government-business-earthquakes-0f7d4fb77ea45c94b7b5ecd637a930c7">ausnahmslos</a> <a href="https://turkeyrecap.substack.com/p/aftershocks">allen</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/candan-yildiz/dayanisma-icin-gelenler-olmasa-kalbi-zar-zor-atan-bir-insan-gibi-hatay,38672">unabhängigen</a> <a href="https://turkeyrecap.substack.com/p/adyaman-overlooked-residents-express">Berichten</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/deprem-notlari-adiyaman-ah-kardas-bir-sehir-olur-mu-turkler-ermenilerin-ermeniler-turklerin-doktorudur,38736">aus</a> <a href="https://umutsen.org/index.php/deprem-gozlem-raporu/">dem Gebiet</a> <a href="https://publicseminar.org/essays/theres-nothing-natural-about-turkeys-earthquake-disaster/">wird festgehalten</a>, dass der Zentralstaat in den ersten 24 Stunden nach dem ersten Erdbeben kaum mehr als nichts unternommen hat. In Städten wie Antakya in der Provinz Hatay dauerte es ganze drei Tage, bis alle Mechanismen des Katastrophenmanagements einsatzfähig waren, und auch dann nur in den städtischen Zentren, nicht in der Peripherie oder in den Dörfern. Es waren <a href="https://umutsen.org/index.php/deprem-gozlem-raporu/">33 gewerkschaftlich organisierte Minenarbeiter*innen</a>, die am 7. Februar professionell mit den Bergungsarbeiten in Antakya begannen, nicht die zentralstaatlichen Institutionen (und die damit den zivilen Helfer*innen zur Hilfe kamen, die teilweise mit bloßen Händen nach Menschen gruben). Hunderte von Professionellen – Ärzt*innen, Minenarbeiter*innen, internationale Hilfstrupps – verloren in der ersten Nacht nach dem Beben <a href="https://t24.com.tr/haber/yuzlerce-saglikci-ve-arama-kurtarma-ekibi-arac-eksikligi-nedeniyle-saatlerdir-havalimaninda-bekliyor,1090246">kostbare Stunden</a> mit planlosem Warten am Flughafen von Adana, weil keine koordinierende Instanz sie zielgerichtet in den Einsatz beordern konnte. Zur Erinnerung: Bei der Bewältigung von Erdbebenkatastrophen gelten die ersten 48 Stunden als die wichtigsten. Insbesondere bei eisigen Temperaturen, wie sie im Katastrophengebiet herrschen – in Malatya und Elbistan sind es derzeit bis zu -20 C° bei Nacht –, sinkt die Überlebenschance danach rapide.</p><p></p><hr/><p><b>Für die Unfähigkeit des Staates, angemessen zu intervenieren, gibt es einen klaren Grund: Nicht das schlechte Wetter, wie von Erdoğan behauptet, sondern die autoritäre und parteipolitisch motivierte Zurichtung staatlicher Institutionen, gepaart mit neoliberalen Rationalitäten, haben zu einem Zustand der Lähmung des staatlichen Katastrophenmanagements geführt.</b></p><hr/><p></p><p>Alle Aspekte des Katastrophenschutzes und -managements in der Türkei wurden in den letzten Jahren in einer einzigen Institution, dem AFAD (<i>Afet ve Acil Durum Yönetimi Başkanlığı</i>), zentralisiert, die dazu in typisch neoliberaler Manier <a href="https://www.ekonomim.com/kose-yazisi/nerede-yanlis-yaptik/682554">Sparmaßnahmen ausgesetzt</a> und mit nur <a href="https://www.dw.com/tr/afad-b%C3%BCy%C3%BCk-bir-depreme-ne-kadar-haz%C4%B1rd%C4%B1/a-64639121">sehr geringen Mitteln</a> ausgestattet wurde. Darüber hinaus wurde sie umstrukturiert und mit AKP-Militanten besetzt, die aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit und nicht aufgrund ihrer Fähigkeiten für ihre Positionen ausgewählt wurden. Das extremste Beispiel hierfür ist sicherlich die für Katastropheneinsätze zuständige Person: <a href="https://t24.com.tr/haber/bir-haftalik-enkaz-ve-hafiza-raporu-yillarca-dinlenmeyen-uyarilar-yerle-bir-olan-sehirler-afallayan-afad-depremzede-feryadindan-kacan-ekranlar-engellenen-sosyal-medya-ohal-ve-deftere-yazilan-ofke,1091847">ein Geistlicher</a> ohne jegliche Erfahrung im Katastrophenmanagement. Der <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/baris-pehlivan/afaddan-tanzanyaya-kacisin-nedeni-2052519">Leiter der Behörde</a> hingegen hatte zuvor Gouverneursposten inne und besitzt ebenfalls keine Erfahrung im Katastrophenmanagement. Das Chaos innerhalb des AFAD muss so groß gewesen sein, dass die Regierung den alten, erfahreneren Chef des AFAD zurückbeorderte, um die Kontrolle in der Region Adana zu übernehmen. Zuvor war dieser auf einen unwichtigen Posten versetzt worden, weil er sich nicht ganz nach den politischen Interessen des Innenministers richtete.</p><p><a href="https://t24.com.tr/haber/afad-gorevlisi-konustu-7-subat-ta-antakya-da-kimse-yoktu-sanki-bizi-onlugumuzle-dolasalim-diye-gondermislerdi,1093446">Anonyme Quellen</a> <a href="https://www.instagram.com/p/CoZqYLuosxN/">aus den Reihen</a> des AFAD bestätigen, dass es vor allem in den ersten 24 Stunden zu einem völligen Mangel an Koordination innerhalb des AFAD kam. Einige AKP-Militante in verantwortlichen Positionen wollten indes aus Angst vor den Reaktionen der Öffentlichkeit aufgrund ihres langsamen Agierens nicht auf die Straße gehen. Sogar der AFAD selbst hat in einem <a href="https://media-cdn.t24.com.tr/files/1676019838347-duzce-depremi-etki-analizi.pdf">Prüfbericht</a>, den der Vorsitzende der größten Oppositionspartei (CHP), Kemal Kılıçdaroğlu, publik gemacht hat, eine lange Liste von Versäumnissen, Unfähigkeiten und mangelnder Koordination in einem Bericht zur Bewertung der Maßnahmen bei einem kleineren Erdbeben im letzten Jahr erwähnt. Nicht nur, dass der Mangel an Fähigkeiten, Personal und Ausrüstung ein effektives Katastrophenmanagement verhinderte: Die Abhängigkeit aller im Staat von den Launen Erdoğans verringerte in diesem Fall zusätzlich den Willen der Verantwortlichen, Initiative zu ergreifen. Die Armee wurde aus Angst vor ihr und aus dem offensichtlichen Kalkül heraus, ihre Beteiligung würde die Legitimität der Regierung schmälern, <a href="https://t24.com.tr/haber/uzmanlar-anlatiyor-deprem-bolgelerinde-tsk-neden-beklendigi-olcude-sahada-degil-askerin-gorunmesi-istenmiyor-mu-neler-yapabilir,1090461">wissentlich nicht ausreichend mobilisiert</a> – obwohl sie ausreichend Erfahrung und Geräte für Bergungsarbeiten sowie für den Aufbau mobiler Hilfsstrukturen (Zelte, Suppenküchen usw.) besitzt.</p><p>Dieser Mangel an Initiative steht in krassem Gegensatz zu dem, was im Anschluss an das Erdbeben von 1999 geschah. Obwohl das damalige Erdbeben in ähnlicher Weise die gefährlichen Folgen des neoliberalen Baubooms und des Versagens der Zentralregierung aufzeigte, erkannten Mitglieder der Regierung und eine parlamentarische Untersuchung diese Versäumnisse an und kritisierten sie. Viele zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen wie die Armee ergriffen die Initiative und handelten sofort, relativ autonom und ohne zentralstaatliche Weisung – und die Medien waren frei genug, um die Regierung zu geißeln. Heute überlagern autoritäre Hybris und die Notwendigkeiten des politischen Überlebens selbst die geringste Selbstkritik, während die eiserne Faust des Staates versucht, jede unabhängige Berichterstattung zu unterdrücken. Wie bei der Corona-Pandemie war auch diesmal der Staat in seiner Reaktion laut der Propagandamaschinerie des Regimes Weltklasse. Und wenn es zu Zerstörungen kam, dann war das laut Erdoğan „<a href="https://t24.com.tr/haber/kahramanmaras-a-giden-cumhurbaskani-erdogan-deprem-icin-yine-kader-plani-dedi,1090738">Teil des Plans des Schicksals</a>“ oder das Ergebnis einer <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-hatay-da-konusuyor-devletin-ve-milletin-tum-imkanlarini-seferber-ederek-afet-bolgesine-yonlendirdik,1090772">riesigen Naturkatastrophe</a>, gegen die niemand etwas tun könne. <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-enkazin-uzerinde-tepinen-feryadimizdan-siyasi-rant-asirmak-icin-cirpinan-utanmazlara-her-donemde-sahitlik-ettik,1092178">Kritiker*innen</a> wurden mit <a href="https://sendika.org/2023/02/erdogan-gun-bir-olma-zamanidir-dedi-kilicdaroglunu-hedef-aldi-spk-onune-gidip-siyaset-yapanlari-ogrencilerimizi-kiskirtanlari-canla-basla-yurutulen-faaliyetleri-sabote-etmeye-kalkanlari-a-677173/">harter Vergeltung</a> bedroht: jetzt sei nicht die Zeit der Politik, sondern die der nationalen Einheit. Ironischerweise kritisierten <a href="https://www.yenicaggazetesi.com.tr/medya-1999da-devleti-suclarken-bugun-yandaslik-yapiyor-627915h.htm">islamistische Medien</a> und Personen, die <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/omer-celik/bugun-susmak-43517">heute hohe Ämter</a> bekleiden, 1999 die Vorstellung einer „nationalen Einheit“ scharf und wiesen darauf hin, dass diese Art von Narrativ nur dazu diene, die Verantwortung von Staat, Politiker*innen und Bauherren an der Katastrophe zu relativieren. Man mache sich mitschuldig, wenn man diese Relativierung mittrage. <a href="https://t24.com.tr/haber/depremzedeye-kader-plani-diyen-erdogan-2003-teki-bingol-depremi-icin-kader-diye-gecistirilemez-demisti,1090749">Erdoğan selbst</a> hatte 2003 anlässlich eines anderen, kleineren Erdbebens schnell die früheren Regierungen und Bauherren gegeißelt und den Begriff des Schicksals entschieden zurückgewiesen. L’enfer, c’est les autres (die Hölle, das sind die anderen, Übers. Red.).</p><h2><b>Ein Gespenst geht durch die Türkei...</b></h2><p>Was der Staat trotz der äußerst schweren Umstände in der Türkei nicht getan hat, haben die Menschen selbst getan. Eine wahrhaft erstaunliche Welle der Solidarität schwappte über das Land und die Diaspora und mobilisierte Menschen, Material und Geld, die dann ihren Weg in das Katastrophengebiet fanden. Unzählige Freiwillige beteiligen sich an den Bemühungen in der Region und darüber hinaus, und ständig fahren Lastwagen voller dringend benötigter Güter aus allen Landesteilen und dem Ausland in Richtung des Katastrophengebiets. In Antakya haben Kommunist*innen verschiedener Richtungen eine führende Rolle bei der Organisation von Solidaritätsstrukturen, des „Erdbebenkommunismus“ (Ali Ergin Demirhan), übernommen. Sie sind so gut und effizient vor Ort organisiert, dass sich die Gendarmerie bei der Verteilung zwischenzeitlich eintreffender staatlicher Hilfsgüter <a href="https://sendika.org/2023/02/hataydan-deprem-notlari-2-koordinasyon-krizi-ve-deprem-komunizmi-677617/">auf die Kommunist*innen verlässt</a>. Auch die feministischen Strukturen in der Region wie etwa <a href="http://mordayanisma.org">Mor Dayanışma</a> (Lila Solidarität) können aufgrund ihrer zielgerichteten Arbeit hohen Zulauf vermelden – einen eindrücklichen Einblick gibt İrem Kayıkcıs Bericht "<a href="https://revoltmag.org/articles/im-frauenzelt-te-b%C3%BCsik-iydik-ya-hayti/">Im Frauenzelt</a>". Die Spenden an unabhängige Einrichtungen oder politische Organisationen sind in die Höhe geschnellt, ein Symptom für das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den zentralstaatlichen Institutionen. Für viele fühlt sich dies wie eine Wiederbelebung des Geistes von Gezi und eine Manifestation der immer latent vorhandenen „anderen Türkei“ an. Diese Bewegung ist so stark, dass selbst der Staat sie nicht vollständig aufhalten konnte, auch wenn er versucht, <a href="https://t24.com.tr/haber/mansur-yavas-maalesef-ayrimcilik-var-gonderdigimiz-bazi-araclar-zaman-zaman-sehre-sokulmadi,1092213">sie einzuschränken</a> und unabhängige Einrichtungen <a href="https://www.birgun.net/haber/soylu-dan-bagis-cikisi-devletle-es-kosmaya-calisan-varsa-geregi-yerine-getirilir-421527">bedroht</a>.</p><p>Nach dem anfänglichen Chaos versucht das Regime nun, die Initiative wiederzuerlangen und politische Schadensbegrenzung zu betreiben. Sie wissen sehr genau, dass das Blut von Zehntausenden an ihren Händen klebt, und handeln dementsprechend, damit sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Dem gesamten Auftreten Erdoğans sieht man geradezu das eiskalte Kalkül des politischen Machterhalts an: Die einzige Emotion, die er zeigt, ist die Wut darüber, dass das Ausmaß der Katastrophe seine Kalküle durchkreuzen könnte. Das Regime wird sein Bestes tun, um das Staatsbeben als Naturkatastrophe und als eine großartige Geschichte, ja sogar <a href="https://www.cfr.org/in-brief/massive-earthquake-could-reshape-turkish-and-syrian-politics">theatralische Inszenierung</a> der nationalen Einheit und der staatlichen Leistungsfähigkeit darzustellen. <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/erdogan-secimde-depremzedelere-ev-sozu-ve-kutuplastirmaya-oynayacak-kilicdaroglu-muhalefette-tavrini-ve-cabasini-en-net-ortaya-koyan-isim,38828">Schon jetzt</a> wirft Erdoğan erneut die Geldpresse an für die Betroffenen und darüber hinaus und verspricht, das gesamte Gebiet innerhalb eines Jahres aufzubauen. Derzeit ist noch nicht klar, ob „Erdoğan einem unaufhaltsamen <a href="https://www.cfr.org/in-brief/massive-earthquake-could-reshape-turkish-and-syrian-politics">Tsunami der Unzufriedenheit</a> gegenübersteht“. Die Einblicke in die öffentliche Stimmung bleiben noch lückenhaft. Bisher war Erdoğan immer in der Lage, Katastrophen so einzurahmen, dass er die Oberhand behielt, wenn auch nur knapp. In Verbindung mit der Wirtschaftskrise für die Massen und der allgemeinen Unzufriedenheit steht er dieses Mal mit Sicherheit vor der größten Herausforderung seiner Regentschaft. Dennoch: einzig eine richtige politische Strategie und Taktik können der Unzufriedenheit eine Richtung geben, die seinen Sturz herbeiführt.</p><h2><b>Anmerkung:</b></h2><p>Dieser Artikel ist eine veränderte und längere Version eines Artikels, der unter dem Titel „<a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/turkeys-statequake">Turkey’s Statequake</a>“ am 21. Februar im Magazin Sidecar erschienen ist.</p></div>
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Im Frauenzelt: »Te Büsik İydik Ya Hayti«*2023-02-22T17:05:38.303897+00:002023-03-01T07:55:26.193507+00:00İrem Kayıkçıredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/im-frauenzelt-te-b%C3%BCsik-iydik-ya-hayti/
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<h1>Im Frauenzelt: »Te Büsik İydik Ya Hayti«*</h1>
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<span class="content-copyright">Mor Dayanışma</span>
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<div class="rich-text"><p><i>*</i>»<i>Te Büsik İydik Ya Hayti</i>« ist arabisch für <i>»Lass mich deine Hand küssen, Schwester.«</i></p><p>Es war der elfte Tag nach dem Erdbeben in Samandağ in der Provinz Hatay (Türkei), als eine ältere Frauen diesen Satz zu mir sagte. Mangels Fahrzeugen war sie zu Fuß aus einem abgelegenen Viertel gekommen, um Lebensmittel zu holen. In ihrer Hand hielt sie nur eine Plastiktüte. Ich küsste sie auf den Kopf. Unsere Tränen vermischten sich, als unsere Hände sich berührten. Was auch immer wir tun, wie sehr wir uns auch bemühen, es wird nicht ausreichen, es wird das Verlorene nie wieder zurückbringen – das wissen wir. Und dennoch: Unsere Bemühungen wachsen und werden immer stärker, indem wir die Hände der <i>hayti</i> – der Schwestern – halten, welchen den Frauen der überwiegend arabisch-alevitischen Bevölkerung von Samandağ zur Seite stehen.</p><p>Im Namen derjenigen von uns, die am ersten Tag des Erdbebens vom 6. Februar 2023 in Samandağ ankamen und die Solidaritätsstruktur sowie die Zelte für die Frauen aufbauten, möchte ich euch von unseren Aktivitäten berichten. Davon, wie wir unsere Schwestern hier erreicht haben, um ihnen zu sagen: „Wir sind hier, wir sind zusammen und wir gehen nicht weg“.</p><h2><b>Auf dem Weg zu den Frauensolidaritäts-Strukturen</b></h2><p>Als uns am Morgen des 6. Februar die Nachricht des Erdbebens erreichte, das elf Städte verwüstet hatte, versuchten viele von uns zunächst, ihre Familien, Freund*innen, Verwandte und Nachbarn zu erreichen. Aber das war natürlich nicht in allen Fällen möglich. Wer auch immer jemanden erreichen konnte oder erfuhr, dass jemand gestorben war, dem mussten wir glauben, auch wenn wir es aus zweiter (oder fünfter) Hand erfuhren. Tage später wurde uns klar, dass es aus zweierlei Gründen sehr wichtig war, von den Todesfällen zu wissen. Erstens, weil die wenigen Teams der Katastrophenschutzbehörde AFAD, die schließlich am vierten Tag nach dem Erdbeben nach Samandağ kamen, die Tausenden von Menschen hier nicht erreichen konnten oder durften – während den freiwilligen Such- und Rettungshelfern, die bereits am ersten Tag ankamen, gesagt wurde: „Das Gebiet ist dem Erdboden gleich, bemüht euch nicht hierher zu kommen“. Zweitens, obwohl sogar am elften Tag des Erdbebens noch Menschen lebend aus den Trümmern gerettet wurden, die Bagger anrückten, um die Trümmer zu beseitigen. Einmal mehr wurde klar: Sie waren nicht gekommen, um die Menschen zu retten.</p><p>Uns war und ist bewusst, dass in Katastrophenzeiten vor allem Frauen, Kinder, LGBTQ+ und behinderte Menschen vernachlässigt, getötet bzw. dem Tod überlassen oder von Krankheiten bedroht werden. Wir rechneten auch hier damit. Deshalb wandten wir uns sofort an unsere Frauensolidaritätsnetzwerke in den Stadtvierteln. Mittlerweile regnete es in der Region stark, die Temperaturen fielen nachts unter null Grad Celsius.<br/></p></div>
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<div class="rich-text"><p>In Istanbul wurde nach dem Solidaritätsaufruf von <i>Mor Dayanışma</i> (Lila Solidarität) am Montag unser erster Lastwagen innerhalb weniger Stunden gefüllt. Zusammen mit zwei Transportern voller Lebensmittel machten wir uns auf den Weg, um zunächst Antakya und anschließend Samandağ zu erreichen. Nach dem wir den Belen-Pass bei İskenderun überquert hatten, blickten wir auf die Stadt Antakya: Sie war in völlige Dunkelheit gehüllt, in Erwartung eines Geräusches, in Erwartung von Hilfe. Als wir in die Stadt kamen, hörten wir keine Frauen- oder Kinderstimmen. Die Straßen und Gassen waren voller Männer, die ebenfalls auf Hilfe warteten. Und ich hatte das Gefühl, dass der anfänglich stumme Schmerz und die Revolte der Frauen genau an dort ihren Anfang nahmen. Bestätigt wurde dies durch die Worte, die wir auf der Straße hörten: „Die Frauen sind bei den Trümmern mit den Kindern, den Kranken und den Alten“.</p><p>Wir wussten, dass der Stadtteil Armutlu durch das Erdbeben völlig zerstört wurde (dort befand sich auch eines ein Zentrum von <i>Mor Dayanışma,</i> Anm. Red.). Daher verabredeten wir uns gegen zwei Uhr morgens mit Freund*innen und Freiwilligen von <i>Mor Dayanışma</i> an der Autobahn Samandağ/Harbiye. Nachdem wir die Lebensmittel, Hygiene- und Babyartikel sowie Tiernahrung verteilt hatten, die nach Armutlu und zu den weiteren Teilorten Serinyol, Harbiye und Defne geliefert werden sollten, machten wir uns auf den Weg nach Samandağ.</p><p>Entlang der gesamten Straße war die Zerstörung sehr deutlich zu sehen. Wir hatten im Vorfeld Kontakt zu einigen Frauen aufnehmen können; sie warteten mit ihren Kindern draußen unter Vordächern und Behelfsschutzkonstruktionen, sofern es diese gab, und einige von ihnen in Autos. Unermüdlich hatten sie in den zehn Stunden mit Sonnenlicht und Wärme so viel zusammengetragen, wie sie finden konnten.</p><p>Wir erreichten die Frauen im Stadtteil Koyunoğlu gegen 2.45 Uhr. Zunächst gingen wir zu den Kindern, die seit Stunden ohne Essen und Wasser auskommen mussten. Das erste, was wir in den nächsten beiden Tagen taten, war hier mit den Frauen eine Suppenküche einzurichten und die Beschaffung von Lebensmitteln und deren Verteilung zu organisieren.</p><p>In den frühen Morgenstunden des 8. Februar versuchten wir zudem, mit dem Lastwagen nach Samandağ zu gelangen. Da die meisten Straßen durch das Erdbeben aufgerissen waren, gestaltete sich dies jedoch schwierig. Hunderte von zerstörten Gebäuden, die sich auf die Straße neigten, waren gefährlich und machten eine Weiterfahrt physisch unmöglich. Wir hielten auf der Autobahn in der Nähe der Favvar-Brücke an und sahen dutzende Frauen, auch aus entfernteren Dörfern, die sich aus den Seitensträßchen in unsere Richtung bewegten.</p><p>Die nächsten Stunden zeigten einmal mehr: Die Frauen, welche die große Mehrheit der Bevölkerung von Samandağ ausmachen, stießen zwar gegen die Mauern der geschlechtsspezifischen Ungleichheit – sie durchbrachen sie jedoch mit dem Bewusstsein, der Erfahrung und der Kraft, die sie aus der arabisch-alevitischen Kultur und der Frauensolidarität schöpften. Sie waren in der Lage, aus den zerstörten Häusern herauszukommen und die Zerstörungswut und Diskriminierung des männlich-dominierten Staates und der Regierung deutlich zu erkennen. Sie sahen es nicht nur, sondern fassten es auch in Worte:</p><p><i>„Der Staat ist nicht gekommen... Das ist das erste Mal, dass wir problemlos Damenbinden bekommen können... Ich konnte vorher nicht hierherkommen, weil ich mich um unsere Alten und Behinderten kümmern musste... Wir brauchen Unterwäsche, wir haben noch keine bekommen... Es gibt immer mehr gynäkologische Erkrankungen...“</i></p><p>Dass ich über das Thema „Der Staat ist nicht gekommen“ in einem anderen Beitrag schreiben werde, glaube ich nicht. Die Abwesenheit des Staates war überdeutlich deutlich zu sehen, jede*r hat das bereits betont. Was ich hier hervorheben möchte, ist die bösartige Präsenz des patriarchalen, kapitalistischen Staates. Es gab ihn auch schon vor dem Erdbeben. Aber ist es reiner Zufall, dass die Such- und Rettungsmaßnahmen und die Erdbebenhilfe in vielen der überwiegend alevitischen Bezirke, Dörfern und Nachbarschaften nicht eingesetzt wurden, in denen Frauen* einen relativ hohen Grad an Freiheit genießen? Oder dass es immer noch keine Politik zur Verhinderung von Geschlechterdiskriminierung unter den verheerenden Bedingungen des Erdbebens gibt? Glaubt ihr, dass dies etwas ist, worüber nur wir Revolutionär*innen und Feminist*innen sprechen? Dann hört den Frauen zu, wenn sie über die Katastrophe vom 6. Februar sprechen. Ihr werdet merken, wie sehr ihr auf dem Holzweg seid. Sie werden euch alles erzählen.</p><h2><b>Die Geschichte der Frauensolidaritäts-Struktur und der Frauenzelte</b></h2><p>In den ersten drei Tagen besuchten wir zahlreiche Stadtteile von Samandağ, darunter Atatürk, Çiğdede, Cumhuriyet, Yeni, Kurt Deresi, Deniz, Çevlik, Zeytuni, Sutaşı, Kuşalanı, Çöyürlü, Tekebaşı, Değirmenbaşı, Uzunbağ, Fidanlı und Yaylıca. Dorthin brachten wir die solidarisch gesammelten Lebensmittel, Decken und Hygieneartikel, während täglich mindestens 700-1000 Frauen aus diesen Vierteln unseren Treffpunkt aufsuchten. Obwohl Hıdırbey, Yoğunoluk, Karaköse und Sinanlı sehr abgelegene Orte sind, kamen Frauen auch aus diesen Gebieten zu unserem Solidaritätsort, der sich an der Durchgangsstraße befindet. Die Nachricht sprach sich schnell herum, wurde von Frau zu Frau weitergegeben. Es gab zwar kein Internet und keinen Handyempfang, doch als das Geflüster stärker wurde, wuchs auch unsere Frauensolidaritätsgruppe.</p><p>Fragt diese hunderten von Frauen, lasst sie erzählen! Die Frauen, die uns seit dem ersten Tag hier sehen; die Frauen, die uns auf den Straßen wiedererkennen, auf denen sie nicht mehr mit ihren Nachbar*innen zusammensitzen können; die Frauen, die uns mit in ihre Gärten und Gewächshäuser nehmen, wo wir gemeinsam schlafen; die Frauen, mit denen wir gemeinsam die Solidaritätspakete verteilen, Hoffnung verteilen.</p><p>Die Anlaufstelle der Frauensolidarität, die wir ab dem 10. Februar im Yeni-Park im Atatürk-Viertel aufgebaut haben, war anfangs nur ein kleines Zelt. Direkt gegenüber brachten wir die Frauen und Kinder aus dem Viertel in vier Schlafzelten unter, die wir auf einer größeren, ebenen Fläche aufgebaut hatten. Wir sitzen mit ihnen jeden Abend zusammen, sprechen über ihre Bedürfnisse und sorgen gemeinsam mit den Mitgliedern und Freiwilligen von <i>Mor Dayanışma</i> für ihre Sicherheit. Und dieser Raum, dieses Solidaritätsnetzwerk wuchs, mit jeder Frau, die zu uns kam und sagte: „Ich möchte auch helfen“.</p></div>
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<span class="content-copyright">Mor Dayanışma</span>
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<p>Zelt der Frauensolidarität in Hatay.</p>
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<div class="rich-text"><p>Durch die anhaltenden Aufrufe zur Solidarität, die unsere Mitglieder und Freiwilligen seit dem ersten Tag in zahlreichen Städten (vor allem in Istanbul, Izmir, Ankara, Adana, Mersin, Antalya, Muğla und Denizli) verbreiteten, konnten wir bis zum Ende des elften Tages hunderten Frauen ein Minimum an Hilfsgütern bereitstellen. Haben wir dabei nur frauenspezifische Hilfsgüter und Unterstützung von den Nichtregierungsorganisationen, Gemeinden, Verbänden oder Kommunen erhalten, die sich an uns wandten? Nein. Jeder Lastwagen, jede Verteilaktion und jedes Viertel, in dem wir als Feministinnen tätig sind, hat gesehen, dass wir uns um alle kümmern. Die Frauen handelten solidarisch und wurden zu Koordinatorinnen der Aktionen. Wohin gingen die Lastwagen und die Lebensmittel, die von den Feministinnen und solidarischen Unterstützer*innen aus dem In- und Ausland geschickt wurden? Sie gingen an unsere Schwestern in den Vierteln, die wir mit Autos und Motorrädern erreichten, an die Frauensolidaritäts-Strukturen, wo sie verteilt und persönlich abgeholt wurden, an LGBTQ+, an unser mobiles Team von Kindertheatern mit freiwilligen Psycholog*innen, Schauspieler*innen und Kindererzieher*innen.</p><p>Was machen die Frauen nun in den Solidaritätsstrukturen und Zelten, die in Samandağ sowie in den Vierteln Sevgi Park, Harbiye und Serinyol in Antakya aufgebaut wurden? Um den sich permanent ändernden Bedürfnissen gerecht zu werden, erweitern sie das Netzwerk der Solidarität, fördern den Prozess der Subjektwerdung der Frauen durch feministische Politik und schaffen jeden Abend Räume für Frauen, um sich bei einer Tasse Tee zu unterhalten. Sie hören den erdbebenbetroffenen Frauen zu, um die Wunden im bevorstehenden Prozess zu heilen und darüber zu diskutieren, weshalb und wie frauenfreundliche Städte geschaffen werden können.</p><p>Eine Bemerkung, die ich hier wiedergeben möchte, rückt die Frage „Was für eine Stadt und welches Leben wollen wir?“ in den Mittelpunkt – hier in Hatay, wo Seite an Seite arabisch-alevitische, christliche, armenische Frauen leben:</p><p><i>„Es gibt keine Worte, um die Zerstörung und das Leid im Zentrum von Antakya und Samandağ zu beschreiben; wir kennen diejenigen, die gegangen sind und freuen uns auf ihre Rückkehr. Aber wir wissen auch, dass die Sozialistinnen, die Feministinnen und die Frauensolidarität ab dem ersten Tag an unserer Seite waren. Und wir wollen nicht in eine isolierte Containerstadt gehen, weit weg von unseren Vierteln, eine Siedlung, in der es noch keine Sicherheit, kein Wasser und keine Hygiene gibt.“</i></p><p>Wir geben die Informationen über die [staatlich organisierten, Amn. d. Übersetzerin] Container- und Zeltstädte an alle Frauen weiter, aber diese schnaufen nur und fragen uns: „Könnt ihr uns keine Zelte geben? Könnt ihr uns keine Container geben?“ Was sagt uns diese Nachfrage nach Zelten oder Containern, die die Menschen in den sicheren Räumen ihrer eigenen Felder, Gärten und Nachbarschaften aufstellen wollen? Wir müssen zuhören, verstehen und Lösungen schaffen.</p><h2><b>Vom Frauenzelt zu frauenfreundlichen Städten</b></h2><p>Reicht der Aufbau von Frauenzelten aus? Ganz und gar nicht. Warum bestehen wir dann darauf und warum sollten wir dies alle tun? Die oben beschriebenen Fragen, die mir und uns die Frauen hier stellen, zeigen, dass die Frauen ihre Situation sehr deutlich erkennen. Es sind die Umstände des brutalen jahrhundertealten patriarchalen Kapitalismus und der Menschenfeindlichkeit, die nochmals besonders laut und deutlich in den letzten zehn Tagen von den regierenden Parteien AKP und MHP, sowie allen faschistischen Strukturen und Organisationen, gezeigt wurden. Diese männerdominierte, profitorientierte, diebische, schamlose Ordnung muss gestürzt werden.</p><p>Trifft das auch für die lokalen Verwaltungen zu? Dann müssen auch dort die politischen Verantwortlichen abgesetzt werden! Sind die Bauunternehmen auch so? Dann müssen sie beseitigt werden! Ist die Regierung so? Dann muss sie gestürzt werden! Denn:</p><p></p><hr/><p><b>Das Sicherheitsgefühl der Frauen entstand nicht durch ein Stück Papier, das vom Staat beschrieben wurde. Es entstand durch ein Frauenzelt, auch wenn dessen Wände nicht dicker als Papier waren. Die Kraft, die Nachbarschaft, den Ort und die Grünflächen für sich zu beanspruchen, kam von den Frauen, die sagen: „Gebt uns Container und Zelte, wir bleiben hier“.</b></p><hr/><p></p><p>Während die Vertreter zahlreicher männerdominierter Gemeinden, wie der Bürgermeister von Samandağ, in ihren makellosen Anzügen für die Kamera posierten, kamen die Frauen, die tagelang keinen Zugang zu Hygieneartikeln hatten, in blutgetränkter Kleidung zu uns.</p><p>Hilfsmittel aus dem In- und Ausland kamen zu uns, zusammen mit Solidaritätsbotschaften, die sagten: „Wir vertrauen euch, dass ihr die Spenden zu den Menschen bringt.“ Und die Frauen, die sich in jedem sozialen Bereich, in dem wir mit unserer feministischen Politik intervenieren, stark und sicher fühlen, kommen auch zum Frauenzelt, um uns gegen die feindliche Politik des Männerstaates beizustehen. Was die Notwendigkeit betrifft, dass Frauen sich für den Schutz der ethnischen und soziokulturellen Struktur in den Erdbebengebieten organisieren, so waren es vor uns organisierten Frauen die Betroffenen selbst, die sich zu Wort meldeten und fragten: „Was soll getan werden?“</p><p>Die Forderung „Nachbarschaftscontainer oder Zelte!“ wird in allen Bezirken und Vierteln, die wir in den letzten Tagen erreicht haben, laut und deutlich erhoben. Nehme wir diese Forderung ernst. Wir haben von dem Bedürfnis nach Solidarität, lokalen Strukturen und Frauenzelten erfahren, als die Stimme dieser tausenden Frauen noch nicht hörbar waren. Mit ihrem Wissen haben wir uns auf den Weg gemacht und es mit sozialistischer, feministischer Politik verbunden. Die beiden Felder, die miteinander verbunden sind, aber auch unterschiedliche Forderungen fokussieren, müssen verstärkt und unterstützt werden. Die kapitalistische Ordnung, die mindestens 45.000 Menschenleben gefordert hat, will neue Städte bauen, die erneut Menschen töten. Lasst uns stattdessen Frauenzelte bauen. Die <i>hayti</i>, die unsere Hände halten werden, warten auf euch, die Frauen*, die Feminist*innen, um diese Zelte zu errichten.</p><p></p><hr/><h2><b>Spenden und Unterstützung von</b> <b>Mor Dayanışma:</b></h2><p>Gemeinsam mit LabourNet Germany e.V. haben wir die <a href="https://revoltmag.org/articles/unterst%C3%BCtzt-die-spendenkampagne-lila-solidarit%C3%A4t-jetzt/">„Spendenkampagne Lila Solidarität jetzt!“</a> lanciert. Wenn ihr spenden könnt, überweist bitte an folgendes Konto:</p><p>Spendenkonto: Labournet Germany e.V.:<br/>IBAN DE76 4306 0967 4033 7396 00<br/>BIC: GENODEM1GLS<br/>Verwendungszweck “Lila Solidarität”</p><p>Eine Spendenquittung kann nur ausgestellt werden, wenn wir die Post-Adresse haben, eine e-mail an verein@labournet.de reicht dafür. Schreibt einfach, unter welchem Namen ihr gespendet habt und sendet die postalische Adresse mit.</p><p>Wenn ihr andere Fragen zur Unterstützung habt, oder eine alternative Möglichkeit des Spendens nutzen wollt, meldet euch auch gerne bei uns. Unsere Redakteurin Jo erreicht ihr unter jo@revoltmag.org. Sie steht mit den Freundinnen von Mor Dayanışma in direktem Kontakt.</p><p></p><hr/><p>Übersetzung: Svenja Huck<br/>Bild: Mor Dayanışma</p><p>Der Bericht erschien zuerst auf der Webseite von <a href="https://mordayanisma.org/2023/02/20/from-the-womens-tent-te-busik-iydik-ya-hayti/">Mor Dayanışma</a> auf türkisch und englisch. Folgt der Organisation auch auf den Sozialen Medien für Updates und Unterstützung.</p></div>
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<p>Bitte gerne den Spendenaufruf weiterleiten. Jeder Euro zählt.</p>
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<h2>Lizenzhinweise</h2>
<p>Copyright © 2017 re:volt magazine Redaktion - Einige Rechte vorbehalten</p>
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Die Inhalte dieser Website bzw. Dokuments stehen unter der <a href="http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/de/">Creative Commons Namensnennung-NichtKommerziell-KeineBearbeitung 3.0 Deutschland Lizenz</a>.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie über unsere <a href="/contact">Kontaktseite</a> erhalten. Bilder sind von dieser Lizenz ausgeschlossen und Eigentum ihrer jeweiligen Urheber_innen.
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Unterstützt die Spendenkampagne "Lila Solidarität" jetzt!2023-02-11T16:09:59.781205+00:002023-02-23T13:39:14.254185+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/unterst%C3%BCtzt-die-spendenkampagne-lila-solidarit%C3%A4t-jetzt/
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<link href="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.css" rel="stylesheet"><meta name="apple-mobile-web-app-title" content="re:volt mag"><meta name="apple-mobile-web-app-capable" content="no"><meta name="apple-mobile-web-app-status-bar-style" content="black"><meta name="theme-color" content="#99020b"><link rel="apple-touch-icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><link rel="manifest" href="/static/revoltmag/manifest.307d5e0f476ef238b243c472abadb46c.json"><link rel="icon" sizes="180x180" href="/static/revoltmag/icon_180x180.f95a8c6b74bb715d326c7790779a0330.png"><script defer="defer" src="/static/revoltmag/app.bc8423e0087c1cde5a69.js"></script>
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<h1>Unterstützt die Spendenkampagne "Lila Solidarität" jetzt!</h1>
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<div class="rich-text"><p>Viele von euch kennen die jahrelange Arbeit von Mor Dayanışma: Ob in Arbeitskämpfen, in Stadtteilen, politisch, aktivistisch oder als öffentliche Sprecherinnen für Frauen und LGBTIQ-Menschen im Land – sie sind eine wichtige feministische und kritische Kraft in der Türkei. Wir haben ihre Arbeit in den letzten Jahren <a href="https://revoltmag.org/articles/unterstützt-die-spendenkampagne-lila-solidarität/">immer</a> <a href="https://revoltmag.org/articles/frauen-mobilisieren-sich-gegen-erdogan/">wieder</a> unterstützt.</p><p>Aktuell sind Ortsgruppen von Mor Dayanışma im ganzen Land seit Tagen und auf unabsehbare Zeit damit beschäftigt, ihre gesamten Ressourcen auf die Erdbebengebiete auszurichten. Aktuell werden dort unter anderem Zelte und Behausungen aufgebaut, die dem besonderen Schutz von Frauen* und Kindern dienen. Damit wird die Gemeinschaft der Überlebenden gestärkt, Raum für gemeinsame Trauer und Wut geschaffen und der Zugang zu dringend benötigten Materialien und Lebensmitteln erleichtert. Mitglieder von Mor Dayanışma sind aus vielen unterschiedlichen Provinzen in das Erdbebengebiet gekommen, um zu unterstützen. Um einen Eindruck in ihre Arbeit vor Ort zu erhalten, schaut auf der <a href="https://www.instagram.com/mor_dayanisma/">Instagram-Seite der Organisation</a> vorbei.</p><p>Aus Europa, aus Deutschland, können wir die unersätzliche Arbeit unserer Freund*innen am besten finanziell unterstützen. Es gibt schon einige Spendenaufrufe für Mor Dayanışma, die über private Hände sicher und schnell direkt vor Ort ankommen. Etwa aus der Schweiz, von der befreundeten “Lila Solidarität”, gibt es <a href="https://www.instagram.com/p/CoWvpy9IlF2">einen Aufruf</a> und auch auf anderen Unterstützungs-Listen ist Mor Dayanışma aufgeführt.</p><p>Bei Internationaler Solidarität gibt es aber kein “zuviel”: Wir reaktivieren hiermit unsere <a href="https://revoltmag.org/articles/unterstützt-die-spendenkampagne-lila-solidarität/">Spendenkampagne “Lila Solidarität”</a>. Über unsere gemeinsame Kampagne kommt das Geld direkt bei den Genoss*innen vor Ort an, zusätzlich kann auch eine Spendenbescheinigung dafür ausgestellt werden. Jeder Euro zählt.</p><p>Wir kämpfen Seite an Seite gegen die Auswirkungen der mörderischen und menschenverachtenden Politik, die sich angesichts dieser Katastrophe nur noch deutlicher zeigen. Dem türkischen Staat sind die Menschen egal. Dem Regime um Präsident Erdoğan geht es derzeit ausschließlich darum, den politischen Fallout vom totalen Staatsversagen und der jahrelangen neoliberalen Baupolitik zu begrenzen. Das Erdbeben ist zwar ein Naturereignis, aber Staat und Kapital sind für das Ausmaß von Zerstörung und Leid verantwortlich. Solidarität mit allen betroffenen Menschen, Solidarität mit den feministischen Strukturen, die lebenswichtige Arbeit leisten, ist notwendig.</p><p><br/><b>LabourNet Germany</b><b><i>, </i></b><b>das re:volt magazine und viele andere Unterstützer*innen rufen zu Spenden für Mor Dayanışma auf:</b><br/>Spendenkonto: Labournet e.V.:<br/>IBAN DE 76430609674033739600<br/>BIC: GENODEM1GLS<br/>Verwendungszweck “Lila Solidarität”</p><ul><li>(Eine Spendenquittung kann nur ausgestellt werden, wenn wir die Post-Adresse haben, eine e-mail an verein@labournet.de reicht!)</li></ul></div>
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<p>Bitte teilt unseren Aufruf in den Netzwerken. Es gibt zwar schon viele private Aufrufe für Mor Dayanışma in Europa, aber oft kommen die privaten Spenden aufgrund von Spendenregelungen nicht richtig an.</p>
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Bosnien und Herzegowina: Repressionen gegen No Name Kitchen2022-10-24T14:53:40.732691+00:002022-10-24T14:53:40.732691+00:00Alieren Renkliöz und Karina Wasitschekredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/bosnien-und-herzegowina-repressionen-gegen-no-name-kitchen/
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<span class="content-copyright">Karina Wasitschek</span>
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<div class="rich-text"><p>In Velika Kladuša in Bosnien und Herzegowina sind Aktivist*innen der solidarischen Bewegung <a href="https://www.nonamekitchen.org/"><i>No Name Kitchen</i></a> wiederholt Repressionen seitens der Behörden ausgesetzt. Am 22. September 2022 verlangte der bosnische Service of Foreign Affairs (SFA; eine administrative Einheit des Sicherheitsministeriums, Anm. Red.) zunächst Ausweisdokumente der Menschenrechtler*innen. Ohne Vorweis eines Durchsuchungsbefehls oder genauerer Gründe machten sie Anstalten, das Lagerhaus zu betreten, von dem aus <i>No Name Kitchen</i> ihre Unterstützung organisiert. Eine Aktivistin berichtet: „Sie wollten unsere Pässe sehen und unsere White Card, die Wohnungsbestätigung. Dann haben sie unsere Namen und offizielle bosnische Wohnadresse aufgeschrieben“. Die Aktivist*innen müssen in Folge dessen ihren kollektiven Ort aufgeben. Mit Stand Mitte Oktober ziehen die Aktivist*innen in ein kleineres Gebäude. Ihre Hilfsarbeiten, wie die Versorgung Fliehender – „Person/People on the Move“ – mit Kleidung, werden damit weiterhin erschwert.</p><h2><b>Rauswurf ohne Kündigung</b></h2><p>Mit Erlaubnis des Hausverwalters, bei welchem die Aktivist*innen zur Miete wohnten, durchsuchten Beamte des SFA das Gebäude, welches die Aktivist*innen Warehouse nennen. Von hier aus organisierten sie die Versorgung der People on the Move; dort wurden Kleider, Notfall-Nahrungsmittel und andere Hilfsgüter aufbewahrt. Das mehrstöckige Haus war zudem Wohnort einiger Aktivist*innen. Auch ein weiteres Wohnhaus, das sogenannte Guesthouse, wurde von staatlichen Autoritäten besucht. Am selben Nachmittag erschienen zusätzlich lokale Polizeibeamte, notierten ebenfalls Namen und White Cards der Aktivist*innen und filmten und fotografierten die Lagerräume des Warehouse. Am Tag darauf versuchten Beamte der kantonalen Inspektion, in das Warehouse und an Informationen über die Lagerbestände zu gelangen.</p><p>Die Aktivist*innen mussten das Warehouse binnen eines Tages verlassen. Sie berichten von Einschüchterung. Auch ihr Vermieter habe mittlerweile Angst vor polizeilichen Repressionen, die ihm angedroht würden, wenn er die Menschenrechtler*innen nicht rauswerfe. Für die Aktivist*innen der <i>No Name Kitchen</i> liegt kein Kündigungsschreiben vor.</p><p>Auch in Bihać, wo eine weitere <i>No Name Kitchen</i>-Gruppe arbeitet, versuchte die Polizei zwei Wochen später, am 3. Oktober 2022, an Informationen zu gelangen. Zwei Beamte befragten vor dem dortigen Warehouse die Nachbar*innen und Arbeiter*innen. Die Aktivist*innen hielten sich deshalb vom Warehouse fern, die Verteilung von Gütern an diesem Tag musste ruhen. Die Strategie der Behörden scheint gängige Repressionstaktik zu sein: die Arbeit stören und ein Klima der Unsicherheit verbreiten.</p><h2><b>Erhöhte Polizeipräsenz in bosnischer Grenzregion</b></h2><p>Die Durchsuchungen finden in einem generellen Kontext erhöhter Polizeipräsenz und vermehrter Gewaltanwendung seitens der Staatsbehörden statt. Die Polizei und Grenzbeamte räumen verlassene Häuser, in denen fliehende Menschen leben. Teilweise werden die Gebäude abgesperrt und die Habseligkeiten von People on the Move verbrannt. Die Aktivist*innen berichten etwa von einem plötzlich abgesperrten Haus mit Brandflächen am Montag, den 19. September 2022.</p></div>
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<span class="content-copyright">Karina Wasitschek</span>
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<p>Nur noch achtlos aufgehäufter Müll und der Teppichrand sind übrig. Die wenigen Habseligkeiten von People on the Move wurden Mitte September von Unbekannten verbrannt.</p>
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<div class="rich-text"><p>Die EU duldet und unterstützt diese Repressionspolitik an ihren süd-osteuropäischen Außengrenzen. Berichten lokaler Organisationen zufolge arbeiten SFA und die bosnische Grenzpolizei zusammen daran, möglichst viele Menschen aus den verlassenen Häusern zu vertreiben. Wer nicht schnell genug davonrennen oder sich verstecken kann, wird von den Behörden mitgenommen; zuletzt etwa am 17. Oktober 2022. Wohin die People on the Move gebracht werden, ist den Organisationen unbekannt.</p><h2><b>Hilfsorganisationen kooperieren mit der Polizei</b></h2><p>Organisationen wie <i>Danish Refugee Council (</i>DRC), <i>International Organisation of Migration</i> (IOM), <i>Save the Children</i>und <i>Red Cross</i> kooperieren mit der Polizei und behindern gezielt die Arbeit von <i>No Name Kitchen</i>. Eine Aktivistin berichtet: „DRC, IOM, Save the Children und Red Cross haben schon mehrmals unsere Wege und Autos blockiert. Sie wollten uns in Gespräche verwickeln und damit aufhalten und versuchen, Informationen von uns zu bekommen. Sie erwecken den Eindruck, harmlos zu sein, aber sind mitverantwortlich für die Repressionen“.</p><p>IOM ist Teil der United Nations (UN). Sie bauen und verwalten die Stacheldrahtcamps entlang der EU-Grenzen. DRC hat Berichten der Aktivist*innen zufolge, die Aufgabe, ein bestimmtes Kontingent an People on the Move in die Camps zu bringen. „Die Organisationen treffen sich – unseres Wissens – einmal pro Woche mit der Polizei und tauschen sich aus“, beschreiben die Aktivist*innen von <i>No Name Kitchen</i> die Zusammenarbeit mit den staatlichen Strukturen.</p><h2><b><i>No Name Kitchen</i></b> <b>unter ständigem Druck</b></h2><p>Die Aktivist*innen erfahren indes auch ohne Polizeipräsenz weitere Formen der Kriminalisierung. Sie müssen ohne Freiwilligen-Ausweis arbeiten, da diese ihnen von Autoritäten nicht gewährt wird. <i>No Name Kitchen</i> wurde in der Vergangenheit wegen seiner politischen Arbeit und aktiven Solidaritätsbekundungen des Landes verwiesen.</p><p>Die Repression behindert die Arbeit der Menschenrechts-Aktivist*innen massiv. Gerade angesichts der fallenden Temperaturen droht lebenswichtige Hilfe für People on the Move wegzufallen. Die People on the Move leben oft ohne Zelte in der Grenzregion der EU und besetzen oft verlassene, baufällige Häuser, sogenannte Squats. Die Versorgung mit Decken, Socken und Feuerholz kann hier den Unterschied zwischen Leben und Lebensgefahr bedeuten. Wenn Organisationen wie <i>No Name Kitchen</i> über zwei Wochen nicht in der Lage sind, ihre Arbeit zu leisten, hat das konkrete Auswirkungen darauf, wie es den Menschen gesundheitlich geht und wie gut sie sich auf den Grenzübergang vorbereiten können.</p><p>Bei Polizeikontakt droht People on the Move darüber hinaus massive Gewalt. <i>No Name Kitchen</i> dokumentiert als Teil des <a href="https://www.borderviolence.eu"><i>Border Violence Monitoring Networks</i></a> (BVMN) die illegalen Pushbacks und bringt Fälle vor Gerichtshöfe. Auch diese Arbeit – die Aufdeckung und Publikmachung struktureller, subventionierter Menschenrechtsverletzungen – wird durch behördliche Repressionen empfindlich gestört. Allein vom 20. September bis zum 22. Oktober 2022 wurden 27 Pushbacks in den Raum Velika Kladuša durchgeführt, teilweise mehrere an einem Tag. Konkret bedeutet das, 565 Menschen, darunter Kinder und alte Menschen, denen Polizist*innen mit Pfefferspray, Hunden, Schlagstöcken und Stiefeltritten begegneten. Und das sind nur die registrierten Fälle.</p><p>Die Repressionen der letzten Wochen führten sogar zu Überlegungen innerhalb der solidarischen Bewegung, Velika Kladuša als Einsatzort aufgeben zu müssen. Selbst bei anderen Organisationen, die mit <i>No Name Kitchen</i> im Feld zusammenarbeiten, schlug diese Episode Wellen der Verunsicherung, auch ein kompletter Austausch des Teams und somit ein Neuanfang standen im Raum. In diesem Klima organisierter Feindseligkeit und polizeilicher Repression versucht <i>No Name Kitchen</i> weiterhin, Menschen zu helfen, denen das Recht auf Asyl von der EU verwehrt wird.</p><hr/><p><b>Zum Titelbild:</b></p><p>Ein kleiner Teil des ehemaligen <i>No Name Kitchen-</i>Warehouse konnte bei einer befreundeten Organisation im Korridor untergebracht werden. Über zwei Wochen mussten Hilfsgüter unter diesen Umständen gepackt werden.</p><p>Bilder von Karina Wasitschek.</p></div>
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„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“? Hegemoniekämpfe in der Türkei2022-05-05T18:38:01.852883+00:002022-05-06T11:02:42.616042+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/kartoffeln-zwiebeln-auf-wiedersehen-erdo%C4%9Fan-hegemoniek%C3%A4mpfe-in-der-t%C3%BCrkei/
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<h1>„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“? Hegemoniekämpfe in der Türkei</h1>
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<span class="content-copyright">sendika.org</span>
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<div class="rich-text"><p>Nach dem <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">Inferno des vergangenen Sommers</a>, als die größten Waldbrände der Geschichte der modernen Türkei ganze Landstriche verwüsteten, folgte ein langer Winter im Land. Im Januar 2022 legte ein heftiger Schneesturm das gesamte Leben Istanbuls lahm. Hunderte Autos und Busse blieben im hohen Schnee auf den Hauptverkehrsachsen stecken, keine Fähren fuhren mehr, die Menschen übernachteten improvisiert in den Vierteln, in denen sie der Schneesturm erwischt hatte. Zwei Monate später waren Stadt, Gouverneursamt und Bevölkerung besser vorbereitet. Erneut zogen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im März heftige Schneestürme über Istanbul hinweg und bedeckten die Stadt mit eisigem Frost.</p><p>In diesem langen Winter fegte jedoch nicht nur der Schnee über Istanbul, sondern mit <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">fast 70 Prozent</a> auf seinem bisherigen Gipfel (April 2022) auch die höchste Inflationsrate seit 20 Jahren über die Türkei hinweg. Lebensmittel, Strom, Gas zum Heizen und Kochen – viele Grundgüter des modernen Lebens wurden zu fast unbezahlbaren Luxusgütern. Die Preise steigen teils wöchentlich. Menschen kaufen wenige und schlechtere Lebensmittel ein und beginnen, alles mögliche auf Vorrat im Sonderangebot zu kaufen. Ladenbesitzer*innen sitzen in dicken Mänteln, Schals und Polarhandschuhen in ihren Läden, weil die Heizkosten explodieren. Der Winter kann als eine lange, niederschmetternde Depression für den Großteil der Bevölkerung bezeichnet werden. Aber ganz oben wird weiterhin das altbekannte makabre Theater der Hybris gespielt: Die Türkei <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-oncu-gostergelerimiz-cok-iyi-2302041">erringe</a> „einen [wirtschaftlichen] Erfolg nach dem anderen“ (Wirtschafts- und Finanzminister Nureddin Nebati), sie werde zu „einem der mächtigsten Länder der Welt“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-yatirimcilar-turkiye-ye-gelsin-diye-kosacagiz-2302140">ebenfalls</a> Nebati); „wir gehören zu denen, die am besten wissen, wie man Inflation bekämpft“ (<a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-burokratik-engeller-cikaranlarin-onunde-duracagiz-2302054">wieder</a> Nebati); „die Türkei ist so stark wie noch nie in den letzten 300 Jahren“ (Innenminister Süleyman <a href="https://www.birgun.net/haber/soylu-nun-hedefinde-kilicdaroglu-ve-6-parti-var-bildiriyi-hangi-buyukelcilige-duzeltmeye-gonderdin-382037">Soylu</a>).</p><p>Wer auf Regimeseite die beinharten Realitäten nicht mehr ignorieren konnte, versuchte diese <a href="https://www.yeniakit.com.tr/yazarlar/abdurrahman-dilipak/goz-gore-gore-37197.html">verschwörungsideologisch</a><a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/ibrahim-karagul/biden-o-an-ne-dusundu-chp-hdp-turkiyeyi-boler-o-mudahale-yapilmali-ic-komplo-da-cokecektir-2060036">zu prozessieren</a>. Das heißt zum Beispiel, Wirtschaftskrise und politische Instabilität als großes Spiel böser Mächte gegen „die Türkei“ darzustellen (Abdurrahman Dilipak, Ibrahim Karagül), die – selbstredend von der AKP betriebene – <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/yusuf-kaplan/hem-kendimizle-hem-de-batiyla-yuzlesmeden-asl-2060760">Polarisierung</a> der Gesellschaft als Ergebnis früherer Verwestlichung zu beklagen (Yusuf Kaplan), oder <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3205516-millet-ittifaki-kopruden-onceki-son-cikisa-dikkat-etmeli">Existenzängste</a> vor einem bevorstehenden Generalzusammenbruch der Türkei zu schüren, sollten Regierung und Opposition nicht zusammenarbeiten (Nagehan Alçı). Ihr verschwörungstheoretisches Vorbild haben sie in Recep Tayyip Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-erken-secim-yapmak-ilkel-kabilelerin-isidir,995442">höchstpersönlich</a>: „Hinter allen Ereignissen der letzten acht Jahre in unserem Land […] steht ein Plan, ein Szenario, eine Falle“. Wie seit geraumer Zeit so funktionieren auch heute regimetreue Verschwörungsideologien in dem Sinne, dass sie die Objektivität der Hegemoniekrise dethematisieren und die Menschen der rationalen Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse berauben, damit sie, in Angst und Panik versetzt, handlungsunfähig werden.</p><p>Aber mit dem langen Winter der Depression kommt auch der Frühling des Widerstands: Eine <a href="https://emekcalisma.files.wordpress.com/2022/03/eccca7t_2022-grev.pdf">Welle an Streiks</a> fand in den beiden ersten Monaten des Jahres 2022 über über die gesamte Türkei verteilt statt – noch größer als die bisher größte Streikwelle der AKP-Ära, dem <a href="http://diebuchmacherei.de/produkt/partisanen-einer-neuen-welt-eine-geschichte-der-linken-und-arbeiterbewegung-in-der-tuerkei/">„Metallsturm“ von 2015</a>. In der gesamten Türkei inklusive der AKP-Hochburg der östlichen Schwarzmeerregion protestierten Menschen gegen die exorbitanten (Strom-)Preise (unter dem Slogan <i>geçinemiyoruz!</i> - Wir kommen nicht mehr über die Runden!), Studierende gegen den Mangel an Wohnheimen (<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-university-students-camp-parks-protest-rent-hikes"><i>barınamıyoruz!</i></a> – Wir kommen nicht mehr unter!); Werktätige des Gesundheitssektors gingen in zahlreichen Weißen Märschen (<a href="https://sendika.org/2021/11/beyaz-yuruyus-suruyor-eskisehirde-hekimler-polis-engelini-tanimadi-638464/"><i>beyaz yürüyüş</i></a>) in vielen Städten der Türkei gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf die Straßen. Trotz einer tiefgreifenden Änderung im Wahlprozedere der Anwaltskammern zugunsten des Regimes <a href="https://yetkinreport.com/2021/12/06/barolar-birligi-secimi-kaybeden-yalniz-feyzioglu-olmadi/">gewann</a> der kämpferische Oppositionskandidat Erinç Sağkan die Wahl und kündigte ein Ende der Appeasementpolitik seitens der Spitze der Anwaltskammern gegenüber dem Regime an. Der 8. März und Newroz, das kurdische Frühjahresfest, wurden gegen alle Verbote auf den Straßen und den Plätzen mit Hunderttausenden Beteiligten gefeiert. Und tatsächlich, es kam wieder so etwas wie ein Geist von Gezi und die darin ausgedrückte kreative Lebensfreude auf: <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531"><i>Patates, soğan, güle güle Erdoğan</i></a> – „Kartoffeln und Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan!“, wurde zu einem gängigen Slogan gegen die Preisexplosion und deren politischen (Mit-)Verursacher. Wie immer in den letzten Jahren wurden auch diesmal alle diese legitimen sozialen Kämpfe und ihre Forderungen seitens der Regierung mit „<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkish-students-continue-protests-despite-arrests-erdogans-accusations">Terrorismus</a>“ <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-yurt-bahanesiyle-eylem-yapanlar-teror-baglantili,984434">in Zusammenhang</a> gebracht; oder in kontrafaktischer Hybris davon fabuliert, die Regierung löse alle Probleme – oder diese gäbe es eigentlich gar nicht erst: „Wir haben <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-vatandasi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-2298681">nicht zugelassen</a>, dass unsere Bürger von der Inflation erschlagen werden, und werden dies auch weiterhin nicht tun“, so Erdoğan; fast <a href="https://haberglobal.com.tr/ekonomi/bakan-nebati-hic-kimseyi-enflasyona-ezdirmedik-ezdirmeyecegiz-166939">wortgleich</a> der Wirtschafts- und Finanzminister Nebati.</p><p>Während das Regime mit altbekannten und neuen Tricks versucht, aus seiner bis dato tiefsten Hegemoniekrise mittels eines wiederaufgenommenen Prozesses der autoritären Konsolidierung herauszukommen, versammeln sich die Hauptoppositionsparteien des bürgerlichen Blocks, um den wachsenden Unmut für einen restaurierten Neoliberalismus zu vereinnahmen. Der Ausgang der tiefen Hegemoniekrise bleibt bislang offen und umkämpft zwischen den Kräften der autoritären Konsolidierung, der neoliberalen Restaurationsperspektive und den popularen Kräften. <b>[1]</b></p><h2><b>Mit Vollgas in die Sackgasse: Die Verschärfung der Wirtschaftskrise</b></h2><p>Leser*innen <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/">früherer Artikel</a> von mir wissen um die wirtschaftspolitische Taktik der permanenten Kehrtwenden beziehungsweise „Erdoğans Zickzackkurs“, der seit geraumer Zeit die politische Ökonomie des Landes bestimmt: Um sich eine politische Basis unter den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und ihrer Arbeiter*innen zu erschaffen, beziehungsweise zu konsolidieren, schlägt das Regime um Erdoğan regelmäßig eine nicht der neoliberalen Orthodoxie entsprechende Wirtschaftspolitik der Niedrigzinsen und der Kreditexpansion ein. Dies führt jedes Mal zu einem weiteren Fall des Wertes der Lira und wegen der hohen Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft damit zu einer sehr hohen Inflationsrate. Um diese Folgen dann wieder abzudämpfen, reagiert das Regime um Erdoğan daher immer wieder mit einer Kehrtwende in Richtung orthodoxer Wirtschaftspolitik: Eine Hochzinspolitik gegen die Inflation – einerseits, um ausländisches Kapital anzuziehen (weil Zinsen höher als die Inflation Gewinne garantieren), andererseits, um die Kreditexpansion und damit die durch erhöhten Konsum bedingte Inflation zu drosseln. Damit im Zusammenhang stehen dann regelmäßig auch andere kontraktive Maßnahmen.</p><p>Ein Ausweg aus diesem Zickzackkurs schien unmöglich, solange der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei fest in die transatlantische neoliberale Weltordnung integriert blieb. Denn dies macht die türkische Wirtschaft abhängig von Kapital- und Produktionsgüterimporten und volatil angesichts der Situation der Weltwirtschaft insgesamt, in der nach den Krisenzeiten um 2008/09 und insbesondere nach 2013 die Kapitalzuflüsse in (semi-)periphere Länder abnahmen oder stark schwankten. Die aus dieser Volatilität hervorgehende wirtschaftliche Instabilität sowie die Erschöpfung des semi-peripheren Akkumulationsmodells in der Türkei (unter Anderem wegen dem Erreichen der Grenzen der Lohndrückerei im internationalen Vergleich sowie wegen dem fehlenden technologischen Upgrade der türkischen Wirtschaft) sorgten schon ganz von selbst ohne Erdoğans Autoritarismus und der zunehmend heterodoxen Wirtschaftspolitik für eine Verlangsamung des türkischen Wirtschaftswachstums. Letztgenannte wirken nur – zugegebenermaßen immer stärker – verschärfend auf diese Krise des semi-peripheren Neoliberalismus in der Türkei.</p><p>Dieser Zickzackkurs scheint mittlerweile aber verlassen worden zu sein zugunsten eines einseitigen Fokus auf die heterodoxe Seite. Wie schon im Artikel „Türkisches Inferno“ erwähnt, wurde im März 2021 erneut ein heterodox agierender, Erdoğan-treuer Zentralbankchef, Şahap Kavcıoğlu, von Erdoğans Gnadentum eingesetzt. Dieser konnte aber über Monate hinweg wegen der drastischen Reaktion der Märkte die Zinsen nicht senken. So blieb der Zentralbankzins bei 19 Prozent – nur ganz leicht über der damaligen Inflationsrate. Eine Inflationsrate von etwas weniger als 19 Prozent, zwischenzeitlich undenkbar. Die Schockstarre hielt selbstredend nicht lange an: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/bowing-erdogans-pressure-turkish-central-bank-makes-risky-rate-cut">Von Ende September</a> <a href="https://www.bloomberght.com/merkez-bankasi-faiz-kararini-acikladi-2290205">bis</a> Anfang Dezember 2021 wurde der Leitzins unter dem neuen Zentralbankchef auf 14 Prozent gesenkt, während die (offizielle) (Verbraucherpreis-)Inflationsrate <a href="https://www.bloomberght.com/tufe-yuzde-20-ye-dayandi-ufe-19-yilin-zirvesinde-2291219">sukzessive</a> von <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyonda-yayilim-2021-zirvesinde-2289021">fast 20 Prozent</a> im September und Oktober <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Enflasyon+Verileri/Tuketici+Fiyatlari">auf</a> 36 Prozent im Dezember 2021, über 48 Prozent im Januar 2022, über 54 Prozent im Februar, 61 Prozent im März und zuletzt auf fast 70 Prozent im April (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) stieg. Mitarbeitende der Zentralbank (<i>Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası</i>, TCMB), die sich gegen diesen Kurs stellten, <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/turkeys-erdogan-overhauls-cenbank-mpc-appoints-two-new-members-2021-10-13/">wurden gefeuert</a>, de facto <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasinin-eski-yoneticilerine-surgun-gibi-gorevlendirmeler-670265">strafversetzt</a> und durch regime-treue Personen <a href="https://halktv.com.tr/makale/merkez-bankasi-meclisinde-sessiz-sedasiz-kritik-bir-degisiklik-670403">ersetzt</a>. Zudem wurde der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Lütfi Elvan, der ebenfalls eher für eine orthodoxere Gangart stand und die Wirtschaftspolitik <a href="https://www.bloomberght.com/elvan-her-bir-kurum-uzerine-dusen-gorevi-yapmali-2292111">immer offener</a> kritisierte, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/sahi-hazine-ve-maliye-bakani-elvan-nerede,32854">noch handlungsunfähiger</a> gemacht, als er es sowieso schon war. Schon im November 2021 <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bakan-lutfi-elvanin-istifa-ettigi-iddia-edildi-berat-albayrak-ismi-yeniden-gundemde-1882173">sickerte durch</a>, dass Elvan seinen Rücktritt eingereicht hatte, weil er anderer Meinung war als der (damals noch) stellvertretende Minister Nebati, der noch zu Zeiten des Wirtschaftsministeriums unter Erdoğans Schwiegersohn Albayrak 2018ff. eingesetzt wurde und die heute verfolgte heterodoxe Negativzinspolitik verteidigte. Elvan hatte versucht, diesen aus dem Amt zu entfernen, was ihm misslang; zugleich sank sein Einfluss in der Ministerialbürokratie immer weiter. Im November wurde Elvans Rücktrittsgesuch, so die Gerüchte, noch abgelehnt von Erdoğan. Am 2. Dezember hingegen war es soweit: Sein „Gesuch auf Entbindung von Aufgaben/Verantwortung“ (<i>görevinden af dileği</i>), wie es im euphemistischen Jargon des Regimes neuerdings bei ordinären Ministerentlassungen durch Erdoğans Hand teils ohne vorherige Kenntnis der jeweiligen Minister heißt, wurde <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakanligina-nureddin-nebati-atandi-2293417">stattgegeben</a>, anstatt seiner der schon bekannte Nebati eingesetzt.</p><h4><i>Die Krisendynamik</i></h4><p>Entsprechend dieser Geldpolitik wuchs der Negativrealzins, also der Leitzins der Zentralbank minus die Inflationsrate. Vor allem in Banken gehaltene Lira (<i>Türk Lirası</i>, TL)-Guthaben wurden damit de facto sukzessive entwertet, Devisen und Gold wurden zu Vehikeln der Vermögensabsicherung und -steigerung, was nebst dem Negativrealzins den Druck auf die Lira erhöhte. Über das Jahr 2021 gerechnet verloren so <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">laut dem Statistischen Institut (</a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570"><i>Türkiye İstatistik Kurumu</i></a><a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Ocak-2022-45570">, TÜIK</a>) Lira-Einlagenbesitzer*innen 22,75 Prozent (real, also gegen die Inflation gerechnet) an Wert, Investor*innen in türkische Staatsanleihen dagegen 32,69 Prozent, während Investor*innen in US-Dollar, Euro und Gold jeweils 23,08 Prozent, 14,45 Prozent und 19,70 Prozent an Wert gewannen. Gekoppelt mit der Unvorhersehbarkeit, die diese aus Sicht neoliberaler Orthodoxie heterodoxe und irrationale Geldpolitik repräsentierte, führte diese unmittelbar zur massiven Entwertung der Lira, damit zur Erhöhung der Importkosten und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft zur erwähnten rasenden Erhöhung der Inflation. Die Schere zwischen (inländischer) Erzeugerpreis- und Verbraucherpreisinflationsrate mit im April 2022 über 50 Prozent nimmt mittlerweile historische Ausmaße an – die Erzeugerpreisinflationsrate liegt derzeit bei <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45853">über 120 Prozent</a>. Wegen der hohen Inflationsrate werfen mittlerweile alle vom TÜIK erfassten regulären finanziellen Anlagen real <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Finansal-Yatirim-Araclarinin-Reel-Getiri-Oranlari-Mart-2022-45572">Verluste ab</a> (Januar-März 2022).</p><p>Der wegen der Billigkreditschwemme angekurbelte <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">Binnenkonsum</a> trug zum einen zwar wesentlich zum <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/02/turkeys-economy-11-growth-brings-risk">11 Prozent BIP-Wachstum 2021</a> bei (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bireysel-kredi-kullanimi-35-milyona-yaklasti-15-milyonluk-istanbulda-13-milyon-kisi-kredi-borclusu-haber-1534894">fast die Hälfte</a> der Bevölkerung der Türkei ist verschuldet mit individuellen Bedarfskrediten; in Istanbul sogar etwa 80 Prozent der Bevölkerung; das Kreditvolumen <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-inflation-hits-61-fallout-ukraine-war-continues#ixzz7PWQd6Oey">wuchs</a> um etwa 44 Prozent aufs Jahr gerechnet). Aber gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben für die Staatsbanken im Jahr 2021 exorbitant an: Deren <a href="https://www.dunya.com/finans/haberler/konut-sektoru-faiz-kampanyalarla-yuzde-1in-altina-inerse-doping-olur-haberi-637634">politisch bestimmte</a> <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-25/turkish-state-banks-follow-rate-gamble-by-pledging-cheaper-loans">Niedrigzinspolitik</a> führte wegen der galoppierenden Inflation zu hohen Verlusten, die dann vom zentralstaatlichen Budget <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2022/03/ayrntl-butce-analizi.html">beglichen werden</a> mussten. Aber all diese und andere Maßnahmen – wie beispielsweise die klassisch neoliberal-populistische vorübergehende <a href="https://www.bloomberght.com/yeni-enflasyon-tedbirleri-paketi-aciklandi-2298721">Senkung der Mehrwertsteuern</a> auf Grundnahrungsgüter und Strom auf 1 Prozent, die (mittlerweile von der Inflation längst überholte) <a href="https://www.bloomberght.com/2022-icin-asgari-ucret-4-bin-250-tl-oldu-2294450">Erhöhung des Mindestlohns</a> um 50 Prozent auf 4250 Lira Netto (weniger als 300 Euro) im Dezember 2021 seitens Erdoğans, die Durchführung von <a href="https://www.cnnturk.com/ekonomi/istanbuldaki-marketlerde-es-zamanli-fiyat-ve-etiket-denetimi">Preiskontrollen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/rekabet-kurumu-zincir-marketlere-ceza-yagdirdi-2291000">heftige Strafen</a> für Supermärkte mit „Wucherpreisen“ und die Einführung <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/tarim-kredi-marketleri-gida-fiyatlarini-dusurebilir-mi/635714">staatlich subventionierter</a> Märkte (wie schon 2019) <b>[2]</b> – konnten die mit 70 Prozent galoppierende Inflation und ihre Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse nicht oder nur sehr schwach bremsen. Hinter der durchschnittlichen Inflationsrate von 70 Prozent – unabhängige Berechnungen gehen sogar <a href="https://enagrup.org/">von über 155 Prozent</a> aus – verstecken sich exorbitante Preiserhöhungen von Gütern des alltäglichen Bedarfs. Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke stiegen <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Tuketici-Fiyat-Endeksi-Nisan-2022-45793">um fast 90 Prozent</a> (April 2022 gegenüber Vorjahreszeitraum) <a href="https://t24.com.tr/haber/disk-ar-yoksulun-gida-enflasyonu-yuzde-131-6,1032242">beziehungsweise</a> sogar <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/enflasyonla-mucadelede-tcmb-olmadiysa-tuik-verelim/653964">vermutlich noch mehr</a>, der Preis von <a href="https://t24.com.tr/haber/son-bir-yilda-benzine-yuzde-166-motorine-yuzde-235-zam-geldi,1019585">Benzin</a> stieg um 166 Prozent und der von Diesel um sagenhafte 235 Prozent (Anfang März 2022 gegenüber dem Vorjahr), <a href="https://tr.euronews.com/next/2022/03/29/akaryak-t-dogal-gaz-elektrik-turkiye-de-ve-avrupa-ulkelerinde-enerji-fiyatlar-ne-kadar-art">Energiepreise im Allgemeinen</a> (also inklusive Erdgas und Strom) um fast 100 Prozent (Februar 2022 gegenüber dem Vorjahr) und somit etwa drei mal so viel wie im EU-Durchschnitt. Die <a href="https://betam.bahcesehir.edu.tr/2022/04/sahibindex-kiralik-konut-piyasasi-gorunumu-nisan-2022/">Mietpreise explodierten</a> um durchschnittlich 123,5 Prozent türkeiweit (März 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat); <a href="https://haber.sol.org.tr/haber/kira-krizinin-arka-plani-neden-ev-bulamiyoruz-313611">unter anderem</a> deshalb, weil einige gutbetuchte Menschen ihre Geldvermögen in Immobilien stecken, um weiterhin hohe Gewinne zu garantieren, während gleichzeitig das Wohnungsangebot wegen der – <a href="https://artigercek.com/haberler/limak-holding-in-patronu-nihat-ozdemir-yabanci-sermaye-turkiye-ye-sadece-tatile-gelir">teils</a> ebenfalls durch die hohe Inflation hervorgebrachte – <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Krise des</a> <a href="https://www.bloomberght.com/insaat-maliyetlerindeki-artis-zirveden-geriledi-2289625">Immobiliensektors</a> in Städten wie Istanbul <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/konutta-fiyat-artisi-surecek-mi-gelir-adaletsizligi-fiyat-dengesini-bozdu,32689">kaum mehr steigt</a>.</p><p>Die reale, weit gefasste Arbeitslosigkeitsrate bleibt <a href="http://disk.org.tr/2022/03/genis-tanimli-issiz-sayisi-salgin-oncesine-gore-1-milyon-103-bin-artti/">immer noch</a> bei über 20 Prozent, die eng gefasste weiterhin bei über 10 Prozent. Die Folgen der Corona-Pandemie sowie des Ukrainekrieges (vor allem erhebliche Lieferstörungen sowie Preisschocks in Grundgütern) kamen noch weiter verschärfend hinzu, insbesondere was die Energiepreise angeht. Sie können aber genau so wie die abhängige Integration der Türkei in die Weltwirtschaft nicht (allein) erklären, warum die Inflation in Grundgütern in der Türkei und die <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/iyimser-enflasyon-beklentileri,34827">Geldentwertung im internationalen Vergleich</a> so sehr hervorsticht. Es ist die heterodoxe Wirtschaftspolitik unter Erdoğan <i>bei der gegebenen Art der Integration der Türkei in die Weltwirtschaft</i>, die dafür verantwortlich ist, dass die durch die Struktur und Krise des Akkumulationsregimes sowieso schon schwierige Situation so dermaßen außer Rand und Band gerät.</p><p>Auf der Spitze der Zinssenkungsspirale im November-Dezember 2021 stürzte die Türkei daher erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise: Terminverkäufe oder Verkäufe überhaupt in mehreren Wirtschaftssektoren <a href="https://www.bloomberght.com/gubre-ve-zirai-ilac-satislari-gecici-olarak-durdu-2292667">wurden</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/dolar-10-24-tl-yi-de-gecti-bircok-sektorde-vadeli-satislar-durdu-bazi-ureticiler-siparis-iptaline-gitti,993724">ausgesetzt</a>, da die Entwertungs- und Inflationsspirale belastbare Preiskalkulationen verunmöglichte; der Verkauf von Kaffee, Zucker und Fett in Supermärkten wurde aus denselben Gründen <a href="https://www.haberler.com/marketler-yag-ve-sekerden-sonra-kahve-satisini-14549070-haberi/">quotiert</a>. Im Textilsektor pochten Rohstoffproduzent*innen auf <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/odemelerde-bize-tl-gondermeyin-6794788/">Vorauszahlung in Devisen</a>, die Istanbuler Börse musste an einem Tag <a href="https://t24.com.tr/haber/borsa-gunu-yuzde-8-52-dususle-kapatti,1001670">zwei mal schließen</a> wegen zu hohen Kursverlusten. Vom 1. bis zum 17. Dezember intervenierte die TCMB – dieses mal offen und nicht unter der Hand wie 2020-21 (s. „Türkisches Inferno“) – <a href="https://foreks.com/haber/detay/61d7f62d5908010001235169/PICNEWS/tr/tcmb-17-aralik-ta-2-1-milyar-dolar-satti-5-mudahale-miktari-7-3-milyar-dolar-oldu">insgesamt</a> fünf mal in den Geldmarkt und verkaufte 7,3 Milliarden US-Dollar, um den Wert der Lira zu stützen, was zu aller Überraschung zum x-ten mal scheiterte. Sukzessive entwertete die Lira bis zum historischen Tiefpunkt von <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/dolar-ve-euroda-bas-donduren-oynaklik-tl-yuzde-20-deger-kazandi-6838793/">zeitweise</a> über 18 Lira auf den Dollar und über 20 Lira auf den Dollar am 20. Dezember 2021 (zum Vergleich: Anfang 2021 lag der Wert des Dollar bei etwa 7,5 Lira, der des Euro bei etwa 9,10 Lira). Die Börse musste<a href="https://www.bloomberght.com/borsa-yeni-haftaya-sert-dususle-basladi-2294744">erneut</a> zwei mal im Laufe des Tages schließen wegen zu hohen Kursverlusten, die von der <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/12/lira-rallies-erdogan-unveils-new-financial-scheme-jitters-prevail">Devisenklemme</a> des verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde, das Großkapital war in heller Panik: Die Wirtschaft stand vor dem unmittelbaren Kollaps.</p><h4><i>Kaninchen aus dem Zauberhut?</i></h4><p>Am selben Tag verkündete Erdoğan ein <a href="https://www.bloomberght.com/erdogandan-ekonomik-onlem-paketi-aciklamasi-2294809">großes Maßnahmenpaket</a>, dessen wichtigstes Element das sogenannte <i>Kur Korumalı TL Mevduatı</i> (KKM, devisenabgesicherte TL-Einlagen) darstellte. Das Paket beinhaltete allerdings (unter bestimmten Umständen und Laufzeiten) auch <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-1-ay-vadeli-tl-uzlasmali-doviz-ihalesine-talep-gelmedi-2298408">Wechselkursgarantien</a> für kleine und mittlere Exporteure, was teils die begeisterte Aufnahme des Pakets bei Teilen des Kapitals zu erklären helfen vermag (siehe Abschnitt „Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise“).</p><p>Zuerst aber noch einige Worte zum KKM: Nutzt ein Kunde diese von allen Großbanken zur Verfügung gestellte Einlagenform, dann erhält er eine staatliche Garantie gegen die Lira-Entwertung, insofern ihm bei einer Entwertung der Lira gegenüber dem Dollar in einem bestimmten Zeitraum die Differenz zum Zins, den ihm eine normale Bankeinlage in diesem Zeitraum abwerfen würde (grob 17 Prozent aufs Jahr gerechnet), zusätzlich zu eben jenem von der jeweiligen Bank zu zahlenden Zins vom Staat auf die KKM-Einlage überwiesen wird. Prompt wertete die Lira innerhalb von 24 Stunden wieder auf auf grob 12 Lira auf den Dollar und 13 Lira auf den Euro. Wohlgemerkt: Das beste Ergebnis betreffs des Lira-Kurses, das mit dem KKM bisher und das auch nur für sehr kurze Zeit (um den 24. Dezember 2021 herum) erreicht wurde, bewegte sich mit 10 bis 11 Lira auf den Dollar beziehungsweise 12 Lira auf den Euro auf dem Niveau von Mitte November 2021 – dem Monat also, als sich schon Quotierungen im Einzelhandel, Probleme in der Produktion wegen Verunmöglichung der Preiskalkulation und massenweise Beschwerden vom Kapital eingestellt hatten.</p><p>Freilich <a href="https://www.dw.com/tr/d%C3%B6vize-m%C3%BCdahalede-imza-krizi-bakanl%C4%B1kta-o-gece-neler-ya%C5%9Fand%C4%B1/a-60240402">kam</a> <a href="https://halktv.com.tr/makale/ekonomi-mucizesi-mi-ikinci-128-milyar-dolar-mi-657879">im Nachhinein</a> <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/arka-kapidan-doviz-satisinin-donusu,33564">heraus</a>, dass vermutlich sechs bis sieben Milliarden Dollar <a href="https://www.ft.com/content/ac397d03-d738-42ca-8a59-4a2179a6f8b4">von der TCMB selbst</a> am 20. und 21. Dezember in Lira umgewechselt wurden; sowie <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/20-aralik-operasyonu-kur-ve-dolarlasma,33788">vermutlich insgesamt</a> 20 Milliarden Dollar von den öffentlichen Banken vom 20. bis zum 22. Dezember (natürlich wird dies von offizieller Seite <a href="https://www.reuters.com/article/turkey-economy-minister-idUSA4N2DB02M">bestritten</a> und zwecks Herstellung eines ideologischen Mythos behauptet, das Volk habe quasi von selbst in Scharen Devisen eingetauscht). Mittlerweile ist es <a href="https://t24.com.tr/haber/eski-ziraat-bankasi-genel-mudur-yardimcisi-babuscu-doviz-mevduatlarinin-yuzde-10-unu-kkm-ye-donusturmeyenlere-komisyon-cezasi-geliyor,1025758">Pflicht für Banken</a> geworden, 10 bis 20 Prozent ihrer Deviseneinlagen in KKM umzuwandeln und ansonsten eine Strafe an die TCMB zu zahlen.</p><p>Da der Staat die Differenz zwischen Einlagenzins und Lira-Entwertung zahlt, ist das eine <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59736185.amp">de facto Erhöhung der Zinslast</a>auf das Staatsbudget. <a href="https://www.bloomberght.com/butce-2021-de-acik-yazdi-2296726">Das Staatsdefizit</a> wird daher wegen der erneut in Gang gesetzten Lira-Entwertung in die Höhe schießen, was zusätzlich zur de facto Erhöhung der Zinslast auf das Staatsbudget durch das KKM die <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/12/faizi-dusurdukce-faiz-yukseliyor.html">sowieso schon steigenden</a> unmittelbaren Zinsen auf die Verschuldung des Staates <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/ankaras-interest-liabilities-balloon-dizzying-heights">schon jetzt</a> <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/hazineden-2-milyar-dolarlik-borclanma-7018099/">weiter erhöht</a> und damit auch den Druck auf die Lira, und somit – gekoppelt mit den anderen weiter fortwirkenden Ursachen für die Lira-Entwertung wie die Negativrealzinspolitik und die generelle nicht-orthodoxe Wirtschaftspolitik – den Wechselkurs erneut in die Höhe treibt: Ende März 2022 lag der Wechselkurs wieder bei grob 14,80 Lira auf den Dollar und 16,30 Lira auf den Euro; bis Anfang Mai ist der Euro dann wieder auf 15,60 Lira gefallen, allerdings hauptsächlich wegen den Auswirkungen des Ukrainekrieges und der Aufwertung des Dollars wegen den Zinssteigerungen der us-amerikanischen Zentralbank. Deshalb wird freilich – entgegen den offiziellen Verlautbarungen – <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59751684">ebenfalls die Inflation</a> in die Höhe getrieben. Wegen der absehbaren Folgen wurde dieser – wie später herauskam <a href="https://www.reuters.com/markets/europe/turkey-launched-rescue-plan-when-lira-crossed-red-line-sources-2021-12-22/">schon 2018 entworfene</a> – Plan früher und auch noch unter dem ehemaligen Finazminister Elvan unter Verweis auf sehr hohe Risiken und Belastung des Staatsbudgets verworfen. Dennoch erklärten <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-acikladigimiz-program-amacina-ulasmistir-2295062">Erdoğan</a> wie <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-turkiye-geliyor-son-19-yilda-yaptigi-hamleyle-orta-koydu,1002546">Nebati</a> innerhalb von nur ein bis zwei (!) Tagen den vollen Erfolg ihres Programms. Ähnliches erlebte die Türkei in den 1970ern mit den von den Rechtsregierungen populistisch ausufernd ausgeweiteten<a href="https://tr.euronews.com/2021/12/21/dovize-cevrilebilir-tl-mevduat-hesaplar-dcm-nedir-daha-once-kullan-ld-m-sonuclar-ne-oldu"><i>Dövize Çevirilebilir Mevduat</i></a> (DÇM, devisenkonvertible Einlagen), die unter anderem zum Staatsbankrott Ende der 1970er führten und deren Zahlungslast noch bis in die 1990er-Jahre hinein schwer auf dem Staatsbudget lastete. Das ist ein monetärer Neokolonialismus sowie eine epische Zinserhöhung aus den Händen eines Regimes, das im Namen von Nation und Vaterland Gift und Galle spuckt gegen die gesamte Opposition im Land und geradezu einen Jihad gegen die „Zinslobby“ ausgerufen hat. Die Flexibilität und Halsverrenkungen des autoritären Populismus sind bemerkenswert.</p><p>Jedenfalls bringt die Devisen-Indexierung von Lira-Konten dem Großteil der Bevölkerung beziehungsweise der Kleinanleger*innen nicht viel. Für den Fall der Fälle, dass Ersparnisse vorliegen, werden diese vermutlich weiterhin in Devisen gehalten werden, da das neue Instrument nicht mehr als das bietet – oder sogar weniger, da das KKM nicht gegen Inflation absichert. Zudem beinhaltet es bestimmte Mindestlaufzeiten (à drei, sechs, neun oder 12 Monate), bei deren Unterschreitung die Einlegerin ihr Anrecht auf (den zusätzlichen) Zins verliert und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/kur-korumali-hesapta-anaparadan-olma-riski-de-var/643738">potenziell sogar Verluste</a> auf die Stammeinlagensumme machen kann, falls der Wechselkurs bei nicht laufzeitgerechter Auflösung des Instrumentes niedriger liegt als bei der Beanspruchung des Instruments. Dagegen können Devisen zu jeder Zeit problemlos flüssig gemacht werden. Die Lira-Einlagen, die für die laufenden Ausgaben von kleinen Bankeinlagenbesitzer*innen gebraucht werden, das heißt alltägliche Konsumausgaben und ähnliches, die bei Menschen mit kleinen Einkommen und/oder Vermögen immer den allergrößten Großteil der Ausgaben ausmachen, werden durch die Mindestlaufzeit von drei Monaten gar nicht abgesichert. <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/eriyen-tasarruflar-doviz-sinirlamalari-ve-endeksleme,33881">Etwa 90 Prozent</a> der bisherigen Devisen- wie Lira-Einlagen im türkischen Bankensystem haben eine verbindliche Laufzeit, die kürzer ist als drei Monate (also beispielsweise Tagesgeldkonten, wie es für uns Normalsterbliche üblich ist, auf die täglich zugegriffen und die täglich aufgelöst werden können). So blieb denn der Erfolg des neuen Instruments anfangs auch recht beschränkt, wurde daher ausgeweitet auf Unternehmer*innen sowie im Ausland lebende oder registrierte (türkische und nicht-türkische) Personen und Unternehmer*innen. Zusätzlich wurde <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/erdogan-saglam/kur-korumali-tl-mevduat-katilim-hesaplarindan-elde-edilen-gelirlerin-vergilendirilmesi,33613">eine Steuerbefreiung</a> für KKM-Einlagen verkündet. Letzteres macht das KKM besonders attraktiv für Vermögende, die nicht auf tägliche Verfügbarkeit ihres Vermögens angewiesen sind. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass bis Mitte April 2022 <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">vor allem</a> Devisen-Konten mit verbindlichen Laufzeiten in das KKM-Format konvertiert wurden und kaum Devisen-Konten ohne Laufzeiten.</p><p>Obwohl die Datenlage wegen der notorischen Intransparenz der Regierung und der eigentlich zur Transparenz strikt verpflichteten staatlichen Institutionen schlecht ist, lässt sich Ende März 2022 grob folgende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/turkish-taxpayers-outraged-cost-lira-protection-scheme">vorläufige Bilanz</a> des KKM-Instruments <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ugur-gurses/halinin-altina-supurulen-enkaz,34700">ziehen</a>: Nur grob 9 Prozent aller Bankeinlagen in der Türkei (591 Milliarden Lira oder etwa 40 Milliarden Dollar) wurden in KKM angelegt und nur etwa 57 Prozent dieser Einlagen durch Eintauschen von Devisen gegen Lira. Der Rest besteht aus normalen Lira-Einlagen, die zu KKM-Einlagen konvertiert wurden. Es wurden eine Million KKM-Einleger registriert, davon 30.000 Unternehmenskonten. Zwar konnte die Dollarisierung der Privateinlagen (Anteil von Devisen/Dollar-Einlagen an allen Privateinlagen) etwas gesenkt werden, allerdings von einem sehr hohen Niveau von 71 Prozent kurz vor Deklarierung des KKM auf immer noch sehr hohe 64 Prozent. Da die Lira seit Einführung des Instruments erneut grob 30 Prozent ihres Wertes auf den Dollar verloren hat, muss der Staat etwa 25 Prozent Zinsen an KKM-Einleger der ersten Stunde einzahlen (gerechnet auf eine Drei-Monats-Einlagendauer bei einem Jahreszins auf normale Bankeinlagen von 17 Prozent, so dass der anteilige Zins, den die Bank auf die drei Monate auszuzahlen hat, um die 4,25 Prozent beträgt). Entgegen den Verlautbarungen des Regimes bleibt also die Beteiligung beim KKM überschaubar, die Kosten hingegen recht hoch. Zudem konnten weder Lira-Entwertung noch die Inflation gebremst werden, ganz im Gegenteil.</p><p>Der Chef der rechtsnationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi</i>, MHP) und derzeitiger Hauptverbündeter von Erdoğan, Devlet Bahçeli kann sich daher noch so sehr in seinen Tiraden gegen „ökonomische Putschisten“ und „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-kilicdaroglu-nereye-giderse-gitsin-milli-nefesimiz-ensesinde-olacaktir,996086">Wechselkursbombenattentäter</a>“ überschlagen, Erdoğan kann so viel gegen den ihm loyalen Zentralbankchef oder den Wirtschafts- und Finanzminister <a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/exclusive-erdogan-is-cooling-his-latest-central-bank-chief-sources-say-2021-10-08/">poltern</a><a href="https://t24.com.tr/haber/erdal-saglam-bakan-nebati-nin-gorevden-alinacagi-konusuluyor-yerine-getirilmek-istenen-belli,1022768">; ihnen</a> drohen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/erdogan-ne-dedi-bakanlar-kurulunda-nebatinin-zor-anlari-1913885">und verlangen</a>, <a href="https://www.dw.com/tr/kulis-erdo%C4%9Fan-bakan-nebatiye-neden-k%C4%B1zg%C4%B1n/a-60379828">dass diese</a> ihre Versprechungen bezüglich eines Wirtschaftsaufschwungs gekoppelt mit einer Stabilisierung des Wertes der Lira auf niedrigem Niveau und der Senkung der Inflationsrate aber mit heterodoxen/expansiven Mitteln <i>bei gegebener Integration in die Weltwirtschaft</i> einhalten: Dieser versprochenen und eingeforderten Quadratur des Kreises sind schlicht objektive Grenzen gesetzt. Auch die dahinter stehende <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogana-ekonomiden-hayir-yok-makale-1558212">ideologische Konstruktion</a> zur Abwehr der Verantwortung für die Malaise – <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-fiyatlar-konusunda-vatandaslarimizin-asina-goz-dikenleri-acimayacagiz,1025168">es sind ja</a> die „geldgierigen Wucherer“ (<a href="https://t24.com.tr/haber/stokculuga-agir-yaptirim-getiren-yasa-teklifi-tbmm-de-kabul-edildi,1001419">Erdoğan</a>), die uns das Problem der Inflation einbringen; wir bekämpfen diese mit Strafen und helfen dem Volk mit Steuersenkungen – mag kaum mehr jemanden überzeugen (siehe Abschnitt „Restauration oder populare Demokratie?“). <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nabati-den-elektrik-sorusuna-yanit-bu-gunlerde-indirim-soz-konusu-degil,1022476">Allen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/merkez-bankasi-baskani-kavcioglu-enflasyondaki-baz-etkilerin-ortadan-kalkmasiyla-dezenflasyonist-surecin-baslayacagini-ongormekteyiz,1024205">realitätsfernen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/hazine-ve-maliye-bakani-nebati-bloomberg-ht-haberturk-ortak-yayininda-2298653">verzweifelt übersteigerten</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Verlautbarungen</a> und <a href="https://www.bloomberght.com/enflasyon-yuzde-48-i-asti-2298052">Beschwichtigungen</a> zum Trotz ist die politökonomische Situation festgefahren.</p><p>Wozu dann also das Ganze?</p><h2><b>Neoliberale ISI oder Rekonsolidierungsversuch des Krisenmanagements?</b></h2><p>Ob der wirtschaftspolitische Zickzackkurs nun endgültig verlassen wurde zugunsten einer vereindeutigten heterodoxen Wirtschaftspolitik und wenn ja, zu welchen Zwecken; das ist eine große Streitfrage unter kritischen Theoretiker*innen in Fortsetzung der zuvor und auch weiterhin geführten Debatten um den (Klassen-)Charakter der heterodoxen Wirtschaftspolitik.</p><p>Schaut man sich die Verlautbarungen des Regimes und seiner wichtigen Wortführer an, dann wurde tatsächlich ein neuer politökonomischer Weg eingeschlagen. <a href="https://www.hurriyet.com.tr/gundem/erdogan-ekonomide-yol-haritasini-anlatti-cin-de-boyle-buyudu-41952854">Erdoğan selbst</a> legte mit seinen expliziten Verweisen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nahe, vom „chinesischen Modell“ zu sprechen. Das war offensichtlich nicht „national“ genug. Daher wurde wenig später vom damals neuen Wirtschafts- und Finanzminister Nebati das „<a href="https://www.bloomberght.com/hazine-tum-kurumlar-yeni-ekonomi-modeli-ni-destekleyen-adimlar-atacak-2294578">Türkische Wirtschaftsmodell</a>“ deklariert. Der Grundgedanke ist recht simpel und lässt sich als <i>neoliberale importsubstituierende Industrialisierung(sstrategie)</i> (ISI) begreifen: Teure Devisen (bzw. eine abgewertete Lira) sollen wegen hoher Preise Importe hemmen und zur Ersetzung von Importen durch einheimische Produktion anhalten, Exporte hingegen (wegen niedrigen Preisen durch die entwertete Lira) fördern und somit auch die Investition in (Export-)Sektoren, da diese höhere Profite versprechen. Die Niedrigzinspolitik soll parallel hierzu die kostengünstige Investition in die importsubstituierenden Sektoren anregen. Die reduzierte Importabhängigkeit solle sodann das Leistungsbilanzdefizit und <a href="https://t24.com.tr/haber/hazine-ve-maliye-bakan-yardimcisi-nebati-salginin-yol-actigi-arz-enflasyonunu-azaltmak-icin-faizlerin-dusurulmesi-gerekmektedir,996256">damit die Auslandsschulden senken</a>, durch erhöhte Exporte <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">sogar einen Leistungsbilanzüberschuss</a> <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-secime-kadar-faizin-ciddi-manada-dustugunu-gorecegiz-2293269">erzeugen</a>. Damit würde sich der durch die Importabhängigkeit ergebende Druck auf die TL und somit auf die Inflation <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/11/hukumetin-yeni-ekonomi-politikas.html">senken</a> und zugleich die Notwendigkeit einer Hochzinspolitik zur Stabilisierung des Wechselkurses und Attraktion von Kapitalimporten entfallen, sodass sich das Modell selbst tragen würde. Der Teufelskreislauf aus hohen Zinsen und hohen Leistungsbilanzdefiziten würde ersetzt werden durch niedrige Zinsen, hohe Beschäftigung und Produktion – so der <a href="https://www.bloomberght.com/kavcioglundan-piyasa-prensiplerine-baglilik-mesaji-2292947">TCMB-Chef Kavcıoğlu</a>. <a href="https://www.bloomberght.com/erdogan-bu-ekonomik-kurtulus-savasindan-zaferle-cikacagiz-2292587">Ähnlich</a> Erdoğan. Sein Finanzbüroleiter Göksel Aşan benennt das Modell daher auch <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskanligi-finans-ofisi-baskani-asan-cok-buyuk-ihtimalle-nisanda-cari-fazlayi-goruruz,1004674">explizit</a> als eine ISI. Und Nebati meint, es sei eine <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-nebati-hedefimiz-tarimda-ve-enerjide-disariya-bagimli-olmayan-bir-ulke-konuma-gelmek,1027054">Unabhängigkeit</a> der Türkei in Energie und Landwirtschaft anvisiert. Das Türkische Wirtschaftsmodell, eine eierlegende Wollmilchsau.</p><p>Das ganz große Problem ist: Das Modell wird nicht im entferntesten in dieser Form realisiert. Das liegt daran, dass ganz wesentliche Elemente einer klassischen ISI <a href="https://haber.sol.org.tr/yazar/patron-akademisyen-bakan-yeni-turkiyenin-ruhu-320124">fehlen</a>, was gemeinsam mit der Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse den genuin neoliberalen Charakter des „Türkischen Wirtschaftsmodells“ ausmacht: In der historischen ISI war die staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens zentral, genauso die staatliche Kontrolle über den Kapitalmarkt und die Führungsfunktion von Staatsbetrieben durch Investition in für Privatkapital unprofitable, aber für die ISI wesentliche Sektoren und/oder durch Bereitstellung von billigen Zwischengütern für die privatwirtschaftlichen ISI-Betriebe. Ohne aktive staatliche Intervention wird sich die investitions- und exportfördernde Geldpolitik, zumal in einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld der Krise, nicht in importsubstituierende Investitionen umsetzen, sondern vielmehr in der Aufrechterhaltung des laufenden Geschäfts oder Investitionen in Immobilien und nicht-produktive Anlagen zwecks Vermögenswahrung/-mehrung angesichts der Inflation niederschlagen. Dies wird auch von einigen <a href="https://www.bloomberght.com/sadece-ihracata-yonelik-ekonomi-politikasi-olamaz-2294187">Industrie- und Handelskapitalisten</a> (etwa der Industrie- und Handelskammer Mersin) und den <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-da-orhan-turan-donemi-2302687">führenden Fraktionen des Kapitals</a> kritisch festgehalten. Denn auch die Ersetzung von Importen durch den Aufbau von importsubstituierenden Produktionskapazitäten geht ja nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern bedarf mehrerer Jahre, unter Umständen sogar Dekaden. Zudem beinhaltet sie – unter kapitalistischen Bedingungen – ein gewisses Risikos seitens der jeweiligen individuellen Investoren, da die Erfolgsaussichten der neuen Produktionskapazitäten unter anderem wegen noch fehlender Konkurrenzfähigkeit fraglich sind. Kein individueller Privatkapitalist wird ein solches Risiko eingehen, ohne mehr staatliche Unterstützung als bloß billige Kredite zu bekommen. Diese müsste auch Elemente einer protektionistischen Zollpolitik beinhalten, die die importsubstituierenden Produktionssektoren gegenüber der in der Aufbauphase wettbewerbsfähigeren ausländischen Konkurrenz schützt. Ganz zu schweigen von dem Hauptproblem der ISI: Jeder bisherige Versuch eines Aufbaus importsubstituierender Kapazitäten bedurfte <i>teils erheblicher</i> Importe, nämlich Importe von Kapitalgütern (Produktionsmittel, Technologien) zumindest bis zu dem Punkt, an dem eine Volkswirtschaft die Grundlagen für eine selbständige Hochtechnologiegüter- und Wissensproduktion errichtete. In der Türkei wurde letzteres – im Unterschied zu beispielsweise Südkorea – bis zum heutigen Tag nicht erreicht, weswegen ihr Status innerhalb der Weltwirtschaft immer noch semi-peripher ist. Daher würde die Türkei auch bei einem erneuten, diesmal neoliberalen Anlauf zu einer (vertieften?) ISI zumindest noch eine Weile lang von wichtigen Importen abhängig bleiben. Es ist daher mehr als fraglich, ob die Vorteile einer massiv entwerteten Lira aus Perspektive einer solchen neoliberalen ISI die Nachteile derselben aufwiegen würden (Vorteile: billigere und daher mehr Exporte; Nachteile: massiv verteuerte und für die Produktion notwendige Importe).</p><p>Der quasi-Cheftheoretiker des neuen Kurses, Şefik Çalışkan, <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/modelin-ozeti-uretim-ve-istihdami-korumak-haberi-642732">verteidigt</a> mit ganz viel populistischem Pseudo-Antiimperialismus gewürzt nicht nur eine neoliberale ISI durch die Kombination aus Negativzins- und Liraentwertungspolitik. Er ist zudem der Überzeugung, dass der daraus entstehende enorme Druck auf die Lira, den Binnenmarkt und -konsum sowie die massive Dollarisierung gut sei, weil der Zwang zum Export die Deviseneinkommen der Unternehmen, damit die Einkommen der in diesen Unternehmen Beschäftigten und des Staates sowie wegen der hohen Dollarisierung allgemein das Einkommen aller Bevölkerungsteile steigern würde. Damit wäre im Namen des Anti-Imperialismus de facto eine vollständige Kopplung der Lira an den Dollar vollzogen, ohne die Lira formell abzuschaffen. Wie die türkische Wirtschaft, die jetzt schon mit den Problemen der Entwertungs- und Inflationswelle kämpft (Unmöglichkeit der kurzfristigen Preis- und Zahlungs- und damit der Investitionsplanung und der wirtschaftlichen Tätigkeit überhaupt), ein solches Programm tragen soll, das bei Implementierung eine bisher noch nie gesehene rasende Entwertungs- und Inflationsspirale lostreten würde, taucht im Phantasiekonstrukt des Şefik Çalışkan nicht als Problem auf. Dem Narren erscheint die Welt als ein einfaches Spiel.</p><h4><i>Das große Durchwurschteln</i></h4><p>Letztlich zeigt ja die Einführung des KKM-Instruments, dass auch dem Regime klar ist, dass es ein Limit gibt, ab dem die Lira-Entwertung(sspirale) für die türkische Wirtschaft untragbar wird. Weitere im Verlauf der letzten Monate implementierte Maßnahmen unter dem Schlagwort der „<a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ercan-uygur/enflasyon-tahmini-liralasma-ve-kur-beklentisi,35086">Liraisierungsstrategie</a>“ (<i>liralaşma stratejisi</i>) dienen ebenfalls dem Ziel, den Wert der Lira durch Reduzierung der Dollarisierung beziehungsweise durch Erhöhung der Devisenreserven der TCMB (<a href="https://t24.com.tr/haber/kulis-merkez-bankasi-dovizi-tutabilmek-icin-aylik-10-12-milyar-dolar-satiyor,1031630">oder Verkauf</a> derselben gegen Lira) zu stabilisieren (40 Prozent der Devisenerlöse von Exporteuren <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-nin-yeni-duzenlemesi-turizm-sektoru-icin-sikinti-olusturmuyor-2304453">müssen</a> an die Zentralbank verkauft werden; Devisennutzung bei kommerziellen Transaktionen im Inland wird immer stärker <a href="https://www.bloomberght.com/menkul-satislarinda-tl-ile-odeme-zorunlulugu-2304504">beschränkt</a>/<a href="https://halktv.com.tr/makale/dovizle-odeme-yasagi-1970lere-geri-donduk-673451">verboten</a>; zusätzliche Anreize für <a href="https://www.bloomberght.com/dovizini-tl-ye-ceviren-sirketlere-vergi-istisnasi-geliyor-2304060">Unternehmen</a> und <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/o-ilk-dugme-yok-mu-ilk-dugme-yanlis-iliklenen/656089">Banken</a>, das KKM-Format zu nutzen, werden geschaffen).</p><p>Wahrscheinlicher ist es daher davon auszugehen, dass der derzeit eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs der x-te erneute Versuch des Krisenmanagements und der autoritären Konsoliderung darstellt anstatt des Übergangs zu einem neuen Akkumulationsregime. Die expansive Wirtschaftspolitik und insbesondere das KKM zielen offensichtlich darauf ab, die negativen Effekte der Wirtschaftskrise auf die Breite der Bevölkerung und der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) abzufedern und damit Zeit zu gewinnen, vermutlich bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (regulär im Sommer 2023). Derzeit sind weitere Maßnahmen und Finanzinstrumente angedacht, die ebenfalls darauf abzielen die Effekte der Inflation auf die Breite der Bevölkerung abzudämpfen (<a href="https://www.hurriyet.com.tr/ekonomi/ak-parti-calismalara-basladi-20-kalem-urunun-fiyati-sabitlenecek-mi-42037781">Preiskontrollen bei Grundgütern</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-nebati-den-enflasyon-mesaji-2303277">inflationsindexierte Finanzinstrumente</a>). Zudem wurde <a href="https://www.bloomberght.com/150-milyar-liralik-kredinin-fonlamasi-tcmbden-2304335">wieder ein Kreditpaket</a> für importsubstituierende Unternehmen (Produktionsmittelproduktion) und Exporteure zu sehr günstigen Konditionen (neun Prozent Zinsen) deklariert. Freilich geht all dies massiv zulasten des Staatsbudgets und ist wegen der symptomatischen Herangehensweise notwendig transitorischer Art. Sowieso ist es fragwürdig, ob die Rechnung des Regimes aufgeht – siehe Inflation. Die Probleme akkumulieren sich so immer mehr und ihre im kapitalistischen Sinne produktive Lösung wird weiter vertagt.</p><p>Dieser Versuch der Rekonsolidierung des Krisenmanagements bringt auch einen Kampf um hegemoniale Strategien mit sich, der nicht so einseitig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist daher genauer zu analysieren.</p><h2><b>Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise</b></h2><p>Es wurde zur Genüge und <a href="https://www.calismatoplum.org/makale/doviz-kuru-politikalarinin-ekonomi-politigi">detailreich</a> festgehalten, dass die heterodoxe/expansive Wirtschaftspolitik die Stabilisierung der Akkumulation binnenmarktorientierter oder weniger importabhängiger aber exportorientierter KMUs und des Binnenmarktkonsums, das heißt des Konsums der breiten Bevölkerungsmasse anvisiert. Betrachtet man die Reaktionen auf das „Türkische Wirtschaftsmodell“ und das KKM, kann man sehen, dass es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/istikrar-enflasyon-yatirim-ve-adalet-haberi-644447">tendenziell</a> die führenden Fraktionen des Kapitals (<a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-baskani-kaslowski-bunlar-dogru-adimlar-ise-neden-enflasyon-bu-denli-siddetli-yukseliyor,1006005">TÜSIAD</a>) und die Industriellen (Istanbuler Industriekammer, <a href="https://www.bloomberght.com/iso-baskani-bahcivan-dan-tcmb-yi-saskinlikla-izliyoruz-cikisi-2294653">ISO</a>) sind, die diese Maßnahmen scharf kritisieren. <a href="https://sendika.org/2021/12/musiad-erdogandan-pasi-aldi-turkiye-ekonomisi-yalnizca-doviz-kuruna-indirgenerek-degerlendirilemez-640906/">Umgekehrt</a> sind es <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiaddan-10-maddelik-manifesto-haberi-643751">tendenziell</a> binnenmarktorientierte und/oder <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">exportorientierte</a> KMUs, die die Maßnahmen <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-yeni-modele-destek-2294913">teils</a> <a href="https://www.bloomberght.com/tim-baskani-gulle-model-ihracat-ekseninde-buyume-modeli-bundan-memnuniyet-duyuyoruz-2294946">mit</a> glühendem Eifer begrüßen.</p><p>Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Sache aber als etwas komplizierter: Einerseits beschweren sich die mit dieser Wirtschaftspolitik vom Regime anvisierten Kapitalfraktionen öfter, als auf den ersten Blick erscheint, über die Folgen der Wirtschaftskrise und des Krisenmanagements, andererseits profitiert das Großkapital mehr vom derzeitigen Regime, als <a href="https://birartibir.org/muharebenin-dugumu-para-politikasi/">die These</a> vom „Kampf zwischen international orientiertem Großkapital und binnenmarktorientierten/importschwachen aber exportorientierten KMUs“ nahelegt.</p><p>Der Reihe nach. <a href="https://sendika.org/2021/10/guncel-kriz-dinamikleri-ve-sosyalist-stratejiyi-tartismak-634684/">All die</a> als Hauptprofiteure der heterodoxen/expansiven Wirtschaftspolitik analysierten Kapitalfraktionen beziehungsweise Verbände haben sich im vergangenen halben Jahr eben so oft über die Wirtschaftspolitik und ihre Folgen beschwert, wie sie diese hochgelobt haben. So kritisierten die Union der Kammern und Börsen der Türkei (<i>Türkiye Odalar ve Barolar Birliği</i>, TOBB) und die Istanbuler Handelskammer (ITO) die <a href="https://www.bloomberght.com/tobbhisarciklioglu-kurlarin-artmasi-reel-sektorumuzu-tedirgin-etmektedir-2290340">Zinssenkungsentscheidungen</a>, die massive Entwertung der Lira über die dadurch gewährten kompetitiven Vorteile <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-ndan-faiz-yorumu-2292358">hinaus</a>, die <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">dadurch entstehende</a>wirtschaftliche Unvorhersehbarkeit und die Verunmöglichung der Preiskalkulation. Sie verlangten <a href="https://www.bloomberght.com/tobb-dan-piyasa-istikrari-icin-onlem-cagrisi-2294660">dringende Maßnahmen</a>, um die wirtschaftliche Stabilität wieder herzustellen. Der als Flaggschiff der AKP-nahen Kapitalfraktionen geltende Verband Unabhängiger Unternehmer (<i>Müstakil Sanayici ve İş Adamları Derneği</i>, MÜSIAD) benannte noch <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/musiad-baskani-mahmut-asmalidan-yil-sonu-dolar-tahmini-1888851">Ende November</a> und <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/musiad-baskani-asmali-kurdan-etkilenmiyorum-diyen-sanayici-dogru-soylemiyordur-haberi-642150">Anfang Dezember</a> 2021 ebenfalls alle diese Probleme als gewichtig. Der MÜSIAD-Vorsitzende Mahmuat Asmalı hielt einen Dollar-Kurs von 8 bis 9 Lira für vernünftig und kompetitiv, nicht jedoch darüber. <a href="https://www.bloomberght.com/musiad-baskani-asmali-politika-faizi-maalesef-reel-sektore-yansimadi-2296055">Noch Anfang des Jahres</a> beschwerte sich der MÜSIAD darüber, dass sich der niedrige Leitzins nicht auf die Zinsen für kommerzielle Kredite niederschlage. Eines der wichtigsten Ziele der heterodoxen Wirtschaftspolitik ist es ja gerade, Kredite zu niedrigen Zinsen für binnenmarktorientierte Unternehmen bereitzustellen. Die Inflation, die <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59332074">ökonomische Unsicherheit</a> und freilich die Macht der Banken erschwert diese Absicht allerdings.</p><p>Dass sich auch die binnenmarkt- und/oder exportorientierte KMUs beschweren, hat gute Gründe. Zu stark steigende Preise importierter Inputs sind ein riesiges Problem, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">wie</a> auch die Vereinigung Istanbuler Konfektionskleidungsexporteure (<i>İstanbul Hazır Giyim ve Konfeksiyon İhracatçıları Birliği</i>, IHKIB) <a href="https://www.dunya.com/sektorler/tekstil/hazir-giyimde-yaza-yuzde-80-zam-yolda-haberi-654097">oder</a> der Verband der Kleidungsunternehmer (<i>Türkiye Giyim Sanayicileri Derneği</i>, TGSD) <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-export-driven-growth-sustainable">betonen</a>, da sie die durch eine Lira-Entwertung entstehenden preislichen Wettbewerbsvorteile hinsichtlich des Exports gleich wieder revidieren beziehungsweise die inländischen Verkaufspreise stark erhöhen. So ist es dann auch der Fall, dass der Auslandserzeugerpreisindex (die Preise, die Hersteller für Güter verlangen, die für den Export bestimmt sind) mit <a href="https://www.bloomberght.com/uc-haneli-yurt-disi-uretici-enflasyonu-suruyor-2304593">knapp über 105 Prozent</a> im März 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Yurt-Ici-Uretici-Fiyat-Endeksi-Mart-2022-45852">genau so exorbitant</a> stieg wie der Inlandserzeugerpreisindex (fast 115 Prozent). Die wellenförmige Steigerung der Inflationsrate und die Entwertung der Lira in sehr kurzen Zeiträumen erschwert bis verhindert durch die Unvorhersehbarkeit und die Unmöglichkeit der robusten Preiskalkulation auch das Geschäft der KMUs, wie diese ja selbst festhalten. So autark und unabhängig von Importen ist kein Betrieb, dass er von diesen Entwicklungen nicht betroffen wäre. Umgekehrt würde eine von der neoliberalen Orthodoxie vorgesehene Kreditkontraktion und eine immense Erhöhung der Zinsen zwecks Stabilisierung des Lira-Kurses und der erneuten Attraktion von ausländischem Kapital ziemlich sicher zum Bankrott vieler KMUs führen. Sie befinden sich daher <i>objektiv</i> in einer Zwickmühle, aus der es derzeit keinen gemütlichen Weg raus gibt. Daher sind auch objektiv <i>unterschiedliche Strategien</i> mit unterschiedlichen Risiken als Lösungsversuch der Krise und Fortsetzung der Akkumulation möglich.</p><h4><i>Wirtschaftspolitik als Teil des Kampfes um hegemoniale Strategien</i></h4><p>Die Wirtschaftspolitik des Regimes muss daher konzeptionell klarer gefasst werden als <i>Teil eines allgemeineren Hegemoniekampfes, der Kämpfe um die dominante ökonomische Strategie und ihre politische Führung inkludiert</i>, und nicht als eine eins-zu-eins Repräsentation prä-strategisch gegebener ökonomischer Interessen in der politischen Sphäre. In der Kalkulation des Regimes ist eine Rückkehr zu orthodoxer neoliberaler Wirtschaftspolitik – wegen der dann zu erwartenden Bankrottwelle und des (zumindest vorübergehend) noch massiveren Einbruchs des Haushaltskonsums als derzeit – mit viel höheren politischen Kosten verbunden als eine Wirtschaftspolitik, die versucht, sich inmitten der Wirtschaftskrise durchzuwurschteln und die Kriseneffekte auf KMUs und Binnenkonsum so weit wie möglich abzufedern. Dabei versucht das Regime an die Existenzängste vieler KMUs anzuknüpfen und durchzusetzen, dass diese ihr unmittelbares Überleben oder ihre unmittelbare Akkumulation als strategisches Primat ansehen – und das Regime als jene politische Führung, die dieses strategische Primat einzig umzusetzen in der Lage ist. Es ist aber objektiv überhaupt nicht absehbar, ob die vom Regime verfolgte Strategie allein noch das Überleben vieler KMUs garantieren kann, oder ob sie nicht viel eher die Krisendynamik und damit auch den Druck auf jene KMUs verschärft, was derzeit als objektiv wahrscheinlich erscheint.</p><p>Es sind aber auch andere strategische Perspektiven möglich. So könnten leistungsstarke KMUs, die den kompetitiven Druck einer orthodoxen Geldpolitik aushalten können, dafür optieren, gemeinsam mit den führenden Fraktionen des Kapitals für eine Re-Integration der Türkei in die globale Weltwirtschaft auf erweiterter Stufenleiter zu streiten und Länder wie China dadurch in den Lieferketten abzulösen. Wie Hakkı Özdal in Bezug auf die Wahl des neuen TÜSİAD-Präsidenten Orhan Turan, ehemals Präsident der TÜSIAD-nahen Vereinigung von kleinen und mittleren Kapitalisten (TÜRKONFED), im März 2022 <a href="https://mavidefter.net/sermayenin-yeni-vitrini-aklin-zekati-ve-bir-hediye-fotograf/">ganz richtig festhie</a>lt, gibt es derzeit in der Türkei kein Monopol (mehr?) auf die politische Repräsentation der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es wird vielmehr um diese Repräsentation gerungen, was auch bedeutet, um unterschiedliche ökonomische Strategien zu kämpfen. Wir werden in nächster Zeit vermutlich sehen, wie der oppositionelle Restaurationsblock versuchen wird, eine alternative ökonomische Strategie auch für KMUs zu entwerfen. Es ist nicht allein die objektive Stellung im Produktionsprozess im Allgemeinen wie im Besonderen (in einem bestimmten Akkumulationsregime zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung desselben), die die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen determiniert, denn aus deren Stellungen im Produktionsprozess heraus sind objektiv unterschiedliche Perspektiven möglich. Diese und damit die Interessen der Kapitalfraktionen werden daher co-determiniert von politischen Kämpfen um ökonomische und gesamtgesellschaftliche Strategien.</p><p>Den ökonomisch führenden Fraktionen des Kapitals geht es indes viel besser, als ihre für kapitalistische Verhältnisse lautstarke Kritik an der Politik des Regimes glauben lassen würde. Die führenden Großunternehmen der Türkei erzielten teils exorbitante Profite (Metall, Automobil, Getränke, Kommunikation, bis <a href="https://t24.com.tr/haber/bilancolar-sirket-karlarinin-rekor-oranda-arttigini-gosteriyor-vatandas-yoksullasirken-ozel-sektor-buyuyor,991093">Ende 2021</a>; Bankensektor: +57 Prozent, <a href="https://www.bloomberght.com/bankacilik-sektorunun-kri-2021-de-yuzde-57-artti-2297790">2021</a> im Vergleich zum Vorjahr, +323 Prozent, <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">Januar-Februar 2022</a> im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Die Negativzinspolitik der Zentralbank <a href="https://www.sozcu.com.tr/2022/ekonomi/banka-karlari-neden-uctu-7043027/">hebt</a> die Zinseinkommen der (Privat-)Banken, anstatt sie zu senken, da diese die niedrigen Zinsen nicht so an Kreditnehmer*innen weitergeben und die wachsende Differenz als steigende Profite einkassieren (der <a href="https://evds2.tcmb.gov.tr/index.php?/evds/portlet/K24NEG9DQ1s=/tr">Zins auf Kredite</a> lag Ende März 2022 je nach Art des Kredits bei 20 bis 30 Prozent gegenüber 14 Prozent Zentralbankleitzins und 16 bis 17 Prozent Einlagenzins; dazu kommen noch die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen). Das ist es letztlich, worüber sich der MÜSIAD noch Anfang des Jahres beschwerte. <a href="https://www.perspektif.online/fare-delige-sigmamis-bir-de-kuyruguna-kabak-baglamis/">Zudem</a> sorgt die hohe Verschuldung des Staates an türkische Banken in Devisen oder inflationsindexierten Staatsanleihen für die exorbitant steigenden Bankenprofite. Die größte Unternehmensgruppe der Türkei, Koç, die politisch klar oppositionell zum Regime eingestellt ist, <a href="https://www.bloomberght.com/ali-kocbatarya-yatirimi-kuresel-rekabet-avantaji-saglayacak-2301442">tätigt derzeit</a> mit Unterstützung von Präsident Erdoğan große Investitionen in die E-Fahrzeug- und -Batterien-Produktion. Eines der Flaggschiffe der Koç-Gruppe, Ford Otosan, erhöhte seine Profite 2021 <a href="https://www.bloomberght.com/ford-otosan-in-kri-beklentileri-asti-2298934">um fast 100 Prozent</a>; die gesamte Unternehmensgruppe berichtet von einer Zunahme der konsolidierten Gewinne von <a href="https://www.bloomberght.com/rahmi-m-koc-yatirimlarimiza-kararlilikla-devam-edecegiz-2303047">89 Prozent</a>.</p><p>So sehr die derzeitige Wirtschaftspolitik und politische Ökonomie der Türkei auch von konkurrierenden (bzw. sich in Krise befindenden) Strategien und Hegemonieprojekten gekennzeichnet ist, behält sie bei allen Differenzen und Widersprüchen doch ein grundlegendes <a href="https://ozgurorhangazi.com/2021/11/23/faiz-doviz-meselesi-3-sermayeler-arasi-savas-mi-ya-da-niyet-neydi-akibet-ne-olacak/">Element der Einheit</a> bei, namentlich, dass sie hinsichtlich der Distributionsverhältnisse eindeutig zulasten des Großteils der Werktätigen und zugunsten des Kapitals im Allgemeinen geht: <a href="https://www.birgun.net/haber/ayni-gemide-degilmisiz-379585">So sank</a> die Lohnquote sukzessive von 35,1 Prozent im Jahre 2019 auf 33,1 Prozent im Jahr 2020 und letztlich 30,2 Prozent im Jahr 2021, während die Gewinnquote in der selben Zeit von 47 Prozent auf 52,6 Prozent zulegte. Die <a href="https://www.birgun.net/haber/isci-enflasyonun-altinda-ezildi-371579">realen durchschnittlichen Bruttolöhne</a> gingen zwischen 2016 und 2020 um sagenhafte 42,2 Prozent zurück (Inflation!); auch der Haushaltskonsum ging, trotz Kreditstützen in den letzten Jahren, <a href="https://mavidefter.net/tusiadin-krizden-cikis-recetesi-halki-daha-da-yoksullastirmak/">zurück</a> von 65 Prozent im Jahr 2012 auf 56 Prozent im Jahr 2021 (im Verhältnis zum BIP). Dabei verdeckt die permanente Erhöhung des Mindestlohns einerseits, dass dieser dennoch sehr niedrig bleibt (wieder: Inflation!), andererseits, dass sich die Durchschnittslöhne <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2020/09/D%C4%B0SK-AR-12-Eyl%C3%BCl-RAPOR-SON.pdf">seit 1980</a> <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/Pandeminin-Ikinci-Yilinda-Iscilerin-Durumu-KONSOLIDE-son-son.pdf">zunehmend</a> dem Mindestlohn anpassen, dass also eine Abwärtsspirale und nicht eine Aufwärtsspirale der Löhne stattfindet, und zwar <a href="https://www.birgun.net/haber/memur-yoksullasti-memur-sen-buyudu-383711">auch im öffentlichen Sektor</a> und damit in der Beamtenschaft. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/akp-ve-kabine-asgari-ucret-ile-ikramiye-artisinda-ters-dustu-1925634">Zugleich</a> wird derzeit eine weitere Erhöhung des Mindestlohns wegen des davon ausgehenden „inflationären Drucks“ abgelehnt, was natürlich reichlich grotesk ist angesichts einer Wirtschaftspolitik, die auch schon ohne Lohnerhöhungen zu einer historisch hohen Inflationsrate führt, und zugleich Abermilliarden für Unternehmen und Vermögende bereitstellt. Aber das Argument des „inflationären Drucks“, das gegen die Mindestlohnerhöhung genutzt wird, ist natürlich nur Ideologie zwecks Rationalisierung einer klar pro-kapitalistischen Politik. Insofern ist nichts „groteskes“ dran, denn es ist knallharte Interessenpolitik. Einen grundlegenden Bruch mit wichtigen Prinzipien des Neoliberalismus in der Türkei (Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse, kein produktiver Staatssektor), seinen ökonomisch dominanten Akteuren und der Integration desselben in die Weltwirtschaft hat das Regime bei allen Abweichungen von bestimmten Prinzipien (bspw. von der neoliberal-orthodoxen Geldpolitik) – noch? – nicht vollzogen. Während sich also der politische Autoritarismus nicht einfach aus dem Neoliberalismus (und seiner Krise) ableiten lässt, ist es allerdings umgekehrt auch nicht der Fall, dass der politische Autoritarismus den Neoliberalismus einfach vollständig destruiert. Das Verhältnis beider ist also dialektisch als ein inneres, aber widersprüchliches zu verstehen, egal, ob man die Situation nun als „autoritärer Neoliberalismus“, „autoritärer Etatismus im Neoliberalismus“ oder „neoliberaler Etatismus“ verbegrifflicht.</p><h4><i>Die alternative Perspektive der führenden Fraktionen des Kapitals</i></h4><p>Aus all diesen Gründen ist es auch unter den heutigen Bedingungen schlicht nicht richtig, <a href="https://www.birgun.net/haber/erdogan-buyuk-sermayeye-istedigini-veremedi-374329">davon zu sprechen</a>, dass es zu einem <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/anadolu-burjuvazisi-simdi-ne-dusunuyor,33150">großen Bruch</a> zwischen Großbourgeoisie und der AKP gekommen ist. Richtiger ist es, festzustellen, dass es große Konflikte und daher Hegemoniekämpfe um die zu befolgenden Strategien gibt, die umfassenderer Natur sind als jährliche Profitmargen, wobei diese Hegemoniekämpfe aber keinen „großen Bruch“ darstellen.</p><p>Der TÜSIAD beschwert sich dabei schon seit Jahren über die heterodoxe Wirtschaftspolitik und ihre Folgen und verlangt eine orthodoxe Rejustierung derselben. <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-genel-kabul-gormus-iktisat-bilimi-kurallarina-hizla-donulmeli-2294704">So auch</a> <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/tusiad-baskani-dunyaya-konustu-faiz-indiriminde-sabir-gerektiren-kritik-surece-giriyoruz-haberi-632294">in den letzten Monaten</a>. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbaren Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals wie beispielsweise die mittels orthodoxer Geldpolitik und Institutionen prognostizierte erneut einsetzende Attraktion von großen Summen an ausländischem Kapital für große Investitionen und die von fast allen Kapitalfraktionen geteilte Forderung nach Stabilisierung von Wechselkurs und Inflation zwecks Vorhersehbarkeit und robuster Preiskalkulation. Der TÜSIAD visiert offensichtlich auch eine spezifische hegemoniale und ökonomische Strategie an: Hegemonial betrachtet herrscht aufseiten des TÜSIAD die Sorge vor, <a href="https://t24.com.tr/haber/omer-m-koc-tum-belirsizliklere-ve-olumsuzluklara-ragmen-memleketimizin-gelecegine-inaniyoruz-esasli-bir-reform-ajandasina-sarilarak-ulke-riskimizi-azaltmak-zorundayiz,985931">dass</a> die massive ökonomische Ungleichheit und die Krise des politischen Autoritarismus <a href="https://yetkinreport.com/2022/03/14/rusya-ukrayna-savasinin-tetikledigi-donusumler/">starke sozial destabilisierende Effekte</a> haben könnte. (Die ITO ist dieser Problematik gegenüber übrigens <a href="https://www.bloomberght.com/ito-baskani-avdagic-bedel-odense-de-yeni-bir-doneme-gecilmesi-gerekiyor-2294046">auch nicht vollständig blind</a>.) Daher die wiederholte Forderung von „pluraler Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheiten“ einerseits, einer anti-inflationären Wirtschaftspolitik andererseits. Freilich findet sich in den Aussagen und Publikationen des TÜSIAD wenig Konkretes zur Veränderung des Arbeitsmarktes oder zur Institutionalisierung sozialer Rechte. Die Hoffnung liegt klar auf einem sich selbst tragenden neoliberalen Wachstumsmodell mit Produktivitätsfortschritten, aus dem ohne große Verrechtlichung der Marktbeziehungen im Sinne der Werktätigen und ohne allzu großen Veränderungen der Distributionsverhältnisse genug für die Werktätigen abspringt, damit diese befriedet sind.</p><p>Gleichzeitig ist der TÜSIAD der Meinung, dass die kurzfristige Orientierung der Wirtschaftspolitik die kapitalistische Entwicklung der Türkei blockiere, insofern es mit ihr nicht möglich sei, einen Aufstieg der türkischen Wirtschaftsstruktur im System der internationalen Arbeitsteilung zu erlangen. Das heißt, der TÜSIAD visiert mittel- bis langfristig eine ganz andere hegemoniale ökonomische Strategie an, als in der derzeitigen vom Krisenmanagement dominierten Wirtschaftspolitik des Regime enthalten ist. Letztere ist notgedrungen kurzfristig angelegt und enthält derzeit wenig Potenziale für eine kapitalistische Akkumulation auf qualitativ erweiterter Stufenleiter. Diese ökonomische wie auch politisch-regulative hegemoniale Strategie hat der TÜSIAD nun Ende letztes Jahres <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-iktidari-ozneyi-soylemeden-elestirdi-omer-koc-acemoglu-nun-demokrasideki-gerilemeyi-anlattigi-sunumu-notlar-alarak-dinledi,986791">zu einem Bericht</a> mit dem unmissverständlichen Titel <a href="https://tusiad.org/tr/basin-bultenleri/item/10854-tusi-ad-dan-yeni-bir-anlayisla-gelecegi-i-nsa-raporu"><i>Yeni Bir Anlayışla Geleceği İnşa</i></a>, übersetzt in etwa „Mit einer neuen Vision die Zukunft gestalten“ synthetisiert und der Öffentlichkeit präsentiert. Murat Sabuncu <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-akp-turkiyesi-ne-yeni-bir-gelecek-hayaliyle-itiraz-ediyor,986818">hält ganz richtig fest</a>, dass sich dieser Bericht nicht allein an Unternehmer*innen, sondern an die Breite der Gesellschaft wendet, sprich einen hegemonialen Anspruch hat. Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus geht also in eine neue Runde.</p><h2><b>Altbekannte und (scheinbar) neue Taktiken der autoritären Konsolidierung</b></h2><p>In diesem Kampf um die Krise des Neoliberalismus, in dem das Regime um seinen politischen Machterhalt kämpft, sind die Kampfmethoden natürlich nicht bloß ökonomischer Art. Die altbekannten und scheinbar neue Taktiken der autoritären Konsolidierung werden ebenfalls fortgesetzt. Diese visieren, wie ehedem, Unterdrückung, Zermürbung, Spaltung und Integration der Opposition aber auch die Etablierung einer popularen Legitimationsbasis für den Autoritarismus an. Weiterhin werden <a href="https://t24.com.tr/haber/engelli-web-raporu-2020-sonu-itibariyla-467-bin-web-sitesi-erisime-engellendi,972358">Hunderttausende Webseiten</a> <a href="https://www.dokuz8haber.net/turkiyede-internet-ozgurlugu-uc-yildir-dususte">blockiert</a>, weitflächig Druck und Repression <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">gegen</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-nin-yarisma-programini-hedef-alan-genelgesi-ve-milli-manevi-degerler,1011389">Medien</a> und Oppositionelle <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/03/international-domestic-groups-ring-alarms-human-rights-turkey">ausgeübt</a> sowie <a href="https://www.dw.com/tr/sosyal-medya-yasas%C4%B1-neler-getirecek/a-60815430">an einem Gesetz</a> zur weiteren Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auf Social Media-Plattformen unter dem Vorwand der Bekämpfung von „fake news“ gearbeitet. Erdoğan selbst <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ozgurlugun-sembolu-olarak-nitelenen-sosyal-medya-gunumuz-demokrasisi-icin-ana-tehdit-kaynaklarindan-birine-donusmustur,1000034">deklarierte jüngst</a><i>social media</i> als „einer der größten Gefährdungsquellen für die heutige Demokratie“. <a href="https://tihv.org.tr/wp-content/uploads/2022/03/TIHV_covid_hak_ihlalleri_rapor_Mart_2022.pdf">Über 200</a> Kundgebungen und Demonstrationen wurden unter vorgeschobenen Gründen des Infektionsschutzes während der Pandemie verboten (während vom Regime wohlwollend betrachtete Massenereignisse natürlich erlaubt und sogar gefeiert wurden). Auch sonst geht die mehr oder minder verdeckte (<a href="https://www.dw.com/tr/akpnin-lin%C3%A7-giri%C5%9Fimi-videosu-soru-i%C5%9Faretleri-yaratt%C4%B1/a-59647524">Androhung von) Gewalt</a> gegen (führende) Oppositionelle und <a href="https://t24.com.tr/haber/orhan-pamuk-sezen-aksu-hepimizin-gururudur-sanatcisini-ezen-bir-devlet-ve-millet-olmayacagiz,1010074">Kulturschaffende</a> ungebrochen weiter. Die Türkei bleibt das nach Russland dasjenige europäische Land, in dem sich proportional zur Bevölkerung die meisten Menschen <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-60981073">im Gefängnis</a> befinden. Den protestierenden und streikenden Ärzt*innen wurde von Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/doktorlara-gidiyorlarsa-gitsinler-diyen-erdogana-tepki-yagdi-1914317">vorgeworfen</a>, sie hätten Luxusprobleme und sollten das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt (nur um <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-ulkemizi-kuresel-saglik-sistemi-icinde-mumkun-olan-en-iyi-yere-getirmek-istiyoruz,1020848">ein Tag danach</a> die selben Ärzt*innen in den Himmel zu loben und einer Reihe ihrer Forderungen nachzugeben).</p><p>Offensichtlich als Teil des de facto schon begonnenen Wahlkampfs wurde die Repression kürzlich noch einmal besonders verschärft: Zum Abschluss eines jahrelangen Schauprozesses gegen einige in den Gezi-Protesten 2013 involvierte wichtige zivilgesellschaftliche Akteur*innen wurden Ende April 2022 <a href="https://t24.com.tr/haber/gezi-davasinda-karar-durusmasi,1030116">drakonische Strafen</a> verhängt, darunter auch gegen den großbürgerlich-liberalen Mäzen Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen (<i>ağırlaştırılmış müebbet</i>) verurteilt wurde. Gleichzeitig lancierte der türkische Staat eine <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">großangelegte Militäroffensive</a> gegen Teile der als PKK-Stützpunkte genutzten Kandilberge im Irak, wobei diese parallel – und vermutlich zuvor mit der Türkei abgestimmt – <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkey-launches-offensive-against-pkk-targets-northern-iraq">begleitet wurde</a> von einer Offensive der Truppen der irakischen Regierung gegen das PKK-nahe ezidisch dominierte Schengal.</p><p>Islamisierung und autoritäre heteronormativ-familiale Geschlechterpolitik bilden weiterhin eine wichtige Grundlage für den Versuch, einen autoritären Konsens herzustellen als Legitimationsbasis für das autoritäre Regime. Die Kriminalisierung und Repression von <a href="https://www.duvarenglish.com/copies-of-british-authors-book-being-sold-in-envelopes-in-turkey-after-ministry-finds-it-obscene-for-including-gay-character-news-58959">LGBTQI+-Identitäten</a> wird weiterhin konstant betrieben. Der Chef der Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, kann eine umfassende <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-powerful-top-cleric-called-tone-down-or-resign">Kritik am Laizismus</a> lancieren und die Forderung aufstellen, Korankurse für 4-6jährige Kinder nicht mehr als Wahl-, sondern <a href="https://t24.com.tr/haber/diyanet-ten-zorunlu-kur-an-kursu-aciklamasi,979450">als Pflichtfach</a> einzuführen. Die Forderung nach einem „religiösen“ Grundgesetz (ehemaliger <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/eski-meclis-baskani-ismail-kahramandan-dindar-anayasa-aciklamasi-sozlerim-carpitildi-1874529">Parlamentssprecher Ibrahim Kahraman</a>, AKP) wird wieder en vogue. Der Freitod eines jungen Studierenden, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/turkish-teen-suicide-revives-secular-pious-debate">Enes Kara</a>, der die unerträglichen Verhältnisse in einem religiösen Wohnheim nicht mehr aushielt, befeuerte erneut die Debatte um die Schließung religiöser Heime.</p><p>Auch die scheinliberalen Versuche und Reförmchen zur Einbindung der Hauptoppositionsparteien gehen weiter: So wurde hinter den Kulissen darüber diskutiert, das Präsidialsystem dahingehend <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58734677">zu modifizieren</a>, dass die Minister nicht mehr wie bisher von Präsidenten ernannt, sondern vom Parlament gewählt werden und das Parlament wieder das Recht auf Anfragen und ähnliches eingeräumt bekomme. Natürlich wäre das nur eine Scheinliberalisierung gewesen, da derzeit ja auch das Parlament noch von AKP-MHP dominiert wird. Zudem war die „Konzession“ verbunden mit dem Vorschlag, die Auflage einer absoluten Mehrheit (über 50 Prozent der gültigen Wahlstimmen) für den erfolgreichen Sieg in der ersten Runde einer Präsidentschaftswahl abzuschaffen. Offensichtlich halten es auch AKP-MHP für wahrscheinlich, dass Erdoğan nicht mehr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. Denn konträr zur nach außen kommunizierten Hybris ist den AKP-Entscheidungsträgern <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58965213">intern</a> natürlich klar, dass die <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/bulent-arincin-ekonomi-ve-sandik-mesajina-akplilerden-destek-1927234">wirtschaftliche Krise</a> und „Mängel im Präsidialsystem“ (aka Willkür, Repression insbesondere gegenüber Kurd*innen, politisierte Justiz) die Gründe für den (prognostizierten) Stimmenverlust sind und dass die Opposition gewonnen werden muss für eine (leichte) Modifikation des Präsidialsystems (wobei klar ist, dass am Prinzip des Präsidialsystems nichts geändert werden soll). Später, im März 2022, als die Novellierung des Wahlgesetzes eigentlich schon als sicher galt (siehe ein paar Absätze weiter unten), <a href="https://www.korkusuz.com.tr/erdoganin-yeni-oyun-plani.html">sickerte durch</a>, dass AKP und MHP zu einer weiteren Senkung der Wahlhürde auf drei Prozent bereit seien. Sie verlangten dafür aber ein Ende der von der Opposition geführten Diskussion, ob Erdoğan laut geltendem Gesetz überhaupt erneut zu einer Kandidatur antreten dürfe. <b>[3]</b></p><p>Mittlerweile wurden auch zahlreiche „Menschenrechtsaktionspläne“ oder „Justizreformpakete“ – angeblich zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation – verkündet. Freilich bleiben Selahattin Demirtaş, Figen Yüksedağ oder Osman Kavala <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-bahceli-tercihlerimiz-kim-oldugumuzun-isaretidir,988449">weiterhin</a> teils lebenslänglich inhaftiert und werden als „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-cumhur-ittifaki-ciftci-dostudur-esnaf-sevgisiyle-doludur,986731">Terroristen</a>“ oder „Soros-Anhänger“ verschrien. Angesichts der weiter oben ausgeführten ununterbrochen fortgesetzten Repression gegen fast alle oppositionellen Teile der Gesellschaft ist klar, dass diese „liberalen Reförmchen“ eh schon kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Aber sogar das war und ist zu viel für die Hardliner innerhalb des Regimes, wie die von Bahçeli wiederholt vorgebrachte Forderung nach der Schließung des Verfassungsgerichtes (AYM) und der Rücktritt des Justizministers Gül (siehe unten) zeigen.</p><p>Es wird auch weiterhin die Handlungsfähigkeit der oppositionsgeführten Städte untergraben, um die – auf erfolgreiche Bereitstellung städtischer Dienstleistungen als materieller Grundlage basierende – Hegemoniepolitik der Opposition zu torpedieren: Beispielsweise bleiben <a href="https://www.birgun.net/haber/metrolari-ibb-ye-devretmeyecekler-358362">weiterhin</a> zentrale Metrolinien <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">oder</a> <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/11/rezoning-istanbul-islands-raises-concerns-akp-meddling">Bezirke</a> Istanbuls in der Hand zentralstaatlicher Ministerien oder werden in diese überführt; es werden weitere Metroprojekte durch die Stadt oder eine grundlegende Änderung des maroden Taxi-Systems auf die lange Bank geschoben oder <a href="https://www.dw.com/tr/muhalefetin-y%C3%B6netimindeki-projelere-onay-engeli/a-61165248">zahlreiche andere</a> kommunale Projekte in oppositionsgeführten Städten durch AKP-MHP oder zentralstaatliche Apparate gebremst oder gestoppt. Gegen mehr als 500 Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung lancierte das Innenministerium zudem eine <a href="https://t24.com.tr/haber/imamoglu-erdogan-ve-soylu-ya-gonderdigi-mektupta-ne-yazmisti,1003777">„Terrorismus“-Untersuchung</a>, Bahçeli <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-den-bahceli-ye-ibb-yaniti-secimlerde-abdullah-ocalan-in-mektubuna-bel-baglamis-bir-ittifaksiniz-bu-suclamayi-yoneltmek-size-birkac-gomlek-buyuk-gelir,1004578">kündigte daraufhin</a> eine mögliche Amtsenthebung des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu an. Sogar die Schneestürme in Istanbul wurden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/01/istanbul-residents-get-stuck-snow-politicians-throw-blame-each-other">instrumentalisiert</a> im Hegemoniekampf zwischen Regimekräften und Hauptoppositionparteien, indem sich beide Seiten wechselseitig Unfähigkeit vorwarfen und jeweils ihre eigenen Leistungen hervorhoben.</p><h4><i>Die neuesten Manöver</i></h4><p>Nicht zuletzt sind zwei wichtige Entwicklungen zu nennen, die der Spaltung und Schwächung der Opposition dienen: Zum einen die Änderung des Wahlgesetzes, zum anderen die politische Rückkehr einer Mitterechts-Hardlinerin der 1990er-Jahre, Tansu Çiller.</p><p>Das Wahlgesetz war zuletzt 2018 grundlegend geändert worden, um die Bildung von Wahl-Koalitionen zu erlauben. Es bildeten sich die bis heute bestehenden zwei Koalitionen: Das Bündnis des Volkes (<i>Cumhur İttifakı</i>) des Regimes und das Bündnis der N<i>ation (Millet İttifakı</i>), der bürgerliche Hauptoppositionsblock. Für Parteien, die Teil einer solchen Wahl-Koalition waren, galt die 10 Prozent-Hürde nicht; sie galt nur für die Koalition als Ganze. Der Stimmanteil der Koalition war maßgeblich für den Anteil der Parlamentssitze, die die Koalition als Ganze erhielt; erst in einem zweiten Schritt wurden diese dann entsprechend des Stimmanteils der Koalitionsparteien unter diesen aufgeteilt wurden. Die Wahlgesetzänderung von 2018 war ganz offensichtlich eine Maßnahme, um der AKP-Partnerin MHP den Einzug ins Parlament zu garantieren, da damalige Umfragen die MHP unter der 10 Prozent-Wahlhürde sahen (am Ende bekam sie allerdings doch 11 Prozent).</p><p>Auch die jetzt im Frühjahr 2022 erfolgte <a href="https://t24.com.tr/haber/secim-barajini-dusuren-tekliften-ittifak-hamlesi-cikti-yeni-teklif-en-cok-akp-ye-yariyor-muhalefeti-strateji-belirlemeye-zorluyor,1020850">grundlegende Änderung des Wahlgesetzes</a> dient <a href="https://t24.com.tr/haber/il-ve-ilce-secim-kurullarinin-tamami-ile-ysk-nin-bes-uyesi-sandikta-yargi-guvencesinin-budandigi-tartismasi-esliginde-degisiyor,1021100">unmittelbar politischen Kalkülen</a> des Regimes. Zwar wurde die Wahlhürde jetzt auf 7 Prozent abgesenkt, um das Ganze als „Demokratisierung“ verkaufen zu können. Aber einerseits ist wegen der Möglichkeit der Koalitionsbildung die Wahlhürde derzeit de facto nicht mehr wirklich ein Hindernis, da alle relevanten Parteien entweder in Koalitionen organisiert sind oder, wie die linke und pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (<i>Halkların Demokratik Partisi</i>, HDP), auch ohne Koalition über die 10 Prozent-Wahlhürde kommen. Zum anderen wurde vor allem die Parlamentssitzverteilung grundlegend geändert. Es entscheidet bei koalierten Parteien zwar immer noch der Stimmenanteil der gesamten Koalition, ob die Wahlhürde überwunden und prinzipiell der Einzug ins Parlament geschafft wird oder nicht; bei der Sitzverteilung wird allerdings nicht mehr dem Stimmanteil der jeweiligen Koalitionen entsprechend aufgeteilt. Stattdessen wird von Anfang an der Stimmenanteil der einzelnen Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken genommen und ausschließlich daran die Sitzverteilung der einzelnen Parteien ausgemacht. <a href="https://bianet.org/english/politics/259162-turkey-s-election-law-tweak-explained-will-it-save-erdogan-from-losing-majority-in-parliament">Einer wahlarithmetischen Berechnung zufolge</a> hätte eine solche Form der Sitzverteilung bei den Wahlen 2018 zu knapp 36 mehr Sitzen für die Regime-Koalition und 44 weniger Sitzen für die Hauptoppositionskoalition geführt. Jetzt bedroht es zudem vor allem die Kleinstparteien, die mit dem Szenario konfrontiert sind, im Rahmen einer Oppositionskoalition zwar über die Wahlhürde zu kommen, aber wegen jeweils sehr kleinen Stimmanteilen gar keine Parlamentarier*innen stellen zu können – außer sie stellen ihre Kandidat*innen auf den Listen der beiden großen mitte-rechts Hauptoppositionsparteien (die Republikanische Volkspartei CHP und die Gute Partei IYI) auf. Aber auch die IYI hätte nach dem jetzt gültigen Wahlsystem, so die erwähnte Berechnung, trotz mehr als 10 Prozent der gültigen Wahlstimmen 2018 keine einzige (!) Parlamentarier*in gestellt.</p><p>Gegen die Möglichkeit gemeinsamer Listen ist das Kalkül von AKP-MHP, dass einerseits der <a href="https://www.reuters.com/markets/asia/turkeys-ruling-parties-draft-law-suggesting-vote-more-likely-next-year-2022-03-14/">Parteienegoismus</a> der Kleinstparteien dieses Vorgehen verhindern könnte. Und – für den Fall der Fälle, dass dies nicht passiert – dass dann die Wähler*innenklientel der betreffenden Kleinstparteien, die ideologisch-kulturell hauptsächlich aus dem konservativ-islamischen Spektrum kommt, insbesondere die CHP nicht wählt. Diese wurde und wird im Zuge des Kulturkampfes des politischen Islams als repressiv antiislamisch und verwestlicht dämonisiert. AKP-MHP bauen also darauf, dass das Machtstreben der einzelnen Parteien sowie die polarisierte Identitätsbildung mit dieser Veränderung des Wahlgesetzes zum entscheidenden Nachteil für die Opposition und Vorteil für das Regime wird, auch wenn ein potenzielles Wahlklientel des Regimes von vier bis sieben Prozent aller gültigen Stimmen (Summe der Stimmen der Kleinstparteien laut aktuellen Umfragen) von AKP-MHP wegbricht. Eine weitere Alternative für die Opposition wäre die Bildung einer rechtskonservativen Koalition um IYI und die Kleinstparteien und somit die Bildung einer genuin rechtskonservativen Blockalternative unabhängig von der CHP. Es ist wahrscheinlicher, dass die Wähler*innen der Kleinstparteien deren Kandidat*innen auf Listen der IYI wählen statt auf Listen der CHP. Die Rechnung des Regimes geht bezüglich dieser Alternative dahingehend, dass die Aufspaltung des Hauptoppositionsblocks in zwei Koalitionen die Friktionen zwischen den jeweiligen Blöcken und Parteien insbesondere entlang der „kurdischen Frage“ stärkt und ihr einheitliches Vorgehen erschwert. Zudem gibt es, wie erwähnt, das Problem, in einer solchen Konstellation überhaupt Parlamentarier*innen entsenden zu können. Oder aber der Hauptoppositionsblock hält im Rahmen der <i>Millet İttifakı</i> zusammen und gleichzeitig werden die Kandidat*innen der Kleinstparteien auf den Listen von IYI platziert (aber auch da bleibt das Problem bestehen, ob die IYI überhaupt Parlamentarier*innen entsenden kann). <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-61171442">Wie man es dreht und wendet</a>, macht es diese Wahlgesetzesänderung <i>prima facie</i> den Hauptoppositionsparteien die Rechnung schwerer als sie sonst wäre und das ist auch der hauptsächliche Grund für die jetzt erfolgte Wahlgesetzänderung.</p><p>Zudem spielen vermutlich auch <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Friktionen zwischen AKP und MHP</a> für die Gesetzesänderung eine Rolle: Nicht nur können sich so beide Parteien <a href="https://halktv.com.tr/makale/bahceli-istifa-ediniz-hsk-uyesi-basustune-650666">für den eventuellen Niedergang des jeweils anderen</a> die Option offen halten, in Zukunft in anderen Konstellationen weiterhin eine wichtige politische Rolle zu spielen oder bei geschwächtem Partner mehr Macht innerhalb des Regimes einzufordern. Die Senkung der Wahlhürde auf sieben Prozent ist insofern ein Sieg der MHP, insofern sie bei einer erfolgreichen Überwindung der Hürde – und dies erscheint derzeit als wahrscheinlich, wenn auch knapp – im Regime-internen Kampf um Macht mehr Gewicht bekommt, da sie es dann erneut ohne Garantie der Koalitionsform ins Parlament geschafft haben wird. Neben den unmittelbaren Machtansprüchen der beiden Parteien gab es immer wieder auch inhaltliche Konflikte, vor allem in der sogenannten „kurdischen Frage“ und angesichts der (vor allem syrischen) Geflüchteten im Land. Während die MHP eine bedeutend härtere Gangart gegen die Kurd*innen vertritt, versucht die AKP immer wieder, auch die militarisierte Politik oberflächlich mit integrativen Balanceakten zu versehen. Ein Grund dafür ist, dass die AKP immer noch Wahlpotenzial unter konservativen Kurd*innen besitzt, während die türkistische MHP nie kurdisches Wahlpotenzial besaß. Gegenüber Geflüchteten vertritt die MHP – wie ein Großteil der Bevölkerung auch – eine stark ablehnende Haltung, während die AKP (neben der HDP als einzige Partei im Parlament und aus anderen Gründen als die HDP) eine positive Haltung dazu einnimmt.</p><p>Das erneute Auftauchen von Tansu Çiller auf der politischen Arena ist Teil des Versuchs, die mitte-rechts Opposition zu spalten. Çiller ist die wichtigste Persönlichkeit aus der Tradition des rechten Liberalkonservatismus in der Türkei, die seit 2018 ihre Unterstützung für die AKP ausgesprochen hat. Unter ihrer Ministerpräsidentschaft fand die <a href="https://www.dw.com/tr/tansu-%C3%A7iller-aktif-siyasete-d%C3%B6n%C3%BCyor/a-61099019">Ausweitung des extralegalen Kriegsführung</a> (paramilitärisch, mafiös und mittels offizieller staatlicher Sicherheitsapparate) gegen die Kurd*innen in den 1990ern statt. Meral Akşener, die derzeitige Chefin der IYI und ehemals Innenministerin unter Çiller, ist derzeit die einzige wichtige Persönlichkeit aus dieser Traditionslinie, die sich in der Opposition befindet. Alle anderen öffentlich auftretenden wichtigen Persönlichkeiten dieser Tradition sind entweder direkt an der Regierung beteiligt wie der Innenminister Soylu oder unterstützen das Regime offen wie der ehemalige Innenminister Mehmet Ağar (dazu ausführlicher im Artikel „Türkisches Inferno“). Çiller hat <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2022/03/09/son-dakika-tansu-cillerden-cok-carpici-cikis-koalisyonlar-darbeden-beterdir">erst kürzlich</a> die Perspektive der Rückkehr zum parlamentarischen System als „Verrat an der Nation“ gebrandmarkt, in der Verteidigung des Präsidialsystems Koalitionsregierungen absurderweise als schlimmer als Militärputsche bezeichnet (absurd auch deshalb, weil ja fast alle Parteien in Koalitionen zur Wahl antreten, inklusive AKP-MHP) und eine Rückkehr zur Politik angekündigt. In welcher Form diese erfolgt, ist noch nicht ganz fix: <a href="https://www.birgun.net/haber/tansu-ciller-in-partisinin-ismi-kulislere-sizdi-380168">Vermutlich</a> wird sie an die Spitze einer wiederbelebten alten Partei treten. Jedenfalls geht es ihr <a href="https://halktv.com.tr/makale/cilleri-ve-erdogani-birlestiren-hedef-meral-aksener-668649">explizit darum</a>, das potenzielle Wähler*innenpotenzial der IYI abzugraben und wieder für das Regime zu gewinnen.</p><h2><b>Die dezisionistisch-polykratische Struktur</b></h2><p>Ich hatte schon in „Türkisches Inferno“ analysiert, dass die politische Struktur in der Türkei zunehmend dezisionistisch und polykratisch ist. Dezisionistisch, insofern Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen Regeln und Gesetze bestimmen, anstatt dass diese im Rahmen konstitutioneller und institutioneller Schranken ausgehandelt werden; polykratisch, insofern sich unter der Spitze der Macht, dem Präsidenten, eine Reihe an ebenfalls dezisionistisch agierenden Machtakteur*innen hervortun, die miteinander um Macht und Einfluss ringen, wobei Erdoğan als Schiedsrichter letzter Instanz über dem Kampfplatz thront. Diese Struktur ist eine Herrschaftsform <i>sui generis</i> und sollte als eine solche analysiert, nicht jedoch auf dem normativem Hintergrund eines konstitutionell-liberalen Regimes als defizitär abgetan werden. Eruptive und nicht objektiv-institutionell vermittelte Austragungen von Differenzen und Konflikten sind nur unter bestimmten Bedingungen dysfunktional für ein solches System, ansonsten aber Formen der Reproduktion desselben. Sich daher darauf zu verlassen, dass ein solches System <i>per se</i> instabil ist und zum Zusammenbruch neigt, ist eine gefährliche objektivistische Fehleinschätzung.</p><p>Wie zuvor gab Erdoğan in der dezisionistisch-polykratischen Struktur nicht nur durch seine Praxis, sondern auch durch öffentliche Ermunterung zu dezisionistischem Handeln den Ton an: „Wir sind vorangeschritten indem wir die Bürokratie Schritt um Schritt zerstört haben. Wenn nötig, müsst ihr das auch tun“, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/20-yildir-iktidarda-olan-erdogan-hala-valilerden-kaymakamlardan-yoneticilerden-sikayetci-1916979">so</a> Erdoğan jüngst zu AKP-Parlamentarier*innen, die sich über Hindernisse in der Verwaltungsbürokratie beschwerten. <a href="https://halktv.com.tr/ekonomi/nebati-fransiz-yatirimciya-vadetti-burokrasiyi-alasagi-ederiz-cumhurbaskani-668454h">Ganz ähnlich</a> tönte sein Wirtschafts- und Finanzminister Nebati im März 2022 zu Investoren: „Wenn ihr ein Problem habt, könnt ihr uns sofort kontaktieren. Das Thema, das mir am leidigsten ist: Regularien oder Bürokratie, die den Investoren Probleme bereiten. Lasst uns gemeinsam kämpfen, wir werden die Bürokratie zertrümmern. Seid beruhigt, der Präsident steht hinter uns. Die Regularien verändern wir auch, im Rahmen des Präsidialsystems schreiten wir schnell voran.“</p><p>Vor allem im Kampf um die Justiz hat es in der dezisionistisch-polykratischen Struktur in den letzten Monaten wichtige Veränderungen gegeben. Wie in den Jahren zuvor pochte auch jüngst der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes, Zühtü Arslan, auf liberal-konstitutionelle Elemente im Staat, wie beispielsweise auf eine aufklärerische und unter allen Umständen <a href="https://t24.com.tr/haber/anaya-mahkemesi-baskani-arslan-idari-mali-ve-bilimsel-ozerklik-universite-ozerkliginin-ayrilmaz-unsurlaridir,986536">freie Universität</a>. Dies ist natürlich <a href="https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2022/01/21/resistance-to-erdogans-encroachment-at-turkeys-top-university-one-year-on/">angesichts des Kampfes</a> um den von Erdoğan eingesetzten, aber von der gesamten Universität abgelehnten Rektors an der Boğaziçi-Universität sehr brisant. Zugleich benannte Arslan, ebenfalls wie schon in den Jahren zuvor, die hohe Anzahl an Verletzungen des Rechts auf faires Gerichtsverfahren als <a href="https://t24.com.tr/haber/anayasa-mahkemesi-baskani-zuhtu-arslan-adil-yargilanma-hakkiyla-ilgili-bir-meselemiz-var,1006985">großes Problem</a>. Seit der Beförderung des glühenden Erdoğan-Anhängers Irfan Fidan zum Verfassungsrichter – ein ehemaliger Istanbuler Generalstaatsanwalt, der <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/yazarlar/ismail-saymaz/bestepe-hukuk-burosu-6192101/">sehr offen</a> zu politischen Zwecken und daher mittels eines sehr durchschaubar politischen Verfahrens eingesetzt wurde –, <a href="https://gazeteoksijen.com/turkiye/15-bin-200-liralik-cezanin-9-yillik-hazin-oykusu-150857">kippte das Kräfteverhältnis</a> innerhalb des AYM aber zunehmend zugunsten des politischen Blocks, der in Grundsatzfragen über Menschen- und Freiheitsrechte ablehnend und im Sinne der (Staats-)Sicherheit entscheidet. Es wird gemunkelt, dass Erdoğan Fidan als AYM-Chef haben möchte und bloß mehr das Ende der Amtszeit von Arslan abwartet.</p><p>Auch zeichnete sich schon gegen Oktober letzten Jahres ab, dass der Justizminister Abdülhamit Gül <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/680-fading-fa%C3%A7ades-abd%C3%BClhamit-g%C3%BCl-the-rule-of-law-and-the-power-struggles-within-the-erdo%C4%9Fan-regime.html">im Machtkampf</a> mit dem Innenminister Suleyman Soylu <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/adalet-bakani-abdulhamit-gulun-gorevden-alinacagi-iddia-edildi-1880459">unterliegt</a>. Gül wurde vom nationalistisch-autoritären Block im Staat <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/baris-pehlivan/polis-aracinda-esrarla-yakalanan-akpli-1881346">als Blockade</a> für die beabsichtigte zunehmende Repression sowie ihrer Kaderpolitik angesehen. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/akpde-kavga-buyuyor-abdulhamit-gulden-soyluya-sert-tepki-1883035">Einer</a> der Streitpunkte der letzten Monate war das von Soylu offen von Ortsvorsteher*innen eingeforderte dezisionistische Handeln, ohne auf Gerichtsprozesse und -entscheidungen zu warten (es ging um das Abreißen von angeblich rechtswidrig errichteten Gebäuden). Gül betonte hier den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit. Ebenfalls <a href="https://www.birgun.net/haber/partisinden-bile-destek-alamadi-371064">stellte sich Gül gegen</a> die erwähnten „Terrorismus“-Untersuchungen von Soylu gegenüber der Istanbuler Stadtverwaltung und andere rechtswidrige Vorgehensweisen. Ende Januar 2022 wurde letztlich seinem angeblichen „Gesuch auf Enthebung von Verantwortung“ statt gegeben, das heißt er wurde seitens Erdoğans von seinem Amt enthoben. Dem war ein Machtverlust des Blocks um Gül in der Hohen Justiz gegen den nationalistisch-autoritären Block <a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">voraus</a><a href="https://t24.com.tr/haber/abdulhamit-gul-ayrildi-adalet-bakanligi-na-bozdag-geldi-gul-soylu-istanbul-grubu-denklemi-bozuldu,1011306">gegangen</a>. Akteure wie Abdülhamit Gül oder Zühtü Arslan repräsentieren weniger eine bürgerlich-demokratische Opposition gegen die dezisionistisch-polykratische Struktur denn eine Nuancierung innerhalb derselben. Sie befürchten einen zu starken Hegemonieverlust, wenn der Dezisionismus außer Rand und Band gerät und visieren daher eine partielle Rücknahme oder Schwächung der allerextremsten Formen des Dezisionismus an. Offensichtlich hat der gemäßigte Flügel innerhalb der dezisionistisch-polykratischen Struktur mit der Amtsenthebung von Gül eine empfindliche Niederlage erlitten. Dem neu eingesetzten Bekir Bozdağ, der schon zwei Mal Justizminister in der AKP-Ära war, gab Erdoğan <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/siyaset/siyaset-kulisi-hareketli-bekir-bozdaga-ilk-talimat-1903947">angeblich die Anweisung</a>, die unter Abdülhamit Gül eingesetzten religiösen Kader zu säubern und eine Einheit der Justiz unter Führung der Konservativen und Nationalisten, aber auch einiger Sozialdemokraten herzustellen. Letzteres soll vermutlich dem Eindruck entgegenwirken, die Justiz würde von der AKP kontrolliert und dient damit der Beschwichtigung und Integration der bürgerlichen Opposition.</p><p>Mit der Amtsenthebung von Gül verbunden war <a href="https://t24.com.tr/haber/tuik-te-gorev-degisimi-erdal-dincer-gorevden-alindi-yerine-erhan-cetinkaya-atandi,1011302">auch</a> die Amtsenthebung des Vorsitzenden des Statistikinstituts TÜIK, Sait Erdal Dinçer. Anfang 2022 <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-erdogan-tuik-baskanina-tepkili/">wurde bekannt</a>, dass Erdoğan wütend auf ihn sei, weil das von ihm geführte Institut zu hohe Inflationszahlen veröffentlichte. Erdoğan monierte, das TÜIK hebe in seinen Publikationen nicht klar genug hervor, dass die Inflation „künstlich“ und „von außen verursacht“ sei. Dabei steht das TÜIK seit langem von allen seriösen und unabhängigen Beobachter*innen in der Kritik; Grund dafür sind laut Kritiker*innen gezielt zu niedrige Zahlen. Der Amtsenthebungsentscheidung waren eine Reihe kleinerer Entscheidungen vorhergegangen, die alle eine politisch motivierte Manipulation mit makroökonomischen Zahlen beinhalteten: Neben den ständigen Ersetzungen der jeweiligen Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Zentralbankgouverneure sickerten zum einen seit geraumer Zeit <a href="https://www.diken.com.tr/tuik-yoneticisi-enflasyon-rakaminin-nasil-hazirlandigini-anlatti/">Informationen</a> durch, wonach sich angeblich einige Mitarbeitende des TÜIK gegen die Zahlenmanipulationen des TÜIK stellten und dafür gefeuert wurden. Zum anderen wurde, ähnlich wie bei den Inflationszahlen vor einigen Jahren, die Berechnung der Auslandsschulden <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkeys-external-debt-drops-25-billion-stroke">kosmetisch geschönt</a>, wobei die betreffenden Eckdaten dennoch schlecht blieben. Aber trotz aller Bemühungen um eine autoritäre Konsolidierung bleibt die populare Unterstützung für das Regime mangelhaft.</p><h2><b>Restauration oder populare Demokratie?</b></h2><p>Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und seinen Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse sowie dem Erfolg der Opposition in den neu gewonnenen Stadtverwaltungen spitzt sich der Hegemoniekampf zwischen Regime und Opposition zu. Der arithmetische <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_parliamentary_election">Durchschnitt</a> aller Wahlumfragen der letzten Monate zeigt, dass die Wahlstimmung eindeutig zuungunsten der AKP-MHP-Koalition gekippt ist (obzwar weniger verlässlich, kippen auch die Umfragen zur anstehenden <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Opinion_polling_for_the_2023_Turkish_presidential_election">Präsidentschaftswahl</a> gegen einen Sieg Erdoğans). Selbst AKP-<a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/mehmet-acet/ak-partinin-son-anketlerinde-vaziyet-neyi-gosteriyor-2059800">interne</a> bzw. -<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/optimar-anketi-erdogan-acik-ara-onde-galeri-1537428?p=2">nahe</a> Umfragen zeigen, dass der AKP-MHP-Block, beziehungsweise Erdoğan als Präsidentschaftskandidat, bei den anstehenden Wahlen nur sehr knapp gewinnen könnten. Die Opposition ist daraufhin mutiger geworden: Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, tritt zwischenzeitlich offensiver auf als gewohnt. Er besuchte mehrere staatliche Institutionen und wichtige Machtakteur*innen wie <a href="https://www.bloomberght.com/chp-lideri-kilicdaroglu-tcmb-baskani-ile-gorusecek-2289832">die Zentralbank</a>, <a href="https://www.bloomberght.com/kilicdaroglu-tuike-gidiyor-2293565">das TÜIK</a>, das <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-nun-gelisi-oncesi-meb-in-kapisina-kilit-vuruldu,1004618">Bildungsministerium</a> (<i>Millî Eğitim Bakanlığı</i>, MEB), die staatliche <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-randevu-talebine-yanit-verilmeyen-et-ve-sut-kurumu-genel-mudurlugu-onunde,1026424">Fleisch- und Milchinstitution</a> (<i>Et ve Süt Kurumu</i>) oder den TOBB, um Rechenschaft oder menschenwürdige Preise einzufordern und Hegemoniepolitik zu betreiben. Der <a href="https://yetkinreport.com/2021/11/16/kilicdaroglu-merkez-bankasindan-sonra-tobb-hamlesi/">Besuch bei TOBB</a> war ein erster ernsthafter Versuch, die historisch AKP-nahen KMUs jetzt auf die Seite der Opposition zu ziehen. Gleichzeitig kündigte er zum ersten Mal an, rechtswidrig oder parteiisch vorgehende Bürokrat*innen bei Machtantritt <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-kim-fakir-fukaranin-hakkini-yerse-karsisinda-olacagim-yaninda-erdogan-dahi-olsa,986276">zu bestrafen</a>. AKP’ler*innen berichten davon, dass ihnen <a href="https://www.diken.com.tr/kulis-kilicdaroglunun-cikisi-sonrasi-burokraside-direnc-basladi/">seit</a> <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/3240950-kilicdaroglunun-hedefi">dieser Erklärung</a> mehr Widerstand seitens der Bürokratie geleistet wird. Kılıçdaroğlu selbst berichtet davon, dass der Opposition seitdem <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-yolsuzluklarla-ilgili-belge-yagiyor,1010817">immer mehr interne Unterlagen</a> zu staatlich betriebener Korruption und klientelistischer Ressourcenverschwendung zugeschickt würden. Eine Serie an türkeiweiten Kundgebungen unter dem Titel „Stimme der Nation“ (<i>Milletin Sesi</i>) wurde, nach einem Auftakt in der südtürkischen Hafenstadt Mersin im Dezember 2021, bis auf weiteres verschoben, soll aber nach Ramadan (April-Mai 2022) mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen fortgesetzt werden. Auch in sonstiger Hinsicht gibt es Neuerungen: Zum ersten Mal seit Jahren hat die CHP die parlamentarische Unterstützung für die Verlängerung des Mandats für militärische Auslandseinsätze in Syrien und Irak über zwei Jahre <a href="https://t24.com.tr/haber/ankara-da-suriye-irak-tezkeresi-tartismasi-chp-neden-hayir-dedi,988647">verweigert</a>, weil sie befürchtet, dass es im Vorlauf zu den anstehenden Wahlen (Sommer 2023) zu einem erneuten Kriegsszenario für die innenpolitische Mobilisierung kommen könnte. Zudem haben CHP und teils auch IYI nun öffentlich die HDP als <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-opposition-parties-drop-hints-future-cooperation">legitime kurdische Repräsentation</a> im Parlament zur Lösung der „Kurdischen Frage“ anerkannt.</p><h4><i>Angepasster Hauptoppositionsblock</i></h4><p>Dennoch: Die Taktik des bürgerlichen Hauptoppositionsblockes bleibt seiner Grundausrichtung nach paternalistisch und teilweise angepasst an den Autoritarismus und das autoritäre Erbe der Türkischen Republik. Eine Perspektive, die über die Restauration des Neoliberalismus hinausgeht, ist nicht anvisiert.</p><p>Inhaltlich betrachtet werden weiterhin Elemente des türkischen Nationalismus und Chauvinismus bedient: <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/09/turkeys-political-realities-clash-erdogans-2023-dreams">Hetze</a> gegen syrische Geflüchtete und die <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-hepimiz-sakin-olmaliyiz-afganlari-demokratik-yollarla-gondermek-zorundayiz,971595">oft geäußerte Absicht</a>, diese (alle!) „mit <a href="https://www.dunya.com/gundem/chp-lideri-kilicdaroglu-esad-ile-anlasmamiz-lazim-haberi-631961">Pauken und Trompeten</a>“ oder „auf demokratischen Wegen“ in ihre Heimatländer zurückzusenden, sollte der Oppositionsblock an die Macht kommen, gehören zum politischen Alltag des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks. Dies trifft problematischerweise auf sehr hohe Zustimmung (<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/son-secim-anketi-imamoglu-18-yavas-15-puan-fark-atiyor-galeri-1531954">mehr als 80 Prozent</a> der Bevölkerung laut einer Umfrage). Mit dem Chef der faschistoiden MHP, Bahçeli, streitet Kılıçdaroğlu darüber, wer der <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-herkes-turkiye-nereye-dogru-savruluyor-diye-endise-icinde,988519">echtere Nationalist</a> ist. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Regierung wegen der abhängigen Finanzialisierung der Türkei dafür kritisiert, „<a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-genclere-seslendi-sorunlarinizi-cozmeyi-ahdettik-sizleri-universite-bitirdikten-sonra-issiz-birakan-duzeni-tepe-taklak-yikacagiz,995465">anti-national</a> und anti-autochton“ zu sein – dabei visiert der Hauptoppositionsblock die Restauration des Neoliberalismus und damit eben dieselbe abhängige Finanzialisierung an. Eine Stärkung von sozialen und Arbeiter*innenrechten inklusive der grundlegenden Revision der repressiven arbeitsrechtlichen und -organistorischen Bestimmungen (bzgl. Gewerkschaften oder des Streikrechts) findet sich bei diesen Parteien so selten wie im oben erwähnten Bericht des TÜSIAD. Noch bei einer der banalsten und simpelsten Protestformen, die Kılıçdaroğlu lancierte, namentlich über einige Tage hinweg seine Stromrechnung nicht zu bezahlen in Solidarität mit all jenen, die unter der massiven Erhöhung des Strompreises litten, machten die anderen mitte-rechten Oppositionsparteien nicht mit, weil sie den Protest <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2022/04/turkish-opposition-leader-loses-electricity-he-protests-high-prices">angeblich</a> zu „linkspopulistisch“ fanden. Ein erst vor eineinhalb Monaten deklariertes Manifest des Hauptoppositionsblocks für die Perspektive eines sogenannten „verstärkten parlamentarischen Systems“ <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/riza-turmen/guclendirilmis-parlamenter-sistem-ve-yeni-turkiye,34622">bekundet zwar</a> die Absicht der Zerschlagung des dezisionistischen Präsidialsystems, beinhaltet dafür aber weder einen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, noch auf die Probleme der Kurd*innen oder Alevit*innen, geschweige denn ein zum Neoliberalismus der 2000er-Jahre alternatives ökonomisches Programm.</p><p>Die Anerkennung der „Kurdischen Frage“ und der HDP bleibt auf sehr problematische Art und Weise inkonsequent (was Mesut Yeğen in seiner <a href="https://www.cats-network.eu/publication/erdogan-and-the-turkish-opposition-revisit-the-kurdish-question">Auflistung</a> der wohlwollenden Bezüge der Hauptopposition zur HDP nicht hinreichend berücksichtigt): Einerseits dient diese „Anerkennung“ dazu, Abdullah Öcalan und die PKK als Verhandlungspartner*innen grundlegend abzulehnen. „Nennt mich nicht Kılıçdaroğlu, wenn ich dieses Nest Kandil [Kandilgebirge im Grenzgebiet Türkei-Irak-Iran, mutmaßliches Hauptquartier der PKK; Anm. d. Aut.] nicht dem Erdboden gleich mache“, <a href="https://www.haberturk.com/kilicdaroglu-kandil-i-yerle-yeksan-etmezsem-kilicdaroglu-demesinler-3241622">so Kılıçdaroğlu</a>. Er <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-sinir-otesi-operasyon-yapan-tsk-ya-allah-bu-mubarek-ayda-mehmetcigimizin-ayagina-tas-degdirmesin,1028645">verteidigt</a> daher auch die derzeit laufende großangelegte Militäroffensive gegen das Kandilgebirge. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die PKK militärisch besiegt werden kann. Zudem genießen sie und Öcalan eine sehr hohe Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung. Auf die Kriegsoption zu setzen – wie es derzeit ja auch das Regime tut – wird daher nur den ewigen Krieg blutig fortsetzen und sicherlich nicht zu einem gesellschaftlichen Frieden beitragen. Andererseits ist aber auch die Anerkennung der HDP selbst nur halbherzig: IYI-Chefin Akşener <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-bugun-turkiye-de-kadin-hayir-dediginde-onun-iradesini-koruyacak-bir-hukuk-yok,990478">betont</a>, dass sie die HDP an der Seite der PKK sehen und die Nutzung des Worts „Kurdistan“ auf die „Terrororganisation“ (also die PKK) zurückgehe (was natürlich Humbug ist). CHP wie IYI unterstützten erneut die <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-hdp-li-semra-guzel-in-dokunulmazliginin-kaldirilmasina-evet-diyecegiz,1009164">Aufhebung der Parlamentsimmunität</a> einer HDP-Parlamentarierin wegen angeblicher „Terrorpropaganda“; die Kleinstpartei <i>Gelecek Partisi</i> (Zukunftspartei, GP) verteidigt <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bis heute aktiv</a> die früher getätigten Aufhebungen der Parlamentsimmunitäten von HDP-Abgeordneten. Einer eventuellen Schließung der HDP wegen terroristischer Aktivität macht Akşener die Forderung zur Kondition, dass dann auch der Partei der Prozess gemacht werden müsse, die mit ihr den „Friedensprozess“ geführt habe – also die AKP –, anstatt den Verbotsprozess grundlegend abzulehnen. Und <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/tusiad-baskani-merkez-bankasi-nin-attigi-faiz-indirimi-adimlari-ne-gercekten-piyasa-faizlerine-ne-de-ekonomiye-olumlu-yansiyor,33182">auch</a> der TÜSIAD ist der Meinung, dass Türkisch weiterhin Amts- und Schulsprache bleiben, das heißt, Kurdisch nicht offiziell als gleichwertig zu Türkisch gelten solle. Da war sogar der <a href="https://tusiad.org/tr/yayinlar/raporlar/item/1797-turkiyede-demokratiklesme-perspektifleri">TÜSIAD-Demokratiebericht 1997</a> weiter, da er die „Kurdische Frage“ als solche benannte und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht anerkannte. Wie sich die Akteur*innen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mit solchen Haltungen vorstellen, die „Kurdische Frage“ gelöst zu bekommen, bleibt fraglich. Da ist dann auch die „Anerkennung“ der HDP nicht viel wert und mehr oder minder nur ein Feigenblatt für die Fortsetzung des türkischen Nationalismus. Letzterer ist nicht gottgegeben, sondern veränderbar: <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/bekir-agirdir-cozum-surecine-destek-yuzde-40-seviyesinde-hazirlanmamiz-lazim-haber-1561575">Eine</a> Metastudie des Meinungsforschungsinstituts KONDA <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/istanbulda-kurt-sorunu-tartisildi-kurtler-ayri-devlet-mi-istiyor-haber-1561536">konnte aufzeigen</a>, dass die Zustimmung zum „Friedensprozess“ in der Bevölkerung der Türkei innerhalb des letzten Jahrzehnts großen Schwankungen unterlag mit zeitweisen Spitzenwerten von bis zu 60 Prozent Zustimmung für denselben. Die AKP war einst mutiger als die heutige Opposition: Sie begann den „Friedensprozess“ in einer Zeit, als die Zustimmung zu diesem laut KONDA bei 30 Prozent lag. Sich stattdessen an den historisch und politisch erneut bewusst geförderten türkischen Nationalismus und Chauvinismus anzubiedern wie es die heutige Opposition teilweise tut, ist daher eine bewusste politische Entscheidung und ein bewusstes politisches Kalkül, aber keine objektive Notwendigkeit.</p><p>Formal betrachtet wird weiterhin Appeasement geübt an die ominöse „Einheit des Staates“ im Allgemeinen, an das Präsidialsystem im Besonderen:</p><p><a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/turkiye/dikkat-ceken-gorusme-meral-aksener-chp-genel-merkezine-geldi-1878236">Absurderweise</a> stellten sich CHP wie IYI <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/dahiyane-bir-formul-41925619">direkt</a> <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-59028607">auf Regierungsseite</a>, als im Herbst letzten Jahres zehn Botschafter*innen die Türkei dazu ermahnten, sich bezüglich des Gerichtsverfahrens gegen den liberalen Mäzen Osman Kavala an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu halten. Dieser forderte nämlich eine sofortige Haftentlassung. Dabei hatte doch die Türkei aus eigener Entscheidung heraus die Entscheidungen des EGMR als oberstes Gericht vertraglich akzeptiert. Osman Kavala blieb weiterhin aus purer autoritärer Willkür – nämlich zwecks Abschreckung großbürgerlich-liberaler Opposition – inhaftiert und die eigentlich recht zahnlose Erklärung der Botschafter*innen wurde gezielt zu einem riesigen Theater seitens des Regimes aufgeblasen, um mal wieder chauvinistisch-pseudoantiimperialistisch Stärke zu demonstrieren. Mittlerweile ist Kavala zu lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt worden. Gewollt oder ungewollt hat die Opposition mit solchen Verhaltensweisen diesem politischen Urteil zugespielt.</p><p>Dabei eiern die Hauptoppositionsparteien teils immer noch sogar beim ganz banalen Minimalpunkt der Bekämpfung des Regimes herum, gemeint ist die Abschaffung des Präsidialsystems. Der Chef der <i>Saadet Partisi</i> (Glückseligkeitspartei, SP), die aus derselben politischen Tradition kommt wie einst die AKP, hielt es unter bestimmten Umständen <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogandan-karamollaogluna-sistem-iyi-bir-tek-501-mahsurlu-haber-1541538">nicht für absolut ausgeschlossen</a>, dass sie das Präsidialsystem unterstützen könnten; GP-Chef Davutoğlu <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/nagehan-alci/3224883-davutoglu-kimse-galibiyet-ya-da-secim-hezimeti-beklentisi-ile-turkiyenin-onunu-tikamamali">bekundet</a>, dass sie sich natürlich mit der AKP an einen Tisch setzen würden, wenn diese „ihre Meinung ändert“. Derselbe Kılıçdaroğlu, der rechtswidrig/parteiisch agierende Bürokrat*innen mit Verfolgung bei Machtübernahme bedrohte, sprach zugleich davon, dass er sich ganz allgemein und umfassend „<a href="https://www.dw.com/tr/k%C4%B1l%C4%B1%C3%A7daro%C4%9Flundan-yeni-helalle%C5%9Fme-a%C3%A7%C4%B1klamas%C4%B1/a-59835688">aussöhnen</a>“ (<i>helalleşmek</i>) möchte. Dass sich diese Aussöhnung nicht, wie von führenden CHP-Kadern behauptet, ausschließlich auf eine Versöhnung der polarisierten Massen der Bevölkerung ausrichtete, sondern durchaus auch die Entschärfung des popularen Antagonismus zu Staat und Erdoğan beinhaltete, wurde kurz darauf deutlich. Als die CHP ausnahmsweise mal <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-59533531">eine Massenkundgebung</a> veranstaltete, namentlich in Mersin im Rahmen der <i>Milletin Sesi</i>-Kundgebungen mit zehntausenden Beteiligten, da warnte Kılıçdaroğlu die kämpferische Menge davor, gegen das Statistische Amt zu wettern und einen Rücktritt Erdoğans zu fordern. Er hielt fest, dass jetzt nicht die Zeit des Kämpfens und des Konflikts sei, sondern die der Einheit und der Vereinigung. Aber wann sonst, wenn nicht in einer autoritär-faschistoiden Spirale und einer tiefen Wirtschafts- und Hegemoniekrise wäre denn die Zeit des Kämpfens?</p><p>Generell bleibt die Herangehensweise der beiden (mitte-)rechten Hauptoppositionsparteien weiterhin so, dass sie <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-den-erdogan-a-sokaga-dokulme-yaniti-nereden-baksaniz-acayiplik-sacmalik-derhal-bir-psikiyatriste-gorunmesini-tavsiye-ediyorum,1005907">explizit</a> Mobilisierungen auf die Straßen <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-erdogan-a-beyefendi-bizim-sokaga-cikmamizi-istiyor-cikmayacagiz-catisma-alani-yaratmak-istiyorlar-o-tuzaga-dusmeyecegiz,1005896"><i>ablehnen</i></a>. Hierzu äußerte sich CHP-Chef Kılıçdaroğlu <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">erst kürzlich</a> erneut ganz unmissverständlich: „Effektive Opposition ist das eine, ins Feld gehen etwas anderes. […] Ich möchte nur das eine: unser Volk soll entspannt bleiben, zumindest bis zu den Wahlen. Wir werden sowieso alle schwerwiegenden Probleme lösen, sobald wir an der Macht sind. […] Jetzt, kurz vor den Wahlen, dürfen wir uns nicht vom Palast [Erdoğans Präsidentenpalast; A. K.] provozieren lassen.“ Es war daher auch eine – freilich bisher einmalige – <a href="https://artigercek.com/haberler/deva-dan-sokaga-cikin-cagrisi">Überraschung</a>, als die Diyarbakır-Sektion der oppositionellen Kleinstpartei <i>Demokrasi ve Atılım Partisi</i> (Partei für Demokratie und Fortschritt, DEVA) im Oktober 2021 eine Kundgebung organisierte – mit dem Verweis, dass nur der Protest auf der Straße etwas bringe, nicht der in den eigenen vier Wänden.</p><h4><i>Das strategische Kalkül hinter der angezogenen Handbremse</i></h4><p>Alle diese Dinge stellen nicht Schwächen oder Mängel der Hauptopposition dar, sondern ein klar durchdachtes politisches Kalkül. Es ist offensichtlich, dass Massenmobilisierungen für die Opposition nur in Frage kommen, wenn sie <i>paternalistisch gegängelt und kontrolliert</i> werden können, damit sie den hegemoniepolitischen Rahmen, der vom Hauptoppositionsblock eng abgesteckt wird, nicht verlassen. Der Hauptoppositionsblock <a href="https://www.turkeyanalyst.org/publications/turkey-analyst-articles/item/685-conservatism-as-solution-can-the-nation-alliance-solve-turkey%E2%80%99s-problems">visiert</a> die Restauration des neoliberalen Regimes auf ökonomisch erhöhter Stufenleiter minus seiner derzeitigen dezisionistischen Struktur an, wobei aber autoritäre und nationalistische Ideologieelemente sowie eine die Bevölkerung nicht als aktives Subjekt anrufende politische Praxis beibehalten werden sollen. Diese sollen deshalb beibehalten werden, damit die Subalternen nicht selbständig und als aktive, gesellschaftsverändernde Subjekte gegenüber den Herrschenden auftreten können. Wo sich Nationalismus und Autoritarismus etabliert haben, erweisen sie sich neben ihrer repressiven Funktion gegen gegen-hegemoniale Akteur*innen als nützliche Formen, <i>subalternen Konsens für ansonsten intern extrem ungleiche und entrechtende Regime</i> herzustellen. Die ominöse und allseits beschworene Einheit des Staates, die nichts anderes als die Verewigung der Gängelung relativ selbständiger Politik und sozialer Kämpfe ist, gereicht zwar dem jeweils dominanten politischen Regime am meisten zum Vorteil, da es auch das Terrain bürgerlich-oppositioneller Politik enger absteckt. Die Opposition kann aber immer darauf hoffen, selbst eines Tages diese Ressource anzapfen zu können. Von selbst auf die hegemonialen Ressourcen von Nationalismus, Autoritarismus und Staatsfetischismus zu verzichten, das mag derzeit offensichtlich niemand im bürgerlichen Hauptoppositionsblock der Türkei.</p><p>(Links-)Liberale Analytiker*innen sind daher oft <a href="https://www.justsecurity.org/79306/might-the-turkish-electorate-be-ready-to-say-goodbye-to-erdogan-after-two-decades-in-power/">allzu vorschnell</a> in ihrer <a href="https://www.politikyol.com/turkiyenin-gelisen-yeni-modeli/">Begeisterung</a> für das <a href="https://pomed.org/opposition-leaders-unveil-plan-to-democratize-turkey/">Demokratisierungspotenzial</a> des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks und seiner <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Erfolgsaussichten</a>. Die <a href="https://mavidefter.net/joachim-beckerle-roportaj-macaristan-secimleri-ve-altili-muhalafetin-basarisiz-sinavi/">kürzlich</a> erfolgte vernichtende Niederlage des <a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/orban-victorious">restaurativ-neoliberalen ungarischen Hauptoppositionsblocks</a>, der als Vorbild des Blocks in der Türkei diskutiert wurde, hätte ein Weckruf sein können. Aber CHP-Chef Kılıçdaroğlu ist der Meinung, dass es <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-alti-lider-karar-aldik-adayi-birlikte-belirleyecegiz,1026641">keine Ähnlichkeiten</a> mit der Situation in Ungarn gäbe, weil dort die Opposition hauptsächlich aus linken Parteien bestünde und die Wirtschaft in einem guten Zustand sei. Was sonst folgt daraus als dass die Hauptoppositionspartei eben auf eine rechte Politik und die Tiefe der Wirtschaftskrise vertraut als Garanten für einen Wahlsieg? Die <a href="https://sendika.org/2021/09/direnis-fraksiyonu-630629/">Beschränkung der Kritik</a> durch den Hauptoppositionsblock in der Türkei auf eine „Regierungs-/Verwaltungsunfähigkeit“ des Regimes und das Klientelkapital bei Übernahme nationalistischer und autoritärer Muster dient exakt der Dethematisierung der neoliberal-autoritären Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsformation in der Türkei. Es bleibt sehr fraglich, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/bekir-agirdir/yeni-ak-parti-olmak-meseleyi-cozer-mi,33003">ob</a> eine solche Perspektive, die kaum einen positiven Entwurf für die Türkei – außer der Behebung der als Mängel wahrgenommenen autoritären Züge des Präsidialsystems – beinhaltet, die Menschen tatsächlich positiv begeistern und damit die Identifikation mit den Regimeparteien zugunsten eines neuen Konsens brechen kann.</p><p>Denn <a href="https://yetkinreport.com/2021/08/16/akpden-kopan-secmen-neden-beklemede/">a</a>uch wenn die „negative Identitätsbildung“ bei AKP-MHP-Wähler*innen abnimmt (also Identifizierung mit AKP und/oder MHP aufgrund der Abgrenzung gegenüber den Oppositionsparteien), <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-12-puanlik-akp-ve-mhp-secmeni-kararsiz,1021981">bleibt</a> der Anteil der unter anderem trotz Abwendung oder Infragestellung von AKP/MHP <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-kararsizlarin-erdogan-a-oy-verme-egilimi-nasil,1022661">unsicher oder schwankend</a> verbleibenden Wähler*innen mit <a href="https://tr.euronews.com/2021/10/12/2023-cumhurbaskanl-g-secimleri-son-anketler-ne-diyor">um die 20 bis 25 Prozent</a> Anteil an allen Wahlberechtigten <a href="https://tr.euronews.com/2021/09/21/turkiye-raporu-anketi-ak-parti-nin-oylar-yuzde-30-un-alt-na-geriledi">hoch</a>. Eine Wähler*innenbewegung setzt, wenn überhaupt, dann zur rechtsnationalistischen IYI ein. Dabei ist die <a href="https://t24.com.tr/haber/orc-arastirma-son-secimde-erdogan-a-oy-verenlerin-yaklasik-yuzde-40-i-erken-secimin-ihtiyac-oldugunu-soyledi,980001">Unzufriedenheit</a> bei AKP- bzw. Erdoğanwähler*innen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/ekonomi/carpici-ekonomi-arastirmasi-10-kisiden-9unun-gorusu-ayni-1916355">insbesondere</a> angesichts der vertieften Wirtschaftskrise – so <a href="https://t24.com.tr/haber/ipsos-arastirmasi-turkiye-de-vatandaslarin-yuzde-82-si-ekonomi-kotu-diyor,1031825">wie im Rest</a> der Bevölkerung <a href="https://www.bloomberght.com/her-10-kisiden-dordu-ailesinden-maddi-destek-aldi-2304784">auch</a> – vergleichsweise hoch, das Wirtschaftsmanagement wird von (<a href="https://t24.com.tr/haber/mak-arastirma-baskani-herkes-ekonomi-kotu-yonetiliyor-diyor-hukumet-bunu-hic-uzerine-almiyor,1024330">über</a>) <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/metropollden-ekonomi-anketi-ak-parti-ve-mhp-secmeni-iktidar-ekonomiyi-yonetemiyor-galeri-1540308">80 Prozent</a> als schlecht bewertet. Auch wird weiterhin über das <a href="https://www.dw.com/tr/konda-y%C3%BCzde-69-adalete-g%C3%BCvenmiyor/a-59436393">marode Justizsystem</a> und die <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-75-i-oy-almak-icin-dinin-siyasette-kullanilmasini-onaylamiyor,984192">Nutzung der</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-akp-secmeninin-yuzde-72-si-diyanetin-ve-din-adamlarinin-siyasetle-ugrasmalarini-yanlis-buluyor,984405">Religion zu politischen Zwecken</a> Unzufriedenheit geäußert. Eine <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-secmenlerin-84-5-i-hayat-pahaliliginin-artmaya-devam-edecegini-dusunuyor,990462">pessimistische Sicht</a> auf die Zukunft, insbesondere <a href="https://www.dunya.com/kose-yazisi/iste-devletin-yaptirdigi-en-buyuk-secim-anketi/649485">unter Jugendlichen</a>, nimmt stark zu. Dennoch ist insbesondere unter AKP-Wähler*innen weiterhin der Glaube stark, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/10/will-turkeys-opposition-blow-golden-opportunity-beat-erdogan">dass es</a> die Opposition <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/mak-anketi-secmenin-yuzde-41-i-oy-verdigi-partiyi-degistirecek-secmenin-yuzde-42-si-erdogan-a-asla-oy-vermem-diyor,13531/3">nicht besser</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-halkin-muhalefetin-ekonomik-sorunlari-cozecegine-dair-guveni-gittikce-azaliyor,994774">kö</a>nne, beziehungsweise bei einem potenziellen Machtantritt „erneut“ <a href="https://yetkinreport.com/2022/01/18/sadece-ekonomik-kriz-iktidara-secim-kaybettirir-mi/">massive Repression</a> betreiben würde (in der Ideologie der AKP ist die Opposition Schuld an der Unterdrückung muslimischer Identitäten in der Vergangenheit). <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-halkin-yuzde-46-si-muhalefet-liderlerinin-28-subat-ta-duzenledigi-toplantidan-habersiz,1024225">Fast die Hälfte</a> der Bevölkerung weiß gar nicht, dass sich die bürgerlichen Oppositionsparteien auf einer gemeinsamen Konferenz zum Beschluss einer gemeinsamen politischen Strategie getroffen haben. Die teils auf Polarisierung, Chauvinismus, Angst und Panikmache basierende und von der AKP und Erdoğan aktiv hergestellte Identität unter ihren Wähler*innen hält, zumindest angesichts der Tiefe der Wirtschafts- und allgemeinen Hegemoniekrise, weiterhin <a href="https://yetkinreport.com/en/2021/10/26/how-do-the-low-income-akp-voters-get-poorer-but-not-flee/">erstaunlich gut</a>. Sie ist daher weiterhin ein Beleg für die relative Autonomie des Politischen und der dem Politischen immanenten Vergegenständlichungen (Identitäten, Polarisierungen, Subjektivierungsformen etc.). Nur das Erkämpfen realer Handlungsmacht auf Grundlage einer positiven, inklusiven Perspektive und einer alternativen politischen Ökonomie für die Zukunft der Türkei kann jene Identität vollumfänglich aufbrechen und sie grundlegend durch neue ersetzen.</p><h4><i>Sanfter Übergang oder radikaler Bruch?</i></h4><p>Aber angenommen, die an das Bestehende angepassten Taktiken des Hauptoppositionsblocks würden aufgehen und die Wahlen von diesem Block gewonnen werden: Mit der geplanten Restauration des Neoliberalismus und der Fortsetzung autoritärer und chauvinistischer Elemente, ja vielleicht sogar mit einer nur halbgaren Abrechnung mit dem alten System werden all die hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit eines erneuten autoritären <i>backlashs</i> reproduziert.</p><p>Es ist ein bekannter oppositioneller Akademiker, der ohne Scham offen ausspricht und einfordert, was unausgesprochen als reale Möglichkeit im derzeitigen Vorgehen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mitschwingt: Namentlich bei einem (Wahl-)Sieg über Erdoğan diesem und seiner Familie <a href="https://www.foreignaffairs.com/articles/middle-east/2022-01-04/erdogans-end-game">Amnestie zu gewähren</a>, um einen „sanften Übergang“ zu gewährleisten. Ein paar Linke seien bestimmt gegen diese besonders gewiefte Taktik, aber sie sei schon die wirklich vernünftige. Das Militär könne ja diesen Übergang überwachen. Die ungeheuerlichen Folgen, die eine solche Absegnung autoritärer Willkürherrschaft und des Klientelismus durch eine siegreiche Opposition dazu noch unter erneuter Gängelung des Militärs mit sich bringen würde, ist jenem Akademiker augenscheinlich nicht einen Gedanken wert. Man fragt sich: Ist es denn keine Lektion gewesen, dass die Straflosigkeit der Akteur*innen des „Tiefen Staates“ der 1990er jetzt dazu führt, dass derselbe brutalisierte Chauvinismus wieder um sich greift und zentrale Akteur*innen jenes „Tiefen Staates“ – Sedat Peker, Mehmet Ağar, Süleyman Soylu, Tansu Çiller und andere – heute wieder fröhliche Urstände feiern? Ganz zu schweigen davon, was die Jahrzehnte der Dominanz des Militärapparats innerhalb des Staates an Schaden angerichtet hat. Müsste man nicht gerade als Liberaler weit über das Präsidialsystem Erdoğans hinaus die konsequenteste und umfassendste Abrechnung mit dem nicht-liberalen Erbe der Türkei fordern, „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war“ (Fritz Bauer in Anlehnung an Henrik Ibsen), damit sich das Inhumane nie wieder wiederhole? Aber hier scheinen eben die Grenzen dieses angepassten Liberalismus auf.</p><p>In der Türkei gibt es indes genug Kämpfe und soziale Dynamiken, die das Potenzial haben, weit über die Dialektik zwischen autoritärer Konsolidierung und neoliberaler Restauration hinauszuweisen. Gerade der Zermürbung, Atomisierung und Zerschlagung dieses Potenzials dienen solche Entwicklungen wie die drakonischen Strafen im Zuge des Gezi-Prozesses. Eben deshalb ist die Massenmobilisierung und der aktive politische Kampf wichtig, um der Zermürbung und der Demoralisierung Einhalt zu gebieten. Denn das Potenzial jener sozialen Dynamiken und Kämpfe kann sich, auf Grundlage gemeinsamer Handlungsmacht und zu erkämpfenden Errungenschaften, durchaus mit den progressiven und demokratischen Elementen/Tendenzen in der AKP-MHP-Wähler*innenbasis verbinden und deren widersprüchliches Alltagsbewusstsein klarer von seinen reaktionären und chauvinistischen Elementen befreien. Damit können die Grundlagen für eine popular-demokratische Perspektive geschaffen werden. Das wird aber nicht klappen, wenn man sich opportunistisch oder gar aus Überzeugung an die rückständigsten und reaktionärsten Tendenzen innerhalb der Bevölkerung anpasst, statt in erster Linie das schon vorhandene und sich in jahrelangen Kämpfen bildende Oppositions- und Demokratisierungspotenzial zu schützen und aufzubauen. Dafür und für eine Ausstrahlung jenes Potenzials auch auf die Regimebasis bedarf es einer starken, koordiniert kämpfenden revolutionären Linken im Bündnis mit der kurdischen Bewegung. Die Stärkung dieses Bündnisses und seiner Beteiligten ist die einzige Garantie für die Demokratisierung der Türkei. Alles andere beherbergt die Gefahr der Fortsetzung oder Wiederholung der Tragödie.</p><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Ich danke Axel Gehring und Johanna Bröse für viele, viele Rückmeldungen, Korrekturvorschläge und Kritiken.</p><p><b>[2]</b> Im übrigen zeigen die klassisch neoliberal-populistischen „Gegenmaßnahmen“ der Regierung gegen die Auswirkungen der Inflation, dass die Regierung gegen alle ideologische Hybris sowie „Terrorismus“-Gedröhn angesichts sozialer Proteste sehr wohl weiß, wie drängend die sozialen und ökonomischen Probleme, die ja erst zu jenen Protesten führen, für einen Großteil der Bevölkerung geworden sind. Die Maßnahmen sind klassisch neoliberal-populistisch, weil sie nur sehr milde Elemente von Fiskalpolitik zwecks überschaubarer Umverteilung beinhalten, die zudem die Kapitalseite nicht berühren, anstatt auf kollektive Rechte oder gar Veränderungen in der Arbeitswelt zu setzen oder die Menschen selbst als aktive, gestaltende Subjekte anzurufen.</p><p><b>[3]</b> Laut geltendem Gesetz darf ein Präsidentschaftskandidat nur zwei mal das Präsidentschaftsamt innehaben, außer er selbst löst das Parlament während einer seiner Amtszeiten auf und forciert vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, wobei dann parallel dazu auch der Präsident neu gewählt wird. Erdoğan wurde 2014 zum Präsidenten gewählt und 2018 nochmal, aber zwischen beiden Wahlen fand die das Präsidialsystem einführende Verfassungsänderung statt. Daher wurde Erdoğan laut seinen Verteidiger*innen bisher nur ein mal gewählt nach derjenigen Verfassung, die die Auflage der zwei Amtsperioden beinhaltet, und kann daher noch einmal antreten. Die Kritiker*innen hingegen sind der Meinung, dass die Verfassungsänderung nichts am Tatbestand ändert, dass Erdoğan schon zwei mal Präsident war/ist und daher nicht erneut zur Wahl antreten kann.</p></div>
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Eingeklemmt zwischen Merkel und Baerbock2022-04-02T11:52:52.531709+00:002022-04-04T10:32:22.404579+00:00Mario Teguiredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/eingeklemmt-zwischen-merkel-und-baerbock/
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<div class="rich-text"><p>Seit dem Sommer der Migration 2015 und dem Merkelschen Ausruf „Wir schaffen das!“ gibt es eine merkwürdige Verschiebung im linken Diskurs und linker Politik. Plötzlich finden sich Linke in Diskussionen auf einer Seite wieder mit CDUler*innen, liberalen Grünen und Sozialdemokrat*innen, wenn sie Corona-Maßnahmen rechtfertigen oder Putin kritisieren. Neben der AfD ist nun auch „Russland“ zu einem gemeinsamen Feindbild eines liberalen Bündnisses geworden. Die militärische Invasion Russlands in der Ukraine hat dieses Bündnis ein weiteres Mal verstärkt. Es gehe um die Verteidigung demokratischer, westlicher Werte, sei es gegen die AfD oder gegen Putin. Wie weit das liberale Bündnis schon gediehen ist, wurde und wird deutlich, als Teile der linksradikalen Szene in Leipzig im November 2020 auf einer Gegendemonstration den querdenkenden Massen „Maske auf! Maske auf!“ zuriefen oder Linke sich heute <a href="https://cityofcollaboration.org/2022/03/20/immer-wieder-kalter-krieg-anachronismen-und-illusionen-der-linken-angesichts-von-ukraine-krieg-und-sozial-oekologischer-transformation/">für Waffenlieferungen</a> an das ukrainische Militär aussprechen.</p><p>Gerade in Zeiten der Pandemie sind staatliche Beschlüsse oder auch ein gewisser Gehorsam gegenüber staatlichen Einschränkungen nicht immer einfach abzulehnen. Allerdings reihen sich die Phänomene, die von einem zunehmenden Konsens mit Teilen der Herrschenden zeugen, ein in eine größere Problematik der Linken, die seit 2015 andauert: Während in den frühen 2010er-Jahren noch klar war, dass Angela Merkel, die CDU und die EU das für viele mit Hoffnung verbundene linke Projekt SYRIZA in Griechenland autoritär erwürgten, mutierte Angela Merkel im Sommer der Migration von 2015ff. zu einer heimlichen Sympathie-Figur vieler Linker, die sich an den Demonstrationen gegen PEGIDA und anderen AfD-Veranstaltungen beteiligten. Während wenige Zeit später Tausende aufgebracht gegen die herrschende Corona-Politik demonstrierten, befand sich die Linke endgültig im strategischen freien Fall, strauchelnd zwischen AfD und Angela Merkel. Die Linke schaffte es nicht, einen eigenen Gegenpol zur Corona-Politik öffentlichkeitswirksam und kämpferisch zu vertreten. Und heute: Während an den staatlichen Gebäuden und öffentlichen Institutionen des Landes die ukrainische Nationalfahne hängt, binden sich Demonstrant*innen massenhaft die gelb-blauen Farben um den Kopf und rennen – gewollt oder ungewollt – unter Beifall der gesamten Medienlandschaft gegen Putin auf die Straße, um die „westlichen Werte“ zu verteidigen. So ist die Linke heute eingeklemmt zwischen dem Erbe der Merkelschen Innenpolitik und Baerbocks Außenpolitik. Kommt sie da nicht raus, sieht es nicht gut aus, weder für die LINKE als Partei noch für die gesellschaftliche Linke in Deutschland.</p><h2><b>Einbindung durch passive Revolution</b></h2><p>Mit der Linken ist in den 2010er-Jahren etwas geschehen, was Antonio Gramsci passive Revolution nennt. Sie wurde in Einzelfragen, Mikropolitiken und Partikularismen zerlegt, um ihren radikalen Stachel beschnitten und in domestizierter Form in Regierungsdiskurse und liberale Bündnisse integriert. Dadurch hat sich die Linke nicht nur von denjenigen getrennt, für die sie ursprünglich Politik machen wollte – die Deprivilegierten von der Hartz4-Empfängerin, dem Migrant und dem Kioskbesitzer bis hin zur Amazonbeschäftigten –, sondern auch ihren grundlegenden Antagonismus zum bürgerlich-neoliberalen Block an der Macht verloren.</p><p>Ihren großen Vorgänger hat diese Art der passiven Revolution in der Sozialpartnerschaft des 20. Jahrhunderts: Kapital, Gewerkschaftsführungen und der Staat schufen ein enges institutionelles Korsett für künftige Klassenkämpfe und beteiligten im Gegenzug breite Teile der Lohnabhängigen des Industriesektors durch steigende Löhne am Wirtschaftswachstum. Dieser Klassenkompromiss in der sozialen Frage hat den sozialen Großkonflikt der kapitalistischen Industriegesellschaften nachhaltig befriedet. Zwar kam es auch in Deutschland in den 1970er Jahren immer mal wieder auch zu wilden Streiks, doch waren diese eher die Ausnahme.</p><p>Spätestens seit den 1990er Jahren wird der Kreis der besser gezahlten und gewerkschaftlich organisierten Kernbelegschaften allerdings wieder kleiner. Der alte Klassenkompromiss wurde im Neoliberalismus von Seiten der Unternehmen und des Staates zunehmend aufgekündigt. Im Rahmen der Agenda 2010-Reformen der 2000er-Jahre schrumpfte die Zahl der gesicherten und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten noch einmal weiter und wurde durch eine Armee prekärer Erwerbstätiger ergänzt. Immer mehr schwankt seitdem die Gewerkschaftsarbeit zwischen Klientelpolitik für Kernbeschäftigte und Versuchen der kämpferischen Erschließung von Bereichen des Dienstleistungssektors und prekärer Arbeitsverhältnisse. Die teilweise erfolgreichen Kampagnen der Gewerkschaft Ver.di an den Krankenhäusern für mehr Personal sind ein Ausdruck des letzteren. In Bezug auf die soziale Frage scheint die korporatistische passive Revolution allmählich von oben und unten aufgekündigt. Ganz anders sieht das im Bereich des Feminismus, Antirassismus, des Pandemie-Bekämpfung oder der Friedens- bzw. Außenpolitik aus.</p><p>Der Feminismus war von einer derartigen passiven Revolution betroffen. Quoten, Integration von Frauen in Erwerbsarbeit, Gleichstellungs- und Diversity-Politik sind heute Teil der politischen Versprechungen auch von CDU und FDP. Das heißt nicht, dass sie falsch sind und dass ihre Durchsetzung nicht einen Erfolg der Linken darstellt, sondern, dass sie Allgemeinplätze bürgerlicher Politik geworden sind in einer Form, wie sie die wesentlichen Probleme der Menschen nicht nachhaltig angehen. Denn Antirassimus und Feminismus sind im Rahmen der Diversity-Politiken ein Hohn, wenn gleichzeitig der NSU jahrelang Menschen töten konnte und Frauen immer noch fast die gesamte Reproduktionsarbeit machen und weiterhin weniger Lohn bekommen. Weder zielt Merkels »Wir schaffen das« noch Annalena Baerbocks »feministische Außenpolitik« auf die Lösung der grundlegenden Probleme von Migrant*innen und Frauen* in der Welt.</p><p>Die Linke hat es den Rechten überlassen, Opposition gegen die Regierung zu betreiben. In der Corona-Krise wurde das nur allzu deutlich. Dabei hätten wir gerade in Zeiten der Pandemie allen Grund, gegen die Regierung auf die Straße zu gehen. Die Regierung schonte die Konzerne und sparte bei der Bevölkerung. Industriebetriebe und Logistik wurden nicht geschlossen, während die ganze Kultur dicht gemacht wurde, was einen großen Sektor traf, der wirtschaftlich eine geringere Lobby hat. Karstadt/Kaufhof, TUI und die Lufthansa wurden mit Milliarden gerettet, während die kleinen Ladenbesitzer*innen und kleine Dienstleister*innen kaum etwas erhalten und massenhaft dicht machten. Die Produktion wird geschont, die Reproduktion belastet. Lohnabhängig Beschäftigte hatten lange Zeit kein Recht auf Home-Office, müssen ihre Kinder zuhause betreuen und sollen für sie Aushilfslehrer spielen. Es gäbe großes Potential für Proteste, das die Linke hätte mobilisieren müssen.</p><h2><b>Volksfront gegen Putin?</b></h2><p>Der Krieg in der Ukraine hat Linke von Anarchist*innen über Reformist*innen und Sozialdemokrat*innen bis hin zu jahrzehntelangen Holzkopf-Anti-Imperialisten, die plötzlich für den Kampf gegen Russland votierten, in eine Volksfront gegen den Autokraten Putin getrieben. Plötzlich ist die Forderung nach „Waffen für die Ukraine“ en vogue geworden und die Ampel-Koalition liefert zunächst nur Helme, dann Panzerfäuste und schließlich Flugabwehrgeschütze. In der Folge kündigt sie eine in der BRD bisher noch nie gesehene militärische Aufrüstungsagenda an, ohne dass es nennenswerten Widerstand dagegen gäbe. Der einzige Lichtblick in dieser Angelegenheit ist „<a href="https://derappell.de/">Der Appell</a>“. Ansonsten scheinen aber die alten linken Grundforderungen, dass Deutschland raus muss aus dem angeblichen Verteidigungsbündnis der NATO, keine Waffen in Konfliktregionen liefern und sich an keinen Kriegen beteiligen darf, passé.</p><p>Die Thematisierung des großen Anteils des Westens an der Eskalation mit Russland – was freilich die derzeitige Invasion der Ukraine keineswegs rechtfertigt – wird mittlerweile verschrien als „Putinversteherei“. Damit ist auch ein weiterer Grundstein für die vollkommene Integration der Linkspartei und der Linken in die herrschende hegemoniale Ordnung gelegt, diesmal in ihrer außenpolitisch-militaristischen Grundorientierung, war doch die Haltung vieler Genoss*innen in der Linkspartei zur NATO zumindest medial immer wieder zur Gretchenfrage von Regierungsbeteiligungen gemacht worden. Während der Corona-Pandemie haben viele Linke begonnen, ein derartiges Vertrauen in die bürgerlichen Medien zu hegen, dass ihnen heute in der vollkommen einseitigen Berichterstattung zum Ukraine-Krieg die Kritikfähigkeit abhandengekommen ist. Der einzige Wermutstropfen ist, dass auch die AfD in dieser Frage bisher kaum eine starke eigene politische Position in der Öffentlichkeit zu vertreten bereit ist.</p><p>Künftig wird die Klimakrise die knifflige Konstellation der Linken eingekeilt zwischen grün-rot-schwarzem Machtblock auf der einen und der AfD auf der anderen Seite noch weiter verschärfen. So fordern die Klimaproteste zu Recht ein Raus aus der Kohle, ein Ende des grenzenlosen Wachstums sowie des ökologisch zerstörerischen Konsumismus. Die AfD wird sich angesichts dieses ökologischen Transformationsdrucks als Retter sozial benachteiligter aber auch konservativer Kreise der Arbeiter*innenschaft aufspielen können. Die Linken dürfen dann nicht auf der Seite irgendwelcher Konsumkritiker*innen und der Grünen stehen und den arbeitenden Normalos ein falsches Konsumieren vorwerfen. Spätestens dann ist die antagonistische Politik gegen das Kapital und den bürgerlich-liberalen Block an der Macht eine Überlebensfrage der Menschheit.</p></div>
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Ein Gespenst geht um in Graz. Das Gespenst des Kommunismus?2022-01-27T21:35:08.442040+00:002022-01-27T23:20:54.798275+00:00Laura Müllerredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/ein-gespenst-geht-um-graz-das-gespenst-des-kommunismus/
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<span class="content-copyright">Bernd Thaller</span>
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<div class="rich-text"><p></p><p>Groß war die Aufregung im September 2021, als in Graz der Kommunistischen Partei Österreich (KPÖ) das gelang, wovon viele westliche Kommunistische Parteien insbesondere seit dem Zerfall der Sowjetunion weit entfernt sind: Bei den Gemeinderatswahlen holte die Partei unter dem Vorsitz von Stadträtin Elke Kahr mit knapp 29 Prozent das beste Wahlergebnis und führt seitdem die Regierungskoalition. „Graz wird kommunistisch“ titelte daher die <a href="https://www.sueddeutsche.de/politik/oesterreich-graz-kommunisten-kommunalwahl-1.5423226"><i>Süddeutsche Zeitung</i></a>. Aber stimmt das?</p><p>Sichert sich eine Kommunistische Partei innerhalb der parlamentarischen Institutionen den Wahlsieg, so liegt aus Perspektive einer revolutionären Linken die Frage nach dem „Wie“ des Aufstiegs der Partei nahe. Hat sich die Partei im Laufe der Zeit einer sozialdemokratischen Linie angepasst, um damit eine gemäßigte Wähler*innenklientel an sich zu binden oder hat sie mit einer klaren klassenpolitischen Praxis überzeugt?</p><p>Der Wahlsieg kommt jedenfalls nicht von ungefähr. In der mit 300.000 Einwohner*innen zweitgrößten Stadt Österreichs, die in den letzten Amtszeiten konservativ regiert wurde, ist die KPÖ seit Jahren eine wichtige politische Größe, die sich den sozialen Anliegen der Grazer*innen widmet. Die <a href="https://taz.de/!5803808/"><i>taz</i></a> bezeichnet das als „bodenständige Sozialpolitik“, während das <a href="https://jacobin.de/artikel/kommunistisch-einfach-so-kpo-graz-kommunistische-partei-osterreichs-elke-kahr-ernest-kaltenegger-siegfried-nagl/"><i>Jacobin</i>-Magazin</a> darin ein „unerschütterliche[s] Bekenntnis zur Klassenpolitik“ sieht, worin sich eine deutliche Diskrepanz in der Beurteilung der politischen Praxis der KPÖ auftut. Was aber sind überhaupt Charakteristika von sozialistischen bzw. kommunistischen Parteien? Dieser Artikel analysiert diese Frage hinsichtlich der KPÖ Graz. Er arbeitet – unter anderem mit Rückgriff auf das Luxemburg’sche Konzept der revolutionären Realpolitik – heraus, ob die Arbeit der KPÖ eine Blaupause für andere Parteiprogramme sein kann.</p><p>Grundlage dafür bilden die wichtigsten politischen Aktionen der KPÖ der letzten Jahre. Eine umfassende Analyse der politischen Gesamtpraxis kann dieser Artikel nicht leisten – sie würde schlicht den Rahmen sprengen. Gleichwohl kann der Artikel aber zur Debatte um die sozialistische Ausrichtung linker Parteien anregen.</p><h2><b>Von der Kleinstpartei zur Repräsentantin der Vielen</b></h2><p>Die KPÖ wurde 1918 gegründet und war von 1945 bis 1959 im Österreichischen Nationalrat vertreten. Nach dieser Zeit spielte sie auf Bundesebene nur noch eine randständige Rolle und galt „als Zufluchtsort für weltanschaulich überzeugte Intellektuelle und Aktivistinnen“, wie es im erwähnten <i>Jacobin</i>-Artikel heißt. Schon damals bildete die Grazer KPÖ eine Ausnahme. Sie war seit 1945 ständig im Gemeinderat vertreten, wobei sie 1983, in einer Zeit der sich intensivierenden Spannungen zwischen dem kapitalistischen Westen und der Sowjetunion und des vehement propagierten Antikommunismus, ihr schlechtestes Wahlergebnis einfuhr und lediglich ein Mandat im Stadtparlament verteidigte. In den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten konnte sie jedoch wieder kontinuierlich Stimmenzugewinne verbuchen.</p><p>Während die KPÖ vor 1990 insgesamt eine klassisch marxistisch-leninistische Linie vertrat, versuchte sich die Partei auf Bundesebene nach dem Ende der Sowjetunion an einer Modernisierungsstrategie. Im Zuge dessen wollte sie nicht länger als ML-Partei gelten und ließ die bisher ablehnende Haltung zur EU hinter sich, deren Bestrebungen des europaweiten neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft sie zuvor noch kritisierte. Der Plan, durch diese Anbiederung an liberal-bürgerliche Prinzipien gemäßigtere Wähler*innen für sich zu gewinnen, ging nicht auf.</p><p>In der Steiermark, zu der auch die Stadt Graz gehört, wollte man nicht mit der Bundespartei über die Planke springen und stattdessen an kommunistischen Prinzipien festhalten. Und das mit Erfolg: Seit 2005 ist die steirische KPÖ permanent im Landesparlament vertreten und in Graz führt sie nun die Stadtregierung. Dort hatte sich die Partei mit Beginn der 1990er Jahre verstärkt dem drängenden Wohnungsthema gewidmet. Die Situation auf dem Grazer Wohnungsmarkt war damals fatal: Menschen mit kleinen Einkommen hatten aufgrund hoher Mietpreise kaum eine Chance, eine Wohnung zu bekommen. Fanden sie doch eine, mussten sie oft 50-60 Prozent ihres Einkommens für die Miete aufbringen – und das selbst in Genossenschaftswohnungen. Wohnungseigentümer*innen versuchten Bestandsmieter*innen mit allerlei dubiosen Methoden aus den Wohnungen zu drängen, um sie teurer neuvermieten zu können.</p><p>Hier setzte die KPÖ an. Sie richtete eine Mieter*innenberatung und einen Rechtshilfefonds ein, den die Gemeinderatsmitglieder aus Teilen ihrer Gehälter speisten, um den Betroffenen Rückhalt zu bieten und sie dazu anzuhalten, sich gegen Immobilieneigentümer*innen und Spekulant*innen zu wehren. 1998 gewann die KPÖ mit dieser Politik zum ersten Mal einen Sitz im Stadtsenat - eine ungewohnte Rolle für eine Partei, von der der ehemalige Vorsitzende Ernest Kaltenegger <a href="https://www.youtube.com/watch?v=NIbfj3LIIxc&t=23s">sagt</a>, sie verstünde sich als „Opposition zu einem System, das Menschen letztendlich wirklich nicht gut behandelt“. Naheliegenderweise erhielt die Partei das Wohnungsressort und konnte ihre soziale Wohnungspolitik fortsetzen.</p><p>Als der vorherige Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) der KPÖ das Wohnungsressort entzog und es Mario Eustacchio von der neofaschistischen FPÖ übertrug, nützte das der KPÖ mehr als es ihr schadete. Eustacchio setzte in üblicher neoliberaler Manier auf das Anlocken privater Immobilieninvestor*innen statt auf sozial verträgliche Wohnungspolitik. Hierfür wurde das extrem rechte Regierungsbündnis bei den Wahlen 2021 schließlich von den Wähler*innen abgestraft.</p><h2><b>Die Symbiose von Reform und Revolution</b></h2><p>Rosa Luxemburg hat über mehrere ihrer Werke hinweg das Konzept der Revolutionären Realpolitik entwickelt. Die Streitschrift „Sozialreform oder Revolution“ von 1899, in der sie gegen den Reformismus ihres Parteigenossen Eduard Bernstein argumentiert, ist dabei sicher das Zentralste. Im Kern will Luxemburg mit diesem Konzept die parlamentarische Arbeit mit der revolutionären Tat der Massen verbinden und formuliert damit die Bedingungen, an denen sich die politische Praxis sozialistischer und kommunistischer Parteien messen lassen kann. Sie zeichnet damit die notwendigen Richtlinien sozialistischer Politik vor und eben durch diesen praktischen Bezug lässt sich die Revolutionäre Realpolitik sowohl als Schablone als auch als Analyseinstrument politischer Tätigkeit anwenden. Es bildet den theoretischen Rahmen für die Beurteilung der politischen Tätigkeit, denn die „Frage von der Sozialreform und der Revolution, vom Endziel und der Bewegung ist von anderer Seite die Frage vom kleinbürgerlichen oder proletarischen Charakter der Arbeiterbewegung“ (Luxemburg 2019: 10). Freilich ist das Konzept aber auch über einhundert Jahre alt und muss auf unsere heutige politische Situation übertragen und durch unsere Erfahrungen angereichert werden.</p><p></p><h3><i>Charakteristikum 1: „Für die Sozialdemokratie besteht zwischen der Sozialreform und der sozialen Revolution ein unzertrennlicher Zusammenhang, indem ihr der Kampf um die Sozialreform das Mittel, die soziale Umwälzung aber der Zweck ist“ (ebd.: 9)</i>.</h3><p>Luxemburg sprach sich dafür aus, dass sozialistische Parteien das Parlament als Bühne und als Plattform des kleinschrittigen Fortschritts innerhalb des Kampfes um eine neue Ordnung nutzen. Reformbestrebungen seien „der alltägliche praktische Kampf […], um die Besserung der Lage des arbeitenden Volkes noch auf dem Boden des Bestehenden“ (ebd.) zu erreichen. Sie unterstrich damit den grundlegend humanistischen Charakter ihrer Ideen: anstatt das Elend der Massen zu instrumentalisieren, galt es, auch noch so kleine Kämpfe um die Verbesserung der Lebensbedingungen zu führen und Reformen durchzusetzen, die den Arbeiter*innen unmittelbar zugutekamen. Reformen können demnach einen durchaus revolutionären Charakter haben, indem sie revolutionäre Entwicklungen vorbereiten.</p><p>Dabei wollte Luxemburg das Konzept der Revolutionären Realpolitik klar abgegrenzt wissen vom Reformismus Eduard Bernsteins, der sich für eine Verbesserung der Lage der Arbeiter*innen allein innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems aussprach, um damit die „Sozialreform aus einem Mittel des Klassenkampfs zu seinem Zweck zu machen“ (ebd.). Die Mittel-Zweck-Beziehung ist für Rosa Luxemburgs Überlegungen zentral.</p><p>Als erstes Charakteristikum revolutionärer Politik müssen Reformen eine klare strategische Ausrichtung haben und das Potenzial mitbringen, zum Sozialismus zu führen: „Nur das Endziel ist es, welches den Geist und den Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht. Und zwar müssen wir unter Endziel nicht verstehen, wie Heine gesagt hat, diese oder jene Vorstellung vom Zukunftsstaat, sondern das, was einer Zukunftsgesellschaft vorangehen muß, nämlich die Eroberung der politischen Macht“ (Luxemburg 1898). Eine sozialistische Reform muss sich also daran messen lassen, ob sie neben dem Nah- auch das Fernziel beinhaltet.</p><p></p><h3><i>Charakteristikum 2: „Der bezeichnete Gang der Dinge ist es, dessen Gegenstück der Aufschwung des politischen und sozialistischen Klassenkampfes sein muss“</i> (Luxemburg 2019: 28)<i>.</i></h3><p>Das zweite Charakteristikum revolutionärer Parteipolitik im Parlamentarismus ist, dass Reformen über die bestehende Ordnung hinausweisen müssen. Auf Eduard Bernsteins Frage, ob in einem Fabrikgesetz zur Begrenzung der kapitalistischen Ausbeutung der Arbeiter*innen „viel oder wenig Sozialismus“ stecke, antwortet Rosa Luxemburg, dass „in dem allerbesten Fabrikgesetz genau so viel Sozialismus steckt wie in den Magistratsbestimmungen über die Straßenreinigung und das Anzünden der Gaslaternen, was ja auch ‚gesellschaftliche Kontrolle‘ ist“ (ebd.: 32). Reformen müssen ein sozialistisches Moment enthalten, weil sie ansonsten nur innerhalb der kapitalistischen Ordnung verbleiben und damit letztlich Kapitalinteressen dienen, indem sie ihre inneren Widersprüche verschleiern und weniger erfahrbar machen.</p><p>Mit einem „sozialistischen Moment“ ist in erster Linie die Kollektivierung der Produktion gemeint. Ausgehend von der materialistischen Gesellschaftsanalyse basiert die soziale Ordnung stets auf der Organisation des Produktionsprozesses und der klassenspezifischen Verteilung der Produktionsmittel. Eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse lässt sich somit nur erreichen, wenn die materiellen Verhältnisse an der Wurzel gepackt und umgewälzt werden. Nach Rosa Luxemburg ebne den Weg zum Sozialismus zweierlei: „die wachsende Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft, die ihren Untergang zum unvermeidlichen Ergebnis macht, zweitens […] die fortschreitende Vergesellschaftung des Produktionsprozesses“ (ebd.: 12). Somit haben politische Aktionen und Reformen stets dann einen revolutionären Charakter, wenn sie letztlich auf eine Neuorganisierung der Produktion abzielen und die institutionellen Rahmenbedingungen des sozialistischen Kampfes zu verändern bestrebt sind.</p><p></p><h3><i>Charakteristikum 3: „Die sozialistische Umwälzung setzt einen langen und hartnäckigen Kampf voraus, wobei das Proletariat allem Anscheine nach mehr als einmal zurückgeworfen wird […].“</i></h3><p>Eine sozialistische Revolution aus der Kalten kann es nicht geben. Neben der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und der Vergesellschaftung der Produktionsmittel muss „die wachsende Organisation und Klassenerkenntnis des Proletariats, das den aktiven Faktor der bevorstehenden Umwälzung bildet“ (ebd.) hinzukommen. Durch Bildung und Organisierung sollen die Menschen für die Revolution bereit gemacht werden, wobei mit Bildung in erster Linie ein Lernen im Zuge sozialer Kämpfe gemeint ist – ein Lernen mit dem und durch den Kampf. Dazu können die gewählten Repräsentant*innen der Arbeiterschaft durchaus einen Beitrag leisten: „Sie müssen fortwährend auf der Suche sein, die Widersprüche in der Wirklichkeit für Eingriffe zu nutzen, die das Volk, die Massen handlungsfähiger machen. Ziel sollte sein, eine Politik von oben zu machen, die eine von unten befördert. Dafür sollten sie das Parlament als Bühne nutzen“ (Haug 2009: 21).</p><p>Das dritte Charakteristikum sozialistischer Politik ist somit die Vorbereitung der lohnabhängigen Klasse auf die bevorstehende soziale Umwälzung durch eine Ausweitung ihrer Handlungsfähigkeit auf Basis von parlamentarischer Tätigkeit, Organisierung und Bildung. Das läuft auf eine Strategie des kontinuierlichen Kampfes hinaus. Luxemburg war überzeugt, dass die Revolution nur möglich ist, „indem das Proletariat erst im Laufe jener Krisen, die seine Machtergreifung begleiten wird […], erst im Feuer langer und hartnäckiger Kämpfe, den erforderlichen Grad der politischen Reife erreichen kann, der es zur endgültigen großen Umwälzung befähigen wird“ (Luxemburg 2019: 74).</p><p>Die so herausgearbeiteten Aspekte <i>strategische Ausrichtung zum Fernziel Sozialismus</i>, ein <i>über die bestehende Ordnung hinausweisendes Moment</i> und die <i>Vorbereitung der lohnabhängigen Klasse</i> bilden die Prinzipien sozialistischer Parteiarbeit. „Eine soziale Umwälzung und eine gesetzliche Reform sind nicht durch die Zeitdauer, sondern durch das Wesen verschiedene Momente“ (ebd.: 67). In der folgenden Analyse wird geklärt, wie nah die KPÖ Graz diesen Prinzipien steht, ob sie also ihrem Wesen nach sozialistisch ist, und wie ihre Praxis somit aus einer revolutionären Perspektive zu beurteilen ist.</p><h2><b>Das Fernziel stets im Blick?</b></h2><p>Die KPÖ Graz hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten mit einigen besonders hervorzuhebenden politischen Aktionen, Interventionen und Strategieelementen von sich reden gemacht und die Sympathien der Bevölkerung gewonnen, die den Gegenstand dieser Analyse bilden werden. Seit ihrer Neuorientierung Anfang der 90er-Jahre hat sich die KPÖ konsequent der Bekämpfung der Wohnungsnot verschrieben. Und so ist es kaum verwunderlich, dass ihre wichtigsten politischen Impulse sich um diese Problematik drehen.<br/></p><h3><i>Gehaltsspenden und Offenlegung der Konten</i></h3><p>Die Mandatar:innen der KPÖ spenden zwei Drittel ihres Gehalts für einen Sozialfonds und behalten für sich selbst lediglich ein gutes Facharbeiter*innengehalt. Das war in der Vergangenheit einerseits strategisch sinnvoll, als die Partei in der Stadt noch am Aufstreben war, um finanzielle Ressourcen für eigene politische Initiativen und Akzente zur Verfügung zu haben. Andererseits kann darin der Versuch gesehen werden, den Lohnabhängigen trotz Mandatsgewinnen nicht als herrschende (Politiker*innen-) Klasse gegenüberzutreten, sondern mit ihnen gemein zu bleiben und zu signalisieren, dass man immer noch Teil einer gemeinsamen Klasse ist. Dieses Vorgehen widerspricht der gängigen Parteipraxis in parlamentarischen Demokratien und kann durchaus als Ansatz verstanden werden, über das bestehende System hinauszuweisen. Ähnlich lässt sich der „Tag der offenen Konten“ der KPÖ Graz einordnen, bei dem die Partei per Rechnungsoffenlegung Transparenz bezüglich der Verwendung von Parteigeldern schafft.</p><p>Mit den Gehaltsspenden finanzierte die KPÖ einen Rechtshilfefonds für Mieter*innen. Als sich im Zuge der Wohnungskrise immer mehr Immobilieneigentümer*innen unverfrorener Methoden bedienten, um Bewohner*innen aus den Häusern zu drängen und teuer neuvermieten zu können, richtete die KPÖ eine Mietrechtsberatung ein und sicherte den Ratsuchenden finanzielle Unterstützung aus dem Fonds für den Rechtsstreit mit den Vermieter*innen zu. „Wir sind ein Hilfsinstrument für den Kampf der Bevölkerung um ihr Recht“ postulierte der ehemalige Parteivorsitzende Ernest Kaltenegger in dem Youtube-Format <i>Auf Augenhöhe</i>. Diese Haltung entspricht damit dem, was das Konzept der Revolutionären Realpolitik als Aufgabe sozialistischer Parlamentsabgeordneter erachtet, nämlich eine Politik von unten zu unterstützen. Durch den finanziellen Rückhalt für Mieter*innen, die sich mit den Kapitalist*innen anlegten, wurde die Handlungsfähigkeit der Ersteren erweitert und es fand eine Machtverschiebung hin zu den Lohnabhängigen statt. Indem die Partei klar machte, dass es einen klaren Klassengegensatz zwischen Immobilieneigentümer*innen und Mieter*innen gibt, schärften sie außerdem das Klassenbewusstsein in der Bevölkerung, was für die Vorbereitung einer sozialistischen Umwälzung zentral ist.</p><p>Zugleich muss konstatiert werden, dass diese politische Maßnahme die dem Problem zugrundliegenden Eigentumsverhältnisse völlig unberührt lässt und die Kritik an den Klassenverhältnissen eher implizit ist. Eine strategische Ausrichtung zum Fernziel Sozialismus lässt sich hier schwerlich erkennen</p><p></p><h3><i>Volksbefragung zum Verkauf von Gemeindewohnungen</i></h3><p>Im Jahr 2004 plante die Grazer Rathausmehrheit aus ÖVP, SPÖ und FPÖ den Verkauf von Gemeindewohnungen, wogegen die KPÖ eine „Initiative nach dem Volksrechtegesetz“ organisierte. Bei dem Referendum stimmten über 13.000 Grazer*innen ab und eine überwältigende Mehrheit sprach sich gegen den Verkauf aus. Dadurch konnte genug Druck auf die amtierende Stadtregierung erzeugt werden und die Wohnungen verblieben in Gemeineigentum – eine äußerst weitsichtige Aktion, bedenkt man, mit welchen Schwierigkeiten sich Städte wie Berlin, die große Teile des städtischen Wohneigentums in der Vergangenheit verkauften, derzeit bezüglich der Wohnungsfrage konfrontiert sehen.<br/> Doch nicht nur aus rein pragmatischen Gründen ist der Verbleib der Wohnungen in kommunalem Eigentum zu begrüßen. Die KPÖ verhinderte dadurch auch, dass Wohnraum und Wohnen der kapitalistischen Verwertung preisgegeben werden und stellte damit den Vorrang des Privateigentums in Frage. Das Fernziel Sozialismus ist darin erkennbar, ebenso wie ein über die bestehende, auf dem Privateigentum gegründete, Ordnung hinausweisendes Moment.</p><p>Eingewandt werden kann hingegen, dass durch die Abwendung des Verkaufs lediglich der ohnehin vorhandene Zustand konserviert wurde. Erreicht wurde damit lediglich eine Abschwächung der sich zuspitzenden kapitalistischen Widersprüche, womit die KPÖ hier im von Luxemburg scharf kritisierten Reformismus verbleibt.</p><p>Was aber ebenfalls nicht unerwähnt bleiben darf ist, dass sich die lohnabhängige Klasse ihrer eigenen Wirkmächtigkeit bewusst werden konnte. Die Volksbefragung kann als Teil ihres Kampfes um würdige Lebensbedingungen und als Organisations- und Mobilisierungsmaßnahme betrachtet werden. Ernest Kaltenegger betont daher, dass dies „ein wichtiger Politikgrundsatz“ gewesen sei. Im Gespräch bei <i>Auf Augenhöhe</i> fährt er fort: „Wenn man Politik machen will, darf sich das nicht alles nur in den Parlamenten abspielen. Also man muss rausgehen mit dem Anliegen. Wenn sich das nur in einer Partei, einem Gemeinderat oder einem Landtag abspielt, dann hat das nur sehr eingeschränkte Wirkung“.</p><p></p><h3><i>Belastungsobergrenze für Mieten</i></h3><p>Eines der wohl bedeutendsten Mittel im Kampf um eine soziale Lösung der Wohnungsfrage ist die sogenannte Belastungsobergrenze für Mieter*innen. Diese setzte die KPÖ ebenfalls gegen den Widerstand der Stadtregierung mithilfe einer „Initiative nach dem Volksrechtegesetz“ durch. 20.000 Unterschriften konnten gesammelt werden, woraufhin der Beschluss zur Obergrenze doch noch im Rat gefasst wurde. Die Belastungsobergrenze sah vor, dass die Mietkosten in Kommunalwohnungen ein Drittel des Haushaltseinkommen nicht überschreiten durften. Lag die Miete über dieser Grenze, wurde der Betrag, um den sie überschritten wurde, von der Stadt übernommen.</p><p>Die Maßnahme erweiterte die Handlungsfähigkeit der Lohnabhängigen insofern, als sie freiere Lebensentwürfe durch soziale Sicherung ermöglicht. Die Betroffenen sind somit zum Beispiel nicht mehr gezwungen, jeden Job anzunehmen, nur um die horrende Miete zu bezahlen. Dadurch wird die Abhängigkeit der besitzlosen von der besitzenden Klasse relativiert und darin hat der Beschluss ein über die kapitalistische Ordnung hinausweisendes Moment.</p><p>Wiederum stellt die Maßnahme aber nicht das Privateigentum infrage. Statt Mieten wirksam und in der Breite zu kappen und das Recht auf Wohnen zu stärken, werden überzählige Beträge vom Staat gezahlt und das auch nur für Kommunalwohnungen, wodurch nichts am ausbeuterischen Profit der privaten Immobilieneigentümer*innen geändert wird. Insofern ändert sich nichts an der Marktmacht der Eigentümer*innen und ihrer Freiheit zum Mietwucher.</p><p></p><h3><i>Bildungsverein der KPÖ</i></h3><p>Der Bildungsverein der KPÖ Steiermark wurde 2005 gegründet und organisiert seitdem Seminare für Partei-Funktionär*innen und Aktivist*innen sowie politische und kulturelle Veranstaltungen für eine breitere Öffentlichkeit. Inzwischen verwaltet er auch den Kulturbetrieb des Grazer Volkshauses. Der Verein ermöglicht damit politische Bildungsarbeit in der Arbeiter*innenschaft und unter Lohnabhängigen, bietet Raum für die Organisierung und die Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit. Auch für Rosa Luxemburg war Bildungsarbeit ein bedeutender Teil der politischen Basisarbeit, lehrte sie doch über Jahre hinweg an einer Parteischule der SPD Wirtschaftsgeschichte und Nationalökonomie.</p><p>Dennoch ist eine solche Form der Wissensweitergabe und -herausbildung nicht ganz die von Luxemburg im Konzept der Revolutionären Realpolitik intendierte. Ihr ging es vielmehr um ein Lernen im und durch den Kampf, ein Lernen aus Rückschlägen, nach denen man sich immer wieder neu sammelt, um mit größerer Stärke erneut gegen das krankende kapitalistische System anzugehen. Sie wollte nie auf einer abstrakten Theorieebene verbleiben, sondern das Wissen gezielt im praktischen Kampf um den Sozialismus einsetzen. Ein solcher Ansatz lässt sich zwar in der Organisation von Seminaren für politisch Aktive durchaus ausmachen. Entscheidend ist am Ende aber, ob die Lohnabhängigen ein solches Wissen auch außerhalb der Lehrräume einsetzen, um für den Sozialismus zu streiten. Und obwohl der Wahlerfolg der KPÖ durchaus auch der Bildungsarbeit geschuldet sein kann, bleibt er dennoch auf der parlamentarischen Ebene und übersetzt sich nicht in eine außerparlamentarische sozialistische Bewegung.</p><h2><b>Zwischen den Stühlen</b></h2><p>Wie die Analyse zeigen konnte, lässt sich bei der KPÖ in all ihren wichtigen politischen Aktionen und Initiativen die sozialistische Linie ebenso erkennen wie der Versuch, den Kapitalismus auszuhöhlen und das Primat des Privateigentums in Frage zu stellen. Dadurch kann schließlich eine menschenwürdigere Organisation der Wirtschaft vorbereitet werden. Was aber folgt nun aus dieser Erkenntnis? In erster Linie wirft sie die Frage auf, ob andere sozialistische und kommunistische Parteien von der KPÖ lernen können. Eine Antwort darauf zu finden hat zum Beispiel durch das desaströse Wahlergebnis von der Partei Die Linke bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland gewisse Relevanz. Es lässt sich schnell einsehen, dass eine unmittelbare Übertragung der politischen Praxis der KPÖ Graz als einer Lokal-Partei mit engem regionalem Bezug und Wirkungsradius auf bundesweite Zusammenschlüsse nur bedingt möglich ist. Dennoch erlauben die Ergebnisse der politischen Analyse die Schlussfolgerung auf einige politische Implikationen für andere Parteien.</p><p>Die KPÖ hat die existenziellen Ängste der Lohnabhängigen und Eigentumslosen in einer Zeit der sich verschärfenden Klassengegensätze ernst genommen und konkrete Schritte zu ihrer sozialen Absicherung unternommen. Dabei hat sie direkt die Hilf- und Machtlosigkeit, die die Menschen gegenüber der – über das Privateigentum verfügenden und dadurch mit Machtmitteln ausgestatteten – herrschenden Klasse empfinden, angesprochen und die auf sie einwirkenden Zwänge vermindert. Bei der immer weiter wachsenden sozialen Ungleichheit und der zunehmendem Abstiegsangst immer größerer Teile der Bevölkerung, ist das eine politische Agenda, die Wähler*innen anspricht. Die KPÖ war stets bestrebt, den unteren Klassen mehr Handlungsfähigkeit zu ermöglichen – was nicht nur eine Grundlage sozialistischer Politik ist, sondern ganz praktisch das Leben vieler Menschen verbessert, ihnen Eigenständigkeit verleiht und ihnen das Gefühl zurückgibt, nicht nur ein Rädchen im System, sondern ein*e selbstbestimmte*r Akteur*in zu sein. Dazu haben vor allem die Volksbefragungen beigetragen, die die KPÖ organisiert hat.</p><p>Die Partei unterstrich dabei stets die Ursache für das Elend der Menschen – Kapitalismus und Ausbeutung – und kam so zu einer authentischen, zugewandten und an praktischen Fragen orientierten Sozialpolitik, die das Gewand des autoritären Schreckgespensts, das die bürgerlichen Kräfte der kommunistischen Bewegung übergeworfen hatten, erfolgreich abstreifen konnte und sich all den Unkenrufen, Kommunismus sei utopische Fantasterei zum Trotz, als politische Kraft etablieren konnte. „Die KPÖ hier, hat sich sehr bewusst dafür entschieden am „K“ im Parteinamen festzuhalten und eine Politik zu entwickeln, die sich an den alltäglichen Sorgen der Menschen orientiert“ <a href="https://www.heise.de/tp/features/Das-ist-ein-Marathon-und-kein-Sprint-Der-Weg-zum-kommunistischen-Wahlsieg-in-Graz-6222822.html">konstatiert</a> auch Max Zirngast, neugewähltes Grazer KPÖ-Gemeinderatsmitglied und <i>re:volt magazine</i>-Autor. Daran können sich westliche linke Parteien durchaus ein Beispiel nehmen.</p><p>Indem die Mandatar*innen der KPÖ Graz einen Großteil ihres Gehalts spenden, generieren sie nicht nur einen Geldpool zur Umsetzung ihrer politischen Ziele, sondern zeigen auch, dass es nicht nur politisches Palavern ist, ein Mittel der Bevölkerung im Kampf um ihr Recht zu sein. Sie bleiben mit der lohnabhängigen Klasse gemein, anstatt sich in die herrschende Klasse zu erheben, wie es das parlamentarische System bei Mandatsübernahmen eigentlich impliziert. Die KPÖ könnte hier mit einem ganz konkreten Praxiselement Vorbild für anderen linke Parteien sein.</p><p>Andererseits sind über die bestehende Ordnung hinausweisende Elemente in der Parteiarbeit nicht immer leicht auszumachen. Dabei ist natürlich zu beachten, dass die KPÖ Graz eine Regionalpartei ist und ihr Spielraum, in das institutionelle Gefüge einzugreifen, damit eng begrenzt ist. Dennoch ist es durchaus irritierend, dass die KPÖ im Nachklang ihres Wahlerfolgs auch ganz bewusst eine Flanke hin zu einer Zusammenarbeit mit der ÖVP öffnete. Auf ihrer Homepage <a href="https://www.kpoe-steiermark.at/30-antworten-auf-30-fragen.phtml">schrieb</a> die Partei dazu unter anderem: „Die Zusammenarbeit zwischen ÖVP und KPÖ in den Jahren 2015–17 hat ja bewiesen, dass wir in vielen Punkten, in denen es um die ganz konkrete Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in Graz geht, zusammenfinden können“ und „Wir wollen keine Partei ausgrenzen, nichts und niemanden auseinanderdividieren“. Mit dieser Konsensorientierung ohne Abgrenzung zu reaktionären Kräften steht die Partei der „Realpolitik“ jedenfalls um Einiges näher als dem „Revolutionären“ in Luxemburgs Konzept, auch wenn (oder gerade weil) schließlich eine rot-grün-rote Koalition geschlossen wurde. Auch der Rest des Artikels, in dem die KPÖ Antworten auf 30 Fragen des ÖVP-Stadtrats Hohensinner gibt, liest sich wie ein solide sozialdemokratisches Programm ohne sozialistische Ambitionen.</p><p>Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild: Die KPÖ macht Klassenpolitik, insofern sie in ihrer politischen Praxis zuverlässig auf Seiten der Lohnabhängigen steht und bewegt sich dabei in einem Spannungsverhältnis zwischen reformerischer Konsensorientierung und lebensnaher revolutionärer Praxis. Ihre Politik entspricht nicht einwandfrei dem theoretischen Konzept der Revolutionären Realpolitik. Allerdings weist sie viele Charakteristika sozialistischer Politik auf, was zu dem Schluss führt, dass sie Luxemburgs theoretisches Konzept in eine den regionalen Gegebenheiten angepasste politische Praxis überführt. Damit stellt sich die KPÖ Graz einer der bedrohlichsten politischen Entwicklungen unserer Zeit entgegen. Im Angesicht der fortschreitenden Neoliberalisierung und des Erstarkens neuer faschistischer Kräfte ist ein Festhalten am Fernziel Sozialismus heute wichtiger denn je in der Nachkriegsgeschichte. Schon Rosa Luxemburg wusste, „daß die sozialistische Arbeiterbewegung eben heute die einzige Stütze der Demokratie ist und sein kann, und daß nicht die Schicksale der sozialistischen Bewegung an die bürgerliche Demokratie, sondern umgekehrt die Schicksale der demokratischen Entwicklung an die sozialistische Bewegung gebunden sind“ (Luxemburg 2019: 65).</p><p>---</p><h3><b>Genutzte Literatur</b></h3><p><b>Haug, Frigga</b> (2009): Revolutionäre Realpolitik – die Vier-in-einem-Perspektive. In: Brie, Michael/Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hrsg.): Radikale Realpolitik: Plädoyer für eine andere Politik, Texte / Rosa-Luxemburg-Stiftung. Berlin: Dietz, S. 11–25.</p><p><b>Luxemburg, Rosa</b> (1898): Reden auf dem Stuttgarter Parteitag (Oktober 1898). Online verfügbar unter: https://www.marxists.org/deutsch/archiv/luxemburg/1898/10/stuttgart1898.html (Abgerufen am 29.10.2021).</p><p><b>Luxemburg, Rosa</b> (2019): Sozialreform oder Revolution? Grafrath: Boer Verlag.</p></div>
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Bürgerliche Kaltblütigkeit2021-12-13T11:17:39.706224+00:002021-12-13T11:21:44.895075+00:00Çağan Varolredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/b%C3%BCrgerliche-kaltbl%C3%BCtigkeit/
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<div class="rich-text"><p>Derzeit läuft in Köln ein Prozess über gefährliche Körperverletzung, illegalen Waffenbesitz und rassistische Beleidigungen. Der Prozess fing vor einigen Wochen an und wird sich den Dezember über hinziehen. Das Urteil wird wahrscheinlich erst im neuen Jahr verkündet. Angeklagt ist ein Mann aus gutbürgerlichen Kreisen, für einen Angriff auf eine Gruppe von migrantischen jungen Männern in der Nacht des 29. Dezember 2019. Das zynische dabei: Der Täter ist nur wegen gefährlicher Körperverletzung angeklagt, obwohl schon die Polizei zuvor von Totschlag ausging.</p><p>Der Angeklagte ist indes nicht irgendein alter Mann, dem die Nerven blank lagen und der unüberlegt im Angesicht großer Gefahr gehandelt hat – eine solche Argumentationslinie fand sich teilweise in der medialen Berichterstattung wieder. Auch der Täter selbst will vor Gericht nicht so gesehen werden: In der von seinem Anwalt verlesenen dubios-kreativen Einlassung beschreibt der ehemalige CDU-Bezirksrat Hans-Josef Bähner seine über vier Jahrzehnte währende Schützenbiografie als Zeugnis seiner angeblichen Zuverlässigkeit. Vom Schützenbruder zum Schützenvereinsgründer zum Schützenausbilder – der Täter durchlief sämtliche Stationen dieser Institution. Wähnte sich Bähner auch aufgrund dieser Karriere im Recht, auch auf der Straße mit Waffengewalt für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen? Denn dies schien er im Sinn gehabt zu haben: Genau sieben Monate nach dem Mord an seinem Parteikollegen Walter Lübcke – einem Befürworter der bundesdeutschen Geflüchtetenpolitik – schoss er in Köln-Porz vor seinem Haus auf einen Jugendlichen. Dieser hatte sich, gemeinsam mit drei weiteren Freunden, zum abendlichen Chillen am dortigen Rheinufer aufgehalten. Der junge Mann wurde schwer verletzt.</p><h2><b>Von der Rhetorik zur Tat</b></h2><p>Im Verlauf des Prozesses behauptete der Täter, er hätte die für die Tat genutzte illegale Pistole von einem (zwischenzeitlich verstorbenen) Schützenbruder erhalten. Man fand bei ihm später weitere fünf Waffen, darunter zwei Langwaffen. In der Tatnacht meinte er aber zunächst, er hätte die eingesetzte Pistole vor dem Streit in seinem Vorgarten gefunden – und geschossen hätten die Jugendlichen, die er angeblich für Polizisten hielt. Die jungen Männer und der Täter wurden auf Schmauchspuren getestet. Während man bei den Jugendlichen keine Hinweise fand, enttarnte der Test Bähner als Lügner: Die Intensität der Schmauchspuren wies auf ihn als Täter hin, der den Schuss aus kürzester Distanz – etwa 1-5 cm Abstand – getätigt haben muss. In seiner Einlassung vor Gericht war die Rede von einem Warnschuss, der fehlschlug, da nach ihm geschlagen worden sei. Allerdings waren die durch die Polizei durchgeführten Zeugenvernehmungen konsistent: Sie bestätigten das Fehlen einer körperlichen Auseinandersetzung; abgesehen von Versuchen des Täters selbst, mit der Waffe in der Hand auf den Geschädigten einzuschlagen. Ein Zeuge, der das Mündungsfeuer auf Kopfhöhe des Geschädigten sah, konnte sich nur durch die spontane Drehbewegung des Verletzten erklären, weshalb es zu einer Verletzung des Oberarms, nicht aber zu einer Kopfverletzung kam. Für den Täter war also der Schuss aus 1-5 cm Entfernung in dieser Höhe „nur“ ein Warnschuss.</p><p>Das Ereignis dieser Nacht hat einmal mehr offengelegt, dass hinter der Fassade bürgerlicher Spießigkeit vigilantische Schläfer schlummern, für die Migration und Pluralismus die Ursachen aller Probleme sind.</p></div>
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<p>Macht auf die Kontiuitäten rassistischer Gewalt gegen migrantisierte Menschen aufmerksam: Mural in Köln.</p>
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<div class="rich-text"><p>Der Täter war, wie er im Gerichtssaal verlesen ließ, ein vehementer „Kritiker“ der Geflüchtetenpolitik seiner Partei. Mit seiner rassistischen Ablehnung der bundesdeutschen Migrationspolitik steht Bähner im Übrigen auch bei den Christdemokraten nicht alleine: Der ehemalige Bundesinnen- und Heimatminister, Horst Seehofer, <a href="https://www.welt.de/politik/deutschland/article181434586/Seehofer-nach-ChemnitzMutter-aller-Probleme-ist-die-Migration.html">bezeichnete</a> die Migrationsfrage nach den Ausschreitungen von Chemnitz 2018 als „die Mutter aller politischen Probleme im Land“. Dieser hatte schon 2011 mit einem Durchhaltespruch der Nationalsozialisten zum Ausdruck gebracht, dass er eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme „bis zur letzten Patrone“ verhindern wolle, und dabei Muslime und Eingewanderte meinte. Im Jahre 2015 konterte er gegen die „Wir schaffen das“-Devise von Angela Merkel mit einer Politik der „Notmaßnahmen“ und drohte damit, in Bayern eine <a href="https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/horst-seehofer-brisantes-notwehr-gerede-a1057081.html">„wirksame Notwehr</a>“ gegen Geflüchtete üben zu wollen. Menschen wie Bähner folgen anscheinend dieser Rhetorik.</p><h2><b>Kultur des Schießens</b></h2><p>Der Fall eröffnet auch die Frage danach, wie viele gewaltbereite Vigilant*innen unerkannt in den 14.000 Schützenvereinen des Landes ein- und ausgehen. Damit sind auch und vornehmlich diejenigen gemeint, die nicht unter die Klassifizierung <a href="https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-rechtsterroristen-nur-verwirrte-einzeltaeter-100.html">„verwirrte Einzeltäter“</a> fallen, sondern in ihrer Nachbarschaft ein akzeptiertes, bürgerliches Leben führen. Dabei ist die Unberechenbarkeit der Situation bekannt: Für die Zeit nach dem Massaker von Winnenden 2009 – mit 15 Toten, darunter elf weiblich – zählt die Initiative „<a href="https://www.sportmordwaffen.de/Sportwaffen-Opferliste-2.pdf">Keine Mordwaffen, als Sportwaffen</a>“, die sich nach diesem Amoklauf gründete, über 100 Tote durch Sportschützen, den rechten Terroranschlag in Hanau mitgezählt. Auch der Mörder von Hanau war Sportschütze und darin so gut trainiert, dass er die Ermordung von neun Menschen in der Nacht vom 19. Februar 2020 in nur wenigen Minuten vollbringen konnte – was auch an dem Fehlen jeglicher polizeilicher Verhinderungsversuche lag. Von 1990 bis Februar 2020 sollen es nach Angaben der genannten Initiative insgesamt 270 Tote, ohne Suizide, gewesen sein.</p><p>Beschwerden gegen das geltende Waffenrecht, dass den Besitz von Waffen erschweren sollte, wurden vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2013 abgelehnt, da das Waffenrecht nicht zu beanstanden sei. Für eine Einordnung der Größenordnung, um die es hierbei geht: Bei <a href="https://www.sportmordwaffen.de/Presse-Erklaerung-24_2_2020-Hanau.pdf">1,35 Millionen</a> Schütz:innen im Deutschen Schützenbund gibt es viermal so viele legale Waffen in Deutschland. Die unregistrierten und damit illegalen Waffen sind darin nicht mitgezählt.</p><p>Schützen müssen rechtlich gesehen alle drei Jahre auf ihre Zuverlässigkeit und persönliche Eignung hin überprüft werden und die sichere Lagerung der Waffen ist verbindlich festgeschrieben. Eine medizinische oder psychologische Vorprüfung der Mitglieder von Schützenvereinen erfolgt indes nicht grundsätzlich. Nach den Amokläufen der 2000er (darunter Winnenden) wurde das Mindestalter für eine vollwertige Waffenbesitzkarte von 18 auf 21 Jahre erhöht. Nur zwischen dem 21. und 25. Lebensjahr müssen Anwärter*innen, die großkalibrige Waffen erwerben möchten, ihre persönliche und geistige Eignung mit einer fachärztlichen medizinisch-psychologischen Untersuchung nachweisen, die ca. 200 Euro kostet. Diese Untersuchung ist aber eine Farce. Nach einem Fragebogentest, einem Stresstest am Computer und nach einem Gespräch mit einem Psychologen, besteht jede Person, die nicht „Rumballern ist richtig geil“ oder „Ich will Menschen töten“ schreibt oder ankreuzt, diesen Test. Das bestätigt auch ein Artikel der Legalwaffenbefürworter, der German Rifle Association, auf ihrer <a href="https://german-rifle-association.de/waffenrecht-mpu-fuer-sportschuetzen-nach-%C2%A7-6-abs-3-waffg-ein-erfahrungsbericht/">Homepage</a> (Verlinkung auf Original-Seite, Anm. Red).</p><p>In den Jahren vor dem Anschlag tauchte der Täter von Hanau etwa 15-mal in polizeilichen und staatsanwaltlichen Akten auf und wurde sogar in die Psychiatrie zwangsüberwiesen. Eine behördliche oder eine soziale Kontrolle in der Familie, vor allem bei Betrachtung der Geisteswelt des Vaters, war nicht vorhanden. Der Vater des Mörders hat ein ähnliches Weltbild wie sein Sohn und verlangte nach der Tat dessen Waffen zurück, wie auch die Entfernung aller Bilder der Getöteten und Hinweise auf diesen Massenmord im Stadtbild Hanaus. Während im Vorfeld die Sicherheitsbehörden und die Justiz alle Hinweise ignorierten, gab es auch in seinem Schützenverein keine Zweifel an der Zuverlässigkeit des Mörders, der dort als nett und auffällig galt.</p><h2><b>Rechtes Weltbild und Bürgerlichkeit</b></h2><p>Die Kommentare und Likes von H.J. Bähner online, die sich auch auf „Sputnik News“ oder der extrem rechten Seite „Journalistenwatch“ wiederfanden, wurden von Expert:innen aus der Rechtsextremismusforschung <a href="https://taz.de/Lokalpolitiker-schoss-auf-Migranten/!5655471/">analysiert</a>. Sie attestierten diesem eine neonazistische, antisemitische Sprache und eine diesbezügliche ideologische Nähe. Bähner hingegen beanspruchte die Definitions- und Deutungshoheit über Rassismus für sich. Er wehrte sich in der Verhandlung dagegen, als Rassist bezeichnet zu werden, obwohl alle Zeugen aussagten, es wären sofort rassistische Beleidigungen vom Täter geäußert worden, bevor dieser schoss.</p><p>Für die Polizei wirkte der Täter bei seiner Festnahme „kühl“ und „gleichgültig“, teilweise sogar verärgert wegen dem Polizeiaufgebot vor seiner Tür. Er schüttelte oft den Kopf und lachte sogar, wobei er wie jemand wirkte, der gerne seine Angelegenheiten ohne die Polizei klärt, wie ein in der Verhandlung befragter Polizist bemerkte. Die Polizei behandelte den Mann, der wegen Totschlags verdächtig war, trotzdem sehr zuvorkommend. Sie telefonierten zunächst mit dessen Frau, um dieser mitzuteilen, dass die Polizei vor der Tür stehe und er herauskommen solle. Eine SEK-Einheit wurde nicht in Betracht gezogen. Nach einem anscheinend zuvor erfolgten Datenabgleich legte man die Ramme daher beiseite und traf auf einen verärgerten älteren Mann, der sich darüber beklagte, dass man ihm die Angelegenheit in die Schuhe schieben wolle. Mehrere der als Zeug*innen vernommenen Polizist*innen gaben ebenfalls an, dass es sich definitiv nicht um eine normale Festnahmesituation handelte und der aufbrausende Herr sich keiner Schuld bewusst war. Ein Polizist, so wurde im Prozess deutlich, hörte Bähner auch sagen: „Man müsse sich schon selber helfen“, da die Polizei in solchen Fällen nicht käme.</p><h2><b>Wem gilt die Unschuldsvermutung?</b></h2><p>Es habe sich um ein „bürgerliches Haus“ in einem „bürgerlichen Viertel“ gehandelt; zudem habe der zuständige Leiter im Präsidium Köln bestimmt überprüft, wer da wohne, so der damalige Einsatzleiter. Während der Einsatz eines SEK-Kommandos der Normalfall in einem von Armut betroffenen Viertel gewesen wäre, wurde der Täter hier, noch in der Tatnacht, privilegiert behandelt. Er wurde für die Tat nicht mal in Untersuchungshaft genommen.</p><p>Ein weiterer Skandal ist die Aufbewahrung der Waffen und Munition des Sportschützen. Lichtbilder aus dessen Wohnung und eine vernommene Polizistin bezeugten am vierten Verhandlungstag, dass die Waffen und dutzende Schuss Munition teilweise verteilt in den Räumen und Regalen gelegen hätten. Die Tatpistole und einen Teleskopschlagstock fand man in Einkaufskörben, ein Revolver (Magnum) befand sich offen in seiner Nachttischschublade. Dies spricht nicht für die Zuverlässigkeit des Schützen. Ironischerweise lag auch die Originalverpackung der Tatwaffe (Bernardelli 765 Browning) mit der passenden Kalibernummer – von dem Bähner noch ausgesagt hatte, die Heranwachsenden hätten sie ihm in den Garten geworfen – irgendwo zwischen Ordnern, Perücken und Munition in einem der Regale. Wahrscheinlich muss die Waffe samt Originalverpackung in den Garten geworfen worden sein.</p><p>Zwei Jahre später. Als am ersten Verhandlungstag ein Fernsehbericht abgespielt wird, indem die Rede davon ist, dass der Verletzte auch hätte tot sein können, nickt der Täter; kalt und zustimmend. Seine leeren Blicke ins Publikum oder dessen gute Laune in den Pausen lassen auf einen eklatanten Mangel an Reue schließen. Man kann davon ausgehen, dass dem Täter kein Körnchen Zweifel an der Richtigkeit seiner Tat aufkommt.</p></div>
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<span class="content-copyright">Çağan Varol</span>
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<p>Derzeit findet der Prozess gegen Hans-Josef Bähner am Landgericht in Köln statt. Über aktuelle Entwicklungen berichtet auch die Initiative "Tatort Porz".</p>
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„Der kubanische Soberana-Impfstoff ist nicht die Folge eines Wunders“2021-12-10T15:48:39.324069+00:002021-12-10T16:09:26.609161+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-kubanische-soberana-impfstoff-ist-nicht-die-folge-eines-wunders/
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<h1>„Der kubanische Soberana-Impfstoff ist nicht die Folge eines Wunders“</h1>
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<span class="content-copyright">Bild: Instituto Finlay de Vacunas.</span>
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<div class="rich-text"><p></p><p>„Kennt ihr den Unterschied zwischen unserem Soberana-Impfstoff und dem Pfizer-Impfstoff?“ Mit dieser Frage begrüßte der Generaldirektor des kubanischen Finlay-Instituts für Impfstoffe, Dr. Vicente Vérez Bencomo, die italienische Delegation, deren Teil ich war. Die Delegation wurde für die klinische Studie SoberanaPlusTurin in La Pradera einquartiert, dem im November 1996 eingeweihten internationalen Gesundheitszentrum in Havanna.</p><p>SoberanaPlusTurin ist der Name der klinischen Beobachtungsstudie mit 35 Freiwilligen aus Italien, die zuvor in Europa entweder geimpft wurden oder von Corona genesen sind und zur Auffrischung eine Einzeldosis des kubanischen Impfstoffs SoberanaPlus erhalten haben. SoberanaPlus wurde im Sommer 2021 von der kubanischen Aufsichtsbehörde <a href="https://www.cecmed.cu/">CECMED</a> (Centro para el Control Estatal de Medicamentos, Equipos y Dispositivos Médicos) genehmigt, die Beobachtungsstudie will dessen Reaktogenität und Immunogenität<b> [1]</b> bei erwachsenen Proband:innen evaluieren, denen zuvor ein in Europa zugelassener Impfstoff (Johnson&Johnson, AstraZeneca, BioNTech/Pfizer oder Moderna) verabreicht wurde.</p><p>Diese klinische Studie ist die erste dieser Art auf der Karibikinsel. Sie ist das Ergebnis einer intensiven internationalen Zusammenarbeit von Wissenschaftler:innen im Zusammenhang mit der aktuellen Covid-19-Pandemie, vor allem zwischen dem kubanischen Impf-Institut <a href="https://www.finlay.edu.cu/en/">Finlay</a>, dem Krankenhaus Amedeo Di Savoia in Turin und der italienischen Agentur für kulturellen und wirtschaftlichen Austausch mit Kuba (<a href="https://twitter.com/AicecCuba">AICEC</a>).</p><h3><b>Ein Impfstoff für die Menschen</b></h3><p>Die Frage nach dem Unterschied zwischen BioNTech/Pfizer und Soberana beantwortete Dr. Vicente Vérez Bencomo dann gleich selbst: „Pfizer hat ein Produkt entwickelt, um es an Regierungen zu verkaufen und Profite zu erzielen. Der Nebeneffekt davon war, dass die Bevölkerungen dieser Länder teilweise vor dem Coronavirus geschützt waren. In Kuba hingegen verfolgten wir das Ziel, einen Impfstoff zu entwickeln, der in erster Linie die Bevölkerung schützen soll. Bisher waren wir erfolgreich damit. Sollten wir dank des Impfstoffes bescheidene Einkünfte erzielen können, wären wir natürlich froh, diese direkt in neue öffentliche Forschung zu investieren.“</p><p>Das kubanische Impfstoffprogramm befindet sich in öffentlicher Hand, ist das Resultat einer Kooperation zwischen den biotechnologischen Forschungsinstituten des Landes und zwecks Förderung des Allgemeinwohls verwaltet. Diese politische Strategie zahlt sich tatsächlich aus, dafür sprechen auch die Zahlen der kubanischen Impfkampage.</p><p>Auch ohne vorherrschende Impfpflicht haben bis Ende November 2021 knapp 10,2 Millionen Kubaner:innen mindestens eine Impf-Dosis erhalten (praktisch 100% der impfbaren Bevölkerung); davon haben über 9,2 Millionen die zweite Dosis und 8,7 Millionen Kubaner:innen (78%) die dritte Dosis Soberana erhalten. Insgesamt haben 82,1% der gesamten kubanischen Bevölkerung (9,18 Millionen Menschen) das ganze Impfschema abgeschlossen (zwei Dosen Soberana02 und eine Dosis SoberanaPlus oder drei Dosen Abdala, welcher auch ein kubanischer Impfstoff ist). Fast alle Impfungen wurden mit kubanischem Impfstoff vorgenommen, nur ein Bruchteil mit dem chinesischen Sinovac-Impfstoff.</p><p>Dies ist nicht nur eine geradezu beispiellos höhere Impfquote im Vergleich mit anderen einkommensschwachen Ländern weltweit, in denen durchschnittlich nur 2,8 Prozent der Bevölkerung geimpft ist. Es ist auch eine höhere Impfquote im Vergleich zu allen entwickelten Ländern des globalen Nordens. Und Kuba hat auch schon mit der Auffrischungsimpfung begonnen: Ende November hatten über 311.000 Personen eine vierte Impfung erhalten. Wie wissenschaftlichen Studien zeigen, weist dieses kubanische Impfschema eine <a href="https://www.nature.com/articles/d41586-021-03470-x">Schutzwirkung</a> von 92,4 Prozent auf.</p><p>Bereits kurz nach Ausbruch der globalen Pandemie begannen sich die kubanischen biotechnologischen Forschungsinstitute auf die Entwicklung und Herstellung eigener Impfstoffe zu konzentrieren. Die Insel blieb zwar im Jahr 2020 noch von schweren gesundheitlichen Konsequenzen der Pandemie verschont, umso stärker traf Kuba jedoch die Welle im Sommer 2021. Die <a href="http://www.cubadebate.cu/noticias/2021/11/30/cuba-situacion-epidemiologica-la-variante-omicron-y-la-campana-de-vacunacion-de-refuerzo/#anexo-1651285">Neuansteckungen</a> erhöhten sich von ingesamt 15.536 im Monat Januar 2021 auf 265.121 im August 2021; auch die Todeszahlen nahmen rasant zu.</p><p>Der Impfstoff allein reichte nicht aus, um das Virus unter Kontrolle zu bringen. Strenge Eindämmungsmaßnahmen – das Tragen von Masken auch im Freien –, das strikte Einhalten von Abstandsregeln und ein radikaler Lockdown bis zum 15. November 2021 waren notwendig, um die Ausbreitung des Virus unter Kontrolle zu bringen. Infolgedessen verzeichnete <a href="https://ourworldindata.org/covid-deaths">Kuba</a> in der vergangenen Woche nur einen Todesfall im Zusammenhang mit Covid-19 und eine PCR-Testpositivitätsrate von unter einem Prozent (sprich nur einer von Hundert PCR-Tests weist eine Coronavirus-Infektion aus). Noch heute werden trotz niedrigen Zahlen auf der ganzen Insel die Regeln zur Minimierung der Übertragung des Virus respektiert.</p><h3><b>Was genau ist Soberana?</b></h3><p>SoberanaPlus ist für Menschen gedacht, die entweder genesen sind oder bereits einen anderen Impfstoff gegen Sars-Cov-2 erhalten haben. Im Gegensatz zu BioNTech/Pfizer oder Moderna, die die mRNA-Technologie für ihre Impfstoffe verwenden, ist Soberana ein Protein-Impfstoff. Kuba hat für die Entwicklung und Produktion des hauseigenen Impfstoffes also eine herkömmliche Technologie benutzt, die auf der Plattform schon bekannter Impfstoffe basiert. So wird ein kleines Stück des Virus – der so genannte „Spike“ – der geimpften Person verabreicht, die dann die erforderlichen Antikörper gegen das Virus produziert. Die mRNA-Impfstoffe hingegen liefern dem Körper die genetischen „Anweisungen“, damit dieser die Antikörper zu bilden lernt.</p><p>Die bisher durchgeführten <a href="https://www.thelancet.com/journals/lanam/article/PIIS2667-193X(21)00075-2/fulltext">Studien</a> zeigen, dass SoberanaPlus eine sehr hohe Wirksamkeit aufweist. Der Impfstoff garantiert einen sehr hohen Schutz sowohl bei Personen, die bereits infiziert waren und genesen sind, als auch bei Personen, die andere Impfstoffe erhalten haben. SoberanaPlus schützt zudem auch gegen die aggressive Beta-Variante und die unterdessen weltweit dominierende Delta-Variante des Coronavirus. Außerdem haben klinische Studien gezeigt, dass der Impfstoff kaum Nebenwirkungen aufweist: weniger als ein Prozent der geimpften Menschen leidet unter Fieber, Schmerzen an der Injektionsstelle, allgemeinem Unwohlsein oder Rötungen.</p><p>Aus der Perspektive der globalen Bekämpfung von Covid-19 hat der kubanische Impfstoff zwei weitere zentrale Vorteile. Erstens sind seine Produktionskosten äußerst niedrig. Das bedeutet, dass der Impfstoff potenziell in jedem Winkel der Welt hergestellt werden kann (der Iran produziert bereits einen Impfstoff auf der Grundlage der kubanischen Technologie), sogar in Ländern, deren Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen weniger als 20 Dollar pro Jahr betragen, was den <a href="https://www.nytimes.com/2021/08/02/world/pfizer-and-moderna-raised-their-vaccine-prices-in-their-latest-eu-contracts.html">Kosten</a> für eine einzelne BioNTech/Pfizer-Impfdosis entspräche. Zweitens stellt der Soberana-Impfstoff keine besonderen Logistik-Anforderungen, für die Lagerung und den Transport des Impfstoffs ist keine fortschrittliche – und kostspielige – Technologie erforderlich wie beispielsweise beim BioNTech/Pfizer-Impfstoff.</p><h3><b>Soberana wurde als Kinderimpfung konzipiert</b></h3><p>Während andere Länder die Kinder als Bevölkerungsgruppe in ihren bisherigen Impfkampagnen weitgehend vernachlässigt haben, hat Kuba die Impfkampagne für die <a href="https://www.aljazeera.com/news/2021/11/24/infographic-which-countries-are-vaccinating-children">pädiatrische Bevölkerung</a> bereits weit vorangetrieben. So sind in Kuba rund 2 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen 2 und 18 Jahren geimpft. Und Soberana02 ist in der Tat ein Produkt, das ursprünglich auf der Basis schon bekannter Kinderimpfstoffe und somit für Kinder entwickelt wurde. Während zu Beginn der Pandemie Expert:innen und Regierungen auf der ganzen Welt behaupteten, dass das Virus für Kinder kaum ansteckend sei, arbeiteten Wissenschaftler:innen in Kuba bereits daran, einen Impfstoff für Kinder zu entwickeln. „Für uns war klar, dass kein Kind an Covid-19 sterben darf. Darum war ein im Detail geplantes Impfprogramm für Kinder von zentraler Bedeutung“, erklärt Ricardo Pérez Valerino.</p><p>Pérez Valerino ist Leiter der Abteilung für internationale Beziehungen am Finlay-Institut. Er fährt fort: „Es stimmt, dass das Virus bei Kindern einen milderen Verlauf nimmt als bei Erwachsenen. Dennoch können Kinder das Virus auf die Erwachsenen oder auf die Großeltern übertragen. Gleichzeitig stellten wir auch fest, dass selbst die kleinsten Kinder an Covid-19 erkranken können. Daher wollten wir einen Impfstoff haben, der bei Erwachsenen und bei Kindern funktioniert und sicher ist.“</p><p>In den westlichen Ländern steigen heute die Neuinfektionen in der jüngeren Bevölkerung tatsächlich an, was auch schon zu neuen Schließungen von Schulklassen in Deutschland, Italien und anderen Ländern geführt hat. In den <a href="https://www.aap.org/en/pages/2019-novel-coronavirus-covid-19-infections/children-and-covid-19-state-level-data-report/">Vereinigten Staaten</a> beispielsweise machten Kinder 25,1% der wöchentlich gemeldeten Covid-19-Fälle im November 2021 aus. In <a href="https://www.ilsole24ore.com/art/crescono-contagi-i-bambini-6-11-anni-che-succede-AELURqz?refresh_ce=1">Italien</a> finden aktuell über 30% der neuen Corona-Fälle bei Minderjährigen statt, besonders stark sind Kinder zwischen 6 und 11 Jahren betroffen. Viele westliche Länder – allen voran die USA und Italien, aber auch andere Länder der Europäischen Unionen – wollen noch vor Ende 2021 mit der Impfung von Minderjährigen beginnen.</p><p>Kuba hat auch diesbezüglich also Pioniercharakter: Erstens wurde ein Impfstoff gegen Sars-Cov-2 auf der Grundlage von bereits bei Kleinkindern eingesetzten Impfstoffen entwickelt, was gesundheitliche Nebeneffekte und Problematiken der neuen Impfung praktisch auf Null reduziert hat und das Vertrauen der Eltern in den neuen Impfstoff stärkte; zweitens wurde von Beginn an die gesamte Bevölkerung – also auch Kinder – in die Impfkampagne integriert, was angesichts der neusten Entwicklungen der Pandemie als zukunftsweisend bezeichnet werden kann.</p><h3><b>Internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen die Pandemie</b></h3><p>„Der kubanische Impfstoff und seine Impfkampagne sind nicht das Ergebnis eines Wunders, sondern die Folge politischer Entscheidungen“, sagt <a href="https://twitter.com/FabrizioChiodo">Fabrizio Chiodo</a>. Er ist ein italienischer Wissenschaftler, der mit dem kubanischen Finlay-Institut bei der Entwicklung des Impfstoffs zusammenarbeitet und die klinische Zusammenarbeit zwischen Kuba und Italien begleitet. Er fügt hinzu: „Wenn wir heute im weltweiten Kampf gegen die Pandemie auf Kuba und seine Impfstoffproduktion blicken, dann deshalb, weil Kuba bei der Entwicklung eines öffentlichen Gesundheitssystems und einer öffentlichen biotechnologischen Forschung visionär war.“ <b>[2]</b></p><p>In der Tat ist die Frage nach einem öffentlichen oder privaten Gesundheitssystem nicht nur eine ideologische Frage. Die kleine Karibikinsel, die seit mehr als 60 Jahren unter einer Wirtschafts- und Handelsblockade steht, war in der Lage, in kürzester Zeit drei Impfstoffe und zwei Impfstoffkandidaten zu entwickeln. Und dies deshalb, weil sich Kuba nicht der Logik multinationaler Konzerne und der Big Pharma unterwarf, sondern seit Jahrzehnten schon in ein öffentliches Gesundheits- und Bildungssysteme investiert, die erstklassige Fachkräfte garantieren.</p><p>Mitte September 2021 – kurz nach Beginn des Impfprogramms auf der Insel – hat Kuba die <a href="https://www.reuters.com/world/americas/cuba-seeks-who-approval-covid-19-vaccines-toddlers-brace-shot-2021-09-15/">Zulassung</a> seines Impfstoffes bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beantragt. Für die internationale Anerkennung von Soberana hat sich die kubanische Regierung bewusst gegen einen Zulassungsantrag bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und der us-amerikanischen<i> Food and Drug Administration</i> (FDA) entschieden. Die Ablehnung des chinesischen Sinovac- und des russischen Sputnik-Impfstoffes durch EMA und FDA sind ein Beweis dafür, dass diese Agenturen politische Entscheidungen treffen. In der Perspektive einer globalen Kooperation gegen die Pandemie wird in Kuba jedoch ausschließlich die WHO als multilaterales, neutrales Organ anerkannt.</p><p>Kubas Umgang mit der Covid-19-Pandemie ist also eine Lektion für die ganze Welt: Sie stellt die Gesundheit der Menschen vor private Profite, fördert die internationale Zusammenarbeit und lehnt Handelskriege zwischen Staaten und multinationalen Konzernen strikt ab. Es wäre daher ein fataler Fehler, die kubanischen Erfahrungen im Hinblick auf einen global vereinten Kampf gegen Covid-19 unberücksichtigt zu lassen.</p><p></p><hr/><p></p><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Die <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Reaktogenit%C3%A4t">Reaktogenität</a> eines Impfstoffes bezeichnet „das Ausmaß und die klinische Bedeutsamkeit der – nach Gabe eines bestimmten Impfstoffs – zu erwartenden <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Impfreaktion">Impfreaktion</a>.“ <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Immunogenit%C3%A4t">Immunogenität</a> hingegen bezeichnet „die Eigenschaft eines Stoffes, im <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Tier">tierischen</a> oder <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Mensch">menschlichen</a> Körper eine als <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Immunantwort">Immunantwort</a> bezeichnete Reaktion des <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Immunsystem">Immunsystems</a> auszulösen.“</p><p><b>[2]</b> Ende der 1980er, Anfang der 1990er-Jahre – geplagt von der 1960 von den USA auferlegten Handelsblockade gegen die karibische Insel und geschwächt durch die Auflösung der Sowjetunion, dem wichtigsten Handelspartner Kubas (rund 80% aller Produkte wurden von der UdSSR importiert) – traf die damalige Regierung von Fidel Castro Ruz in dieser Hinsicht visionäre politische Entscheidungen: Mitten in der wegen ihren Erschwernissen als<i> período especial</i> (Sonderperiode) bezeichneten Periode ab 1990 wurde massiv in die Biotechnologie investiert mit dem Ziel, eine gesundheitspolitische Unabhängigkeit zu erlangen, bestimmte auf Kuba vorherrschende Krankheiten komplett zu eliminieren und Zentrum des internationalen Gesundheitstourismus zu werden.</p><p></p><p></p></div>
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Der Kampf an den Berliner Krankenhäusern2021-11-16T18:10:33.899436+00:002021-11-16T18:38:02.103413+00:00Hände Weg vom Weddingredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/der-kampf-an-den-berliner-krankenh%C3%A4usern/
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<div class="rich-text"><p><br/>Die Beschäftigten bei Charité und Vivantes in Berlin mussten sich vor kurzem erneut in harten und lang andauernden Tarifkonflikten mit ihren Geschäftsführungen auseinandersetzen. Im Mutterkonzern Charité arbeiten etwa 16.300 Beschäftigte. Dazu kommen ca. 3.100 Beschäftigte in ausgelagerten Tochterunternehmen, vor allem beim Charité Facility Management (CFM) mit rund 2.800 Kolleg*innen. Zum Vivantes-Konzern, der sich selbst als „größter kommunaler Krankenhauskonzern Deutschlands“ rühmt, gehören neun Krankenhäuser, 18 Pflegeheime, zwei Senior*innenenwohnhäuser, eine ambulante Rehabilitation, medizinische Versorgungszentren, eine ambulante Krankenpflege, ein Hospiz sowie Tochtergesellschaften für Catering, Reinigung und Wäsche. Vivantes selbst beschäftigt insgesamt rund 17.900 Arbeiter*innen. In den zwölf sogenannten „Tochtergesellschaften“ sind ca. 2.900 Menschen beschäftigt, meist zu prekären Bedingungen, die wesentlich schlechter ausgestaltet sind als im Mutter-Konzern. Am Ende des Monats bedeutet das für die outgesourcten Kolleg*innen bis zu 25 Prozent weniger Lohn für die selben Tätigkeiten.</p><p>Die Charité ist, wie auch Vivantes, ein landeseigene Unternehmen Berlins, beide werden aber nicht nach den Prinzipien der öffentlichen Daseinsvorsorge, sondern nach dem privatwirtschaftlichen Prinzip der Profitabilität geführt. Das heißt, dass der Erfolg des Managements sich nicht an der Bereitstellung belastbarer Gesundheits-Infrastruktur, guten Behandlungen und gesunden Arbeitsbedingungen misst, sondern an der Höhe des Umsatzes und der erwirtschafteten Profite! Es verwundert dementsprechend nicht, dass nach Inanspruchnahme berüchtigter Unternehmensberatungen viele Bereiche und damit tausende Beschäftigte in Tochterunternehmen mit Billig-Löhnen und prekären Arbeitsbedingungen ausgelagert wurden. Dort gilt nirgends der für kommunale Arbeitgeber verbindliche Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD). Teilweise kam überhaupt kein Tarifvertrag zur Geltung. Neben den finanziellen Einsparungen stellt dieses Vorgehen auch eine aggressive soziale Spaltung der Arbeiter*innenschaft dar, mit der Funktion, die Klassensolidarität erheblich zu schwächen. Die Bonzen aus Führungsetagen und Landespolitik hatten diese Rechnung allerdings ohne den Wirt gemacht!</p><h3>Der vereinte Kampf um bessere Arbeitsbedingungen und die Rolle der Gewerkschaftsführung</h3><p>Die Diktatur des Kapitals wird auch im Gesundheitssystem immer offensichtlicher, denn bei der Umsetzung ihrer Geschäftsziele gingen die Unternehmensführungen so maßlos vor, dass die Gesundheit der Beschäftigten selbst regelrecht ruiniert wird. In einem System von „immer mehr Leistung und immer größeren Profiten bei immer weniger Beschäftigten!“ haben Gesundheit und Erhaltung der Arbeitskraft der Arbeiter*innen selbst im öffentlichen Gesundheitssystem kaum mehr Bedeutung.<br/>Seit 2011 setzten sich deshalb viele Beschäftigte, in erster Linie gewerkschaftlich organisierte Kolleg*innen, unermüdlich für bessere Arbeitsbedingen ein: Konkret für ein Ende des Outsourcing, die Rückführung der Tochtergesellschaften zum kommunalen Arbeitgeber und somit die Eingliederung in den TVöD. Auch bei den Stammbelegschaften von Vivantes und Charité wuchs das Bedürfnis nach Vereinigung der Kräfte mit den Kolleg*innen der Tochtergesellschaften, um bei Tarifverhandlungen bzw. Arbeitskampfmaßnahmen gestärkt aufzutreten und der Spaltung, die als Einschüchterungs- und Disziplinierungsmaßnahme eingesetzt wurde, vereint entgegenzuwirken.</p><p>„<i>'Kapital', sagt Quarterly Reviewer, 'flieht Tumult und Streit und ängstlicher Natur'. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror von Abwesenheit von Profit, oder sehr kleinen Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert; selbst auf Gefahr des Galgens.“<br/> (P. J. Dunning, zitiert von Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, S.801, Berlin 1960)</i></p><p>Über Jahre wurde diesem berechtigten Vorhaben der Beschäftigten aus Mutter- und Tochterkonzernen seitens der Gewerkschaft ver.di allerdings nicht entsprochen. Die Planung und Durchführung von neuen Tarifverhandlungen sowie damit einhergehender Arbeitskampfmaßnahmen fanden stets getrennt voneinander statt. So zuletzt auch im Arbeitskampf der CFM, in dem die Beschäftigten ebenfalls den TVöD forderten. Mittels eines Schlichtungsverfahrens durch den SPD-Politiker Platzeck wurde der Streik aber von oben herab beendet, ohne den TVöD erreicht zu haben. Und das im Frühjahr des selben Jahres in dem mit der Berliner Krankenhausbewegung im Herbst die Kolleg*innen aus Charité und Vivantes ihre Forderungen gemeinsam mit den Kolleg*innen der Tochterunternehmen artikulieren sollten.</p><h3>Die Illusion der Sozialpartnerschaft</h3><p>Es stellt sich also die Frage, warum ver.di die Chancen der Zusammenführung der Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen wiederholt nicht nutzte. Wie ist die Politik der ver.di-Führung zu erklären?<br/> Die Logik und die Politik der Gewerkschaftsführung sind durchdrungen von der Illusion, Arbeiter*innen und Chefs, Beschäftigte und Manager*innen seien gleichberechtigte Geschäftspartner mit gemeinsamen Interessen. Gelegentlich würde diese Partnerschaft durch uneinsichtiges Vorgehen der Arbeitgeberseite gestört, sodass man manchmal um einen größeren Anteil am gemeinsam erwirtschafteten Ergebnis streiten müsse. In dieser Logik wird die Realität der Klassenunterschiede ausgeblendet. Tatsächlich sind die Interessen der Unternehmensführungen in ihrem Streben nach Profit und die der Arbeiter*innen im System der Lohnarbeit diametral entgegengesetzt. Dennoch wird in der politischen Kultur der großen Gewerkschaften kontinuierlich die Sozialpartnerschaft in den Köpfen ihrer Mitglieder verankert, obwohl diese im krassen Widerspruch zur täglichen Arbeitsrealität und den Erfahrungen im Betrieb steht.<br/></p><p>Daraus folgt auch eine angepasste und zahme Position der Gewerkschaftsbürokratie, wenn es um die Rolle von Tarifverhandlungen und Streiks geht. Statt im Streik das zentrale Kampfmittel zur Durchsetzung unserer Interessen als Beschäftigte und als arbeitende Klasse gegenüber unseren Ausbeuter*innen zu erkennen, bevorzugt der ver.di-Apparat die Verhandlung auf vermeintlicher Augenhöhe, setzt auf Kompromisse und Entgegenkommen der Arbeitgeberseite. Der Einsatz von Streiks ist für die herrschenden Gewerkschaftsführungen ausschließlich in defensiver Haltung akzeptabel. Und wenn man dann zähneknirschend zum Streik aufruft, ist die Zielsetzung nicht die unbedingte Durchsetzung aller berechtigten Forderungen der Beschäftigten und die Erhöhung der Klassensolidarität - sondern, die gestörte „partnerschaftliche Beziehung“ wieder herzustellen.<br/><br/> Aus der Sicht der ver.di-Führung würde ein konsequentes und kämpferisches Vorgehen in Tarif- und Streikpolitik die seit langem bei Charité und Vivantes im Rahmen des TVöD praktizierte und vermeintlich harmonisch-sozialpartnerschaftliche Beziehung mit dem dem öffentlichen Arbeitgeber gefährden. Jede*r Gewerkschaftsbürokrat*in weiß genau, dass kollektive Arbeitskampfmaßnahmen auf betrieblicher und gewerkschaftlicher Ebene eine Stärkung des Klassenbewusstseins unter den Kolleg*innen mit sich bringen. Aus Sicht der Bürokratie droht dabei die Gefahr einer klassenkämpferischen Eigendynamik unter den Beschäftigten, die sich ihrer Kontrolle entzieht. Dies zu vermeiden, klein zu halten und schnellstmöglich zu beenden, stellt eines der „ehernen Gesetze“ der Gewerkschaftsführung dar und so wird jedes Angebot der Gegenseite als Chance gesehen, einen Kompromiss zu schließen und den „sozialen Frieden im Betrieb“ wieder herzustellen.<br/></p><h3>Die Berliner Krankenhausbewegung</h3><p>Hierüber ließe sich auch erklären, was ver.di bewogen hat, mit dem 100-tägigen Ultimatum der Berliner Krankenhausbewegung weitere drei Monate auf die Einsetzung effektiver Arbeitskampfmaßnahmen zu verzichten. Aber auch die Gewinnung neuer Mitgliedschaften wird hier eine strategische Rolle gespielt haben.<br/>Nichtsdestotrotz hat sich in diesem Zusammenhang gezeigt, wie groß der Kampfeswille der Beschäftigten von Charité, Vivantes und Töchtern ist. Die Berliner Krankenhausbewegung hat es geschafft, innerhalb kurzer Zeit einen hohen Organisationsgrad in den Betrieben zu erreichen und viele junge Kolleg*innen zu motivieren, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen.<br/></p><p>Die 100 Tage wurden aktiv genutzt, um eine öffentlichkeitswirksame Kampagne auf die Beine zu stellen mit dem Ziel, solidarische Unterstützung durch breite Teile der arbeitenden Klasse zu erlangen. Während die bürgerliche Presse zwar lange nur verhalten berichtete, entstand eine basisnahe Vernetzung zwischen den kämpfenden Beschäftigten mit solidarischen Nachbarn und Arbeiter*innen aus anderen Branchen. Das gemeinsame Interesse aller Lohnabhängigen an einem gemeinwohlorientierten Gesundheitswesen wurde herausgestellt und das bisher häufig verbreitete Vorurteil, in Krankenhäusern seien Streiks nicht möglich oder gar unsozial gegenüber den Patient*innen wurde aufgebrochen. Die Parole „Der Normalzustand gefährdet die Gesundheit, nicht der Streik“ steht beispielhaft hierfür. Die aktive Verbindung mit anderen sozialen Kämpfen wie der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen!“ oder den streikenden Arbeiter*innen beim Lieferdienst Gorillas stellten einen wichtigen Schritt in Richtung einer geeinten Bewegung der Lohnabhängigen für unsere Interessen dar, aus der sich die Möglichkeit ergeben kann, Arbeitskämpfe in einem größeren politischen Zusammenhang zu denken.<br/></p><h3>Klassenkampf von oben und die Antwort der Kolleg*innen</h3><p>Hingegen nutzte die Gegenseite die Zeit, ihre perfiden Angriffe auf den Arbeitskampf vorzubereiten. Anhand von Einschüchterungen der Beschäftigten durch Vorgesetzte, Verleumdung der Streiks als Gefährdung der Patient*innen und letztendlich den Versuch, den Streik gerichtlich verbieten zu lassen, offenbarten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes ihre Sicht auf die angeblich gleichberechtigte Sozialpartnerschaft. Fakt ist, dass von oben herab unverhohlener Klassenkampf mit allen Mitteln geführt wurde, die der Kapitalseite zur Verfügung stehen.<br/>Unter dem fadenscheinigen Vorwand fehlender Notdienstvereinbarungen, deren „sozialpartnerschaftlicher“ Verhandlung sie sich verweigerten, setzte sie ein richterliches Streikverbot durch, das schon die Warnstreiks zum Ablauf des Ultimatums im Keim ersticken sollte. Die Geschäftsführungen der unterschiedlichen Konzerne traten hierbei geeint auf und konnten sich auf Rückendeckung aus der Senatspolitik verlassen. Die Arbeitgeberseite verspottete damit das Märchen der Sozialpartnerschaft.<br/></p><p>Erst auf massiven Druck durch Proteste der Streikbewegung wurde die gerichtliche Verfügung revidiert und ein gemeinsamer Streik in den Mutter- und Tochterunternehmen wurde ermöglicht. Statt die Beschäftigten zu spalten, trat infolgedessen das Gegenteil ein: Die Aggressivität der Arbeitgeber und die offensichtliche Verhöhnung der Interessen der Beschäftigten sorgten dafür, dass diese ihrer Wut noch mehr Ausdruck verliehen und ihren Kampf mit großer Entschlossenheit aufnahmen. Die Anfang September durchgeführte Urabstimmung verdeutlichte unmissverständlich die Bereitschaft der überwältigenden Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder, einen unbefristeten „Erzwingungsstreik“ zu führen: An der Charité stimmten 97,85 Prozent, bei Vivantes 98,45 Prozent und in den Tochterunternehmen 98,82 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen für die Arbeitskampfmaßnahme! Für viele von ihnen stellte der Arbeitskampf eine letzte Chance dar, in ihrem Beruf weiterhin arbeiten zu können, ohne körperlich und psychisch auszubrennen. Die Durchsetzung der Hauptforderungen der Beschäftigten gegenüber der Arbeitgeberseite waren dementsprechend nicht nur wichtig sondern essentiell notwendig. Sie lauteten:</p><ul><li>Tarifvertrag Entlastung bei der Charité und bei Vivantes mit verbindlichen Vorgaben zur Personalbesetzung und einem Belastungsausgleich bei Unterbesetzung!</li><li>Faire Löhne und TVöD für alle Beschäftigten!<br/></li></ul><p>Der gemeinsame Streik nahm schnell an Fahrt auf und es gab viele Aktionen und Demonstrationen, an denen nicht nur die Streikenden, sondern auch viele solidarische Menschen aus anderen Berufen, gesundheitspolitische Unterstützungskreise sowie linke, sozialistische Organisationen teilnahmen. Neben den Geschäftsführungen wurde auch die Senatspolitik direkt adressiert, da im Zuge des Tarifkampfes die grundsätzliche Frage nach der politischen Ausgestaltung des öffentlichen Gesundheitssystems aufflammte. Die zuständigen Politiker*innen hielten sich fernab von Lippenbekenntnissen und Wahlwerbung jedoch zurück und der Arbeitgeber blieb hart. Immer wenn ver.di die Bereitschaft zu Verhandlungen eröffnete, glänzten die Geschäftsführungen von Charité und Vivantes mit Abwesenheiten, Desinteresse oder absurden Angeboten, die in ihrer Konsequenz sogar noch Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen bedeuteten.<br/></p><p>Die Logik der sozialpartnerschaftlichen Gewerkschaftspolitik stieß an ihre Grenzen und es kam zu einem der längsten Krankenhausstreiks in der deutschen Geschichte. Erst nach über einem Monat sah sich die Geschäftsführung der Charité genötigt, dem politischen und ökonomischen Druck des Streiks nachzugeben und Verhandlungsangebote zu präsentieren, auf die ver.di eingehen konnte, ohne sich gegenüber der Basis der Bewegung die Blöße zu geben. Der Initiative folgte kurze Zeit später die Ankündigung zur Einigung beider Seiten über ein „Eckpunkte-Papier“ zu einem TV-Entlastung.</p><h3>Spaltung durch getrennte Verhandlungen</h3><p>Unabhängig von der Qualität des angekündigten Kompromisses auf der Grundlage des Eckpunkte-Papiers bedeutete die Entscheidung der ver.di-Fachbereichsleitung, die Arbeitskampfmaßnahmen bei Charité einzustellen, faktisch nichts anderes, als den Kampf der Beschäftigten bei Vivantes und ihren Tochtergesellschaften massiv zu schwächen und dem Tarifgegner eine willfährige und unschätzbare Unterstützung zu leisten. Ver.di offenbarte gegenüber der Arbeitgeberseite ihren Willen, auch bei Vivantes die Arbeitskampfmaßnahmen umgehend einzustellen, sobald die Arbeitgeberseite sich kompromissbereit zeigen würde. Es lässt sich davon ausgehen, dass die Führungen von Charité und Vivantes in regem strategischen Austausch miteinander standen, sodass ein ähnliches Eckpunkte-Papier auch für Vivantes schnell beschlossen wurde. Und wer blieb übrig? Wieder einmal trifft es mit den Vivantes-Tochterunternehmen die Belegschaften, die in den prekärsten Verhältnissen arbeiten und die alleine kämpfend die geringste Macht auf ihrer Seite haben. Zwar wurde auf den letzten Demonstrationen immer wieder skandiert, dass jene in ihrem nun alleinstehenden Kampf um den TVöD nicht allein gelassen werden sollen aber die Realität sah anders aus. Für die weiteren Verhandlungen um die Vivantes-Töchter wurde erneut der ehemalige Ministerpräsident von Brandenburg, Platzeck, als Moderator einbezogen, der es schon ein Jahr zuvor ermöglichte, die Rückführung des Charité Facilitiy Managements in den TVöD zu verhindern. Mit dem demokratisch zweifelhaft abgeschlossenen Billig-Tarifvertrag der CFM war zu Anfang des Jahres auch schon die ideale Vorlage geschaffen worden, um den Beschäftigten eine sofortige Eingliederung in den TVöD vorweg zu nehmen.</p><h3>Befriedigung der Interessen der Beschäftigten auf niedrigstem Niveau</h3><p>Auch wenn die Tarifverträge noch nicht unter Dach und Fach sind, kann man den roten Faden, der die Qualität der noch zu feilenden Tarifverträge weitgehend bestimmen, auf der Grundlage der beiden „Eckpunkte-Papiere“ erkennen.<br/> Erstens sollen die Tarifverträge einen langen Zeitraum von drei Jahren umfassen. Das bedeutet, dass die Beschäftigten aufgrund der sogenannten „Friedenspflicht“ für einen langen Zeitraum zur Passivität verpflichtet werden. Zweitens wird die tatsächliche Entlastung der Beschäftigten auf einen langen Zeitraum von drei Jahren verschoben, so dass sie erst ab 2024 einen wirklich spürbaren Entlastungsausgleich erhalten. Auf der Grundlage von Patienten-Personal-Ratio sollen für die Stationen und Bereiche klare Quoten festgelegt werden. „Bei Unterschreitung der festgelegten Besetzungsregelungen erhalten die hiervon betroffenen Beschäftigten“, so ver.di, „einen Belastungsausgleich.“ „Dafür werden so genannte Vivantes-Freizeitpunkte vergeben; einen Punkt bekommt beispielsweise eine Pflegefachkraft, wenn sie eine Schicht lang in Unterbesetzung arbeiten musste. Im Jahr 2022 erhalten Beschäftigte für je neun Vivantes-Freizeitpunkte eine Freischicht oder einen Entgeltausgleich von 150 Euro; im Jahr 2023 genügen dafür je sieben Vivantes-Freizeitpunkte, und im Jahr 2024 je fünf Vivantes-Freizeitpunkte. Die Anzahl der zu gewährenden freien Tage ist allerdings gedeckelt: im Jahr 2022 auf sechs, im Jahr 2023 auf zehn und im Jahr 2024 auf fünfzehn freie Tage; über die Deckelung hinausgehende Ansprüche werden in Entgelt ausgeglichen.“</p><p>Bei der Charité sollen über den Entlastungsausgleich hinaus in den nächsten drei Jahren mehr als 700 zusätzliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Pflege eingestellt werden, um eine Entlastung für die Pflegekräfte an der Charité zu erreichen. Da aufgrund der hohen Belastung in der Pflege aber viele qualifizierte Arbeiter*innen die Vollzeitbeschäftigung oder sogar das Berufsfeld an sich verlassen, bleibt die Frage offen, welche Stellen tatsächlich besetzt werden oder ob die Geschäftsführung sich weiterhin damit herausredet, sie fände nicht genügend Personal. Der positive Erfolg bei den Eckpunkte-Papieren ist der Durchbruch, dass die Kapitalseite zum ersten Mal überhaupt die Forderung des Belastungsausgleichs grundsätzlich akzeptieren muss. Dass die Beschäftigten für den enormen Stress und die barbarische Arbeitsbelastung für ein ganzes Jahr ab 2022 nur sechs freie Ausgleichstage und 2023 nur zehn Ausgleichstage erhalten können, kann keine ernsthafte und tatsächliche Entlastung für die Betroffenen mit sich bringen.</p><p>Für die Arbeitgeber werden sowohl die wenigen freie Ausgleichstage als auch der Entgeltausgleich in Höhe von 150 Euro brutto eine hinnehmbare Summe sein und stellen nicht zwangsläufig den von ver.di erhofften ökonomischen Druck dar, um strukturelle Verbesserungen zu Gunsten der Beschäftigten in der Krankenhausökonomie anzustoßen. Drittens blieb die Arbeitgeberseite in Bezug auf die Rückführung der Tochter-Beschäftigten zum landeseigenen Betrieb und damit in den TVöD hartnäckig. Nach über sechs Wochen Streik steht als Verhandlungsergebnis ein Tarifvertrag fest, der zwar in Anlehnung an den TVöD einige materielle Verbesserungen für die Beschäftigten bedeutet, aber die eigentliche Forderung nach Rekommunalisierung nicht erfüllt. In der Konsequenz bedeutet das, dass die Kolleg*innen der verschiedenen Betriebe des öffentlichen Gesundheitssystems weiterhin in kommunale und outgesourcte gespalten bleiben. Selbst unter den verschiedenen Tochter-Betrieben werden durch unterschiedliche Staffelungen der Lohnsteigerung weiterhin Unterschiede gemacht und das Labor Berlin ist nicht einmal enthalten.<br/></p><p>Die Beschäftigten von Charite und Vivantes sowie der Tochterunternehmen konnten angesichts des Kampfpotentials der Belegschaften zeigen, dass entschlossene und ausdauernde Streiks auch im Gesundheitswesen möglich sind. Mit den ursprünglich verbindlich aneinander gekoppelten Forderungen von Mutter- und Tochterbelegschaften sowie der zeitlichen Bündelung der Kampfkraft bestand die reale Chance, alle der wichtigen Forderungen durchzusetzen und der herrschenden Klassenspaltung ein Ende zu bereiten. Diese große Chance wurde leider vertan!<br/></p></div>
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Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR (Teil 2)2021-11-10T08:46:19.577737+00:002021-11-10T08:48:35.658684+00:00Autoren-Kollektiv Ostredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/deutsche-demokratische-republik-kurz-ddr-teil-2/
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<div class="rich-text"><h3><br/><b>Demokratie ohne Parlamentsinszenierug</b></h3><p>Im realen Sozialismus der DDR kam es nicht zum, in Anlehnung an Lenincund von vielen westlichen Marxisten als Grundvoraussetzung geforderten, plakativen „Absterben des Staates“. [1] Allein aus dem Grund, weil die sozialistische Übergangsgesellschaft aus dem Kapitalismus kommend sich erst hin zu den gewünschten Idealen entwickeln muss. Davon ausgehend wurden Strukturen etabliert, die mit den Heutigen so wenig zu tun haben, dass es einfach erscheint sie per se als undemokratisch abzutun. Die DDR wollte keine bürgerliche parlamentarische Demokratie sein, sie hätte damit ihren Anspruch, jedem die gleich Teilhabe am Gemeinwesen zu ermöglichen, verfehlt. Entgegen des Vorwurfes der „Einparteien-Herrschaft“ gab es reichlich Parteien, die unterschiedliche Milieus in den Prozess des Aufbaus des Sozialismus einbinden sollten. Und zusätzlich Massenorganisationen, die bestimmte Großgruppen der Bevölkerung vertreten sollten, zum Beispiel Jugend und Frauen, deren Interessen als grundsätzlich gesellschaftlich relevant angesehen wurden, weshalb sie eine eigene Vertretung jenseits parteipolitischer Erwägungen haben sollten. Pseudopolitische Rituale, wie sie in der parlamentarischen Demokratie betrieben werden, die nur der Profilierung der einen oder anderen Partei dienen, Prozesse endlos in die Länge ziehen und im Ergebnis lediglich kosmetische Veränderungen bringen, während sie letztlich die Ungleichheiten zementieren - die Reichen reich, die Armen arm - waren dem Realsozialismus fremd. Ziel des Gemeinwesens war dagegen die materielle Gleichheit.</p><p>Geringe Ausschläge nach oben oder unten sollten mit sozialpolitischen Maßnahmen des Staates kompensiert und ausbalanciert werden. Unterstützte man diesen anzustrebenden verfassungsmäßigen Grundsatz, und wer könnte als Humanist*in etwas dagegen haben, war man aufgefordert am Prozess gesellschaftlicher Veränderung teilzunehmen und damit Teil der sozialistischen Zivilgesellschaft. Deren Arbeit sollte in schon bestehenden oder neu zu gründenden staatlich unterstützten Strukturen stattfinden, so zum Beispiel die Seniorenbetreuung in der „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Volkssolidarit%C3%A4t">Volkssolidarität</a>“ oder in vielerlei gesellschaftlichem Engagement vom Umweltschutz bis zur Interessenvertretung von Homosexuellen unter dem Dach des „<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Kulturbund_der_DDR">Kulturbundes</a>“. Dort musste nichts von oben angeordnet werden, niemand wartete auf irgendwelche „Direktiven“. Gab es dennoch solche Direktiven, die bei den proklamierten gesellschaftspolitischen Zielen nicht ungewöhnlich waren, waren sie hilfreich, sicherten sie doch den Anspruch auf Ressourcen, um die Bedürfnisse der jeweiligen Klientel zu erfüllen. Wollte man unabhängig gesellschaftlich aktiv werden, wurde man argwöhnisch beäugt und unter die Lupe genommen, um zu prüfen, ob neben dem sozialen und kulturellen Engagement nicht auch ein politischer Zweck dahintersteckte. War dies nicht der Fall, wurde man „eindringlich eingeladen“, doch die etablierten Strukturen zu nutzen.</p><p>Dieses Vorgehen stieß sicher manchmal auf den Unmut der Beteiligten, hatte aber dann, wenn man staatlich akzeptiert war, seine Vorteile, konnte man doch langfristig finanziell gesichert seine Arbeit nachgehen. Ist das politische Gängelung oder Einflussnahme von oben? Natürlich gab es Funktionär*innen, die in solchen Fragen dogmatisch zu Werke gingen und damit einiges an Initiative von unten kaputtmachten und Engagierte so unter das Dach vor allem der evangelischen Kirche als vermeintlichen Teil der Opposition drängten, welche nicht zwangsläufig staatliche Repressionen nach sich zogen. Aber es gab auch die anderen, die Engagement förderten. Und bei aller Kritik überwog doch das Letztere, wenn die Vielfalt der Arbeit in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Organisationen, <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Massenorganisation#Massenorganisationen_in_der_DDR">Massenorganisationen</a>, betrachtet wird.</p><p>Die Bewegung, die 1989 den Sozialismus schließlich besser machen wollte und heute im Westen gerne zu einer bürgerlichen Demokratiebewegung umgedeutet wird, war nicht nur von ein paar randständigen Dissident*innen getragen. Es waren Menschen, die auch schon vorher im Beruf oder darüber hinaus Verantwortung getragen hatten. Objektiv gesehen waren die Bedingungen, unter denen Bürger*innen realsozialistischer Gesellschaften Reformen hätten verwirklichen können, vorhanden. Die Knappheit materieller Ressourcen ließ aber Vieles, was als wünschenswert gefordert wurde, nicht zu. Die Defizite lagen dabei weniger in den daraus folgenden Prioritätensetzungen, sondern vielmehr in der Unfähigkeit, die in Expertengremien manchmal schmerzlich getroffenen Notwendigkeiten, demokratisch breit zu kommunizieren. Dieses Manko offenbarte die mit der Zeit eintretende Distanz von Verwaltungsstrukturen und Betroffenen. Hätte man an den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln etwas Grundsätzliches ändern wollen, hätte man unter den gegebenen Bedingungen, die Staatsräson, die soziale Gleichheit, in Frage stellen müssen. Dass dies ein Kernanliegen der Reformbewegung von 1989 gewesen sein soll, bleibt eine phantastische Erzählung der Leitmedien.</p><p>Tatsächlich verfuhr der realsozialistische Staat selbst ab den 80er Jahren schon sehr flexibel mit diesem Ideal. Ein Beispiel war die Befriedigung der Wünsche nach größeren Konsummöglichkeiten mit Hilfe der „Exquisit-Läden“, in denen dann aber auch teilweise Waren des täglichen Bedarfs zu deutlich höheren Preisen zu finden waren. Das waren Maßnahmen, die kurzfristig Probleme angehen sollten, gleichzeitig aber wieder Unzufriedenheit auslösten, da sie Ungleichheiten produzierten. Die von der Bevölkerung nie in Frage gestellte, selbstverständliche Gleichheit Aller - für sie Gradmesser des Sozialismus - begann somit von innen heraus ausgehöhlt zu werden.</p><h3><b>Fehlerdiskussion im sozialistischen Aufbau</b></h3><p>Die, die in der DDR gelebt haben, sind wahrscheinlich die Einzigen, die einschätzen können, ob man dort seine Meinung sagen konnte oder eher nicht. Man konnte es, solange man den Sozialismus und seine Grundlagen öffentlich nicht in Frage stellte. Kritik war sogar gewollt, wusste man doch um ihr Potenzial, Verbesserungen anzuregen. Doch traf diese Kritik, berechtigt oder nicht, natürlich nicht immer nur auf Zustimmung der Entscheidungsträger*innen. Grundsätzlich ist Kritik immer unbequem und beide Seiten müssen in der Lage sein konstruktiv mit ihr umzugehen. Das war von offizieller Seite, wenn es um die größeren Fragen ging, selten der Fall. Vielmehr versuchte man, vor allem für den Westen, ein Bild allseitiger Harmonie zu zelebrieren, das unrealistisch und für eine lebendige Gesellschaft auch nicht erstrebenswert ist. Eine „offene Fehlerdiskussion“ hätte viel mehr Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung erzeugt und auch weniger „Munition für den Klassenfeind“ hergegeben.</p><h3><b>Debattenkultur und Zensur</b></h3><p>Presse, Rundfunk und Fernsehen, und alle anderen Publikationen unterlagen einer Zensur. Wieder war der Grund, zu verhindern, dass der Sozialismus und seine Grundlagen öffentlich in Frage gestellt werden. Es gab keine vom Staat unabhängigen Medien, weil alles, was ein bestimmtes Maß an Öffentlichkeit produzierte, und damit über das Private hinausging, allen nützlich sein sollte. Das schloss Einzelinteressen in Konkurrenz zu anderen aus, denn man war in einer Gesellschaft der Gleichberechtigten ja auf Ausgleich und Kooperation angewiesen. Um die Publikation solcher Inhalte wirksam auszuschließen, wurden Veröffentlichungen vorher geprüft. Das war sicher kein Vertrauensbeweis der SED gegenüber dem Rest der Bevölkerung und unterminierte das Gleichheitsideal in diesem Verhältnis. Die DDR-Führung folgte damit dem, was schon der Praktiker Lenin fand: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Im heutigen real existierenden Kapitalismus sind es die Chefredaktionen und Eigentümer*innen, die in ihrem privatkapitalistischen und marktwirtschaftlichen Interesse die politische Linie in den „Qualitätsmedien“ festlegen. Zum ganzen Bild gehört auch, dass die zensierende, führende Staats- und Regierungspartei im Jahr 1987 über 2 Millionen Mitglieder hatte und damit über 15 Prozent der erwachsenen Bevölkerung. Auch alle anderen Parteien und Massenorganisationen und damit ihre insgesamt hunderttausenden Mitglieder, hatten sich entsprechend ihrer Satzungen dem Sozialismus verpflichtet.</p><h3><b>Reisen entlang der Systemkonkurrenz</b></h3><p>Die DDR war nicht eingemauert, der Weg nach Osten stand offen und das zu den damals weltweit üblichen Bedingungen. Es gab Länder mit und ohne Visa-Freiheit. Dies galt zunächst nicht in Richtung Westen. In den 80er Jahren, vor der Maueröffnung, wurde es jedoch zunehmend auch für Personen im Erwerbsalter, allerdings nur in Verwandtschaftsangelegenheiten und auf Antrag, möglich dorthin zu reisen. Neben dem nicht zu unterschätzenden Fakt der Systemkonkurrenz und seinen unangenehmen Begleiterscheinungen, war der Grund natürlich, die <a href="https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47253/zug-nach-westen">Abwanderung von Fachkräften</a> bei vorheriger Finanzierung ihrer Ausbildung. In den 1950er Jahren, vor dem Mauerbau, sollen es ein Drittel der Akademiker gewesen sein. Als nach dem 2.Weltkrieg ein <a href="https://archiv.ossietzky.net/7-2008&textfile=49">gemeinsamer deutscher Staat</a> aufgrund der rigorosen Ablehnung des Westens immer unrealistischer wurde, sah man sich gezwungen die letzte Option zu ziehen und die Grenze zu schließen, um die Realisierbarkeit des humanistischen Ideals Sozialismus weiterhin zu gewährleisten.</p><p>Jenseits aller Psychologisierungen ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für die Bürger*innen der DDR durch die Entscheidungsträger*innen bestimmt nicht leicht gefallen. Der gelungene Coup, den Westen vollkommen überrascht zu haben, löste wahrscheinlich schon Genugtuung aus. In den 80er Jahren gewann die Ausreisebewegung in bestimmten kulturellen Milieus an Bedeutung, spielte aber im Alltag der Arbeiter*innenschaft weiterhin eine sehr marginale Rolle. Der Mangel an Devisen tat auch in der Reise-Frage sein Übriges. Da die Währung der DDR international nicht konvertibel war, um Währungsspekulationen und damit den Einfluss von außen auf die Volkswirtschaft zu verhindern, musste der Staat jedem*r Bürger*in mit einem Mindestmaß an Reisezahlungsmitteln ausstatten, wollte er seinem Anspruch, die Alternative zum Kapitalismus zu sein, gerecht werden.</p><p>Für Osteuropa war das kein Problem, war man doch politisch wie wirtschaftlich verbunden. Aber anstatt die mühsam im Export mit dem Westen erwirtschafteten Geldmittel individuell-touristischen Zwecken zur Verfügung zu stellen, entschied man sich, sie in die planmäßig zu entwickelnde Gesellschaft der Gleichberechtigten zu stecken. Das ist ein weiteres Beispiel von vielen für die Bevorzugung des Gemeinwohls gegenüber dem Interesse Einzelner. Der Grund für diese Prioritätensetzung war, dass bestimmte Güter nur auf dem Weltmarkt für harte Dollar oder D-Mark gekauft werden mussten, da der <a href="https://www.helle-panke.de/de/topic/158.publikationen.html?productId=68453">Rat</a> für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) seine Aufgabe, Arbeitsteilung unter den realsozialistischen Ländern zu organisieren, wegen falsch verstandener Eigenständigkeit einiger seiner Mitgliedsstaaten, nicht vollumfänglich realisieren konnte. [2] Trotzdem hätte man in Reise- und Ausreisefragen mit der Zeit Lösungen finden müssen, um Unzufriedenheiten abzubauen. Das wäre durch eine frühzeitigere, also nicht erst im Rentenalter und/oder periodische Möglichkeit der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR umzusetzen gewesen oder durch mehr kollektiven Reisen in den Kapitalismus, mit Abstechern auch in die Arbeiter:innen-Milieus, oder über die FDJ-Freundschaftsbrigaden hinausgehende Solidaritätsaufenthalte in die Länder des globalen Südens, bei denen neben personellen Ressourcen auch Sicherheitsfragen der eingesetzten Fachkräfte eine Rolle spielten.</p><h3><b>Selbstbewusst in die Diskussion</b></h3><p>Das alles und noch viel mehr war die Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR. Um sich als gesellschaftliche Linke den heute drängenden sozialen und sich daraus ergebenen politischen Fragen in Ostdeutschland zu widmen, muss ein ein kritischer aber gleichfalls solidarischer Blick auf die konkreten historischen Antworten eines realen, nicht theoretischen, Sozialismus gelenkt werden. Die Versuche ernsthafte soziale und wirtschaftliche Lösungen als Alternative zum Kapitalismus zu finden, sind in einer Fülle von wissenschaftlich Studien, mit mehr oder weniger ideologischer Interpretation und unterschiedlichster politischer Couleur dokumentiert. Zusätzlich kann jeder, der aus dem Osten kommt oder jemanden dort kennt, versuchen, sich über Biografien „gelernter DDR-Bürger“ auch ein subjektiv geprägtes Bild zu verschaffen.</p><p>Im Zentrum einer Diskussion um eine eigenständige ostdeutsche Linke sollten keine allseits bekannten Debatten und Auseinandersetzungen um theoretische Fragen realsozialistischer Bewegungen und Projekte stehen, spiegeln diese doch nur die unterschiedlichen Vorstellungen der jeweiligen Protagonist*innen über eine postkapitalistische Gesellschaft wieder, die man auch mit dem „besseren Argument“ nicht endgültig klären kann. Ostdeutsche sollten selbstbestimmt, ohne Rechtfertigungszwang und vor allem selbstbewusst ihre Themen setzen, die sich aus ihrer eigenen Geschichte ergeben.</p><p>Nicht nur, aber vielleicht auch gerade wegen der gut gemeinten, gönnerhaft wirkenden Erzählung eines „deformierten Arbeiter- und Bauernstaates“ aus den unterschiedlichsten Lagern der westdeutschen Linken, halten wir mit Vehemenz an der konkreten gesellschaftlichen Erfahrung der DDR fest: Sie war ein Land, das dem Ideal der sozialen Gleichheit seiner Bürger*innen sehr nahe kam, weil diejenigen, die das gesellschaftliche Mehrprodukt erwirtschafteten, auch die Verfügungsgewalt darüber hatten. Und das bei allen existierenden Defiziten.</p><p><i>Im dritten und letzten Text der inzwischen dreiteiligen Artikelserie „</i><a href="https://revoltmag.org/articles/warum-eine-ostdeutsche-linke/"><i>Warum eine ostdeutsche Linke?“</i></a><i> sollen deren politische Bewegungsform, das anzusprechende Milieu und die grundsätzliche inhaltliche Ausrichtung, beschrieben anhand ausgewählter Politikfelder, andiskutiert werden.</i></p><p></p><hr/><p></p><h3>Quellen:</h3><p>[1] Lenin, Wladimir Iljitsch: Staat und Revolution, Wladimir Iljitsch Lenin Werke, Band 25, Berlin/DDR, S.393-507, 1972.<br/></p><p>[2] Roesler, Jörg: 1962.1971 - Schicksalsjahre des RGW, Reihe "Pankower Vorträge", Heft 215, 2017.</p><p></p></div>
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„Klassenkampf und Tierbefreiung haben objektiv denselben Gegner: Das Kapital“2021-10-11T12:16:18.126587+00:002021-10-11T12:55:35.847545+00:00Johanna Bröseredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/klassenkampf-und-tierbefreiung-haben-objektiv-denselben-gegner-das-kapital/
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<div class="rich-text"><p><b>Vor einiger Zeit fiel mir die Broschüre „Das Fleischkapital“ eures Bündnis</b> <b>Marxismus und Tierbefreiung (mutb) in die Hände. Ihr beschreibt darin sehr eindrücklich, wie die Fleischindustrie Arbeiter:innen und Tiere überausbeutet und dabei gleichzeitig enorm zerstörerisch auf das Ökosystem und die natürlichen Ressourcen des Planeten wirkt. Eure Analysen, weshalb dieses Ausbeutungssystem so wirkmächtig ist und welche Möglichkeiten es zur Überwindung desselben gibt, unterscheiden sich dabei von bürgerlichen Publikationen, wie etwa dem jährlichen Fleischatlas des Bunds für Umwelt und Naturschutz. Welches Ziel hat eure Arbeit konkret?</b></p><p><b>Daniel:</b> Die Zeitung soll zum einen generell kritische, marxistische Analysen der Fleischindustrie und ihrer Politik sowie der Bedingungen des Widerstands gegen sie liefern. Insofern richtete sie sich im Prinzip an alle. Zum anderen wollen wir aber dazu beitragen, die Tierbefreiungsbewegung, andere politische Bewegungen und die klassische Linke in Austausch zu bringen und zur Vernetzung anzuregen. Die Spannweite der Themen richtet sich dementsprechend an die Tierbefreiungs-, Ökologie- und Klima- und andere soziale Bewegungen, ebenso aber an Gewerkschafts- und Betriebsaktive, Kommunist:innen, Sozialist:innen und andere Linke. Wir wollen anregen, sich gegen das Fleischkapital und führende Unternehmen wie Tönnies, Vion, PHW oder Westfleisch und für ein wirklich revolutionäres und zivilisatorisches Projekt zusammenzutun – die Enteignung und Umbau der Fleischindustrie hin zu veganer, ökologisch nachhaltiger und demokratisch kontrollierter Produktion. Das liegt natürlich aktuell in weiter Ferne. Wir meinen aber, dass es so einen Schulterschluss dringend braucht.</p><p><b>Stefanie:</b> Die Zeitung soll also dazu beitragen, die Verständigung derer, die an einem solchen Projekt ein Interesse haben – oder haben sollten –, voranzubringen. In der Fleischindustrie laufen immerhin die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse eines Systems zusammen, in dem Arbeiter:innen, Tiere und Natur bloß Mittel der Profitmaximierung sind. Das war im Prinzip auch vor der Coronakrise schon bekannt, ist durch sie aber ein weiteres Mal unübersehbar worden.</p><p><b>Stichwort Corona: In den letzten Monaten wurden die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie immer dann zum Thema, wenn sich Schlachthofarbeiter:innen zu Hunderten mit dem Corona-Virus infizierten. Die „Schuldigen“, die Politik und Wirtschaft dann immer schnell präsentierten, um die medialen Wogen zu glätten, waren die Arbeits-Rückkehrer:innen aus osteuropäischen Ländern. Rassismus und Sozialchauvinismus, anstatt die desaströsen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie grundlegend anzugreifen. Die Lage der Arbeiter:innen spielt dementsprechend in euren Analysen eine zentrale Rolle…</b></p><p><b>Stefanie:</b> Ja, die schlechte Lage der Arbeiterklasse ist zum Beispiel gleich im ersten Beitrag der Zeitung Thema: Der gibt einen Überblick über die Beschäftigungs- und Lohnverhältnisse in der Fleischindustrie und diskutiert das „Arbeitsschutzkontrollgesetz“, das letztes Jahr erlassen wurde und Leiharbeit sowie Werkverträge in der Fleischindustrie eindämmen soll. Außerdem konnten wir ein Interview mit zwei ehemaligen Arbeitern aus der Schlachtindustrie führen: Die beiden rumänischen Kollegen erzählen, wie sie als Werkvertragsarbeiter nach Deutschland kamen und wie sie die sklavenähnliche Arbeit hier erlebt haben. Sie schildern unter anderem Schichten, die bis zu 16 Stunden gingen, Hungerlöhne und Wuchermieten, mafiöse Strukturen und Alkoholmissbrauch, um das alles zu ertragen. Von Arbeitsschutz fehlte da selbstverständlich auch jede Spur. Vor diesem Hintergrund ist es gar kein Wunder, dass sich in Schlachtbetrieben letztes Jahr reihenweise Kolleg:innen mit Sars-CoV-2 infiziert haben.</p><p><b>Daniel:</b> Nach allem, was wir wissen, hat die Tier- und Fleischindustrie erheblich dazu beigetragen, dass so etwas wie Corona überhaupt entstehen konnte. Der Epidemiologe Rob Wallace und der Humanökologe Andreas Malm haben beide auf den Anteil des Wildtierhandels, der Massentierhaltung und der Zerstörung des Regenwaldes als entscheidende Treiber von Zoonosen und der Coronapandemie hingewiesen. Wenn der Fleischindustrie also nicht Einhalt geboten wird, ist die nächste Pandemie schon vorprogrammiert. In unserer Broschüre geht es deshalb auch in einem Artikel um den „Superspreader Fleischkapital“, dort werden diverse Forschungsergebnisse dazu zusammengetragen.</p><p><b>Warum ist es wichtig, eine klare, marxistische Analyse der herrschenden Verhältnisse, gegen Ausbeutung und Naturzerstörung zu entwickeln – gegen liberale bis rechte Vereinnahmungen, vom gesundheitsbewussten Trendsetter bis zur seitangrillenden Querdenkerin?</b></p><p><b>Stefanie:</b> Eine vegane Lebensweise ist ja nicht per se fortschrittlich. Versuche, von rechts an die Bewegung anzudocken, gab es immer wieder – zum Beispiel aus dem Esoterik-Milieu. Sie sind aber zum einen immer klar von den tonangebenden Teilen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zurückgewiesen worden. Zum anderen delegitimieren solche Vereinnahmungsbestrebungen nicht den Tierbefreiungsgedanken selbst, wie uns zum Beispiel „Antideutsche“, die ja selbst eine rechte Querfront-Strömung sind, regelmäßig weismachen wollen.</p><p>Die wesentlich größere Gefahr sind gegenwärtig eher grün-liberale Kräfte, die den Boden für eine Vereinnahmung durch kapitalistische Unternehmen bereiten. Seit dem Vegan-Hype der letzten Jahre gibt es mehr Versuche, das Engagement für Tiere in marktkonforme Bahnen zu lenken – weil das die Absatzmärkte für vegane Produktpaletten vergrößert. Wenn dann Teile der Bewegung meinen, individueller Vegan-Konsum allein sei ausreichend, oder sogar glauben, die Unternehmen stünden jetzt auf ihrer Seite, dann ist das nicht nur falsch – Statistiken zeigen, dass mehr Vegan-Konsum nicht weniger Fleisch-Produktion bedeutet und vom Vegan-Konsum vor allem auch die Fleischindustrie profitiert –, sondern politisch gefährlich. Wir wenden uns darum auch gegen Organisationen wie „Anonymus for the Voiceless“, die teilweise rechtsoffen sind, vor allem aber für einen Aktivismus stehen, der sich von Kapitalisten vereinnahmen lässt. Es geht dort ausschließlich darum, Menschen vom Vegan-Lifestyle zu überzeugen, ohne das mit politischen, klassenkämpferischen Forderungen zu verbinden. Auch in der Diskussion über In-vitro-Fleisch, also „tierisches“ Fleisch aus dem Labor, beziehen sich Stimmen aus der Tierrechtsbewegung positiv auf entsprechende Unternehmen, obwohl diese teilweise mit der Fleischindustrie verbandelt sind.</p><p></p><hr/><h4><i>»Es sind eben nicht „die Menschen“, die industriell organisierte Tiertötungen in Auftrag geben, sondern die Teile der Bourgeoisie, die damit Profite erwirtschaften – das Fleischkapital. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss darum auch aufhören, die Arbeiter:innen der Industrie für die Situation der Tiere verantwortlich zu machen.« (Daniel)</i></h4><hr/><p></p><p><b>Daniel:</b> Eine marxistische Analyse braucht es allein schon, um klarzumachen, wer aus welchen Gründen eigentlich für die Ausbeutung und Tötung von Tieren verantwortlich ist – und wo man diese Leute am empfindlichsten treffen kann. Es sind eben nicht „die Menschen“, die industriell organisierte Tiertötungen in Auftrag geben, sondern die Teile der Bourgeoisie, die damit Profite erwirtschaften – das Fleischkapital. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss darum auch aufhören, die Arbeiter:innen der Industrie für die Situation der Tiere verantwortlich zu machen.</p><p><b>Stefanie:</b> Trotzdem propagieren wir aber übrigens weiterhin Veganismus als Teil einer solidarischen und politischen Alltagskultur und Lebensweise. Aus der richtigen Kritik individueller Konsumkritik folgt ja nicht, dass individuelles Verhalten völlig egal wäre oder dass wir nicht wirklich eine vegane Lebensweise in einer postkapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsform benötigen. Selbstverständlich muss man als Linker auch sein alltägliches Handeln nach den politischen Positionen richten, die man vertritt. Das ist ja zum Beispiel bei der Ablehnung des Patriarchats genauso. Und wen man befreien will, den isst man nicht – ganz einfach.</p><p><b>Ihr schreibt an mehreren Stellen, sowohl Arbeiter:innen als auch Tiere würden vom Kapital ausgebeutet. Aber bestehen da nicht große Unterschiede? Inwiefern hängen Klassenkampf und Tierbefreiung für Euch zusammen?</b></p><p><b>Daniel:</b> Es gibt definitiv große Unterschiede. Auf die weisen wir auch immer wieder hin. Anders als Lohnarbeiter produzieren Tiere zum Beispiel keinen Mehrwert – sie werden getötet oder ihre Körper zur Produktion von Waren benutzt. Für das Kapital sind sie daher keine Arbeitskräfte, also nach Marx <i>variables</i> Kapital, sondern nur Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, sprich <i>konstantes</i> Kapital. Das Fleischkapital hat daher auch gar kein prinzipielles Interesse daran, dass die Tiere überhaupt am Leben bleiben. Die Arbeiter:innen werden zwar auch wie Dreck behandelt (und die meisten dürften marxistisch gesehen auch nicht einmal den Wert ihrer Arbeitskraft entlohnt bekommen – es handelt sich dann also nicht einmal wirklich um Äquivalententausch), aber die Unternehmer brauchen sie ja als ausführende Arbeitskräfte für die Fleischproduktion – zumindest für eine Zeit. Von marxistischen Genoss:innen hören wir ab und zu, es sei falsch, von der „Ausbeutung“ der Tiere zu sprechen. Aber erstens ist das nicht überzeugend, denn auch Marx selbst verwendet den Ausbeutungsbegriff nicht nur werttheoretisch, er spricht auch von einer „Exploitation der Natur“. Und zweitens wird das Argument häufig so vorgebracht, als ginge der Status der Ausbeutung mit einer moralischen Wertung einher, so als sei die Situation der Tiere weniger wichtig, weil sie werttheoretisch nicht als Ausbeutung bezeichnet werden kann. Der Hinweis auf qualitative Unterschiede ist also wichtig, weil im Kapitalismus für das Kapital und die betroffenen Arbeiter und Tiere Unterschiede bestehen, aber er beinhaltet nicht zwingend eine moralisch-politische Wertung.</p><p></p><hr/><h4><i>»Es gibt in unseren Augen kaum Argumente für den Klassenkampf zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse, die nicht genauso Argumente für die Befreiung der Tiere sind.« (Stefanie)</i></h4><hr/><p></p><p><b>Stefanie:</b> Darüber hinaus meinen wir, dass Klassenkampf und Tierbefreiung zusammenhängen, weil die Tierbefreiungsbewegung und die lohnabhängige Klasse objektiv den selben Gegner haben – das Kapital. Man wird also einerseits nichts, zumindest nichts Grundlegendes, am Status der Tiere ändern können, ohne in die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse einzugreifen. Allein darum muss die Tierbefreiungsbewegung die Klassenfrage stellen und Klassenkämpfe gegen die Industrie unterstützen. Es gibt in unseren Augen kaum Argumente für den Klassenkampf zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse, die nicht genauso Argumente für die Befreiung der Tiere sind. Fleischkonsum ist heute für den Großteil der Menschheit nicht nur nicht mehr nötig, sondern allein aufgrund der Ressourcenverschwendung objektiv irrational. Die Produktivkräfte erlauben also nicht nur eine vernünftige, geplante Produktion zum Wohle der Menschen – sondern auch im Sinne der Tiere, die nicht mehr ausgebeutet und von der Profitgier des Kapitals befreit werden können. Wir sollten den Klassenkampf also auch für die Befreiung der Tiere führen – es gibt kein überzeugendes marxistisches Argument gegen ihre Befreiung!</p><p><b>Aber die Realität sieht doch anders aus: Auch Lohnabhängige sind ideologisch und materiell ins System des Fleischkapitals eingebunden. Für viele Arbeiter:innen ist Fleisch ein zentraler Teil der Ernährung – ich erinnere mich an Gerhard Schröders Aussage, die Currywurst sei der „Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters“, die man nicht abschaffen dürfe. Dazu passt ein Beitrag eurer Zeitung, in dem mit Antonio Gramsci die Schaffung einer „karnivoren“, also fleischbasierten, Lebensweise durch die Fleischkonzerne analysiert wird: als „Fleischhegemonie“. Könnt ihr das noch etwas genauer erklären?</b></p><p><b>Daniel:</b> Mit dem Begriff „Fleischhegemonie“ bezeichnen wir die Kombination aus reellen materiellen Zugeständnissen des Fleischkapitals an die Arbeiter:innen- und die Mittelklassen und den dazugehörigen politischen und kulturellen Formen, die gemeinsam die Zustimmung der Subalternen zur Überausbeutung der Tiere und der Ausbeutung der Kolleg:innen in der Fleischindustrie sowie den Absatz der produzierten Fleischwaren sicherstellen. Im Falle des Fleischkapitals ist damit gemeint, dass zunächst ein gut ausgebildeter, kleiner Teil von Facharbeitskräften, analog zu anderen Industrien der imperialistischen Staaten, bessere Arbeits- und Lohnverhältnisse hat als woanders. Außerdem hat die Bourgeoisie die Natur inklusive der Tiere weitgehend monopolisiert, sie also als Produktionsmittel zum Privateigentum gemacht.</p><p><b>In dem Sinne, dass Tiere und der Natur zu Sachen gemacht werden, über die ohne Rücksicht verfügt werden kann – bis zur Zerstörung?</b></p><p>Ja, genau. Allerdings beansprucht die herrschende Klasse das Privateigentum an Tiere nicht nur für sich, sondern sie hat es verallgemeinert, so dass alle Menschen gleich welcher Klasse prinzipiell Tiere als Besitz erwerben dürfen, was aber natürlich angesichts der realen ökonomischen und politischen Kräfteverhältnissen in erster Linie dem Kapital zugutekommt. Das Recht auf Eigentum an Tieren ist einer der Gründe, warum die meisten Menschen und auch viele Aktive der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung immer noch denken, die Ausbeutung von und die Herrschaft über Tiere sei eine Speziesfrage, also eine Beziehung zwischen „den“ Menschen und Tieren. Dabei handelt es sich in erster Linie um ein Überausbeutungsverhältnis zwischen dem Tierkapital und den Tieren, auch wenn zusätzlich viele Menschen „ihre“ Tiere tatsächlich im Privaten mit Tieren buchstäblich so umspringen, als wären sie ihr Eigentum. Schließlich hat das Tierkapital im Allgemeinen und das Fleischkapital im Besonderen insofern materielle Zugeständnisse machen müssen, als das bestimmte Ausbeutungs- und Herrschaftspraktiken zumindest formalrechtlich durch Tierschutzgesetze verboten sind.</p><p>Wenn wir dies im Kontext der Fleischhegemonie betrachten, werden die materiellen Zugeständnisse des Fleischkapitals außerhalb der unmittelbaren Fleischproduktion durch politisch-kulturelle Formen ergänzt, welche den Widerspruch zwischen Kapital einerseits und ArbeiterInnen, Tieren und Natur andererseits lebbar für die Subalterne machen und gleichzeitig den Absatz der Fleischwaren gewährleisten. Zu diesen kulturellen und politischen Formen gehört die karnivore Lebensweise. Damit ist eine Lebensführung gemeint, die vor allem bei der Ernährung (aber auch der Kleidung) um Fleisch kreist. Diese Lebensweise hat sich über die letzten 150 Jahre, in denen Fleisch überhaupt erst zum Mittelpunkt der Massenernährung in den imperialistischen Metropolen gemacht worden ist, stark ausdifferenziert. Von der obligatorischen Bratwurst im Fußballstadion über Grillsessions im Sommer und Kochshows im Fernsehen bis hin zu „Haute Cuisine“, deren Köche auf erlesenes Fleisch setzen, ist alles dabei. Damit die Leute Tierfleisch konsumieren, wird es als das Nahrungsmittel schlechthin inszeniert und mit allerlei positiven Konnotationen versehen.</p><p><b>Fleisch als identitätsstiftendes Kulturgut also?</b></p><p><b>Stefanie:</b> Genau. Schau dir mal die Werbeseite „fokus-fleisch.de“ der Fleischindustrie an. Dort heißt es: Fleisch ist gesund, gar nicht klimaschädlich, es symbolisiert Wohlstand und so weiter. Das sind die Märchen, mit denen Fleisch zum Besten aller Nahrungsmittel verklärt wird, hinter dem die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse der Fleischindustrie verschwinden. Dieser Lebensweise entsprechen besondere Vorstellungen von Identität, die sich stark am Konsum von Fleisch und anderen tierischen Waren orientieren: Männer, die zu Hause wie selbstverständlich den Grillmeister geben, Mitglieder aufsteigender Mittelklassefraktionen, die sich einreden, mit dem Kauf ihres „Bio“-Fleisch würden sie gesund essen und die Welt besser machen und so weiter. Schließlich gehört zum Inventar der Fleischhegemonie eine ganze Reihe an, wie wir sagen würden, speziesistischen Ideologien, also Denkformen und Diskursstrategien, mit denen die Überausbeutung von und die Herrschaft über Tiere direkt oder mittelbar gerechtfertigt und verschleiert wird. Das reicht von Klassikern wie „Menschen haben Tiere immer gegessen“ oder „Ohne den Konsum von Fleisch hätte sich unser Gehirn nicht so entwickelt“ bis hin zur Dämonisierung veganer Ernährung.</p><p><b>Daniel:</b> Die Fleischhegemonie ist also eine Unterform bürgerlicher Hegemonie, wie sie Gramsci ursprünglich verstanden hat. Er versuchte zu erklären, warum die proletarische Revolution im Westen nach der Oktoberrevolution gescheitert ist und fand, vereinfacht gesagt, die Erklärung darin, dass es den herrschenden Klassen im Westen gelungen war, eine Hegemonie zu entwickeln und dadurch Teile der subalternen Klassen in ein Bündnis zu integrieren. Gramsci hat diese Prozesse als gesamtgesellschaftliche begriffen. Wir haben hingegen die Mechanismen mit Blick auf die Fleischindustrie und die Tierausbeutung dort analysiert. Eine Besonderheit der Fleischhegemonie ist, dass sie auf eine doppelte Integration von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und neuen sozialen Bewegungen abzielt, die Gramsci so in seiner Zeit aber noch nicht kannte und analysieren konnte.</p><p><b>Bemerkenswert ist ein Artikel, der den globalen Zusammenhang von Fleischindustrie und Imperialismus analysiert. Das Fleischkapital stünde „im Zentrum des imperialistischen Weltsystems“, schreibt Ihr. Warum?</b></p><p><b>Stefanie:</b> Im Kern, weil das deutsche Fleischkapital von internationalen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen profitiert. Der Begriff „Zentren des Weltsystems“ verweist darauf, dass die entsprechenden Staaten – bzw. die dort herrschenden Klassen – die Gewinner der globalen kapitalistischen Profitproduktion und -verteilung sind. Und der Imperialismusbegriff verdeutlicht an dieser Stelle, dass die kapitalistische Produktionsweise solche Verhältnisse nicht zufällig, sondern systematisch hervorbringt.</p><p></p><hr/><h4><i>»Wenn PHW und Co. in Polen investieren, dann findet dort nicht nur die Ausbeutung von Arbeitern und Tieren unter dem Kommando deutscher Kapitalisten statt, sondern die Profite, die damit gemacht werden, landen auch in hiesigen Unternehmenszentralen – bei den Profiteuren in den imperialistischen Zentren.« (Stefanie)</i></h4><hr/><p></p><p>Die deutsche Fleischbranche ist von einer starken Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals geprägt. Das führt unter anderem dazu, dass auch die Entscheidungsmacht einzelner Konzerne darüber wächst, was, wo und unter welchen Bedingungen produziert wird. Die größten Schlacht- und Fleischverarbeitungsunternehmen konnten ihre Produktion trotz der Sättigung des hiesigen Fleischmarktes seit 2005 immer mehr ausweiten – und das hat auch mit ihren geographischen Expansionsstrategien zu tun, für die wir in dem Artikel verschiedene Beispiele ansprechen. Eins ist, dass analog zum Wirtschaftsmodell des deutschen Imperialismus zunehmend Fleischwaren exportiert werden. Tönnies macht heute 50 Prozent seiner Umsätze mit Exporten. Seit der EU-Osterweiterung wird auch vermehrt nach Osteuropa exportiert. Ein weiteres Beispiel ist der Kapitalexport in Länder, in denen die Löhne und Tierschutzbestimmungen noch schlechter sind als in der BRD. Die billige Produktion etwa in Polen macht es leichter, Teile des dortigen Marktes einzunehmen. Und wenn PHW und Co. in dem osteuropäischen Land investieren, dann findet dort nicht nur die Ausbeutung von Arbeitern und Tieren unter dem Kommando deutscher Kapitalisten statt, sondern die Profite, die damit gemacht werden, landen auch in hiesigen Unternehmenszentralen – bei den Profiteuren in den imperialistischen Zentren.</p><p><b>Dass die Gegner übermächtig scheinen, gegen die es anzukämpfen gilt, macht ihr an vielen Stellen deutlich. Auf welchen Ebenen und mit welchen Mitteln gibt es denn Widerstand?</b></p><p><b>Daniel:</b> Es gibt auf vielen Ebenen Widerstand, auch wenn man ihn nicht größer machen sollte, als er ist. Zunächst gibt es immer Mal wieder auch im Kleinen Proteste und Widerstandsaktionen der Kolleg:innen in der Produktion, auch von den Wanderarbeiter:innen Osteuropas, die dort das Gros der arbeitenden Armen stellt. Sie streiken wild, bleiben der Arbeit fern oder informieren Teile der interessierten Öffentlichkeit über die anhaltend miesen Arbeits- und Lohnverhältnisse. Gleichwohl ist es schwer, empirisch zu messen, welches Ausmaß diese Proteste haben, weil sie – auch aus Selbstschutz – eher seltener an die Öffentlichkeit gelangen. Dann gibt es natürlich auch die Arbeit der Gewerkschaften. Erfreulicherweise ist die zuständige Gewerkschaft Nahrungs-Genuss-Gaststätten (NGG) in jüngerer Zeit ein wenig in die Offensive gegangen und hat Streiks initiiert, um für einen höheren Mindestlohn zu kämpfen. Allerdings verfolgt auch die NGG-Führung wie die Chefs der anderen großen Gewerkschaften in der Republik immer noch eine sozialpartnerschaftliche Linie und hofft auf eine Rückkehr zum „guten“ fordistischen Sozialkompromiss.</p><p>Vereinzelt haben sich auch zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen gebildet, die mit konkreten Hilfsangeboten die Arbeitsmigrant:innen unterstützen und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen die Fleischbarone arbeiten. Einer der bekanntesten Vertreter ist Pfarrer Peter Kossen, der eine wichtige Stimme ist, auch wenn sein Engagement in der katholischen Kirche auf nicht so viel Nächstenliebe gestoßen ist. Darüber hinaus gibt es immer mehr NGOs und auch soziale Bewegungen, die meist aufgrund spezifischer Probleme gegen die Fleischindustrie kämpfen. Dazu gehören Umweltorganisationen, die etwa die ökologischen Folgen der Tier- und Fleischproduktion anprangern, oder eben auch Tierrechts- und Tierbefreiungsgruppen, welche gegen die Ausbeutung der Tiere auf die Straße gehen und auch mal eine Fleischfabrik blockieren oder besetzen.</p><p><b>Stefanie:</b> Die Parteien sind leider eher Teil des Problems als der Lösung. Am weitesten gehen noch Ideen der Partei Die Linke und von Teilen der Grünen, die industrielle Massentierhaltung abzubauen. Aber auch sie, ausgenommen einzelner Mitglieder, stellen die Tierausbeutung nicht grundsätzlich infrage, im Gegenteil. Bei den Grünen ist der Umbau der Agrar- und Fleischindustrie zudem integrativer Element einer ökomodernistischen Strategie, den Kapitalismus durch seine Begrünung neues Leben einzuhauchen. Im Bundestagswahlprogramm hieß es zum Beispiel, sie wollten eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft in Europa begründen“ und der Umbau der Tier- und Fleischproduktion solle durch einen „Tierschutz-Cent auf tierische Produkte“ finanziert werden. Mit anderen Worten: An die Gewinne der Fleischmagnaten wollen sie gar nicht ran, die breite Bevölkerung soll ihnen vielmehr noch neue Ställe bezahlen.</p><p><b>Wie sieht es auf der kulturellen Ebene als einer zentralen Arena der Hegemoniekämpfe aus?</b></p><p><b>Daniel:</b> Kulturell sind in den letzten Jahren einzelne Samen des Protests gepflanzt worden. In unserer Zeitung gibt es etwa einen Artikel mit „Anmerkungen zu revolutionärer Kunst, Gegenkultur und Ästhetik“, den die Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur <i>Melodie & Rhythmus</i> (M&R), Susann Witt-Stahl, geschrieben hat. Darin entwickelt sie unter anderem in Anlehnung an den österreichischen Künstler Alfred Hrdlicka dessen Idee „Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch aus“ als Maxime des kulturellen Protests gegen die Schlachthäuser, in denen die Leiber der Arbeiter:innen geschunden und die der Tiere zerstört werden. M&R bietet solchen Ideen immer wieder auch eine Plattform.</p><p>Während es auf dem kulturellen Terrain einzelne Leuchtfeuer gibt, muss man allerdings konstatieren, dass die vegane Lebensweise als eine Art oppositioneller Kultur mittlerweile zunehmend zum Mittel der kultur-politischen Integration verkommt. Damit ist keinesfalls gemeint, dass diese Lebensweise per se integrativ wirkt. Aber aktuell wird sie für die profitorientierte Produktion und einen wachsenden Markt veganer Waren von Teilen des Kapitals, inklusive des Fleischkapitals, funktionalisiert und entpolitisiert. Der Veganismus ist also nicht mehr per se ein oppositioneller Lebensstil, sondern selber zum Feld der Klassenauseinandersetzungen geworden.</p><p><b>Wie fallen die Reaktionen bisher aus – sowohl auf eure Zeitung, als auch auf eure Arbeit?</b></p><p><b>Stefanie:</b> Überraschend gut. Und zwar in letzter Zeit vor allem von Seiten der marxistischen Linken. Die Vorbehalte gegenüber Veganismus und der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sind zwar nach wie vor – allein aus kulturellen Gründen – oft sehr stark. Aber spätestens seit Corona und den Corona-Ausbrüchen in den Schlachtbetrieben ist auch vielen Genoss:innen klar, dass sie eine Position zur Fleischindustrie entwickeln müssen und man die Fleischkapitalist:innen und -monopole nicht blind verteidigen kann. Das hat auch etwas mit einem Generationenwandel zu tun. Deswegen mehren sich in letzter Zeit die Veranstaltungsanfragen aus dem marxistischen und kommunistischen Lager. Im linken Flügel der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wiederum hat sich mittlerweile schon ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass das Problem nicht die Schlachthofarbeiter:innen, sondern vielmehr ihre Bosse sind. Das ist natürlich nicht nur unser Verdienst. Aber ich weiß aus Gesprächen und Rückmeldungen, dass unsere Veröffentlichungen auch dazu beigetragen haben.</p><p><b>Daniel:</b> Wir machen uns aber natürlich keine Illusionen, wie gering unsere Reichweite und wie „exotisch“ unser Arbeitsfeld ist. Wir entwickeln Analysen und Inhalte und versuchen, klassische marxistische Theorie auf die Frage der Fleischindustrie und Tierbefreiung anzuwenden. Und wir sind dabei in vielen – nicht allen – Punkten die ersten, die das so machen. Klar stößt das auf Widerstände. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass es kein Ding der Unmöglichkeit ist, sowohl Gehör bei marxistischen Genoss:innen als auch in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zu finden. Marxist:innen brauchen im Jahr 2021 eine Position zur ökologischen Krise und zur Fleischindustrie, und die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss sich fragen, was eigentlich der gesellschaftliche Rahmen ihrer Politik ist – das ist allerspätestens seit Corona einfach überdeutlich.</p><p></p><hr/><p><i>Die Zeitung „Das Fleischkapital“ ist ein Projekt des</i> <a href="https://mutb.org/"><i>Bündnisses Marxismus und Tierbefreiung</i></a><i>, in dem Gruppen und Einzelpersonen der Tierbefreiungsbewegung und Aktive der kommunistischen Linken mitarbeiten. An der Zeitung selber sind aber auch „externe“ Autor:innen beteiligt, etwa der Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann aus Israel. Auf der Webseite des Bündnisses kann die Zeitung "Das Fleischkapital" auch als Printversion</i> <a href="https://mutb.org/2021/03/neuerscheinung-das-fleischkapital/">bestellt</a> werden.</p></div>
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Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR (Teil 1)2021-10-01T09:04:30.026382+00:002021-10-02T17:33:00.322325+00:00Autoren-Kollektiv Ostredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/deutsche-demokratische-republik-kurz-ddr-teil-1/
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<h1>Deutsche Demokratische Republik – kurz: DDR (Teil 1)</h1>
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<div class="rich-text"><p></p><p><b><i>Dies ist der Anfang eines zweiteiligen Artikels. Er gehört zu der im Frühling 2021 gestarteten Serie „Warum eine ostdeutsche Linke?“.</i></b></p><p></p><p>Für Menschen die bewusst in der DDR gelebt haben ist die Frage nach deren Charakter eine einfache. Sie können sich aufgrund ihrer damals erworbenen Alltagserfahrungen eine subjektive und - durch den Filter heutiger gesellschaftlicher Zustände - eine auf der Erfahrung mit zwei Systemen basierende realistische Meinung bilden. Schwierig ist es für die Nachgeborenen, für die aus Westdeutschland sowieso. Für die dritte Generation Ostdeutsche, welche die DDR nicht bewusst erlebt hat, ist die Ausgangslage diesbezüglich auf den ersten Blick besser, auf den zweiten umso verwirrender. Die „Leitmedien“, fest in westdeutscher Hand, zeichnen mitnichten ein realistisches Bild, denn sie verfolgen das Interesse, das heutige kapitalistische Gesamtdeutschland zu legitimieren. Im Kalten Krieg und seit der Wiedervereinigung ist eine Struktur in Kultur, Wissenschaft und Politik entstanden, die die dafür notwendige Erzählung gesellschaftlichen Stimmungen immer wieder anpasst.</p><p>Auf der anderen Seite steht die ostdeutsche Halböffentlichkeit, vor allem das familiäre Umfeld, das ein differenzierteres Bild zeichnet.</p><p>Für Linke wirkt sich das eigene politische Milieu nicht förderlich aus - selbst wenn man sich in einem marxistischen Umfeld bewegt -, denn man hat es bei der übergroßen Mehrheit mit dem westeuropäischen Blick auf den Realsozialismus zu tun. Der Tenor ist, der Sozialismus der DDR sei ein orthodoxer Arbeiterbewegungs/Parteien-Sozialismus gewesen, der diesen Namen eigentlich nicht verdient, oder gar Staatskapitalismus, autoritär, deshalb anti-emanzipatorisch, ökonomisch ineffizient und so weiter. Mitnichten sei er das gewesen, „was Marx beabsichtigte“, und deshalb nicht der Mühe wert, sich mit ihm zwecks Erfahrungstransfer zu beschäftigen. Letztlich ist dieses Urteil identisch mit dem der bürgerlichen Presse.</p><p>Die, die etwas anderes behaupten, sind gesellschaftlich marginalisiert. So ist es leicht, sie als nicht ernstzunehmende politische Sekten abzutun, und zum großen Teil trifft dieses Urteil zu. Ostdeutsche ohne eigene DDR-Erfahrung tendieren dazu, diese hegemoniale Meinung anzunehmen. Die Wiedervereinigungserzählung in ihrer Alternativlosigkeit, die schlussendlich doch „blühende Landschaften“ gebracht haben soll, stellen sie hingegen eher in Frage, denn die familiären Erzählungen von Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und der überwiegende Ausschluss aus gesellschaftlichen Diskussionen aufgrund ihrer Herkunft stehen dazu konträr. Die „Leitmedien“ haben diesen Trend erkannt und lassen ein wenig Dampf aus dem Kessel. Wurde die DDR die letzten 30 Jahre entweder beschwiegen oder wie zu Zeiten des Kalten Krieges denunziert, wird heute zumindest ihre kulturelle Alltagsgeschichte erzählt, natürlich immer mit dem Fingerzeig auf die „SED-Diktatur“.</p><p>Konzessionen machen die Medien neuerdings auch beim Thema Wiedervereinigung, die immer noch ein großes Geschenk für die Deutschen ist (vor allem aus westdeutscher Perspektive). Es wurden Fehler gemacht, sagt man heute - Stichwort Treuhand [1]. Der ostdeutsche Abwicklungsprozess, der die darauffolgende gesamtgesellschaftliche Deregulierungsära einleitete, lässt sich medial mit seinen bis heute spürbaren Folgen nicht mehr unterschlagen. Die Liquidierung einer vermeintlich maroden Planwirtschaft und ihrer Industrien bleibt in dieser Erzählung jedoch weiterhin unausweichlich. Dass das Quatsch ist, weiß jeder, der sich mit der Materie beschäftigt. Selbst in der bürgerlichen Geschichtswissenschaft kann man unter seriösen Historiker*innen diese These nicht mehr vertreten. <a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/38373">Sie widerspricht den historischen Fakten</a>, was die statistischen Belege im Folgenden dokumentieren. Diese Erkenntnisse, ein Ansatzpunkt für eine ostdeutsche Linke, schafft es jedoch selten in die Massenmedien.</p><p></p><h2>Erst Verstehen, dann Bewerten<br/></h2><p>Schlussfolgerungen für eine eigenständige Politik, vor allem auch aus dem linken Lager, werden aus den ostdeutschen Realitäten aber nicht gezogen. Eine Diskussion darüber wird trotz der unübersehbaren und zunehmenden Distanz zu gesellschaftlichen Groß-Gruppen als „rückwärtsgewandt“ disqualifiziert. Die gesellschaftliche Linke kümmert sich in ihrer Mehrheit entweder aus Mangel an Kompetenz nicht um ökonomische Fragen oder schwelgt in Zeiten der Globalisierung in irrealen konservativ-romantischen Vorstellungen von Kleinteiligkeit und Dezentralisierung. Das Höchste der Gefühle sind Diskussionen über Vergesellschaftung der öffentlichen Daseinsfürsorge. Für den Rest der ressourcenverschwendenden Marktwirtschaft gibt es ein paar theoretische Überlegungen zur Wirtschaftsdemokratie - scheinradikale Ausrutscher, die niemanden weh tun, weil sie von Ansätzen der Realisierbarkeit Lichtjahre entfernt sind.</p><p>Die Beschränkung auf entweder „Delegitimation“ oder „Rehabilitation“ realsozialistischer Verhältnisse verunmöglicht den Rückgriff auf deren nachgewiesene anwendbare Lösungen für heutige gesellschaftliche Probleme. Auch linke postkapitalistische Diskussionen machen mit bei der Reduktion auf diese beiden Extrema, welche die Gegenseite vehement forciert und zu ihren Gunsten ausnutzt.</p><p>Eine <i>kritisch-solidarische Aufarbeitung</i> der DDR-Wirtschaftsgeschichte wäre für das zur Schau gestellte, überbordende westdeutsche Selbstbewusstsein lästig. Besonders dann, wenn man feststellen müsste, dass die vielgescholtene Planwirtschaft realsozialistischer Prägung es geschafft hat, das Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt der BRD nach dem zweiten Weltkrieg, in 40 Jahren pro Kopf von 39 Prozent auf 55 Prozent zu verbessern [2]. Die Anfangsdifferenz hatte ihre Ursachen in historisch-strukturellen Unterschieden im Laufe der industriellen Entwicklung, vor allem aber durch die zu leistenden Reparationen an die Sowjetunion. Nebenbei erwähnt, hatte die DDR von Mitte der 1960er bis Mitte der 80er Jahren durchgängig höhere wirtschaftliche Wachstumsraten als die BRD [3]. Das führte dazu, dass das Land 1988 beim pro Kopf Bruttoinlandsprodukt (12.197 Euro [4]) in Europa auf Platz 14 lag, knapp hinter <a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">Großbritannien</a><a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html"> (13.700</a> <a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">Euro</a><a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">)</a> und <a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">Italien</a> <a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">(13.500</a> Euro<a href="http://www.economic-growth.eu/Seiten/20-Jahres-Ueberblick/BIP-pro-Kopf-20_Jahre.html">)</a>, deren gesellschaftlicher Reichtum aufgrund kapitalistischer Verhältnisse natürlich eine immense Ungleichverteilung aufwies. Eine historische Leistung vor allem der ostdeutschen Arbeiter*innenschaft unter den Vorzeichen von Ressourcenknappheit und einer vom Westen betriebenen Embargopolitik eines immer weitergehenden Ausschlusses des Ostblocks aus der internationalen Arbeitsteilung.</p><p>Das war die Ausgangslage bei der Wiedervereingung und das Ergebnis ist bekannt: kein Aufholen oder Konsolidieren – sondern Deindustrialisierung mit all ihren Folgen. Bei der Ursachenforschung für den Zustand der heutigen ostdeutschen Gesellschaft kann man deshalb nicht erst beim Prozess der deutschen Einheit beginnen, sondern muss sich mit der DDR beschäftigen, um zu verstehen, warum heute so viele Ostdeutsche, auch die Nachgeborenen, so unzufrieden mit der Lage in ihrem Teil des Landes sind.</p><h2>Einheit und sozialistischer Aufbau (im Osten)</h2><p>Die DDR war das Resultat des vom deutschen Faschismus angezettelten und verlorenen Zweiten Weltkrieges. Nicht alle Deutschen haben die Nazis unterstützt. Der Stimmenanteil von über 30 Prozent für SPD und KPD bei den letzten Reichstagswahlen am 5. März 1933, schon <i>nach</i> der Machtergreifung, sind ein klares Indiz dafür, dass der Großteil der Arbeiterklasse sich nicht mit den Faschisten identifizierte.</p><p>Nach der Kapitulation der Wehrmacht wurde Deutschland in Besatzungszonen der Siegermächte aufgeteilt. Die Sowjetunion hatte ein Interesse an einem neutralen, entmilitarisierten und ungeteilten Gesamtstaat unter alliierter Überwachung, um eine erneute aggressive Entwicklung zu verhindern. Alle Spaltungsinitiativen in den folgenden Jahren gingen historisch bewiesenermaßen von den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik aus: Währungsreform [5], Staatsgründung [6], <a href="https://ifddr.org/studien/studies-on-the-ddr/auferstanden-aus-ruinen/">Wiederbewaffnung</a>. Die Schließung der innerdeutschen Grenze und die Berliner Mauer waren eine Reaktion auf den Kalten Krieg zweier hochgerüsteter, konkurrierender, grundsätzlich unterschiedlicher Gesellschaftsentwürfe.</p><p>Die ostdeutschen Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen hatten ihre Lehren aus dem Dritten Reich gezogen und waren der Meinung, dass nur der Aufbau des Sozialismus, schon immer Ziel der Arbeiter*innenbewegung, eine neue Tragödie verhindern könne. Das Verhalten der neuen <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_ehemaliger_NSDAP-Mitglieder,_die_nach_Mai_1945_politisch_t%C3%A4tig_waren">Bundesrepublik mit ihren wieder in Amt und Würden gekommenen Alt-Nazis</a> <b>[7]</b> bestätigte dies nur. Das man in solch einer Situation auf die Erfahrungen des ersten sich sozialistisch nennenden Landes, das gleichzeitig die eigene Besatzungsmacht war, setzte, ist nicht überraschend.</p><p>Marx und seinen Analysen folgend, war die Herstellung nicht nur der politischen, sondern auch der materiellen Gleichheit vonnöten, um das Ideal einer aus Gleichberechtigten bestehenden Gesellschaft zu erreichen. Letzteres hatte die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und seine Überführung in gesellschaftliches zur Voraussetzung: Volkseigentum. Jede*r sollte und konnte am Gedeihen des Gemeinwesens teilnehmen, weshalb Arbeitslosigkeit qua definitionem ausgeschlossen war. Diese Gründungsmaxime war bis zum Ende der DDR nicht verhandelbare Staatsräson und Grundlage jeglicher gesellschaftspolitischen Entscheidung.</p><h2>Die unumstrittenen Vorzüge der DDR, ein sicheres Terrain…</h2><p>Der Zugang zum <i>Bildungs- und Gesundheitswesen</i> war für alle kostenlos.<br/>Frühkindliche Erziehung und Bildung mit pädagogischen Standards, eine gleiche allgemeinbildende polytechnische Schulbildung für alle Kinder bis zur zehnten Klasse, sehr wenige Spezialschulen für die wirklich Hochbegabten, natürlich auch aus Arbeiterfamilien, bildeten die Grundstruktur des Bildungswesens. Danach folgten entweder ein zweijähriges Abitur oder eine Berufsausbildung, wahlweise mit Abitur. Es gab für jede*n Jugendliche*n eines dieser Angebote, entsprechend ihrer*seiner Fähigkeiten. Nach der Hochschulreife war ein Studienplatz garantiert, nicht ausschließlich nach den eigenen Wünschen, sondern abhängig von den schulischen Leistungen und dem gesellschaftlichen Bedarf. Man bildete nur so viele Fachkräfte aus, wie die Gesellschaft benötigte. Das Resultat: ein gesicherter Arbeitsplatz im erlernten Beruf für die Absolventen und ein effizienter Umgang mit vorhandenen Ressourcen, die auch in anderen Bereichen der Gesellschaft benötigt wurden. Auch entfiel der Druck zum sozialen Aufstieg, denn Gleichheit war garantiert, alltäglich spürbar im Respekt gegenüber Hand- wie Kopfarbeit, der sich in den, im Vergleich zu heute, um ein Vielfaches geringeren Unterschieden in den Löhnen widerspiegelte.</p><p>Das <i>Gesundheitswesen</i> war effizient organisiert, um die medizinischen Bedürfnisse der Bevölkerung auf modernstem Niveau zu befriedigen. Es gab <b>eine</b> staatliche Krankenkasse, Polikliniken, in denen alle medizinischen Fachrichtungen einer ambulanten Betreuung ortsnah konzentriert waren. Grundsätzlich setzte man auf Prävention statt auf eine Gerätemedizin, die Menschen heilen soll, die zuvor vielfach zu krankmachendem Konsum animiert wurden und mit der wieder viel Geld verdient werden kann. Natürlich gab es auch die hochspezialisierten Kliniken in der DDR, für die es aufgrund des gemeinwohlorientierten Ansatzes der Gesellschaft weniger Bedarf gab.</p><h2>…mit Perspektive, Kitaplatz und Zentralheizung</h2><p>Im <i>volkseigenen Wohnungswesen</i> war die <a href="https://www.helle-panke.de/de/topic/158.publikationen.html?productId=62483">W</a><a href="https://www.helle-panke.de/de/topic/158.publikationen.html?productId=62483">ohnung</a><a href="https://www.helle-panke.de/de/topic/158.publikationen.html?productId=62483">sfrage</a><a href="https://www.helle-panke.de/de/topic/158.publikationen.html?productId=62483"> als soziales Problem</a> Ende der 80er Jahre gelöst. Kosten und Nutzen ins Verhältnis setzend, war es der Plattenbau am Stadtrand, weniger die Sanierung der Altbauen, sondern ihr teilweiser Abriss, der zu diesem Ergebnis führte - eine Methode übrigens, die zur selben Zeit auch in Westdeutschland Anwendung fand. Dass genug gebaut wurde (und das grundsolide und langlebig), kann man heute sehr einfach daran erkennen, dass wegen des massiven Bevölkerungsschwundes in Ostdeutschland Wohngebäude abgerissen, „zurückbaut“ werden, um einen Marktzustand herzustellen, der Rendite für private Wohnungsunternehmen garantiert. Um diesen eigentlich absurden Vorgang in Zeiten exorbitant steigender Wohnungsmieten zu legitimieren, ist es auch in dieser Frage dann wieder eine sich mehrheitlich als linksliberal verstehende Mittelschicht, die die dafür notwendige Begründung für den DDR-Kontext produziert: grundsätzliche hässliche Architektur, fast schon menschenunwürdig, weil, wie man ja heute sieht, Orte der sozialen Ausgrenzung und damit Grundlage für Diskriminierung. Ein Argument von Gut-Situierten, die ansonsten die Architektur der Bauhaus-Moderne für ihr Eigenheim als Gipfel der Ästhetik verstehen. Eine industrielle Großsiedlungsform mit viel Licht, Luft und Grün für alle ist aber eine zu beendende autoritäre Anmaßung. Eine Pseudo-Kritik, die sich gesellschaftlichen Ursachen von sozialen Lagen verweigert, sie vielmehr durch eine Umkehr von Ursache und Wirkung verschleiert.</p><p>Teil der gelösten Wohnungsfrage waren in der DDR selbstverständlich die Mietpreise: eine Drei-Zimmer-100qm-Altbauwohnung mit Ofenheizung kostete kalt circa 100 DDR-Mark, die Neubauwohnung etwas mehr. Das war natürlich nicht kostendeckend. Das musste es auch nicht, denn sie wurde wie vieles andere vom Staat subventioniert, aus der sogenannten zweiten Lohntüte, die nicht ausgezahlt wurde. Von allen erwirtschaftet, für alle.</p><h2>Die schwierigen Themen</h2><p>Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungswesen, der Zugang zu Kunst, Kultur und Sport und so weiter, all die sozialen Errungenschaften sind Wohlfühlthemen, wenn es um eine Einschätzung der DDR für Unvoreingenommene geht. Zwar versuchen die bürgerlichen Medien es auch hier mit dem Umdeuten offensichtlich positiver Maßnahmen, doch die Argumentationen klingen zunehmend gewollter, und nicht nur für in der DDR Sozialisierte immer absurder.</p><p>Aber bei vielen Linken verfängt das Diktatur-Argument. Der Weg ist dann nicht weit bis zur Assoziation mit der Sozialpolitik im Dritten Reich, nur für Arier, das in der Kampf-Begrifflichkeit der „zwei deutschen Diktaturen“ seine Entsprechung findet. Aber egal, ob man dem zustimmt, so demokratisch wie es heute im zwar „bösen“ Kapitalismus zugeht, sei es in der „SED-Diktatur“ ja nun wahrlich nicht gewesen und in der Öffentlichkeit hätten alle nur geflüstert, wegen der Staatssicherheit und so. Das Ertragen der Unfreiheit hätte sich das „Regime“ über soziale Zugeständnisse erkauft. So, oder so ähnlich, ist die Erzählung.</p><p>Jenseits von Sozialpolitik betritt die wohlwollende Betrachter*in von DDR-Realitäten aber unsicheres Terrain. Themen, wie Demokratie, Zivilgesellschaft, Meinungs-, Presse- und Reisefreiheit versucht man lieber zu umgehen, weil dies zwangsläufig zum Hinterfragen westlich-bürgerlich-liberaler Gesellschaften und ihrer wie eine Monstranz vor sich hergetragener „Werte“ führen müsste.<br/></p><p><i>Ende des Monats erscheint die Fortsetzung, in der wir uns mit diesem unsicheren Terrain beschäftigen.</i></p><hr/><h3><b>Anmerkungen:</b></h3><p><b>[1]</b> Zum Thema Treuhand siehe auch: <a href="https://www.zeroone.de/movies/goldrausch-die-geschichte-der-treuhand/">https://www.zeroone.de/movies/goldrausch-die-geschichte-der-treuhand/</a></p><h3><b>Quellen:</b></h3><p><b>[2]</b> <a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/38373">Heske, Gerhard: Wertschöpfung, Erwerbstätigkeit und Investitionen in der Industrie Ostdeutschlands, 1950-2000. Daten, Methoden, Vergleiche. Historical Social Research, 38(4), 2013</a>, S. 29.</p><p><b>[3]</b> <a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/38373">Ebd.</a> S. 25.</p><p><b>[4]</b> <a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/28587">Heske, Gerhard</a>:<a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/28587"> Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung DDR 1950-1989: Daten, Methoden, Vergleiche. Historical</a> <a href="https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/28587">Social Research, Supplement, 21, 2009</a>, S. 248.</p><p><b>[5]</b> Unentdecktes Land e.V.: Ausstellungskatalog „Unentdecktes Land“, 2019, S. 22.</p><p><b>[6]</b> Ebd. S. 6.</p><p><b>[7]</b> Nobert Podewin (Hrsg.): Braunbuch: Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West), Berlin 1968.</p><p></p><hr/><p>Bildlizenz: <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(CC BY-NC 2.0)</a></p></div>
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Was wir über die anstehenden Kommunalwahlen in Italien wissen sollten2021-10-01T08:04:56.896716+00:002021-10-01T08:04:56.896716+00:00Maurizio Coppolaredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/was-wir-%C3%BCber-die-anstehenden-kommunalwahlen-in-italien-wissen-sollten/
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<h1>Was wir über die anstehenden Kommunalwahlen in Italien wissen sollten</h1>
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<div class="rich-text"><p>An diesem Wochenende gehen die Menschen in Italien zum zweiten Mal seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie an die Urnen. Am 3. und 4. Oktober 2021 werden rund 14 Millionen von ihnen in 1.342 Städten und Gemeinden Italiens ihre Bürgermeister:innen sowie die Stadt- und Gemeinderät:innen wählen.</p><p>Ähnlich wie bei den Regionalwahlen im September 2020 handelt es dabei wieder um „unpolitische Wahlen“: Die Wahldebatten im Vorfeld konzentrierten sich vor allem auf persönliche Geschichten der Kandidat:innen, welche Kandidat:innen auf welchen Wahllisten stehen – und daher welche Klientele hinter welcher politischen Strömung stehen – und auf alle möglichen Skandale, in die Einzelpersonen oder Parteien verwickelt sind, anstatt die tatsächlichen politischen Programme der Parteien und ihrer Kandidat:innen zu thematisieren. In den meisten Städten scheint es, als würden die Wahlen überhaupt nicht wahrgenommen werden.</p><h2><b>Die Zentralregierung der Experten</b></h2><p>Dabei finden die Wahlen in einer ziemlich komplexen politischen Situation statt: Seit Februar 2021 hat Italien eine Regierung der so genannten „nationalen Einheit“ unter der Führung des Ministerpräsidenten und ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Die Hauptaufgabe dieser „Regierung der Experten“ ist es, einen Weg aus der aktuellen Krise zu finden. Draghi will zum einen das Wirtschaftswachstum und den Schuldenabbau fördern und die Bürokratie abbauen, die derzeit angeblich die „Freiheit des Unternehmertums“ erschwert – und zum anderen die Eindämmung des Coronavirus gewährleisten.</p><p>Obwohl es sich bei dieser sogenannten „Regierung der Besten“ um eine technische Regierung handelt, bedeutet dies nicht, dass sie Reformen ohne jede Opposition durchsetzen kann. Ganz im Gegenteil. Politik ist keine technische Frage, sondern eine Frage von Klasseninteressen und Machtverhältnissen. Und Mario Draghi <a href="https://revoltmag.org/articles/italien-repression-gegen-arbeitsk%C3%A4mpfe/">entpuppt sich</a> als verlängerter Arm der <i>Confindustria</i>, des wichtigsten Verbandes der Industrie- und Dienstleistungsunternehmen in Italien, und dessen neoliberaler Politik.</p><p>Ende Juni 2021 schaffte Draghi den zu Beginn der Pandemie eingeführten Kündigungsschutz ab. Die <i>Confindustria</i>, die großen Gewerkschaften und die Regierung versprachen gemeinsam, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine Entlassungswelle zu vermeiden – aber die Privatunternehmen nutzten die Abschaffung des Arbeitnehmerschutzes natürlich dazu, um Arbeiter:innen zu entlassen und ganze Produktionsstätten in Drittstaaten zu verlagern.</p><p>Offiziell hat die Zahl der Arbeitslosen in Italien seit Beginn der Pandemie um eine Million Menschen zugenommen; aktuell steigt die Arbeitslosigkeit weiter an. Es finden wichtige Arbeiter:innenproteste (bei <a href="https://www.facebook.com/insorgiamoconilavoratorigkn">GKN</a>, <a href="https://poterealpopolo.org/whirlpool-non-abbassiamo-la-guardia-la-lotta-continua/">Whirlpool</a> und vielen anderen Betrieben) und politische Kampagnen gegen <a href="https://poterealpopolo.org/fermiamo-le-delocalizzazioni/">Standortverlagerungen</a> statt. Die Regierung zögert allerdings, sich gegen die Interessen des Kapitals zu stellen und setzt die neoliberale Politik fort. Aufgrund dieses Widerspruches zwischen tatsächlichen Bedürfnissen der Arbeiter:innen und den politischen Antworten der Regierung nehmen die sozialen Spannungen weiter zu.</p><h2><b>COVID-19-Beschränkungsmaßnahmen</b></h2><p>Den <a href="https://ourworldindata.org/covid-vaccinations">offiziellen Statistiken</a> zufolge hat Italien eine der höchsten Impfraten in Europa. Diese Tatsache ist auf die rigorose Impfpolitik von Premierminister Draghi zurückzuführen. Letzte Woche wurde damit begonnen, gefährdeten Personen die dritte Impfdosis zu verabreichen; zudem führte die Regierung einige Maßnahmen ein, um noch mehr Menschen zum Impfen zu bewegen: Die COVID-19-Impfbescheinigung ist in Restaurants und im Fernverkehr erforderlich und wird ab dem 15. Oktober für Angestellte des öffentlichen Dienstes obligatorisch sein.</p><p>Die restriktiven Maßnahmen gegen COVID-19 führen zu sozialen und politischen Spaltungen. Regelmäßig kommt es zu sozialen Protesten, die von der so genannten Anti-Vax-Bewegung organisiert werden. Auch wenn sie nicht sehr zahlreich sind, ziehen sie die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit aufgrund der zunehmenden Erwerbslosigkeit und der Verarmung einer breiten Bevölkerungsschicht an. Außerdem nutzt die extreme Rechte die Straßenaktionen gegen die Linie der Regierung dazu, sich in die Proteste einzumischen und ihre reaktionären Positionen zu verbreiten.</p><p>An diesen restriktiven Maßnahmen entzündet sich die Spaltung der institutionellen Rechten. Matteo Salvinis Partei <i>Lega</i>, die lange Zeit die wichtigste Partei in der politischen Landschaft Italiens war, ist intern in Fraktionen gespalten: die erste versucht, aus der allgemeinen sozialen Unzufriedenheit der Menschen im Zusammenhang mit den restriktiven Maßnahmen und der Impffrage Kapital zu schlagen. Sie sind darauf aus, mit der „Regierung der nationalen Einheit“ zu brechen und vorgezogene Neuwahlen zu forcieren. Die zweite stellt sich stärker auf die Seite der technischen Regierung von Mario Draghi, um auf diese Weise die Rechte der Arbeiter:innen abzubauen und die wirtschaftlichen Interessen des Kapitals zu verteidigen.</p><h2><b>Rekonfiguration von Mitte-Links und Mitte-Rechts</b></h2><p>In diesem allgemeinen Kontext werden die wichtigsten italienischen Städte ihre neuen Bürgermeister:innen und Stadträt:innen wählen. Vor allem in Städten wie Mailand, Turin, Bologna, Rom und Neapel werden die Wahlen ein Indikator für das Vertrauen der Bevölkerung in die führenden Parteien sein.</p><p>Die <i>5-Sterne-Bewegung (M5S)</i>, die lange als <i>die</i> populistische Option Italiens galt und bei den nationalen Wahlen 2018 die stärkste Partei war (sie konnte damals 32,68 Prozent der Stimmen auf sich vereinen), hat in den letzten zwei Jahren an Zustimmung verloren. <a href="https://www.openpolis.it/come-sondaggi-ed-elezioni-amministrative-influenzano-lazione-dei-partiti/">Umfragen</a> schätzen ihr aktuelles Stimmenpotenzial auf etwa 15 bis 16 Prozent ein. Als die Koalition mit der Lega im September 2019 (die erste Regierung von Guiseppe Conte (M5S)) zerbrach, rückte eine erhebliche Anzahl von Abgeordneten nach rechts. In Zusammenarbeit mit der <i>Demokratischen Partei</i> (PD) (zweite Conte-Regierung, von September 2019 bis Februar 2021) setzten sie eine Mitte-Links-Koalition durch und wurden zu einem festen Bestandteil davon. Es war die Rückkehr des <a href="https://hessen.rosalux.de/news/id/43253/wohin-steuert-italien-nach-den-ersten-wahlen-der-corona-krise?cHash=e8130a668e6d7830b8a0e4639cd9f1b3">Bipolarismus</a> in Italien.</p><p>Obgleich M5S und die PD die Mitte-Links-Koalition der Regierung von Mario Draghi unterstützen, treten sie in drei von fünf Großstädten bei den aktuellen Kommunalwahlen getrennt an. In den Städten, in denen die 5-Sterne-Bewegung in der letzten Legislaturperiode das Bürgermeisteramt errungen hat, etwa in Turin (Chiara Appendino) und Rom (Virginia Raggi), wird sie nun aller Voraussicht nach eine vernichtende Niederlage erleiden – und riskieren, beide Städte an die Mitte-Rechts-Kandidaten zu verlieren.</p><p>Die Demokratische Partei beschloss indes, in Mailand allein anzutreten. Der derzeitige Bürgermeister Beppe Sala wird dort bestätigt werden, wahrscheinlich sogar in der ersten Runde. In Neapel und Bologna, wo die beiden Parteien jeweils in einer Koalition mit einem Bürgermeisterkandidaten der PD antreten, wird ihre Mitte-Links-Koalition wahrscheinlich die Wahlen gewinnen. Die Ergebnisse werden ein starkes koalitionsinternes Signal sein und die dominante Rolle der Demokratischen Partei in der Mitte-Links-Koalition stärken.</p><p>Nicht zuletzt: In allen größeren Städten treten die Rechten in einer Mitte-Rechts-Koalition aus den drei großen Parteien <i>Forza Italia</i>, Lega und <i>Fratelli d’Italia</i> (Brüder Italiens, unter der Führung von Giorgia Meloni) an. In den jüngsten nationalen Umfragen erreichten die drei Parteien etwa 45-47 Prozent der Stimmen, wobei die neofaschistischen „Brüder Italiens“ Salvinis Lega überholt haben und über 20 Prozent erreichen. Diese Verschiebung hat weniger Bedeutung für die aktuellen Kommunalwahlen als für die künftigen nationalen Wahlen, bei denen Giorgia Meloni die Führung von Matteo Salvini in der Mitte-Rechts-Koalition herausfordern wird.</p><h2><b>Weiterreichende Auswirkungen der Kommunalwahlen</b></h2><p>Neben der Analyse der allgemeinen Zustimmungen für die Parteien gibt es bei diesen Kommunalwahlen zwei weitere wichtige Herausforderungen. Erstens: Wer auch immer die Kommunalwahlen gewinnt, wird sich als potenziell führende Partei für die für 2023 geplanten nationalen Wahlen bestätigen. Ein gutes Ergebnis bei diesen Kommunalwahlen wird den Weg in die nächste Legislaturperiode ebnen.</p><p>Der zweite Punkt betrifft die Verteilung der Gelder aus dem Europäischen Konjunkturprogramm/Next Generation EU. Die italienische Regierung hat einen Nationalen Konjunktur- und Resilienzplan (Pnrr) ausgearbeitet, der im Wesentlichen ein <a href="https://italy.representation.ec.europa.eu/notizie-ed-eventi/notizie/nextgenerationeu-la-commissione-europea-approva-il-piano-la-ripresa-e-la_it">Investitionsplan</a> für die 191,5 Milliarden Euro ist, die von der Europäischen Union zur Überwindung der aktuellen Krise, zur Wiederbelebung des Wirtschaftswachstums und zur Anpassung der institutionellen Settings bereitgestellt werden.</p><p>Ein großer Teil des Geldes ist für Infrastrukturprojekte, den ökologischen Umbau sowie den Übergang hin zu einer grünen Wirtschafts- und Stadtentwicklung vorgesehen. Der Investitionsplan wird zwar auf nationaler Ebene entworfen; die Verwaltung der Mittel erfolgt aber auf regionaler und lokaler Ebene. Mit anderen Worten: Diese Mittel zu verwalten bedeutet, eine enorme Geldmenge zu kontrollieren. Das wiederum bedeutet, sich mit dem Geld parlamentarische Mehrheiten gewährleisten zu können und diejenigen Klientele zu bedienen, die die Stimmen gegeben haben.</p><h2><b>Und die Linke?</b></h2><p>Die italienische Linke wählt bei diesen Wahlen zwei verschiedene Optionen. Eine davon ist <i>Sinistra Italiana</i>, eine politische Partei, die 2017 aus einer Abspaltung von der Demokratischen Partei, einem Zusammenschluss mit Sinistra Ecologia e Libertà und unter Beteiligung von ehemaligen Politiker:innen der 5-Sterne-Bewegung entstanden ist. Sinistra Italiana hat sich in die Wahllisten der linken Mitte integriert, um, wie der Parteivorsitzende Nicola Fratoianni es ausdrückte, „eine unabhängige linke politische Option in einer Koalition mit der Demokratischen Partei und der 5-Sterne-Bewegung“ aufzubauen.</p><p>Mit der Unterstützung der Mitte-Links-Koalition wird Sinistra Italiana allerdings zur Krücke des links angemalten Neoliberalismus der Demokratischen Partei. Sie ignoriert die Wende, die die PD in den letzten zwanzig Jahren vollzogen hat: Während ihrer Regierungszeit baute sie Arbeiter:innenrechte ab, unterstützte größenwahnsinnige und unnötige Infrastrukturprojekte, trug zur Umweltzerstörung bei und errichtete Mauern gegen Migrant:innen. In der Mitte-Links-Koalition gibt es keinen Platz für eine alternative linke Politik.</p><p>Die Partei<i> Potere al Popolo</i> hat stattdessen beschlossen, entweder allein (Mailand, Bologna, Rom) oder in Koalition mit progressiven Listen, die unabhängige Bürgermeisterkandidat:innen unterstützen (Turin und Neapel), an den Wahlen teilzunehmen. Unabhängig von der taktischen Erwägung, allein oder in einer unabhängigen Koalition anzutreten, besteht der Grundgedanke darin, eine Alternative zum entstandenen Bipolarismus zu schaffen: eine Alternative zur konservativen und neofaschistischen Mitte-Rechts-Politik und eine Alternative zum Neoliberalismus von Mitte-Links. Beides sind unterschiedliche Seiten ein und derselben Medaille.</p><p><i>Potere al Popolo</i> macht deutlich, dass es nicht möglich ist, eine solche Alternative einzig mittels Vereinbarungen zwischen zentralen Figuren linker Parteien und Wahlkoalitionen aufzubauen. Eine linke Alternative braucht ein neues politisches Projekt, das im sozialen Gefüge verwurzelt ist, welches Kommunist:innen organisieren wollen: prekär beschäftigte Arbeiter:innen, Frauen*, Migrant:innen und andere.</p><p>So gesehen haben Wahlen eine doppelte Aufgabe: Erstens, die öffentliche Aufmerksamkeit von Wahlen zu nutzen, um von den Menschen wahrgenommen zu werden. Das bedeutet, die popularen Kämpfe zu intensiveren und das politische Programm der Partei in Bezug auf die Menschen auszurichten; zweitens, in die Kommunalparlamente gewählt zu werden, um den Alltag des bürgerlichen Spektakels zu stören und so die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen, um die Stimme des Volkes und der sozialen Kämpfe in die Institutionen zu bringen. Es ist genau dieses politische Spannungsfeld, in dem sich Potere al Popolo heute bewegt.</p><hr/><h3><b>Anmerkung:</b></h3><p>Der Artikel erschien am 29. September 2021 bei<i> Peoples’ Dispatch</i> <a href="https://peoplesdispatch.org/2021/09/29/what-to-know-about-the-upcoming-local-elections-in-italy/">„<b>What to know about the upcoming local elections in Italy”</b></a>. Er wurde von Johanna Bröse ins Deutsche übersetzt und an einigen Stellen vom Autor ergänzt. </p></div>
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Wohnungsfrage reloaded - 150 Jahre Wohnen als Ware2021-09-08T17:01:23.420806+00:002021-09-09T09:53:18.901209+00:00Laura Müllerredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/wohnungsfrage-reloaded-150-jahre-wohnen-als-ware/
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<div class="rich-text"><p></p><p><i>Im Jahr 1872/73 schrieb Friedrich Engels einen</i> <a href="http://www.mlwerke.de/me/me18/me18_209.htm"><i>Aufsatz</i></a><i> über die Wohnungsnot in den Industriestädten des 19. Jahrhunderts, ihre Ursachen und die jämmerlichen Versuche der Sozial-Bourgeoisie einer sogenannten Lösung der Wohnungsfrage. Fast 150 Jahre später, im Jahr 2021, gründet sich in Berlin-Friedrichshain eine kleine Anwohner*inneninitiative, die den Luxus-Bauprojekten von Großinvestor*innen im Kiez den Kampf ansagt.</i><br/> <i>Der folgende Artikel begibt sich über Engels‘ Aufsatz zu den Ursprüngen der Wohnungsfrage, die heute erneut zu einem der drängendsten sozialen Anliegen und dem bestimmenden Wahlkampfthema der Bundestagswahl 2021 geworden ist und zeigt ihre historische Kontinuität auf. Die Aufbereitung von Engels‘ Text und die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen für gegenwärtige Mietenkämpfe rahmen dabei ein Interview mit der Mieter*inneninitiative „Wem gehört der Laskerkiez?“, die die Wohnungsfrage ganz aktuell und praktisch stellt.</i></p><p></p><h2><b>Die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert</b></h2><p></p><p>„Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietpreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt eine Wohnung zu finden.“[1] Dieses Phänomen kommt uns heute mehr als bekannt vor. Die Wohnungsnot ist in aller Munde und selbst marktradikale und konservative Politiker*innen können die Augen nicht mehr davor verschließen, dass erschwinglicher Wohnraum zunehmend Mangelware wird. Sie füllen daher ihre Wahlkampfprogramme für die kommende Bundestagswahl mit mehr oder (vor allem) weniger sinnvollen Vorschlägen, wie das Problem anzugehen sei. Diese drehen sich vornehmlich um Investitionsanreize für privaten Wohnungsbau und die Förderung von Wohneigentum und befeuern damit die Mechanismen weiter, die überhaupt erst zur massiven Verschärfung der Wohnungsfrage geführt haben, wie im Folgenden deutlich wird. Die Beschäftigung mit Friedrich Engels‘ Text ist dabei lohnenswert, weil er so frappierende Parallelen zur Gegenwart aufzeigt und seine Analyse kaum an Aktualität eingebüßt hat.<br/> Engels verortet die Wohnungsfrage innerhalb der sozialen Frage, die durch die sich zuspitzenden sozialen Widersprüche im Kapitalismus aufgeworfen wird. Und auch gegenwärtig strahlt in der Debatte um die zunehmende soziale Ungleichheit innerhalb westlicher Gesellschaften ein Spotlight auf die Frage nach erschwinglichem Wohnraum und macht damals wie heute „nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“ Trifft nun der Umstand, dass Kapitalist*innen kein Interesse an sozial verträglichem Wohnungsbau haben, da sich mit Luxusbauten oder Geschäftsgebäuden mehr Profit machen lässt, auf einen weitestgehend unregulierten Wohnungsmarkt, so ist das Ergebnis stets das Gleiche: Rasch steigende Mietpreise, die zur Verdrängung der ansässigen Bevölkerung an den Stadtrand und/oder zur Zusammendrängung der Wenigverdiener*innen in zu kleine Wohnungen führt. Im 19. Jahrhundert zog das zahlreiche üble Konsequenzen nach sich, wie zum Beispiel die rasante Ausbreitung von Seuchen innerhalb dieser Viertel. Ein Übergreifen auf gut situierte Stadtteile blieb oft nicht aus und erst dann entdeckte auch die Bourgeoisie ihre Menschenliebe und setzte an, den schlimmsten Missständen Abhilfe zu verschaffen. Ihre Entsprechung finden diese Vorgänge in der Gegenwart in den völlig überbelegten Wohncontainern für Gastarbeiter*innen, die in den bürgerlichen Nachrichten und der Politik erst problematisiert wurden, als sie durch Massenansteckungen mit dem Corona-Virus zur Gefahr für alle wurden.<br/> Im Zusammenhang mit den miserablen Wohnverhältnissen der Arbeiterklasse waren schon Engels die bürgerlichen Bestrebungen, die Innenstädte schöner und wohnlicher zu machen, für die sich die Bourgeois selbst feierten, bekannt, welche allerdings lediglich zu einer Verlagerung sozialer Brennpunkte an einen anderen Ort führten. Engels nannte es „Praxis des Breschelegens“, wir kennen das heute als Gentrifizierung.<br/> Nichtsdestotrotz, so konstatiert Engels, werden die Missstände, die mit der Wohnungsfrage einhergehen, im Kapitalismus mit ökonomischer Notwendigkeit immer wieder neu erzeugt. Mietwucher und die Spekulation mit Wohnraum entspringt nicht bzw. nicht notwendigerweise der mangelnden Moralität der Grundeigentümer*innen, wie Formulierungen wie „Miethaie“ leicht suggerieren. Vielmehr sind sie Resultat der Konkurrenzsituation auf dem kapitalistischen Wohnungsmarkt, die Eigentümer*innen dazu drängt, aus ihren Wohnungen möglichst hohen Profit zu schlagen, um auf dem Markt gut mithalten zu können. Insofern gilt: Wo Wohnen Ware ist, herrscht Wohnungsnot.</p><h2><b>Wohneigentum kann nicht die Antwort sein</b></h2><p>Engels zieht das Fazit, dass sich die Wohnungsfrage innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise nicht lösen lässt – vor allem nicht durch die von Politiker*innen verschiedener Spektren gern vorgebrachte Idee, man müsse Arbeiter*innen nur in die Lage versetzen, Wohneigentum erwerben zu können. Diese Schlussfolgerung ist auf Basis einer materialistischen Gesellschaftsanschauung, also der Betrachtung und Analyse von Gesellschaften anhand der in ihnen herrschenden Produktions- und Klassenverhältnisse, absolut treffsicher: Im Kapitalismus richtet sich die Höhe des Arbeitslohns im Durchschnitt nach den Kosten für die Reproduktion der menschlichen Arbeitskraft. Entfallen durch Wohneigentum die Kosten für Unterkunft der Arbeiter*innen, werden mittel- bis langfristig die Löhne sinken, weil dadurch die Reproduktionskosten der Arbeitskraft geschmälert werden. Eine Verbesserung in den Lebens- und Vermögensverhältnissen ist bei einer flächendeckenden Etablierung von Wohneigentum daher nicht zu erwarten. Und weiter: Wohneigentum kettet die Arbeiter*innen an die heimische Scholle und zementiert damit ihre Abhängigkeit von Arbeitgeber*innen bzw. Kapitalist*innen. Das ist durchaus Teil des bourgeoisen Kalküls. Je größer die Abhängigkeit der Arbeitenden von den Kapitalist*innen, desto mehr Gehorsam ist von ihnen zu erwarten. Letztlich zielt diese Strategie also darauf ab, Klassenkämpfe zu unterminieren. Die Förderung von Wohneigentum findet sich übrigens in unterschiedlicher Ausformung in den Wahlprogrammen <i>aller</i> großen Parteien, außer bei die Linke.</p><p></p><p>Die Relevanz von Engels‘ Aufsatz trotz seines beachtlichen Alters von 150 Jahren ist also augenscheinlich. Die Hervorbringung der Wohnungsnot vollzieht sich – wenn auch neoliberal modifiziert – immer noch nach den gleichen kapitalistischen Mechanismen. Ebenso aktuell ist somit der Widerstand gegen die Profitmacherei mit Wohnraum und Bauflächen und gegen soziale Verdrängung. In Berlin-Friedrichshain gründete sich in diesem Jahr eine Anwohner*innen-Initiative, die ihren Kiezkampf im folgenden Interview vorstellt.</p><p></p><hr/><p></p><hr/><p></p><h2><b>„…und zwei Wochen später lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten.“</b></h2><h3><b>Interview mit Amanda und Timo von "Wem gehört der Lasker Kiez"</b></h3><p></p><p><b>re:volt: Eure Mieten-Ini „Wem gehört der Lasker Kiez“ hat sich Anfang diesen Jahres gegründet. Was war der Anlass und warum braucht es eine weitere Anwohner:innen-Initiative in Berlin?</b></p><p><b>Timo:</b> Unsere Initiative ist im Lasker-Kiez im Süden Friedrichshains aktiv. Ich lebe jetzt seit fünf Jahren hier und bisher war es immer so, dass dieser Südzipfel von Friedrichshain noch nicht so krass von der Gentrifizierung betroffen war wie zum Beispiel die Gegend weiter nördlich um den Boxhagener Platz herum. Ende letzten Jahres fing es an, dass hier einige der alten Autohäuser abgerissen wurden und irgendwelche steinreichen Unternehmen ankündigten, hier Luxusbüros aus dem Boden zu stampfen. Es ging los mit der Pandion AG, dem viertgrößten sogenannten Immobilienentwickler in Deutschland, der hier den „Ostkreuz Campus“ errichten will. Wir mussten feststellen, dass im Kiez mehrere solcher Luxusbürogebäude in Planung waren, zum Beispiel auch neben der alternativen Bar „Zukunft am Ostkreuz“. Als wir gemerkt haben, dass das Viertel hier von irgendwelchem Luxusbüroscheiß umringt werden soll, kam der Stein ins Rollen. Gleichzeitig gibt es hier eine ziemlich coole Nachbarschaft – wir haben das Hausprojekt Bödi um die Ecke, dann eine Bar, in der Veranstaltungen zu linken und sozialen Themen stattfinden, den selbstverwalteten Bürger:innengarten Laskerwiese, einen Jugendclub, diverse coole Spätis – und das soll auch so bleiben! Es fehlte eigentlich nur an der Organisierung. Wir waren halt nicht connected und konnten so die Informationen nicht streuen. Unser Ziel war also, die Leute aus der Nachbarschaft an einen Tisch zu bringen, um gemeinsam gegen diese Bauprojekte vorzugehen. Denn gefragt haben diese Unternehmen natürlich nicht und auch von der Politik hat man erstmal nichts dazu gehört.</p><p></p><p><b>re:volt: Von welchen Bauvorhaben sprecht ihr da konkret?</b></p><p><b>Timo:</b> Da ist einmal der „Ostkreuz Campus“ von Pandion, den ich bereits erwähnte. Das ist ein Terrain, etwa so groß wie zwei Fußballfelder, auf dem ein Bürokomplex entstehen soll. Die besondere Widerlichkeit bei Pandion ist, dass sie dreist behaupten, dass ihr Bau gut für das Viertel wäre. Aber wenn wir ein paar Kilometer weiter in den Nachbarbezirk Kreuzberg blicken, wo Pandion schon Gebäude mit so wohlklingenden Namen wie „The Grid“ und „The Shelf“ gebaut hat, können wir feststellen, dass schon während des Baus dieser High-End-Immobilien die Mieten in den umliegenden Wohnungen massiv angezogen wurden.<br/> Außerdem will das Unternehmen Trockland zwei Büroklötze links und rechts neben der Bar „Zukunft am Ostkreuz“ errichten. Und Adam Europe Real Estate will am Markgrafendamm 400 Mikroapartments und ein als „Boarding House“ bezeichnetes hotelähnliches Apartmentgebäude bauen. „RFR Development GmbH“ baut am Urban-Spree-Komplex weiter, da war noch eine Fläche frei. Daneben stehen auch schon Gebäude mit Eigentumswohnungen, die jede so etwa eine Million Euro kosten. Es gibt noch ein paar weitere Projekte, aber das sind die größten Player.</p><p></p><p><b>re:volt: Was ist im Speziellen eure Kritik an den Bauprojekten und welche Folgen befürchtet ihr durch ihre Realisierung für den Kiez?</b></p><p><b>Amanda:</b> Zum einen kritisieren wir, dass die Anwohner:innen, insbesondere von der Politik, nicht einbezogen werden. Gerade die Menschen, die hier wohnen, sollten einfach ein Recht zur Mitsprache und Mitbestimmung haben, ihre Wünsche äußern können. In einer Demokratie sollte das doch selbstverständlich sein. Die Lebensumstände der hier ansässigen Menschen werden durch Pandions angeblich geplante offene Cafeteria nicht verbessert. Niemand hier braucht überteuerten Latte Macchiato. Auf Nachfrage musste Pandion auch zugeben, dass der beworbene begrünte Innenhof verschließbar sein wird, um das Hausrecht ausüben zu können – sprich: unliebsame Personen jederzeit vertreiben zu können. Zum anderen ist klar geworden, dass die Investor:innen auch die örtliche Infrastruktur verdrängen. Es haben bereits zwei Supermärkte dichtgemacht. Hinzu kommt natürlich die Verdrängung lokaler Initiativen wie des Gartens Laskerwiese und des „Zukunft am Ostkreuz“. Die Räumlichkeiten letzterer wurden kürzlich gekündigt und da reibt sich der Investor Trockland schon die Hände und will sich dieses Grundstück zwischen seinen zwei geplanten Bürotürmen wahrscheinlich auch noch sichern. Dagegen müssen wir uns wehren und ganz klar signalisieren, dass wir das nicht wollen.</p><p><b>re:volt: Der Bezirk ist ja eigentlich seit Jahren grün regiert und die Grünen schmücken sich auch gern mit einer sozialen Politik, aber wie haben denn nun die politisch Verantwortlichen auf die Bauprojekte und auf eure Initiative reagiert?</b></p><p><b>Amanda:</b> Unterschiedlich. Es ist ja Wahljahr und da ließen sich auch ein paar Politiker:innen bei unseren Kundgebungen blicken und haben große Reden geschwungen. Dabei blieb es aber auch. Die Grünen haben sich zwar geäußert, aber verweisen eigentlich immer nur auf’s Bundesrecht. Sie meinen also, der Bezirk sei nicht zuständig und dass die Frage der Bebauung auf Bundesebene gelöst werden müsse. Sie entziehen sich damit ihrer Verantwortung.</p><p><b>Timo:</b> Das Absurde ist, dass im Grunde keine Partei mehr etwas an den Unternehmensplänen ändern kann. Das hätte viel früher geschehen müssen. Aber die Unternehmen haben diese Flächen vor Jahren erworben und haben das Baurecht. Lediglich eine Einzelperson bei den Grünen hat sich für einen qualifizierten Bebauungsplan eingesetzt, durch den eine teilweise kulturelle Nutzung der Flächen sichergestellt werden soll. Aber letztlich werden diese Luxusbauprojekte halt kommen und keine Partei steht dafür ein, sie zu verhindern. Das ist natürlich bitter. Für die Nachbarschaft ist es ein Schlag ins Gesicht – ebenso wie Pandions Behauptung, diesem selbsternannten „Partner für Lebensräume“, etwas Gutes für den Kiez zu tun.</p><p><b>re:volt: Was hält denn eure Initiative von diesem qualifizierten Bebauungsplan?</b></p><p><b>Timo:</b> Der Bebauungsplan ist vermutlich nicht schlecht, kommt aber eigentlich zu spät. Unsere Ini steht für einen absoluten Baustopp. Es geht um scheiß Unternehmen, die hier niemand haben will. Das ist bei vielen Gesprächen unsererseits mit Nachbar:innen und bei Haustürgesprächen sehr deutlich geworden. Und es ist eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass die Menschen, die hier leben, nicht mitentscheiden dürfen, auf die wir öffentlich aufmerksam machen wollen. Nicht eine Person, mit der wir gesprochen haben, hat sich für diese Luxus-Offices ausgesprochen und deshalb stehen wir konsequent dafür, diese und ähnliche Bauvorhaben zu verhindern. Aber von der Politik wird diese Möglichkeit nicht in Betracht gezogen. Letztendlich gibt es für die Verantwortlichen ja auch rechtlich diese Möglichkeit nicht mehr. Unsere Taktik ist deshalb, am Image dieser Unternehmen wie Pandion anzusetzen und sie zu demaskieren – also zu zeigen: das sind hier nicht die netten Freunde der Nachbarschaft, sondern es sind die, die dafür sorgen, dass wir in ein paar Jahren wegziehen müssen.</p><p><b>re:volt: Wie ließen sich denn diese Flächen besser nutzen und was wünscht ihr euch für die kommende Zeit?</b></p><p><b>Amanda:</b> Was Ballungsräume wie Berlin wirklich brauchen, sind Grünflächen. Hier im Kiez gibt es nur einen begrünten Platz, den Rudolfplatz, und das reicht nicht. Es gibt zwar noch den Bürger:innengarten Laskerwiese, der aber für Lidl-Parkplätze vor einiger Zeit verkleinert wurde. Dabei sind es Grün- und Erholungsflächen, die die Lebensqualität der Menschen, die hier leben, erhalten und steigern.<br/> Was ich mir deshalb wünsche ist, dass der Druck auf die Politik auch nach der Wahl groß bleibt. Sie sollen Politik für die Menschen machen und nicht für sich selbst oder die Immobilienlobby. So sieht es im Moment aber leider nicht aus. Hier im Viertel soll es demnächst eine massive Nachverdichtung geben, bei der zwischen den Häusern noch weitere Wohnhäuser gebaut werden. Da sind zwar auch Sozialwohnungen dabei, aber bei Weitem nicht so viele, wie es bräuchte.<br/> Für unsere Ini wünsche ich mir, dass wir uns weiter vernetzen – wir sind hier im Kiez auch schon dabei.</p><p><b>Timo:</b> Die Sozialwohnungen, die Amanda angesprochen hat, sind vielen Anwohner:innen hier ein wichtiges Anliegen. Es ist kein Geheimnis, dass Berlin einen erheblichen Mangel an bezahlbarem Wohnraum hat. Die Schaffung von kommunalem, bezahlbarem Wohnraum ist also eine wichtige politische Forderung für uns. Natürlich wünschen wir uns auch einen Mietendeckel auf Bundesebene. Unsere WG hat durch den Berliner Mietendeckel 200 € im Monat gespart. Dann wurde er gekippt, es gab diese krasse Nachzahlung und zwei Wochen später lag das Wahlprogramm der FDP im Briefkasten. So ging es hier Vielen. Wir unterstützen auch die Enteignungsbestrebungen von „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“.<br/> Auf gesellschaftlicher Ebene wünschen wir uns, den Menschen nahebringen zu können, dass Gentrifizierung ein komplexes Problem ist. Das heißt, dass es bei den Bauprojekten im Kiez zwar aktuell nicht um die Wohnungen der Menschen geht, dass diese Gentrifizierungsprozesse sie aber trotzdem betreffen. Pandion, Trockland und Adam Europe bauen zwar gerade auf diesen Freiflächen, aber in der Folge wird das Viertel aufgewertet und der Mietspiegel steigt. Und in ein paar Jahren werden dann vielleicht nicht genau diese, aber x-beliebige andere Investor:innen die Wohnhäuser der Menschen kaufen und sie durch Wuchermieten verdrängen. Unser Ziel ist es, das aufzuzeigen, die Menschen auf der Straße, in den Spätis usw. anzusprechen. Wir wünschen uns, als Ini größer zu werden und letztendlich diese scheiß Unternehmen aus dem Kiez zu vertreiben.</p><p></p><hr/><p></p><p><i>Die Initiative “Wem gehört der Lasker-Kiez“ wird bei der Mietenstopp-Demo am 11.09. mit einem Redebeitrag vertreten sein.</i></p><p><i>Außerdem findet ihr sie auf</i> <a href="https://twitter.com/laskerkiez"><i>Twitter</i></a><i>,</i> <a href="https://m.facebook.com/Wem-geh%C3%B6rt-der-Laskerkiez-106754814926842/"><i>Facebook</i></a><i> und</i> <a href="https://www.instagram.com/laskerkiez/"><i>Instagram</i></a><i>.</i></p><p></p><hr/><p></p><hr/><p></p><h2><b>Die Wohnungsfrage heute</b></h2><p>Der historische Vergleich zwischen Engels‘ Beobachtungen und der heutigen Wohnungsfrage zeigt zweierlei. Zum einen wird schnell klar, dass das konkrete Erscheinungsbild der Wohnungsnot sich gewandelt hat. Während Arbeiter*innen im 19. Jahrhundert, so wie es Engels auch ausführlich in seinem Werk „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ am Beispiel Manchester beschreibt, noch in völlig überfüllten, verschmutzten und krank machenden Behausungen leben mussten, haben sich die Wohnbedingungen zumindest der Menschen, die eine Wohnung haben, demgegenüber verbessert. Als wenig ruhmreiches Gegenbeispiel sei an dieser Stelle allerdings noch einmal auf die Container-Wohnungen für Gastarbeiter*innen verwiesen, die nicht nur als Wiederkehr des industriekapitalistischen Cottage-Systems[2] gelten können, sondern insbesondere in Zeiten der Corona-Pandemie eine reale Gesundheitsgefährdung der Arbeiter*innen durch beengte Wohnverhältnisse darstellen.<br/> Was im Vergleich aber auch deutlich wird ist, dass die Mechanismen, die zu explodierenden Mieten, Wohnungsnot und erheblichem existenziellen Druck insbesondere auf die unteren Klassen führt, nach wie vor dieselben sind, wie zu Engels‘ Lebzeiten. Das liegt daran, dass ihnen die gleichen grundlegenden sozialen Verhältnisse zugrunde liegen, nämlich die der kapitalistischen Klassengesellschaft.<br/><br/></p><h2><b>Schulterschluss in der sozialen Frage</b></h2><p>Damals wie heute wird der Wohnungsmarkt größtenteils der Spekulation und Profitmacherei Weniger überlassen, was zu einem immer knapper werdenden Angebot preiswerter Wohnungen insbesondere in den Großstädten führt. Betroffen sind davon natürlich vor allem Prekarisierte, wie Geringverdiener*innen, Erwerbslose, Rentner*innen und (oft in mehrfacher Hinsicht strukturell benachteiligte) Migrant*innen, in immer weiter zunehmendem Maße aber auch bürgerliche Gesellschaftsschichten mit durchschnittlichem Verdienst. Genau darin liegt das transformatorische Potenzial der Mieter*innenbewegung. Wenn selbst ein „normales“ Gehalt nicht mehr ausreicht, um eine erschwingliche Wohnung zu finden, steigt das Problembewusstsein für die kapitalistische Wohnungsspekulation in der Gesellschaft und folglich auch der Druck, Veränderungen herbeizuführen. Erst im April diesen Jahres zeigte eine spontane Großdemonstration in Berlin anlässlich des gekippten Mietendeckels mit zehntausenden Teilnehmer*innen die enorme Mobilisierungskraft, die die Problematik inzwischen hat.<br/> Damit sind große und breit aufgestellte Mietendemos und die vielen Mieter*inneninitiativen zwar noch nicht der Beginn einer Revolution, aber doch ein deutliches Zeichen für einen gesellschaftlichen Schulterschluss in der sozialen Frage, in deren Zentrum die Wohnungsfrage erneut gerückt ist. Die politischen Folgen sind noch nicht ausgemacht. Denkbar ist zum einen die Anwendung einer sozialen Befriedungsstrategie durch die Herrschenden, bei der Konzessionen in beide Richtungen – der Mieter*innen und der Wohnungseigentümer*innen – gemacht werden und bei der die unteren Klassen wiederum leer ausgehen, während das Kleinbürgertum beruhigt ist. Ebenso können die seit Jahren laufenden Solidarisierungsprozesse in der Mieter*innenbewegung zusammen mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Druck jedoch auch den Weg zu einer bedarfsgerechten, sozial verträglichen Wohnungspolitik von unten ebnen, die die Ärmsten mit einschließt.<br/> Der Vorschlag, den individuellen Erwerb von Wohnungseigentum zu forcieren, anstatt sich der Mietenproblematik anzunehmen, ist jedenfalls ähnlich unsinnig wie zu Engels‘ Lebzeiten: nicht nur ist diese Forderung für die meisten Menschen, also die mit kleinen bis mittleren Einkommen, wegen der ebenfalls enormen Kaufpreise für Immobilien reiner Hohn, wobei die Preise bei größerer Käufer*innennachfrage sogar in noch schwindelerregendere Höhen steigen dürften. Auch wirkt diese Form der „Problemlösung“ anachronistisch angesichts sich flexibilisierender Lebensmodelle, innerhalb derer sich immer weniger Menschen dauerhaft an einen Ort binden (wollen).</p><h2><b>Mietenproteste als Absage an die herrschenden Verhältnisse</b></h2><p>Deutlich klar wird durch die historische Kontinuität und die Überschneidungen zwischen den Zuständen in den frühen 1870er Jahren und heute aber, dass eine sozial gerechte Lösung der Wohnungsfrage, bei der das Recht auf Wohnen nicht der Spekulation preisgegeben wird, innerhalb kapitalistischer Gesellschaften nicht zu erwarten ist. Sei es nun die gezielte Aufwertung von Vierteln durch Luxusbebauung, wie es der Friedrichshainer Süden gerade erlebt, oder die direktere Form der Verdrängung, nämlich der Ankauf von Wohnimmobilien durch finanzstarke Investor*innen und die folgende Entmietung, (Luxus-)Sanierung und teure Neuvermietung – die Mechanismen, die zur Wohnungsnot führen, vollziehen sich innerhalb dieses spezifischen Gesellschaftsverhältnisses stetig neu. Einhergehen kann das mit einer verschärften ökonomischen Ausbeutung von Lohnabhängigen in den betroffenen Gebieten, z.B. indem wegen steigender Ladenmieten die Arbeit intensiviert wird, um das Geschäft profitabel zu halten. Im Lasker-Kiez wurden mit Beginn der Luxus-Bauprojekte zwei Lebensmittelläden geschlossen und abgerissen. In der Folge muss ein kleiner Supermarkt tausende Haushalte versorgen, was zur völligen Überlastung der dort Beschäftigten führt.<br/> Die Proteste durch Mieter*innen-Inis wie der aus dem Lasker-Kiez sind daher letztlich immer auch eine Absage an die herrschenden Verhältnisse. Ihr Potenzial und ihre Relevanz für die Menschen unserer Gesellschaft treten durch die historische Einordnung deutlich hervor: Es geht um’s Ganze.<br/> Oder mit Engels‘ Worten: „Solange die kapitalistische Produktionsweise besteht, solange ist es Torheit, die Wohnungsfrage oder irgendeine andre das Geschick der Arbeiter betreffende gesellschaftliche Frage einzeln lösen zu wollen.“ Um schnelle Abhilfe zu schaffen und weil man irgendwo ja anfangen muss, liefert uns Engels auch einen Vorschlag für den ersten Schritt: Die Enteignung von Wohnraum und anschließende Nutzung entsprechend der Bedürfnisse der Menschen, die ihn brauchen.</p><p></p><p><i>[1] Alle Zitate sind Engels‘ Text „Zur Wohnungsfrage“ von 1872/73 entnommen.<br/>[2] Im Cottage-System mussten Arbeiter*innen in den dafür bereitgestellten Wohnungen ihrer Fabrikherren wohnen. Dieses Vorgehen erzeugte Gehorsam: streikten die Arbeiter*innen mussten sie nicht nur um ihren Arbeitsplatz, sondern auch um ihr Dach über dem Kopf fürchten.</i></p></div>
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Video: Der Antikriegstag am 01.09.2021 in Berlin-Wedding2021-09-03T10:15:00+00:002021-09-03T10:20:50.608454+00:00Redaktionredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/video-der-antikriegstag-am-01092021-berlin-wedding/
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<h1>Video: Der Antikriegstag am 01.09.2021 in Berlin-Wedding</h1>
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<div class="rich-text"><p>Die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan stehen exemplarisch für die Konsequenzen der kriegerischen Politik des Kapitals. Geopolitische Besatzung, Terror gegen die Zivilbevölkerung, Kriegsverbrechen, neokoloniale Bevormundung und ökonomische Ausbeutung sind Teil der von bürgerlichen Staaten geplanten und durchgeführten Kriege, die in der Öffentlichkeit als humanitäre Hilfseinsätze verkauft werden.</p><p>Dabei geht es nicht um die Menschen vor Ort, sondern um die Sicherung der Interessen des Kapitals: Um Handelsrouten, um Märkte, um Waffenexporte, um Einfluss auf korrupte Regierungen und Diktatoren, um die Erprobung von Waffentechnologien und die Etablierung der imperialistischen Länder als Märkte für Kriegseinsätze.</p></div>
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Türkisches Inferno2021-08-12T08:52:03.024590+00:002021-08-12T09:18:02.196769+00:00Alp Kayserilioğluredaktion@revoltmag.orghttps://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkisches-inferno/
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<h1>Türkisches Inferno</h1>
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<div class="rich-text"><h4><i>Kıymetli kardeşlerim, kıymetli dostlarım; tekrardan burdayız. Söz verdiğimiz üzere, her zaman dediğimiz gibi, söz namus</i>.</h4><p>„Verehrte Brüder, geschätzte Freunde; hier sind wir wieder. Wie wir versprochen haben, wie wir immer gesagt haben: Die Treue zum Wort ist Ehre.“ Mit diesen oder ähnlichen Worten und erhobener rechter Hand mit Faustring auf der Handinnenfläche leitete der verurteilte ultranationalistische Mafiapate und Stoßtruppler des tiefen Staates in der Türkei, Sedat Peker, fast alle seine seit Mai diesen Jahres aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) aufgenommenen und per Youtube in alle Welt verbreiteten <a href="https://www.youtube.com/user/pekersedsat">Videos</a> ein. Nicht nur enthüllte Peker darin viele angeblich neue Details aus dem ekelerregenden, stinkenden Morast von Staat, Glücksrittern, selbstverliebten und tiefkorrupten Pseudo-Journalisten, Auftragsmördern und der staatlich organisierten Menschenverachtung, die landläufig als Tiefer Staat bezeichnet wird. Nein, möglich war der nur auf den ersten Blick individuelle Rachefeldzug Pekers einzig aufgrund der Versumpfung des Staates insgesamt, das heißt, der in alle Richtungen ausufernden wechselseitigen Verflechtung von Dezisionismus, Faschisierung und Polykratie im Politischen und des Klientelkapitalismus im Ökonomischen (auf diese Begriffe werde ich später noch ausführlicher Bezug nehmen). Peker und seine „Enthüllungen“ sind selbst nur platzende Blasen auf der Oberfläche dieses Sumpfes, der die gesamte Türkei zu ersticken droht. So weit schritt die im Sinne der Regimeerhaltung betriebene Zerstörung des sowieso schon recht überschaubaren Mindestmaßes an bürgerlichem Konstitutionalismus in der Türkei und seine Ersetzung durch den Sumpf voran, dass eine Kamera, ein Tripod und ein Faschist-jetzt-Möchtegern-Volksheld ausreichten, den Machtblock und das ganze Land <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57412909">erneut in Aufruhr</a> zu versetzen. Beachtlich auch die enorme relative Autonomie dieses Sumpfes, der sich ja – wie oft vergessen wird – über dem „Normalbetrieb“ des neoliberalen Kapitalismus in der Türkei erhebt und diesen – je nach Situation – so sehr bedroht, wie er ihn aufrechterhält.</p><p>Derzeit befindet sich die Türkei in einer sich immer weiter verschärfenden Spirale an Instabilität, ökonomischen Verwerfungen, sozialer Depravation, Legitimationskrise, Gewalt, Militarismus und, seit jüngst, den vermutlich verheerendsten Waldbränden der Republiksgeschichte. Mitten in diesem Inferno tönen die Stimmen der wichtigen Akteure des Regimes immer schriller: Wir waren die meisterhaftesten in der Pandemiebekämpfung, unsere Wirtschaft ist am besten durch die Corona-Krise gekommen, es gibt keine Verarmung der Menschen, wir haben unendliche Gasvorkommen entdeckt, die Türkei wird zum <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-amacimiz-ulkemizi-dorduncu-sanayi-devrimi-urun-ve-teknolojilerinin-ussu-haline-getirmek,919807">Zentrum</a> der Vierten Industriellen Revolution, wir werden es <a href="https://www.yenisafak.com/en/columns/ibrahimkaragul/a-storm-will-strike-after-the-pandemic-turkey-will-further-shock-the-world-in-2021-2047718">der ganzen Welt</a> zeigen, wir werden auf den Mond steigen, es gibt kaum irgendwo eine so gute Brandbekämpfung wie in unserem Land und so weiter und so fort. Es ist eine Grundlehre der Psychoanalyse, dass die Rationalisierung einer bedrückenden Situation, eines Traumas, umso überbordender, schriller, zwanghafter wird, umso schwieriger die Aufrechterhaltung jener Rationalisierung angesichts der Realität ist.</p><h4><i>Dies ist die kafkaeske „leere fröhliche Fahrt“ des Regimes, das sich um nichts anderes mehr wirklich schert als um sich selbst – und dessen Akteuren im Ringen miteinander und mit der Hegemoniekrise die Kontrolle des Fahrwerks immer mehr entgleitet.</i></h4><p>Es gibt aber auch mehr als genug Potenzial in der Türkei, um die wilde Fahrt aufzuhalten, bevor das gesamte Land mit der Kutsche in den Abgrund stürzt. Das allerdings hängt davon ab, ob sich die politischen Akteure einfinden, jenes Potenzial auch zu entfesseln.<b> [1]</b></p><h2><b>Die Coronakrise in der Türkei, oder: Stell Dir vor, Du lügst auf Weltmaßstab, und niemanden interessiert es</b></h2><p>Was sich schon im frühen Herbst letzten Jahres abzeichnete, wurde im November dann ganz offiziell bestätigt: Die türkische Regierung hatte in Bezug auf die Coronakrise die vermutlich größte bewusste und aktiv vorangetriebene Zahlenmanipulation weltweit betrieben. Der eigentliche Skandal daran ist allerdings, dass es kein Skandal wurde.</p><p>Man muss sich das vergegenwärtigen: Über Monate hinweg zweifelten alle noch nicht vollständig regimetreuen Institutionen in der Türkei, allen voran die <a href="https://www.rosalux.de/news/id/43363/trotz-repression-den-menschen-mit-einem-laecheln-dienen">wahrhaft heroisch</a> um Aufklärung und Volkswohl kämpfende Ärztekammer (<i>Türk Tabipler Birliği</i>, TTB), die vom Gesundheitsminister durchgegebenen Zahlen zu Neuinfektionen und Todesfällen in Bezug zu Covid an. Dabei waren schon diese <a href="https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)01098-9/fulltext">schlimm genug</a>. Aber durch Hochrechnung von beispielsweise durch die TTB selbst kompilierten Daten konnte geschätzt werden, dass sich Anfang November 2020 die Zahl der Neuinfektionen zwischen <a href="https://www.ttb.org.tr/kollar/COVID19/haber_goster.php?Guid=19431d58-241d-11eb-a1e1-3f428dfd4b81">20.000</a> und <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/ttb-her-10-dakikada-1-kisi-covid-19dan-oluyor-haber-1505071">50.000</a> Personen täglich bewegte – um ein vielfaches höher als offiziell vom Gesundheitsministerium durchgegeben. Für die durchgehend kritische und aufklärerische Haltung des TTB gegenüber den Regierungsmaßnahmen wurde dieselbe übrigens vom „kleinen Partner“ der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (<i>Adalet ve Kalkınma Partisi</i>, AKP), dem Chef der nationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (<i>Milliyetçi Hareket Partisi</i>, MHP) Devlet Bahçeli des Vaterlandverrates bezichtigt und mit Schließung und juristischer Verfolgung bedroht. Aber dann kam eins nach dem anderen: Zuerst gab der Gesundheitsminister zu, dass die vom Ministerium gemeldeten Neuinfektionen nur diejenigen beinhalteten, die gleich mehrere (!) Symptome aufwiesen – sprich, eine Minderheit der Corona-Infektionsfälle. Kurze Zeit später sah sich der Gesundheitsminister von Erdoğans Gnadentum dazu bemüßigt, auch „alle anderen“ Fälle zu erwähnen, sprich die wahren – oder zumindest der Wahrheit näheren – Zahlen rauszurücken. Am 25. November 2020, von einem Tag auf den anderen, gingen daher die Neuinfektionen von grob 5.000 pro Tag auf <a href="https://www.bloomberght.com/bakan-koca-bugunku-vaka-sayisi-28-bin-351-vefat-sayisi-168-2269394">fast 29.000 Neuinfektionen</a> pro Tag hinauf (was im Übrigen die Reputation und Professionalität der Ärztekammer bewies, die durch unendlich mühevolle Kleinstarbeit und unter großem politischen Druck sehr nahe an diese Wahrheit rankam). Anfang Dezember „korrigierte“ der Gesundheitsminister dann dementsprechend auch die Gesamtinfektionszahlen nach oben: Waren im November 2020 vor der Bekanntgabe der nachjustierten Zahlen <a href="https://www.dw.com/de/streit-%C3%BCber-corona-zahlen-in-der-t%C3%BCrkei/a-55725636">noch etwas weniger</a> als 30.000 in der Türkei lebende Menschen offiziell als infiziert gemeldet, so lag die Zahl am 10. Dezember <a href="https://t24.com.tr/haber/saglik-bakani-koca-turkiye-de-toplam-koronavirus-vaka-sayisi-ni-acikladi-1-milyon-748-bin-567,919914">ganz plötzlich</a> bei fast 1,75 Millionen Personen. Schaut man sich im Corona-Dashboard der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die <a href="https://covid19.who.int/region/euro/country/tr">Türkeiseite</a> an, erkennt man sofort die Künstlichkeit der Daten, insbesondere die Sprünge bei den Neuinfektionen Ende Juli und Ende November 2020. Laut der Investigativplattform<i> Total Analysis</i> befindet sich die Türkei auf <a href="https://www.totalanalysis.com/Covid19/TAAlerts/179">Platz 97</a> von 100 der auf Transparenz der Corona-Daten untersuchten Länder. „Aber was sind denn schon eine Million mehr oder weniger Infektionsfälle angesichts der schieren Unendlichkeit des Weltraums?“, ist wohl die Logik, die hinter dieser nonchalanten Herangehensweise steht.</p><p>Ähnlich verhält es sich mit den Angaben zu Verstorbenen während und wegen der Corona-Pandemie. Zwar hat das Statistische Institut der Türkei (<i>Türkiye İstatistik Kurumu</i>, TÜIK) die türkeiweiten Todeszahlen und -ursachen für das Jahr 2020 immer noch nicht veröffentlicht, ja sogar die Veröffentlichung der Daten <a href="https://www.tuik.gov.tr/media/announcements/olum2020_en.pdf">explizit ohne genaue Terminangabe</a> im Juni 2021 exakt einen Tag vor dem regulären Veröffentlichungstermin verschoben. Aber unabhängige Forscher und Zeitungen konnten aussagekräftige Berechnungen zur Exzessmortalität vorlegen (das heißt Anzahl oder Rate der Todesfälle, die über dem Durchschnitt der Todesfälle eines Vergleichszeitraumes liegt). Die <a href="https://www.nytimes.com/interactive/2020/04/21/world/coronavirus-missing-deaths.html"><i>New York Times</i></a> wie auch der Epidemiologe Mesut Erzurumoğlu kommen zum Beispiel zu ähnlichen Ergebnissen bezüglich der Mortalität in Istanbul: Beide gehen für die Millionenstadt von einer Exzessmortalität im Jahre 2020 (im Vergleich zum jährlichen Durchschnitt der Jahre 2015-19) von <a href="https://twitter.com/mesuturkiye/status/1381918089831407617">25%</a> oder etwa 18.000 zusätzlichen Toten aus – <a href="https://mesuturkey.wordpress.com/2021/01/03/excess-mortality-in-2020s-turkey/">fast so vielen</a>, wie offiziell türkeiweit als Corona-Tote des Jahres gemeldet waren. Der Medieninformatiker Güçlü Yaman extrapoliert regelmäßig aus den Mortalitätsdaten von Städten in der Türkei, in denen etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt beziehungsweise in denen etwa die Hälfte aller Todesfälle der Türkei stattfanden, (Exzess-)Mortalitätszahlen und -raten für die gesamte Türkei. Für den Zeitraum vom 11. März bis zum 10. November 2020 <a href="https://gucluyaman.com/tr/excess-deaths-in-turkey/">errechnete er so</a> eine Exzessmortalität von 23% oder etwa 30.000 Exzess-Tote (im Vergleich zu den Jahren 2015-19) für das gesamte Land, was in etwa der doppelten Zahl der offiziellen Corona-Toten für den genannten Zeitraum im gesamten Land entspricht. Obzwar es nicht gesichertes Wissen ist, liegt es doch nahe, anzunehmen, dass die gesamte Exzessmortalität als die „echte“ Zahl der Corona-Toten zu betrachten ist, zumal Todesfälle durch eine Reihe anderer Gründe (Unfälle, andere Infektionskrankheiten, usw.) durch die Pandemiebekämpfungsmaßnahmen üblicherweise zurückgingen. Dass die Zahl der „wirklichen“ Corona-Toten im weltweiten Durchschnitt <a href="https://www.bmj.com/content/373/bmj.n1188">etwa doppelt so hoch</a> ist wie die offiziell gemeldeten Zahlen, wird mittlerweile als wahrscheinlich angesehen. Schaut man sich jedoch Yamans <a href="https://gucluyaman.com/tr/excess-deaths/excess-deaths-in-turkey-update-01-06-2021/">neuere Berechnungen</a> an, die bis in den Juni 2021 hinein reichen, ergeben sich 146.000 Exzesstote im Verhältnis zu 48.000 offiziell gemeldeten Covid-Toten, also ein Verhältnis von etwas mehr als 3:1. Das liegt hauptsächlich daran, dass in einigen Dezemberwochen, in denen die Pandemie in der Türkei bisher am schlimmsten wütete, Exzessmortalitätsraten von laut Yaman unglaublichen 122% erzielt wurden.</p><h4><i>Social statistics are frozen tears – einer der ersten Sätze, die man im Studium der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte lernt. Statistiken zu manipulieren und nach Gutdünken zu verdrehen, um das von Herrschaft geschaffene oder geförderte Leid der Menschen schönzureden, gehört hingegen zum Alltagsgeschäft bürgerlicher Politik im Kapitalismus.</i></h4><p>Nur ist es so, dass es mancherorts besonders schamlos, besonders menschenverachtend, besonders gleichgültig gegen Wohl und Leid der Bevölkerung betrieben wird. Die Zahlen zu Corona-Infektionen in der Türkei sind indes nicht die einzigen wichtigen Zahlen, die „nach oben“ korrigiert wurden im Zeitraum, den diese Analyse abdeckt. Auch die Arbeitslosigkeitszahlen wurden, wie ich noch zeigen werde, nach oben korrigiert. Umgekehrt wurde, was die Inflationszahlen angeht, weiterhin staatlicherseits versucht per Repression realitätsgerechtere Repräsentationen zu unterbinden.</p><p>Der derzeitige Gesundheitsminister der Türkei, Fahrettin Koca, ist indes nur ein – natürlich nicht unwichtiges und zur Verantwortung zu ziehendes, aber dennoch „nur“ ein – Rad im Getriebe einer (Pandemie-)Politik, deren einziges Anliegen politischer Machterhalt inklusive Fortsetzung kapitalistischer Profitakkumulation und so weit möglich die Reproduktion der Minimalbedingungen einer sozialen Restlegitimität für jenen Machterhalt ist. Nicht mehr, nicht weniger. Und dass die Opposition in der Türkischen Republik wie aber auch die großen, schönen, Werte-und-Normen geleiteten europäischen und transatlantischen Hauptverbündeten der Türkei die Corona-bezogene Zahlenmanipulation und die darin zum Ausdruck kommende, gezielt gegen menschliches Leid indifferente Pandemiepolitik kaum (Opposition) oder gar nicht (Europa und Co) skandalisierten, zeigt erneut in aller Deutlichkeit, dass bürgerlicher „Anti-Autoritarismus“ entsprechend der von ihm verfolgten Interessen recht bescheiden ist, wenn es um Wohlstand, Gesundheit und Lebensfreude der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung geht. Außer natürlich, es geht um Belarus, Russland oder China, also um geopolitische Antagonisten des euro-transatlantischen Kapitalismus. Da spielen dann jene Werte und Normen plötzlich eine ganz große Rolle. Auch diese Bescheidenheit wird uns den restlichen Artikel über als Konstante begleiten.</p><h2><b>Der Pandemie ausgeliefert</b></h2><p>Ich bin mir nicht sicher, ob man sagen kann, dass der Hochmut der Regierenden in den letzten Monaten in der Türkei zugenommen hat. Ich meine jene Art von maßlosem selbstverherrlichendem Hochmut, der alle sogar vom Regime selbst gesetzten Regeln und Gesetze mit Füßen tritt und sich eines Besseren dünkt, dies auch noch jeder und jedem ganz ohne Scham und öffentlich unter die Nase reibt und damit das ganze Land verhöhnt, das unter Pandemie und Wirtschaftskrise ächzt und krächzt. Dieser Hochmut und die sich darin ausdrückende schreiende Ungerechtigkeit sind aber jedenfalls viel sichtbarer und greifbarer geworden, da sie in mittlerweile krassester Diskrepanz zur Lebensrealität des Großteils der Menschen in der Türkei inmitten der Pandemie stehen.</p><h4><i>Der Hochmut speist sich aus der Machtrunkenheit einer fast 20-jährigen Regierung, die zudem in den letzten zehn Jahren sukzessive konstitutionelle und bürokratische Mechanismen in Politik und teilweise Wirtschaft ersetzt hat durch unmittelbarere Machtbeziehungen – also dezisionistischen Praktiken – und Klientelverhältnisse.</i></h4><p>Diese Politik spülte damit Tausende kleine Erdoğans, Neureiche, Glücksritter, schmierige Gestalten, Menschheitsverbrecher und Opportunisten (erneut) an die Oberfläche der Öffentlichkeit. Sinnbildlich für diesen Hochmut steht Erdoğan höchstpersönlich, der auf die Frage eines Journalisten, ob er während der längsten Periode der fast totalen Ausgangssperre im gesamten Lande (Mai 2021) in Istanbul bleiben werde, süffisant und mit einem Lächeln auf den Lippen <a href="https://t24.com.tr/video/erdogan-dan-tam-kapanma-doneminde-istanbul-da-misiniz-sorusuna-yanit-en-kotu-ihtimalle-turkiye-deyim,38448">antwortete</a>: „Ich habe mich noch nicht endgültig entschlossen, ich werde jedenfalls hier in der Gegend sein. Im schlimmsten Fall bin ich in der Türkei.“ Im schlimmsten Fall dazu verdammt, in der krisengebeutelten Türkei inmitten einer rasenden Pandemie zwischen Not und Tod eingesperrt und ohne jegliche Perspektive zu sein – eine Realität für Viele, einen Witz wert für den Präsidenten des Landes. Aber gehen wir vom Großen ins Kleine. Das Ausmaß und die Ungerechtigkeit des Totentanzes der Macht auf das Land zeigt sich nur auf dem Hintergrund der Lebensrealität, zu dem der Großteil der Bevölkerung verdammt wurde.</p><p>Wie ich schon in „<a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">Virus als Katalysator</a>“ hervorgehoben habe, reagierte der Staat sehr spät und sehr inkonsequent auf die Pandemie. Er begnügte sich mit ideologischer Hybris, wohlgemeinten Ratschlägen und der Abwälzung der Verantwortung auf Individuen aus Angst vor wirtschaftlichem Schaden einerseits, weiteren Legitimationseinbrüchen durch natürlich kaum staatlich aufgefangene Schließungen und andere Maßnahmen andererseits. Wie <a href="https://www.institutmolinari.org/wp-content/uploads/sites/17/2021/03/etude-zero-covid2021_en.pdf">überall sonst</a> <a href="https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)00978-8/fulltext">auch</a> auf der Welt, wo dieses inkonsequente Vorgehen zwecks sehr kurzfristiger Interessen statt einer konsequenten Eindämmungsstrategie präferiert wurde, hatte dies katastrophale Folgen für die Bevölkerungsmehrheit: Sie führte zu teils extrem hohen Reproduktionszahlen des Virus (bis zu 16 in Istanbul im April 2020; sprich, eine infizierte Person steckte rechnerisch 16 weitere Personen an), 2021 auch zu extrem hohen Inzidenzzahlen von über 900 auf 100.000 Personen (<a href="https://www.cnnturk.com/turkiye/il-il-risk-haritasi-guncellendi-mi-19-nisan-2021-illere-gore-haftalik-koronavirus-vaka-sayilari-artan-ve-azalan-iller">beispielsweise</a> in Istanbul und Çanakkale, 10.-16. April 2021), zu türkeiweiten <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/2823868-turkuaz-tablonun-merkezine-girdim">PCR-Testpositivraten</a> von <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/koronavirus-testi-turkiyede-yeterli-miktarda-test-yapiliyor-mu-1836797">10-20%</a> und zu den zuvor angeführten Zahlen betreffs Gesamtinfektionen und Todesfällen. Weitergehende Ausgangssperren erfolgten nicht präventiv, sondern wortwörtlich in letzter Sekunde, um das vollständige Entgleiten der Pandemie zu verhindern, etwa in Situationen, in denen die Krankenhäuser in Großstädten wie Izmir, Istanbul und Ankara <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/bilim-kurulunun-ilk-toplantisi-haftaya-ertelendi-1826756">fast vollständig</a> ausgelastet waren und <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/turkiye-vaka-sayisinda-avrupa-birincisi-oldu-1826754">zu kollabieren</a> drohten (so im April und November 2020 und dann nochmal im April/Mai 2021).</p><p>Die erdrückende Last einer außer Rand und Band geratenen Pandemie machte sich auch in den Reaktionen des Regimes bemerkbar: Erdoğan klang <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/turkish-health-experts-workers-call-social-support-ahead-17-day-covid-lockdown">fast panisch</a>, als er im April 2021 feststellte, dass Europa schon zu Öffnungen übergehe – während sich die Infektionslage in der Türkei immer weiter zuspitze. Er erwarte heftige Folgen, wenn nichts unternommen würde (er dachte dabei natürlich ausschließlich an den Tourismus). Auch der Gesundheitsminister wusste entgegen seiner durchgehend relativierenden Herangehensweise sehr wohl um die prekäre Situation in den Krankenhäusern. Er verhängte daher schon Ende Oktober 2020 ein <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-10-28/turkey-bars-health-workers-quitting-as-covid-deaths-near-10-000">Kündigungsverbot</a> für Werktätige im Gesundheitssektor. Auch zum Zeitpunkt, als es zu Ausgangssperren kam, lag die Priorität auf der Wahrung kapitalistischer Profite vor dem gesundheitlichen Interesse der Bevölkerung und insbesondere der Arbeiter*innen: Während dem „totalen Lockdown“ im Mai 2021 – über Wochen <a href="https://t24.com.tr/haber/icisleri-bakanligi-ndan-tam-kapanma-tedbirleri-genelgesi,948642">galt eine absolute Ausgangssperre</a> im gesamten Land mit wenigen Ausnahmen – mussten immer noch 61% aller Arbeiter*innen <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2021/04/Tam-kapanma-yok-on-milyonlarca-isci-calismaya-devam-ediyor-Bulten.pdf">normal weiter arbeiten</a>, das heißt sich dem Infektionsrisiko aussetzen. Nur 17% aller Arbeiter*innen profitierten vollumfänglich von den Ausgangssperren, sprich ersparten sich den Arbeitsweg und den Aufenthalt am Arbeitsort – und damit die Infektionsgefahr. Was es heißt, inmitten einer Pandemie weiter arbeiten zu müssen, das zeigt <a href="http://www.birlesikmetalis.org/index.php/tr/guncel/basin-aciklamasi/1603-metal-sektorunde-salgin-ciddi-boyutlara-ulasti">ein Bericht</a> der linken Metallarbeiter*innengewerkschaft Birleşik Metal-İş: Allein im Zeitraum zwischen März und November 2020 infizierten sich 7,3% der Arbeiter*innen in Betrieben, in denen Birleşik Metal-İş organisiert ist, offiziell mit dem Coronavirus. Einem Bericht der Gewerkschaft zufolge gab es zum Veröffentlichungszeitpunkt desselben in 86,75% der Betriebe, in denen Birleşik Metal-İş organisiert ist, aktive Coronavirus-Infektionsfälle.</p><p>Wie anderorts auch intervenierte der türkische Staat gegen die von Corona ausgelöste Wirtschaftskrise. Ein Großteil der wirtschaftlichen Stützungshilfen gingen dabei an das Großkapital (Steuererleichterungen, Lohnnebenkostenhilfen, billige Kredite, Devisenverkäufe der Zentralbank zur Stabilisierung der Lira), so gut wie nichts an den restlichen Großteil der Bevölkerung. Die Ausmaße lassen sich mittlerweile etwas besser quantifizierend vergleichen. Nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds (IMF) vergab die Türkei während der Pandemie (bzw. im Zeitraum März 2020 bis März 2021) Hilfen in Form von zusätzlichen unmittelbaren Ausgaben, Einkommensstützen und Steuernachlässen und Ähnlichem <a href="https://www.imf.org/en/Topics/imf-and-covid19/Fiscal-Policies-Database-in-Response-to-COVID-19">in Höhe von nur</a> 1,9%/BIP. Sie hat damit vor Mexiko und einigen wenigen armen Ländern wie Nigeria, Myanmar und Bangladesch fast am wenigsten unter den vom IMF untersuchten Ländern für die Breite der Bevölkerung in der Pandemie getan (relativ zum BIP betrachtet). <b>[2]</b> Zum Vergleich: Die durchschnittlichen zusätzlichen unmittelbaren Ausgaben der reichen Länder betrug 16,42% ihres jeweiligen BIP, die der Länder mit mittlerem Einkommen (worunter auch die Türkei fällt) 4,0% und die der armen Länder 1,6%. Demgegenüber erreichten die indirekten Ausgaben (Kredite, Schulden und Garantien) der Türkei mit 9,4%/BIP fast das Niveau der reichen Länder (durchschnittlich 11,3%). Und auch nur deshalb lagen die gesamten Ausgaben (direkte + indirekte) der Türkei im Rahmen der Pandemie mit etwa 11,3%/BIP bedeutend höher als der Durchschnitt der Länder mit mittlerem Einkommen (durchschnittlich 6,5%). In keinem anderen der vom IMF untersuchten Länder machten daher die direkten Ausgaben und Einkommensstützen mit <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2021/02/Covid-19-Harcamalar%C4%B1-Raporu-OCAK-2021.pdf">nur 11%</a> aller Hilfen während der Pandemie 2020 einen so kleinen Anteil aus wie in der Türkei. Daher hatte der Großteil der Bevölkerung und darin insbesondere die Werktätigen in der Türkei nicht nur unter dem katastrophalen Pandemiemanagement des Regimes zu leiden, sondern wurde zugleich heftig gebeutelt von der durch die Pandemie verschärften Wirtschaftskrise.</p><h4><i>Und die Wirtschaftskrise war und ist für die unteren und mittleren Klassen ziemlich heftig. Wer der Skylla der Infektion entkam, den verschlang die Charybdis der Arbeitslosigkeit und der Armut.</i></h4><p>Zwar verzeichneten die Daten des TÜIK durchgehend eine immer weiter sinkende (!) Arbeitslosigkeitsrate. Das lag aber hauptsächlich daran, dass Hunderttausende Menschen aus Beschäftigungsverhältnissen flogen und als dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung stehend klassifiziert oder auf „unbezahlten Urlaub“ gesetzt wurden, so dass parallel zur „sinkenden“ Arbeitslosenquote die Erwerbsquote (Anteil der Erwerbspersonen und der Arbeitslosen, die prinzipiell dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen) laufend sank. So flogen beispielsweise <a href="https://t24.com.tr/haber/tuik-issizlik-rakamlarini-acikladi,940653">über 1,5 Millionen Menschen</a> bis Februar 2021 aus der Erwerbstätigenbevölkerung heraus. Oder es wurden während der Pandemie trotz Entlassungsverbotes <a href="https://t24.com.tr/haber/disk-ar-kod-29-ile-2020-yilinda-176-bin-662-isci-isten-cikarildi,943927">über 175.000 Arbeiter*innen</a> mittels einer als Ausnahme vom Entlassungsverbot weiterhin gültigen und prompt weitflächig missbrauchten Bestimmung des Arbeitsgesetzes namens Kod 29 (wegen „moralischen Fehlverhaltens“ oder ähnlichem) entlassen, was einer <a href="https://t24.com.tr/haber/pandemide-kod-29-ile-atilanlarin-orani-%20yuzde-%2070-artti,939439">Zunahme</a> der Entlassungen wegen jener Bestimmung um 70% entsprach. Schon länger besteht breite Einigkeit darüber, dass die Arbeitslosigkeitszahlen des TÜIK nicht die Realität abbilden, <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/isgucu-verileri-masaya-yatirildi-issizligin-izlenmesinde-yeni-ve-yaratici-cozumler-gerekli-haberi-481463">auch</a> unter Mainstream-Ökonom*innen. <a href="https://t24.com.tr/haber/disk-tuik-in-issizlik-verileri-gercekleri-yansitmiyor-genis-tanimli-issizlik-yuzde-27,925919">Während</a> beispielsweise das TÜIK im Januar 2021 die Arbeitslosenquote mit 12,7% angab, berechnete die linke Gewerkschaftskonföderation DISK die realitätsgerechtere breitere Arbeitslosigkeitsquote auf etwa 27%. In diesem Fall wurde dem TÜIK die Diskrepanz zwischen ihren Zahlen und der Realität zu groß: Sie passte ihre Zahlen <a href="https://data.tuik.gov.tr/Bulten/Index?p=Isgucu-Istatistikleri-Ocak-2021-37486">im März 2021</a> an und veröffentlicht seitdem auch eine sogenannte „<a href="https://t24.com.tr/haber/tuik-acikladi-issiz-sayisi-4-milyon-236-bin-kisi-oldu,951533">Inaktivenquote</a>“ (Arbeitslose + vorübergehend Unterbeschäftigte + potenziell Arbeitsfähige). Diese entspricht in etwa den Angaben der DISK zur breiteren Arbeitslosigkeitsquote und ist dementsprechend viel höher (bisher durchgehend zwischen 20-30% im Jahr 2021) als die offizielle Arbeitslosigkeitsquote. Noch schlimmer ist die Situation der Jugendlichen (bzw. der etwa 18-25/30-Jährigen): Liegt die offizielle Jugendarbeitslosigkeitsquote schon bei 25%, geht sogar eine Untersuchung der Universität der Union der Kammern und Börsen der Türkei (<i>Türkiye Odalar ve Borsalar Birliği</i>, TOBB) in Ankara davon aus, dass sie <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/02/turkey-pandemic-youth-unemployment-reaches-alarming-level.html">real</a> bei 38,5% anzusetzen ist. <a href="https://t24.com.tr/haber/18-22-yas-araligindaki-issiz-genclerin-yuzde-74-3-u-sadece-yol-yemek-veren-bir-yerde-calismaya-razi,919818">Fast Dreiviertel</a> aller arbeitslosen 18-22-Jährigen stimmen zu, dass sie einen Job annehmen würden, auch wenn die Entlohnung nur aus Bezahlung des Fahrtweges und Verpflegung bestünde, so das Ergebnis einer Untersuchung, an der auch der Arbeitgeberverband (<i>Türkiye İşveren Sendikaları Konfederasyonu</i>, TİSK) mitarbeitete. <a href="https://t24.com.tr/haber/genclerin-yuzde-76-si-yurt-disinda-yasamak-istiyor-her-iki-gencten-biri-mutlu-degil,900749">Fast alle</a> (86%) Jugendlichen sind verschuldet und <a href="https://t24.com.tr/haber/genc-issizlik-yuzde-25-3-e-yukseldi-en-buyuk-hayalleri-yurtdisinda-yasamak,953186">wollen</a> ins Ausland (76%). Laut einer <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/genclerimizin-yuzde-70i-ekonomik-endise-icinde-6548984/">OECD-Untersuchung</a> von 2021 fürchten 70% aller Jugendlichen in der Türkei um die eigene finanzielle Situation und die ihrer Familien, 78% sind der Meinung, dass die Regierung hätte mehr tun können während der Pandemie. Trotz dieser also massiven, teils sogar nach geltendem Recht semi-/illegalen Zunahme von Unterbeschäftigung und Erwerbslosigkeit und, wie gleich gezeigt wird, der damit einhergehenden weitflächigen Verarmung, hatte der Staat den Werktätigen mit 39 TL Kurzarbeitsgeld pro Tag (derzeit umgerechnet etwas weniger als 4 €) kaum etwas zu bieten. Im Gegenteil: Er <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/ekonomi/emeklilik-zorlasiyor-isten-atma-kolaylasiyor-6061987/">förderte sogar</a> eine sehr kurzfristige und rechtlose Beschäftigung von Jugendlichen und Menschen im Alter von 50 Jahren aufwärts.</p><h4><i>Als geradezu notwendige Konsequenz aus dem Herunterfahren der Wirtschaft, einer erneut induzierten Wirtschaftskrise und fehlender Unterstützung folgte eine grassierende Armut.</i></h4><p>Je nach Umfrage zwischen <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halkin-dortte-biri-gida-ve-barinma-gibi-temel-ihtiyaclarini-karsilayamiyor,949952">27%</a> und <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/ekonomi/gelirler-eridi-borclar-katlandi-6102430/">38%</a> der Bevölkerung haben mittlerweile Schwierigkeiten damit, für Grundbedürfnisse wie Wohnung und Lebensmittel aufzukommen. Mindestens 30% (frühere Umfragen: 50%) haben <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/ekonomi/gelirler-eridi-borclar-katlandi-6102430/">Einkommenseinbußen</a> zu verzeichnen und die Einkommensungleichheit erreicht mittlerweile <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/06/official-data-lays-bare-deepening-poverty-turkey">fast das Niveau</a> von Brasilien, Mexiko und Südafrika. Schon die offiziellen Inflationszahlen für Lebensmittel zeigen, dass deren Preiserhöhung <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2021/01/turkey-firm-fined-food-prices-high-inflation-economy-lira.html">beträchtlich über</a> der durchschnittlichen Inflationsrate liegt (im Durchschnitt 20% vs. 12,28% im Jahr 2020); alternative Berechnungen gehen sogar <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-55935159">von bis zu</a> 30-50% <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/birlesik-kamu-isin-halkin-enflasyonu-arastirmasinin-carpici-sonuclarini-acikladi-1830313">Teuerung</a> der Grundnahrungsgüter aus. Arbeitslosigkeit und Teuerung sind so grassierend und heftig geworden, dass sogar das Großkapital davor mahnt, dass sie „<a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-baskani-kaslowski-istihdama-yonelik-destekler-devam-etmeli-2279214">unsere Zukunft gefährden</a>“ – sprich, die stabile Zustimmung zur kapitalistischen Produktionsweise in Frage stellen können. Der ehemalige Chef des TÜIK, der mittlerweile in einer kleinen Oppositionspartei ehemaliger AKP’ler organisiert ist, berichtet von <a href="https://t24.com.tr/video/eski-tuik-baskani-berat-bey-doneminde-verilere-guvensizlik-daha-fazlaydi-gercek-enflasyon-yuzde-15-in-cok-uzerinde,36849">kreativen Methoden</a> in den Inflationsberechnungen des TÜIK, um die Zahlen so niedrig wie möglich zu halten. Aber selbst nach Zahlen des TÜIK litten 27,4% der Bevölkerung 2020 unter „<a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/bunca-yoksulluga-ragmen-akp-nasil-hala-yuzde-35-aliyor-dunya-bankasi-nin-yaniti,31441">ernstem materiellen Mangel</a>“. Nach Definition der Weltbank (WB) galten 12,2% der Bevölkerung als arm – im Gegensatz zum Jahre 2018, dem diesbezüglich bisher besten Jahr der Türkei, in dem die Rate bei 8,5% lag. Als arm in einem Land wie der Türkei gelten den Berechnungen der WB zufolge Personen, die mit weniger als 5,5 $ (38 TL, auf das Jahr 2020 gerechnet) pro Tag über die Runden kommen. Ein Schelm, wer den Grund der Festsetzung des Kurzarbeitsgeldes bei extrem niedrigen 39 TL darin sucht, den Anstieg der von der WB sowieso schon sehr niedrig angesetzten Schwelle zur „Armut“ gerade noch so etwas zu umgehen. Über 40% der Bevölkerung ist – zumeist in Form von privaten Konsumkrediten – an Banken <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/34-5-milyon-kisinin-899-milyar-lira-borcu-var-6442304/">verschuldet</a>; ihre Schuldlast stieg 2020 um 36%. Und das sind nur die „offiziellen“ Schulden, also solche, die institutionell stattfinden und daher objektiviert erfasst werden. Laut einer Analyse der Stadtverwaltung Istanbuls führen mittlerweile 71% der <a href="https://t24.com.tr/haber/ekmek-yumurta-ve-sigarada-veresiye-donemi-istanbul-da-bakkallarin-yuzde-71-i-veresiye-defter-tutuyor,937170">Spätis/Kioske</a> Schuldenhefte, wobei die Gesamtschuldlast der Kund*innen während der Pandemie um 54,8% und die Zahl der Kund*innen, die auf Pump beim Kiosk kaufen, um 32,2% gestiegen ist. Die drei Hauptgüter, die auf Pump gekauft wurden, sind in absteigender Reihenfolge Brot, Eier und Zigaretten. Die Kleinladenbesitzer*innen sind aber <a href="https://t24.com.tr/haber/esnafin-borcluluk-orani-yuzde-65-e-cikti-veresiye-dustu-kart-kullanimi-artti,947597">mittlerweile</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/esnafin-borcluluk-orani-yuzde-65-e-cikti-veresiye-dustu-kart-kullanimi-artti,947597">selbst</a> zu 65% verschuldet und verlangen immer mehr Kreditkartenkäufe statt Käufe auf Pump. Zudem können viele nicht von den Coronahilfen profitieren und halten sie für ungenügend.</p><h2><b>Die Selbstvergöttlichung der Macht</b></h2><p>Der Hunger und die Armut brechen sich mittlerweile teils mit Gewalt und gegen das Bewusstsein Bahn. Der Vorsitzende des <a href="https://t24.com.tr/video/erdogan-a-evimize-ekmek-goturemiyoruz-diyen-minibusculer-odasi-baskani-sozlerim-carpitildi,33542">Minibusfahrervereins</a> in Malatya <b>[3]</b> und eine <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/erdogana-acim-diye-seslenmisti-ac-acikta-degilim-allah-benim-omrumden-alsin-onunkine-versin-1813877">arme ältere Frau</a> in Elazığ, beide AKP-Anhänger*innen beziehungsweise Mitglieder der AKP, flehten unabhängig voneinander ganz impulsiv Erdoğan bei dessen Besuch in ihrer jeweiligen Stadt an: Wir hungern, wir haben kein Brot mehr im Haus! Und ruderten später – da setzte das politische Bewusstsein wieder ein – zurück und bezeugten mehrmals demütig ihren Respekt vor Erdoğan. Aber die Hybris, der Hohn auf alle zur Armut willentlich und wissentlich Verdonnerten des Landes, ist dort grenzenlos, wo die Apotheose der Macht regiert. Erdoğan reagierte auf das Flehen des Minibusfahrers mit einem <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-dan-evimize-ekmek-goturemiyoruz-diyen-esnafa-bu-bana-abartili-geldi-al-bu-keyif-cayini-ic,911288">lapidaren</a>: „Das erscheint mir jetzt ein bisschen übertrieben. Hier, gönn dir einen Schwarztee zur Vergnügung!“ – und reichte ihm ein Paket Schwarztee. Einige Monate später, im Juni 2021, kam Erdoğan nochmals auf den Hunger zurück und meinte <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-neymis-millet-acmis-ac-olarak-dolasanlari-buyurun-siz-de-doyuruverin,957912">ganz ohne Schamesröte</a> zur Opposition: „Wie bitte, das Volk ist hungrig? Bitte, dann sättigt es doch.“ Ähnlich Emine Erdoğan, die Ehefrau des Präsidenten, die allen Ernstes in einem Werbevideo lächelnd und wohlmeinend die Bevölkerung dazu aufrief „<a href="https://haber.sol.org.tr/haber/iste-porsiyonlarinizi-kucultun-diyen-emine-erdoganin-sarayinin-mutfak-harcamasi-308327">die Portionen kleiner</a>“ zu halten (um Abfälle zu reduzieren) – wobei sie natürlich selber bekannt ist für ihnen <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/turkeys-ruling-party-elites-love-splurge-while-preaching-frugality">ostentativen Luxuskonsum</a>. Und nicht zuletzt: Als fast die Hälfte der Provinzen der Türkei Ende Juli-Anfang August 2021 mit den verheerendsten Waldbränden der letzten Jahrzehnte zu kämpfen hatten (dazu später mehr), ließ es sich Erdoğan nicht nehmen, mit einem riesigen Konvoi durch die Provinzhauptstadt einer der am heftigsten betroffenen Provinzen, Marmaris, zu fahren, dabei den gesamten Verkehr inklusive der Feuerwehr lahmzulegen und Tee vom Bus aus <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Rh_LzMR2DnI">mit herrschaftlichen Grüßen</a> an Umstehende zu verteilen. Suetons Kaiser Nero sang wenigstens nur Gesänge auf das brennende Rom, Erdoğan hingegen verhöhnt noch zusätzlich das Land, die Natur und die Bevölkerung.</p><p>Ein Kleinladenbesitzer in Denizli, der vom Gouverneur während einer PR-mäßig inszenierten Inspektionstour zur Umsetzung der Corona-Maßnahmen gefragt wurde, warum er keine Maske trage, <a href="https://t24.com.tr/video/denizli-valisinin-maske-sorusuna-gebermek-istiyorum-cevabi-veren-o-esnaf-konustu-maske-benim-son-derdim,33338">antwortete</a>: „Die Maske ist mein allerletztes Problem. Ich mache keine 15 Lira am Tag, kann Mieten und Strafen nicht mehr zahlen. Ich möchte verrecken.“ Der Hohn der Macht: Derselbe Gouverneur ließ während derselben Inspektionstour einen Dönerimbiss schließen, weil die Arbeiter*innen ohne Handschuhe arbeiteten (was im Übrigen keine Corona-Auflage war) und die Maske unter der Nase trugen. Erst nachdem sein Vorgehen öffentlich skandalisiert wurde, ruderte er zurück. Dabei schlägt sich die Materialität der um sich greifenden Armut und Depravation mitunter auch <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/iktidar-muhalefete-degil-gerceklere-yeniliyor-makale-1502872">wider Willen</a> im Handeln des Regimes nieder: Devlet Bahçeli, Chef der MHP und <a href="https://www.mei.edu/publications/erdogans-two-man-rule">Hauptbündnispartner</a> der AKP, rief eine Kampagne ins Leben, wonach <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-den-askida-ekmek-elestirilerine-sert-tepki,910276">Brote an Gabenzäune</a> für Arme aufgehängt werden sollten für Bedürftige – wenige Tage später meinte Erdoğan, Brotlosigkeit gäbe es in der Türkei nicht. Wie eine Furie wütete Bahçeli dann allerdings, als seine Aktion ganz zurecht als unwillkürliches Eingeständnis der Existenz weitflächiger Armut seitens eines der wichtigsten Akteure des Regimes interpretiert und skandalisiert wurde.</p><p>Hohn und Verachtung für das Volk hören hier nicht auf. Während fast das gesamte Land im Mai 2021 außer für Arbeit und das Notwendigste in die eigenen vier Wände eingesperrt war, galt Narrenfreiheit für Tourist*innen. Geradezu auf Knien erbettelte sich das Regime von den unterschiedlichen Ländern Tourist*innenströme, um die eigenen einbrechenden Devisenreserven noch zu retten. <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/ahmet-hakan/mevlut-cavusogluna-turistin-gorebilecegi-herkesi-asilayacagiz-cumlesini-sordum-41805811">Sogar die Impfkampagne</a> sollte für den Tourismus passend zugeschnitten sein: Der Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu gab Anfang Mai durch, dass sie jede Person bis Ende Mai impfen würden, mit der ein Tourist in Kontakt treten könnte, also Werktätige der Tourismusbranche. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Impfkampagne im Land noch nicht einmal wirklich angefangen. Ein dazugehöriges staatliches Werbevideo verbreitete eine Aura von Sommer, Sonne, guter Laune und lauter wuseligen werktätigen Türk*innen voller Lebensfreude und Gastfreundschaft, die Masken mit der Aufschrift „<a href="https://www.youtube.com/watch?v=Mz4Ps40qqRc">Enjoy, I’m vaccinated</a>“ trugen. <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/bulent-kilic-in-istanbul-da-kapanma-fotografi-sosyal-medyanin-gundeminde-128-milyar-dolari-eritip-3-5-dolara-bel-baglayanlar-utansin,12003">Ein eindrückliches Foto</a> des AFP-Korrespondenten Bülent Kılıç, der wenig später am 26. Juni 2021 beim Istanbul Pride von durchdrehenden Polizisten <a href="https://t24.com.tr/haber/polisin-bogazina-bastirarak-gozaltina-aldigi-afp-foto-muhabiri-bulent-kilic-orada-bir-gazeteci-oldurulmeye-calisildi,962002">fast umgebracht wurde</a>, brachte hingegen das reale Grauen zum Ausdruck: Eine finster und unglücklich in die Ferne blickende türkische Putzkraft, neben ihr lachende Tourist*innen in Saus und Braus, inmitten des ansonsten verlassenen historischen Altstadtteils Istanbuls, Fatih. „Turkey Unlimited. Now available without Turks“, brachte es<a href="https://www.reuters.com/world/middle-east/turkey-welcomes-foreign-tourists-while-locking-down-locals-2021-05-05/"> einer</a> der zynischen Kommentare auf Social Media auf den Punkt.</p><h4><i>Aber die wahre Apotheose der Macht auf dem Rücken und in Erniedrigung des Volkes, die absolute Indifferenz gegen alles Recht und alle Norm, sogar der vom Regime selbst gesetzten, das reine Regime des Dezisionismus, stellt alles andere in den Schatten.</i></h4><p>Denn für das Regime galten keine Ausgangsbeschränkungen und keine Corona-Maßnahmen. Seit Oktober 2020 – während die Türkei dabei war, einen der bis dahin schlimmsten Gipfel der Pandemie zu durchleben – hielt die AKP unter Führung von Erdoğan dutzende kleinere und größere Provinzkongresse in geschlossenen Räumen ab und zwar mit Tausenden (!) von Teilnehmenden, gegen alles Recht und gegen alle Maßnahmen und in totaler Ignoranz der grassierenden Pandemie. Dabei wurde der Hochmut noch <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56177899">schamlos</a> zur Schau gestellt. Erdoğan hob etwa voller Freude (!) auf dem Kongress seiner Partei in der am Schwarzmeer gelegenen Stadt Rize am 15. Februar 2021 hervor: „Wir halten Kongresse ab während einer Pandemie und der Kongresssalon in Rize ist zum Bersten voll!“ Und alle klatschen und johlen. Natürlich sprechen <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56184456">einige Indizien</a> und der gesunde Menschenverstand <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/gundem/lebaleb-kongrelerin-bilancosu-agirlasiyor-ilk-10a-girdiler-6289871/">dafür</a>, dass diese Kongresse die Pandemie beschleunigt haben; abschließend lässt sich das jedoch nicht feststellen, <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56598812">da nicht einmal</a> die Mitglieder des wissenschaftlichen Pandemiebeirats des Gesundheitsministers genauere Kenntnis über Ort und Grund von Infektionen besitzen. <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/son-dakika-bakan-kocadan-korkutan-mutasyonlu-virus-aciklamasi-1824374">Das Einzige</a>, was der Gesundheitsminister zur Gleichgültigkeit gegenüber allen Corona-Regeln seitens seiner Partei zu sagen hatte, war: „Ich finde es jetzt nicht richtig, deshalb [wegen den Kongressen, A.K.] eine Geschichte über Privilegien zu spinnen.“ Der Chef der Rundfunk- und Fernsehbehörde (RTÜK) gab eine Memo <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/televizyon-kanallarina-lebaleb-talimati-ortaya-cikan-rtuk-baskani-sahin-kendini-boyle-savundu-1832926">an alle Fernsehsender</a> durch, dass sie nicht die Kongresse zeigen sollen, sondern leere Straßen.</p><p>Damit nicht genug. So wurden inmitten des „totalen“ Lockdowns mehrere öffentliche Begräbniszeremonien von prominenten AKP-Mitgliedern oder Staatsbürokraten abgehalten, obwohl diese verboten waren, erneut mit <a href="https://t24.com.tr/video/erdogan-tam-kisitlamada-kalabalik-bir-grupla-umraniye-belediye-baskani-nin-babasinin-cenaze-namazina-katildi,38494">Hunderten</a> bis <a href="https://yetkinreport.com/2021/02/24/ak-partiye-her-sey-serbest-kovit-yasaklari-da-hakaret-de/">Tausenden</a> Teilnehmenden, darunter auch Ministern, dem Präsidenten selber, hohen Bürokrat*innen und so weiter. Die Krönung in der Missachtung der Corona-Maßnahmen leistete sich erneut Erdoğan: <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-erdogan-kulliye-de-iftar-verdi,945715">Am selben Tag</a>, an dem Erdoğan weitgehende Beschränkungen des Lebens wegen der Pandemie verkündete (dem 13. April 2021, zu Beginn des Fastenmonats Ramadan), darunter ein Verbot gemeinschaftlichen Fastenbrechens, hielt er selbst ein größeres gemeinschaftliches Fastenbrechen in seinem Präsidentenpalast ab. Deutlicher hätte man nicht vorführen können, dass Gesetze nur für das zertretene Volk, nicht aber für die Damen und Herren der Macht gelten. Vom Regime organisierte Massenveranstaltungen und Demonstrationen wie beispielsweise <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/ayasofya-da-87-yil-sonra-ilk-kez-ramazan-bayrami-namazi-kilindi-tam-kapanmaya-ragmen-binlerce-kisi-katildi,12014/2">ein Gebet</a> mit tausenden Teilnehmenden vor der Hagia Sophia zum Zuckerfest oder <a href="https://t24.com.tr/haber/sokaga-cikma-yasagina-ragmen-turkiye-nin-bircok-ilinde-israil-protestosu-duzenlendi-araclarla-konvoy-yapildi,951694">pro-Jerusalem Demonstrationen</a> und Autokonvois waren inmitten des „totalen“ Lockdowns im Mai 2021 erlaubt. Die Demos der HDP oder von Feminist*innen etwa anlässlich des Austritts aus der Istanbul Konvention oder der Istanbul Pride waren es indes nicht. Verhaftungen auf der Istanbul Pride wurden mit dem Verweis auf Corona-Schutzmaßnahmen vollzogen – <a href="https://t24.com.tr/haber/onur-yuruyusu-nde-kafeden-gozaltina-alinan-murat-kahya-anlatti-sadece-sokakta-bulunmaktan-gozaltina-islemine-tabi-tutuldum-herkes-sussun-isteniyor,962123">selbstverständlich</a> von einem Polizeioffizier veranlasst, der selbst ohne Maske durch die Gegend schrie und verhaften ließ ganz nach seinem persönlichen gusto. Während Gastronomie und Kleinhandel wegen den Auflagen und mangelnder Unterstützung <a href="https://t24.com.tr/video/koronavirus-genelgesi-sonrasi-kapatilan-esnaflar-kadikoy-de-basin-aciklamasi-yapiyor,34334">regelrecht abstarben</a> – laut Schätzungen sind 20-25% der Gastronomiebetriebe <a href="https://www.dunya.com/sektorler/restoranlar-ve-kafelerde-iflas-orani-yuzde-25e-dayandi-haberi-617935">Bankrott gegangen</a> –, <a href="https://twitter.com/beyogluesnafi/status/1365194040132726786">feierten</a> AKP’ler ausgelassen in geschlossenen Räumen, mit Musik und Tanz; das tat auch und <a href="https://t24.com.tr/haber/ahmet-hakan-erdogan-in-irak-basbakani-icin-verdigi-aksam-yemegini-yazdi-tum-restoranlar-kapaliyken-boyle-bir-yemegin-duzenlenmesinde-bir-sorun-gorulmuyor-mu,921830">erneut Erdoğan</a> in seinem Palast (ohne Tanz, dafür mit vielen Gästen und Musik). Auf Gerüchte im Dezember 2020, wonach AKP-Mitglieder unter der Hand priorisiert geimpft wurden, wusste der Gesundheitsminister <a href="https://t24.com.tr/haber/koronavirus-asisi-geldi-el-altindan-akp-li-siyasiler-ve-yakinlarina-yapilmaya-baslandi-iddiasina-bakan-koca-dan-yanit,919757">nur zu sagen</a>: „Sowas würden wir nicht begrüßen“, was die Sache nicht besser machte. Genau so wenig wie der Umstand, dass Erdoğan Anfang Juni 2021 ganz unverblümt im Fernsehen herausplapperte, dass er schon die <a href="https://www.dw.com/tr/erdo%C4%9Fana-3-doz-tepkisi/a-57757065">3. Impfung</a> und zwar <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/cumhurbaskanligi-secimindeki-belirsizlikler-41827308">vermutlich</a> mit dem sehr effizienten BioNTech/Pfizer-Vakzin bekommen hatte, während damals türkeiweit <a href="https://ourworldindata.org/covid-vaccinations?country=~TUR">erst</a> <a href="https://ourworldindata.org/covid-vaccinations?country=~TUR">etwa</a> 20% der Bevölkerung eine Erstimpfung erhalten und davon nur etwa 15% vollständig geimpft waren, dazu noch weitestgehend mit dem weitaus weniger effektiven Sinovac-Vakzin.</p><p>Nicht zuletzt noch die Zurschaustellung maßlosen Reichtums und der Verschwendung, deren Ursprünge wie Auswüchse niemandem mehr als legitim erscheinen, dazu noch inmitten der Pandemie. So wurde bekannt, dass <a href="https://yetkinreport.com/2021/03/30/sadece-kovit-degil-erdoganin-turkiye-tablosu-da-dokuluyor/">zahlreiche</a> <a href="https://yetkinreport.com/2021/04/21/ak-partiyi-yipratmak-icin-ak-partili-elitler-yeter-de-artar/">wichtige</a> staatliche Funktionsträger sowie Berater von Erdoğan gleich <a href="https://t24.com.tr/haber/rtuk-baskani-sahin-rtuk-baskanligi-disinda-halk-bankasi-yonetim-kurulu-uyeligimden-maas-aliyorum-bu-da-yasal-ve-etiktir,945232">mehrere Gehälter</a> beziehen und Unsummen an Geld verdienen. Der <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56610843">Skandal um Kürşat Ayvatoğlu</a>, einem aufstrebenden Jüngling im Hauptquartier der AKP, zeigt nur die Spitze des Eisbergs: Ayvatoğlu war beim Koksen in einer Luxuskarosserie erwischt worden und wurde ursprünglich laufengelassen, nachdem er sich auf der Polizeiwache mit: „das war nur Puderzucker, wir haben das als Witz aufgezogen“ verteidigte. Im weiteren Verlauf des Skandals tauchten zahlreiche Bilder von ihm auf, in denen er mit unendlich viel Luxus und einflussreichen Leuten an seiner Seite posiert. Er ist nur einer von vielen zutiefst opportunistischen Glücksrittern, die durch Anbiederung an die Macht zu Neureichen wurden, sich gerne mit Mächtigen ablichten lassen und im Abglanz der Macht baden, sowie ihren verschwenderischen Luxus ganz offen in Social Media-Profilen zur Schau stellen. Persönlichkeiten wie Ayvatoğlu, der sich laut Eigenaussage aus purem Machtkalkül bis ins AKP-Hauptquartier hocharbeitete, und die geldverschlingenden Bürokraten stehen nicht nur im extremen Widerspruch zum nach Außen kommunizierten konservativ-islamischen Ethikverständnis der AKP; die ostentative Verschwendungssucht, die darin schamlos expliziert wird, ist ein Hohn auf Alle, die unter Pandemie und Pandemiemanagement erdrückt werden.</p><h4><i>Hochmut kommt vor dem Fall. Die hauptsächlich im Sinne von Herrschaft und Kapital betriebene Pandemiepolitik sowie die öffentlich dargestellte Selbstapotheose der Macht hat zusammen mit der sozialen Depravation ganz wesentlich zu einem massiven Legitimationseinbruch geführt.</i></h4><p>Eine Mehrheit der Befragten in Meinungsumfragen <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/anket-iste-cumhurbaskani-erdogan-in-mansur-yavas-ve-ekrem-imamoglu-karsisinda-oy-orani,11163/2">bevorzugt mittlerweile</a> das <a href="https://t24.com.tr/haber/metro-poll-arastirma-halkin-yuzde-57-7-si-guclendirilmis-parlamenter-sistem-e-gecmek-istiyor,928429">Parlamentssystem</a> gegenüber dem „Präsidialsystem“ von Erdoğans Gnaden; glaubt, dass sich <a href="https://yetkinreport.com/2021/05/03/kriz-akp-tabanini-vurdu-mutlu-azinliktan-herkes-rahatsiz/">die</a> <a href="https://yetkinreport.com/2021/05/03/kriz-akp-tabanini-vurdu-mutlu-azinliktan-herkes-rahatsiz/">Wirtschaft</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/metro-poll-un-son-anketi-vatandas-enflasyon-siyasi-gerilim-andimiz-istanbul-sozlesmesi-ve-merkez-bankasi-konularinda-hukumete-tepkili,944188">wegen</a> <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-05-25/erdogan-s-poll-rating-hits-all-time-low-as-economic-woes-grow">schlechtem Management</a> in einer Krise/<a href="https://t24.com.tr/foto-haber/anket-iste-cumhurbaskani-erdogan-in-mansur-yavas-ve-ekrem-imamoglu-karsisinda-oy-orani,11163/2">in einem miserablen Zustand</a> <a href="https://tr.euronews.com/2020/11/09/metropoll-turkiye-nin-nabz-anketi-ak-parti-oylar-ilk-kez-yuzde-30-un-alt-nda">befindet</a>; glaubt zu 80% <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-arastirmasi-cumhurbaskanligi-seciminde-erdogan-ve-mansur-yavas-karsilasmasinda-mansur-yavas-kazaniyor,924308">nicht mehr</a> den offiziellen Inflationszahlen; vertraut laut einer von der AKP selbst aufgegebenen Umfrage <a href="https://www.hurriyet.com.tr/gundem/iste-pandeminin-fotografi-her-iki-kisiden-birinin-yakini-viruse-yakalandi-41735095">nicht mehr</a> in das Pandemiemanagement der Regierung; hat das Vertrauen in das Justizsystem <a href="https://d4b693e1-c592-4336-bc6a-36c134d6fb5e.filesusr.com/ugd/c80586_9672fab5d7a042dd82d2c9eba95f125b.pdf">fast vollständig</a> <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/ozkiraz-akpye-yakin-sirketin-anketinde-erdogan-ilk-kez-kaybetti-galeri-1525679?p=6">verloren</a>; <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-anketi-halkin-yuzde-79-1-i-pandemi-doneminde-duzenlenen-kongreleri-yanlis-buluyor,949353">verurteilt sehr eindeutig</a> die AKP-Kongresse während der Pandemie (zu 79%) sowie das Beziehen mehrerer Gehälter von Bürokrat*innen und Berater*innen (zu 70%); befindet, dass sich das Land und die Wirtschaft in eine <a href="https://yetkinreport.com/2021/05/03/kriz-akp-tabanini-vurdu-mutlu-azinliktan-herkes-rahatsiz/">schlechte Richtung</a> entwickeln und klagt <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/sosyo-politikin-anketi-uc-parti-baraji-geciyor-cumhur-ittifaki-yuzde-44te-galeri-1515701">hauptsächlich</a> über <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halk-turkiye-deki-en-acil-sorunun-gecim-sikintisi-ve-issizlik-oldugunu-dusunuyor,937423">wirtschaftliche Probleme</a> und die <a href="https://tr.sputniknews.com/columnists/202101071043535483-arastirma-kendisini-ve-ailesini-gecindiremeyenlerin-orani-yuzde-511-sadece-yuzde-36-tasarruf/">Coronakrise</a>. Immer mehr Wähler*innen von AKP und MHP springen entweder <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-secmenini-en-cok-kaybeden-parti-mhp,965341">direkt ab</a> oder sind sich <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-isiklar-yaniyor-dan-darbe-tartismasina-donus,909368">unsicher</a> über ihre Parteipräferenz; der Anteil der Befragten, die keine klaren Wahlpräferenzen artikulieren (Protestwähler*innen, Unsichere, keine Antwort), liegt mittlerweile <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/son-secim-anketi-bu-sonuc-akp-tarihinde-bir-ilk-1832823">regelmäßig</a> bei <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-bu-pazar-milletvekili-secimi-olsa-hangi-parti-yuzde-kac-oy-alir,965664">kräftigen 20%</a>. Nicht zuletzt sinkt die Zustimmung zu Erdoğan als Präsident und befindet sich auf einem <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halkin-yarisindan-fazlasi-cumhurbaskani-erdogan-in-gorevini-yapis-tarzini-onaylamiyor,949034">historischen Tief</a> und <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/son-uc-ayda-16-anket-sirketi-inceledi-iste-partilerin-oy-oranlari-1817641">fast alle</a> Wahlumfrageinstitute berichten von Ergebnissen, wonach die Regierungskoalition bei einer anstehenden Wahl <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/9-farkli-sirketin-secim-anketlerinden-dikkat-ceken-sonuclar-ortaya-cikti-1815448">nicht mehr</a> als Siegerin hervorgehen würde – darunter <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/ozkiraz-akpye-yakin-sirketin-anketinde-erdogan-ilk-kez-kaybetti-galeri-1525679?p=6">sogar AKP-nahe</a> Wahlumfrageinstitute. AKP-intern werden mittlerweile <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/krizle-birlikte-akpnin-eriyen-oylari-anketlerle-gun-yuzune-cikti-iktidar-endiseli-1846283">Ängste geäußert</a>, dass bei den nächsten Wahlen Schluss sein könnte. Nur: Ein Legitimationseinbruch allein genügt nicht, wenn nicht eine überzeugende Alternative da ist. Solange verbleibt der Dissens atomisiert und perspektivlos, jederzeit bereit dazu, zu verkümmern oder doch beim Bestehenden zu bleiben. Ich greife dieses Thema und das Problem der Opposition am Ende des Artikels noch einmal auf. Jetzt erst mal zur Wirtschaftskrise.</p><h2><b>Die ewige Wiederkunft der gleichen Wirtschaftskrise</b></h2><p>Spätestens seit 2013 hat sich ein Muster wirtschaftlicher Krisenanfälligkeit in der Türkei eingestellt, das sich alle paar Monate oder Jahre wiederholt und seit 2018 besonders verschärft. Zeitgleich entwickelten sich die Debatten über primäre und sekundäre Ursachen dieser Krise weiter und die Fragen danach, was sich daraus für die Kräfteverhältnisse und Entwicklungsperspektiven innerhalb der türkischen Gesellschaftsformation ableiten lässt.</p><p>Prinzipiell befindet sich der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei wegen seiner Außenabhängigkeit seit 2013 in einer strukturellen Krise. Das heißt, dass die türkische Wirtschaft sehr wesentlich auf den Import von Zwischen- und Kapitalgütern für die (Export-)Produktion sowie von finanziellem Kapital für die Finanzierung von Investitionen im Land sowie der Tilgung des Außenhandelsdefizits angewiesen ist. Ihr fehlt dagegen weitestgehend eine eigenständige Kapitalgüter- beziehungsweise technologieintensive Produktion, die ihre Außenabhängigkeit reduzieren beziehungsweise das Außenhandelsdefizit mindern könnte. Die derzeitige Lage begründet sich schlicht darauf, dass die AKP das schon vor ihr entstandene semi-periphere Modell des Neoliberalismus geerbt und vollständig verankert hat. Und es liegt zugleich daran, dass die AKP den sich ihr bietenden Spielraum in der Wirtschaftspolitik nicht im Sinne eines produktiven Updates der türkischen Wirtschaft, sondern klientelkapitalistisch und politisch motiviert durch die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/kamu-ozel-isbirlikleri-devletlestirilebilir-mi-makale-1500437">Vergabe von Unmengen an Bauaufträgen</a> in den Beton gesetzt hat (das heißt, in Sektoren gelenkt hat, die kein produktives Upgrade der Industrie möglich machen und wenig bis keine Devisen generieren).<i> Quantitative Easing</i> und Anleihekäufe der US-amerikanischen Zentralbank (Fed) sorgten zwar nach 2007-08 weiterhin dafür, dass der Zufluss von ausländischem finanziellen Kapital in die Türkei nicht abnahm. Als die Fed 2013 jedoch ankündigte, diese Programme zurückzufahren, wurden die Kapitalflüsse volatiler und der Wert der Lira gegen dem US-Dollar und dem Euro fing seitdem immer an zu fallen, wenn nicht besonders günstige internationale Umstände den Kapitalzufluss wieder ankurbelten. Da die seinerzeit zu sehr günstigen Konditionen aufgenommenen Auslandsschulden insbesondere des Privatsektors teils erheblich waren, nahm damit die Auslandsverschuldung und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Industrie auch die Inflation permanent zu. Erdoğans zunehmend unorthodox neoliberales und re-politisiertes Wirtschaftsmanagement, das eigenwillige außenpolitische Agieren der türkischen Regierung sowie das Ersetzen konstitutioneller und institutioneller Mechanismen durch willkürliche, kamen erschwerend hinzu. So führte ein diplomatischer Konflikt mit den USA im Sommer 2018 zu einem <a href="https://jacobinmag.com/2019/03/erdogan-akp-turkey-local-elections">schweren Währungsschock</a>. Auslandsschulden und Importkosten explodierten, Rückzahlungsprobleme, Schuldenumstrukturierungen und Einbruch des Konsums waren die Folgen. Es folgten <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/EN/TCMB+EN/Main+Menu/Core+Functions/Monetary+Policy/Central+Bank+Interest+Rates/CBRT+INTEREST+RATES">massive Zinserhöhungen</a> der türkischen Zentralbank (TCMB) bis zum Peak des Leitzinses von 25,50% im September 2018, die zwar die Attraktivität der türkischen Wirtschaft für ausländisches Kapital und den Wert der TL aufrechterhalten sollten, aber wegen der Höhe der Zinsen zusätzlich kontraktiv auf den Kredit- wie allgemein den Binnenmarkt wirkten. Die Währungskrise entwickelte sich zu einer <a href="https://www.researchgate.net/publication/333951280_The_Making_of_Turkey's_2018-2019_Economic_Crisis">schweren Wirtschaftskrise</a>.</p><p>In Folge intervenierte Erdoğan noch direkter in die Wirtschaftspolitik. Zum einen setzte er schon kurz vor jener Währungskrise seinen Schwiegersohn Berat Albayrak als Finanz- und Wirtschaftsminister ein, der eine stärker binnenmarktorientierte Politik verfolgen sollte und hierfür vor leichten Kapitalverkehrskontrollen, Handelsbeschränkungen und – im Gegensatz zum damaligen Zentralbankchef – einer von staatlichen Banken angeführten Kreditexpansion nicht zurückschreckte. Zum anderen ersetzte Erdoğan prompt den unter hohem politischem Druck dennoch mehr oder minder nach orthodox-neoliberalen Regeln vorgehenden Zentralbankchef Murat Çetinkaya durch Murat Uysal, der seinem Namen volle Ehre angedeihen ließ (Uysal heißt fügsam, willfährig auf Türkisch). Er senkte die Zinsen wider die orthodoxen-neoliberalen Lehren schrittweise bis auf etwa 9% im Sommer 2020, <a href="https://www.statista.com/statistics/277044/inflation-rate-in-turkey/">das heißt</a> weit unter die durchschnittliche Inflationsrate von 15,18% (2019) beziehungsweise 12,28% (2020) und somit auf ein reales Negativzinsniveau. <b>[4]</b> Beides und beide führten zu einer stetigen Erosion des Wertes der TL und zum Versiegen insbesondere der <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/12/turkey-economic-turmoil-is-far-from-over-increase-inflation.html">kurzfristigen Kapitalzuflüsse</a>, sodass mitten in der Corona-Pandemie erneut eine <a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">schwere Währungskrise</a> einsetzte und die TL <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/11/turkey-inflation-lira-worst-performer.html">am meisten</a> unter den Währungen der Schwellenländer abwertete. Milliarden an Dollar-Reserven der TCMB wurden verschleudert, um den Wert der TL ohne Zinshebungen zu verteidigen: Laut Aussagen von Erdoğan selbst insgesamt immense <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-04-21/erdogan-says-turkey-used-165-billion-of-reserves-in-two-years">165</a> <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-04-21/erdogan-says-turkey-used-165-billion-of-reserves-in-two-years">Milliarden</a> $ zwischen 2019 und 2020, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/128-milyar-dolarin-perde-arkasi-1-rezervler-hangi-platformda-satildi-gizemli-protokol,30666">laut Kritiker*innen</a> allein grob 128 Milliarden $ davon während der Coronakrise 2020 und dem erneuten Währungsschock im Sommer 2020. Umsonst alle Bemühungen der Sterblichen: Die <a href="https://t24.com.tr/haber/mahfi-egilmez-swap-haric-rezervler-eksi-54-1-milyar-dolar,917398">Nettonegativreserven</a> der TCMB abzüglich der Swaps machten die Situation noch prekärer (Für alle, die es genauer wissen wollen: Die Devisenreserven der TCMB minus Schulden und Swaps in ausländischer Währung: -54,1 Mrd. $, Ende November 2020; <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/07/merkez-bankas-hakknda-bilmemiz.html">immer noch</a> -45,57 Mrd. $ Ende Juni 2021). <b>[5]</b> Hinzu kamen erneut <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-10-07/turkish-lira-weakens-to-record-as-geopolitical-risks-mount">außenpolitische Spannungen</a> insbesondere mit den USA. Zusätzlich wurden eine <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/12/turkey-erdogan-akp-alarming-surge-consumer-corporate-debt.html">Kreditschwemme</a> staatlicherseits <a href="https://www.academia.edu/45165470/Turkey_s_Economy_Amid_the_COVID_19_Pandemic_Measures_and_Their_Impact">hauptsächlich über staatliche Banken</a> forciert – das gesamte Kreditvolumen wuchs um 40%! – und die schon erwähnten Konjunkturpakete verkündet, um die Wirtschaft zu stützen. Die Kredite gingen <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/12/turkey-erdogan-akp-alarming-surge-consumer-corporate-debt.html">hauptsächlich</a> an Privathaushalte, was natürlich die Binnennachfrage ankurbelte. <a href="https://www.academia.edu/44607632/Turkeys_Public_Banks_Amid_the_Covid_19_Pandemic">Insgesamt</a> 7 Millionen Individuen bezogen Bedarfskredite (max. 10.000 TL, also etwas weniger als 1.000 €), öffentliche Banken reichten Kredite an 180.000 kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sowie an 1,1 Millionen Ladenbesitzer*innen. Nach -9,9%/BIP im 2. Quartal 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum wuchs die türkische Wirtschaft kräftige 6,7%/BIP im 3. Quartal gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/tuik-ekonomi-ucuncu-ceyrekte-yuzde-67-buyudu-haber-1505934">Komposition</a> des Wirtschaftswachstums indes war bezeichnend für den Charakter desselben und relativierte dessen Tragfähigkeit: der inländische Konsum wuchs um 9%, die Industrie immerhin um 8%, aber das Finanz- und Versicherungswesen um ganze 41,1%. Von den niedrigen Zinsen hatten ja nicht nur die KMU und die privaten Konsument*innen profitiert, sondern natürlich auch die großen Privatbanken, die billig an TL rankamen, um diese teurer weiter zu geben oder zu handeln (worüber sich wiederum die KMU, die weiterhin auch auf Privatbanken angewiesen blieben, <a href="https://www.dunya.com/finans/haberler/tobb-baskani-hisarcikliogludan-bankalara-yuksek-faiz-elestirisi-haberi-606968">lautstark beschwerten</a>).</p><p>Schrille Töne folgten: So sprach Erdoğan von einem „<a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-10-31/turkey-fighting-against-unholy-trinity-in-economy-erdogan-says">wirtschaftlichen Befreiungskrieg</a>“ wie im späten Osmanischen Reich; der Finanz- und Wirtschaftsminister Albayrak deklarierte öffentlich, dass ihm der Wert des Dollars <a href="https://t24.com.tr/haber/hazine-ve-maliye-bakani-berat-albayrak-dolarla-ugrasmiyoruz-istesek-dusururuz,913487">egal sei</a>. Der willfährige Zentralbankchef erklärte Ende Oktober 2020 ebenfalls, dass die TCMB kein Ziel bezüglich des Werts der TL verfolge – was zwar strenggenommen dem Mandat der Zentralbank entspricht (keine Devisenfokussierung, sondern Preis- und ergo Inflationsfokussierung), aber mit den Zusätzen des Zentralbankchefs: „der Wert der Lira ist extrem niedrig“ und „die Wertlosigkeit der TL ist ein Risiko für die Preisstabilität“, ein sehr offen kommuniziertes <a href="https://t24.com.tr/haber/merkez-bankasi-yil-sonu-enflasyon-tahminini-yuzde-12-1-e-cekti,911785">Eingeständnis</a> der prekären Situation und der Handlungsohnmacht der TCMB darstellte. Verständlicherweise kollabierte der Wert der TL daraufhin natürlich nochmals. <b>[6]</b> Allein in jener Woche <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-10-28/lira-heads-for-biggest-monthly-decline-this-year-inside-turkey">verschleuderte</a> die TCMB angeblich an die eine Milliarde Dollar an Devisenreserven, um den Wert der TL zu halten – völlig umsonst. <a href="https://www.bloomberght.com/doviz/dolar">Von etwa</a> 6 TL pro Dollar Anfang 2020 fiel der Wert der TL auf bis zu 8,5 TL pro Dollar Anfang November 2020. Aber schon im August/September 2020 hatte sich wegen der prekären Situation wieder eine 180°-Kehrtwende <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/ekonomide-u-donusu-demokratiklesme-degil-otoriter-konsolidasyon-getirebilir-makale-1504645">angekündigt</a>, die dann sukzessive vollzogen wurde: Auf die massive Kreditexpansion folgte eine massive Kreditkontraktion der Öffentlichen und die Zinsen der TCMB wurden <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/merkez-bankasi-piyasalari-ters-kose-yapti-dolar-uctu-haber-1502396">zuerst durch die Hintertür</a> und dann zaghaft <a href="https://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/connect/en/tcmb+en/main+menu/announcements/press+releases/2020/ano2020-58">auch explizit</a> erhöht, obzwar der Leitzins immer noch unter der Inflationsrate blieb. Gekrönt wurde diese Kehrtwende erneut durch eine Ersetzung des Zentralbankchefs seitens Erdoğans in einer spontanen Aktion vom 6. November 2020. Finanz- und Wirtschaftsminister Berat Albayrak reichte daraufhin seinen Rücktritt ein – per Instagram, wohlgemerkt (und widerlegte damit übrigens linksliberale Fehlvorstellungen, wonach Erdoğans Politik <a href="https://www.ft.com/content/5ba8d28a-2550-446a-8cd5-92e33caff637">nur mehr</a> „klientelistische Familienpolitik“ sei). Und das Pendel der mittlerweile bekannten wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden schlug erneut in die entgegengesetzte, orthodox-neoliberale Richtung aus: Der neue Finanzminister Lütfi Elvan wie auch der neue Zentralbankchef Naci Ağbal kündigten in <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/11/turkey-new-finance-minister.html">sehr klaren Worten</a> eine <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/elvan-ortak-akilla-gerekli-duzenlemeleri-yapacagiz-haber-1504806">neoliberale Geld- und Fiskalpolitik</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/tcmb-baskani-naci-agbal-2021-yili-para-ve-kur-politikasi-ni-acikliyor,920953">an</a> (hohe Zinsen, Kreditkontraktion, Ausgabenkürzungen). Erdoğan sprach davon, dass „<a href="https://t24.com.tr/haber/dolar-kuru-8-liranin-altina-indi,914186">die bittere Pille</a> geschluckt“ werden müsse. Und erneut fand, diesmal schon als Farce der Farce, der x-te zweite Frühling in der Beziehung zwischen AKP und Großkapital statt: Innerhalb kürzester Zeit <a href="https://www.bloomberght.com/yabancilar-tcmb-nin-faiz-artirimini-olumlu-karsiladi-2269011">stieg</a> der TCMB-Leitzins um mehr als 400 Basispunkte gerade noch so ein bisschen über das <a href="https://t24.com.tr/haber/hazine-ve-maliye-bakani-yuksek-enflasyonun-vatandasimiz-uzerindeki-etkilerini-en-aza-indirmek-icin-tum-gucumuzle-calisiyoruz,918471">Inflationsniveau</a> auf 15% an (die Inflation lag im November 2020 bei 14%, daher wurde der Leitzins bis <a href="https://www.ft.com/content/4fd66e78-3ba8-4bd9-8a31-bfbb9605284a">Ende des Jahres</a> auch auf bis zu 17% gehoben, um einen positiven Realzins zu garantieren). Eine Welle an Kapital kam <a href="https://www.bloomberght.com/ekonomide-yeni-donem-mesajlarinin-verildigi-haftada-yabancilarin-alimi-3-yilin-zirvesinde-2269010">ins Land geflossen</a>, die Lira gewann <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-02-11/turkish-corporate-debt-rallies-as-lira-rebound-adds-funding-room">stetig an Wert</a>, der Hauptverband des Großkapitals, die Vereinigung türkischer Industrieller und Geschäftsleute (<i>Türk Sanayicileri ve İş İnsanları Derneği</i>, TÜSIAD), und große internationale Player wie die<i> Société Générale</i> <a href="https://www.bloomberght.com/tusiad-in-faiz-artisi-yorumu-2269022">gratulierten</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/tuncay-ozilhan-yuksek-reel-faize-dayali-sok-tedavi-uzun-sure-kullanilmamali,918501">gleich</a> <a href="https://www.bloomberght.com/tusiadkaslowski-reform-adimlarinin-atilacagina-inaniyoruz-2269550">mehrmals</a> euphorisch zur „neuen“ Wirtschaftspolitik. Mehrere Treffen mit Verbänden der KMU wie auch des Großkapitals wurden gehalten und erneut Einigkeit erzielt; ja <a href="https://yetkinreport.com/2021/01/29/sermayenin-erdoganla-dansi-figurler-zarif-ama-muzik-sert/">sogar ein Gremium</a> für die Kontrolle der stark umstrittenen Inflationsberechnungen des TÜIK gegründet, in dem Vertreter des Großkapitals saßen, um das Vertrauen kapitalistischer Akteure in die regulativen Institutionen des Staates weiter zu festigen.</p><p>Eigentlich ist das Muster dieser wirtschaftspolitischen Taktik der permanenten Kehrtwenden, „<a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/erdogans-zigzags">Erdoğans Zigzag’s</a>“, <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yeni-ekonomi-yonetimi-eski-bir-drama-makale-1504320">altbekannt</a> und wird seit Jahren praktiziert.</p><h4><i>Ist der Druck wegen Kapitalabfluss und Währungsverfall auf Inflation und Zinsen so groß, dass sie binnenmarktorientierte KMU zu stark gefährdet, schlägt das Regime um Erdoğan eine aus der Perspektive neoliberaler Orthodoxie heterodoxe Wirtschaftspolitik der Kreditexpansion, Niedrigzinsen, teils staatlich gestützter Billigdevisen und ähnlicher Maßnahmen ein.</i></h4><p>Diese Kehrwende wird dann mit reichlich nationalistisch-antiimperialistischer Rhetorik ideologisch verkleidet, zieht regelmäßig die Kritik des Großkapitals und der linksliberalen Antiautoritären auf sich und führt letztlich oft zu einer Verschärfung der Krisenelemente: Fall der Lira, noch höhere Inflation, daher noch höherer Druck auf die Zinsen, Versiegen der Kapitalflüsse und Verschärfung der innerkapitalistischen Antagonismen. Sobald genug Zeit erkauft wurde, um die binnenmarktorientierten Kapitale und KMU kurzfristig zu retten, und der Druck der internationalen Finanzmärkte, in die die Türkei ja organisch eingebettet ist, zu hoch wird, wird dann erneut eine 180°-Kehrtwende hin zu einer augenscheinlich orthodoxen neoliberalen Wirtschaftspolitik eingeschlagen. Es werden Reformen und Bekenntnisse zum freien Markt, zu makroökonomischer Stabilität, Berechenbarkeit, Transparenz etc. verkündet – bis zur nächsten Krise, in der dann wieder um 180° gewendet wird, und so weiter bis zum Jüngsten Gericht. Dass nicht nur die Großbourgeoisie der Türkei, sondern auch die „internationalen Finanzmärkte“ jedes Mal wieder die eine Seite der 180°-Wende, nämlich die orthodox-neoliberale, voller Glück empfangen wie Kinder ein frisch lackiertes Schaukelpferd, und wider besseren Wissens ignorieren, dass die nächste Kehrtwende wieder kommt, lässt sich vielleicht auch als Symptom des Zustands des globalen Kapitalismus lesen: Hauptsache es funktioniert jetzt, egal was später kommt, denn es gibt ja doch nichts besseres.</p><p>Auch dieses Mal zeichnete sich eigentlich recht früh die Vergänglichkeit der orthodox-neoliberalen Kehrtwende ab. Noch wenige Tage nach dem Wechsel in der Wirtschaftspolitik und den verantwortlichen Bürokraten sprach Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-buralara-vesayetin-parasutuyle-gelmedik-zorluklari-tecrube-ederek-buralara-geldik,915569">schon davon</a>, dass er am liebsten wieder sehr früh <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/erdogandan-faiz-yorumu-bazi-aci-ilaclari-icmemiz-gerekiyor-haber-1505058">niedrigere Zinsen</a> sehen würde. Hardcoreberater von Erdoğan wie der Ex-Marxist-jetzt-Stiefellecker Cemil Ertem oder die Speerspitzen der Revolverpresse schossen <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/naci-agbal-in-yalnizligi-bestepe-ve-akp-de-herkes-onun-politikalarina-karsi,29560">eine Salve nach der anderen</a> auf den neuen Zentralbankchef ab. Was kam, war also schon längst gewusst und zudem mit Fanfaren angekündigt. <i>Amor fati</i> aber lautete das Lebensmotto; und allzu erwartbar war also auch die Wiederkunft der ewig selben Wirtschaftskrise. Konkretes zeichnete sich im März 2021 ab: Keine zwei Monate nach Ankündigung der Errichtung des Kontrollgremiums für die Inflationszahlen wurde dieses sang- und klanglos <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/tuik-te-iki-aylik-peri-masali-bitti-danisma-kurullarinin-lagvi-bakan-elvan-a-mesaj-mi,30173">begraben</a>. Hinter den Kulissen munkelte man, der neue Finanzminister und der neue Zentralbankchef hätten <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/elvan-ve-agbal-a-hazine-bakanligi-ve-merkez-bankasi-nda-kendi-ekiplerini-kurma-izni-neden-verilmiyor,30139">kaum Entscheidungsmacht</a> innerhalb ihrer jeweiligen Bereiche; und ein Reformpaket für die Wirtschaft kam über <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/erdal-saglam/ekonomik-reform-paketini-kim-tirpanladi-1820906">wohlklingende Worthülsen</a> nicht hinaus. Als sich dann der Zentralbankchef angesichts der hohen Inflationsrate in den USA <b>[7]</b> trotzdem traute, die Zinsen <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-03-18/turkey-delivers-bigger-than-expected-rate-hike-to-rein-in-prices">nochmal</a> um 2% auf 19% zu heben und – so heißt es – <a href="https://www.reuters.com/article/turkey-cenbank-int-idUSKBN2BN1H4">Untersuchungen anstellte</a>, wie und warum so viele Devisenreserven der TCMB verschleudert wurden, da war dann Schluss mit lustig. Wenige Tage nach dieser Zinsentscheidung, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom 19. auf den 20. März 2021, wurde der Zentralbankchef erneut <a href="https://www.bloomberght.com/merkez-bankasi-baskani-naci-agbal-gorevden-alindi-2277022">per präsidialem Dekret</a> ausgewechselt. Anstatt seiner wurde erneut ein ehemaliger AKP-Parlamentarier eingewechselt, Şahap Kavcıoğlu, der noch einen Monat zuvor im Flaggschiff der Revolverpresse,<i> Yeni Şafak</i>, <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/sahap-kavcioglu/enflasyon-faiz-ve-doviz-kuru-2057586">ganz aggressiv</a> die Meinung vertreten hatte, dass die Zinsen zu senken seien. Und so kam dann, was kommen musste: <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-03-21/turkey-bulls-are-wrong-footed-after-central-bank-hawk-s-ouster">Kaum</a> öffnete die Istanbuler Börse wieder am 21. März, musste sie gleich zweimal im Laufe des Tages wegen zu großen Kurseinbrüchen schließen. Erneut kam es mit <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-dunya-56495233">1400% Zinsen</a> auf TL-Swaps zu einer TL-Klemme im Londoner Devisenmarkt und innerhalb einer einzigen Woche waren <a href="https://www.bloomberght.com/doviz/dolar">fast alle</a> die mühsamen Gewinne der TL gegenüber dem $ von über fünf Monaten zunichte gemacht geworden. Absurderweise senkte der neue Zentralbankchef – vermutlich überrannt von den heftigen Reaktionen der Finanzmärkte – <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-04-15/turkey-holds-rates-in-first-meeting-under-new-central-banker">noch nicht einmal</a> die Zinsen und <a href="https://www.bloomberght.com/tcmb-baskani-kavcioglu-nun-ilk-ozel-roportaji-2277484">gab</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/merkez-bankasi-baskani-kavcioglu-erken-gevseme-beklentisi-ortadan-kalkmali,956322">sogar</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/merkez-bankasi-baskani-sahap-kavcioglundan-flas-mesajlar-1824350">mehrmals durch</a>, dass er sich an die orthodox-neoliberalen Spielregeln halten würde. Der Zentralbank-Leitzins steht daher immer noch bei 19%, wobei die Inflationsrate mittlerweile fast ebenso hoch ist und daher starken Druck auf den Leitzins nach oben ausübt, anstatt wie erhofft einen kleinen Spielraum für die Senkung der Zinsen zu liefern. Auch der Finanzminister – der nicht entlassen wurde – <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-03-22/turkey-says-no-step-back-from-free-markets-after-lira-crash">beteuerte</a> hilflos die freien Märkte, das liberale Devisenregime und dergleichen. Es nutzte aber alles nichts. Tiefe Enttäuschung sodann, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/tusiad-yik-baskani-ozilhan-ekonomi-yonetimini-elestirdi-1824292">erneut</a>, beim Großkapital: eineinhalb Jahre ökonomischer Reformpakete seien ergebnislos geblieben, ohne Berechenbarkeit sei nichts zu machen, die Türkei verpasse den Anschluss an die Welt wie schon zu Ende der 1970er, <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-de-genel-kurul-gunu-ozilhan-rezervlerden-doviz-satmak-ancak-kisa-vadede-ise-yarar-kaslowski-3-yildir-aciklanan-ekonomik-paketler-sonuc-vermedi,942481">so</a> der TÜSIAD.</p><p>Zwar ist die Türkei wegen der massiven Kreditexpansion und den niedrigen Zinsen nach China <a href="https://www.aa.com.tr/en/economy/turkish-economy-grows-18-in-2020/2160307">das einzige Land</a> innerhalb der G20, das das Jahr 2020 mit einem <a href="https://yetkinreport.com/2021/03/01/buyume-yuzde-18-ekonomik-gorunum-nasil/">wirtschaftlichen Plus</a> abschloss (1,8% BIP-Wachstum in der Türkei für das ganze Jahr). Auch im neuen Jahr wächst die türkische Wirtschaft bislang <a href="https://t24.com.tr/haber/turkiye-2021-in-ilk-ceyreginde-yuzde-7-buyudu,955702">kräftig weiter</a> (7%/BIP-Wachstum im 1. Quartal 2021 gegenüber dem Vorjahreszeitraum). Aber nicht nur blieben die strukturellen Defizite des türkischen Neoliberalismus wie die finanzielle Außenabhängigkeit und das große <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/12/turkey-erdogan-akp-alarming-surge-consumer-corporate-debt.html">Leistungsbilanzdefizit</a> (-5,1%/BIP, 2020) bestehen, welches weiterhin mit ausländischem Kapital finanziert werden muss. Es gesellte sich auch noch ein größeres staatliches Defizit (-3,7%/BIP, 2020) hinzu, das logischerweise zu einer <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-economy-public-debt-is-growing-generating-risks.html">beträchtlichen Erhöhung</a> der einst eigentlich recht niedrigen Staatsverschuldung auf 40%/BIP (2018: 29%, 2019: 31%) führte – wovon <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/01/turkey-economy-public-debt-is-growing-generating-risks.html">mehr als die Hälfte</a> in ausländischer Währung besteht. Das heißt: Auf den Wertverlust der Lira folgt nicht nur Zunahme der Verschuldung der Privaten, sondern auch des Staates. Mittlerweile hat Erdoğan ein <a href="https://haber.sol.org.tr/haber/erdogandan-akplileri-uzen-tasarruf-genelgesi-cumhurbaskanligi-muaf-308251">umfassendes Sparpaket</a> für alle staatlichen Institutionen und Ministerien veröffentlicht – ausgenommen natürlich des Präsidialamtes. Ebenfalls nahm wegen der Kreditschwemme und dem Währungsverfall die (Privat-)Verschuldung enorm zu (75%/BIP <a href="https://data.worldbank.org/indicator/FS.AST.PRVT.GD.ZS?locations=TR">Inlandsverschuldung</a> der Privaten, insgesamt 60%/BIP <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/02/turkey-foreign-debt-risks-hover-over-turkish-lira-recovery.html">Auslandsverschuldung</a> privat und öffentlich), wobei <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/further-depreciation-turkish-lira-appears-inevitable">alleine</a> 200 Milliarden $ an Schulden (etwa 25%/BIP) in ausländischer Währung hauptsächlich des Privatsektors kurzfristig, das heißt innerhalb von 12 Monaten umzuwälzen sind.</p><p>Die zu erwartende Explosion der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/baris-soydan/bankalarin-batik-kredileri-hakkinda-gec-olmadan-konusmamiz-lazim,31117">Rate notleidender Kredite</a> (<i>non-performing loans</i>, NPL) konnte nur mittels temporärer Maßnahmen verdeckt werden: Wurden früher 90 Tage Überziehung von Kreditratenrückzahlungen als notleidende Kredite klassifiziert, so erlaubte die Regierung während der Pandemie eine Ausweitung auf 180 Tage. Daher beträgt derzeit der Anteil der NPL an allen Krediten offiziell 3,79%; nach früherer Darstellung berechnet jedoch 4,43%. Rechnet man alle Kredite hinzu, die in irgendeiner Weise Rückzahlungsschwierigkeiten aufweisen, kommt man auf einen Anteil problematischer Darlehen von 15% an allen Krediten. Zudem wurden Darlehen in Milliardenhöhe umstrukturiert; das heißt, es wurden Rückzahlungskonditionen von bestehenden Krediten im Sinne der Schuldner verändert (beispielsweise mittels Ratenaufschub, oder bloßer Zinszahlung für eine bestimmte Zeit). So wurden <a href="https://www.dunya.com/finans/haberler/178-firmanin-38-milyar-lira-borcuna-yapilandirma-haberi-619418">beispielsweise</a> zwischen Oktober 2019 und März 2021 Kredite von 178 Unternehmen in Höhe von 38 Milliarden TL umstrukturiert. Anfang Juli dieses Jahres kam es zur bislang <a href="https://www.bloomberght.com/istanbul-havalimani-isletmecisinden-turkiye-tarihinin-en-buyuk-refinansmani-2284223">größten Refinanzierungsaktion</a> der türkischen Geschichte: Bezeichnenderweise war es die den dritten Istanbuler Flughafen bedienende Operateurin IGA, die ganze 6,9 Milliarden $ Schulden refinanzieren ließ. <a href="https://www.academia.edu/44607632/Turkeys_Public_Banks_Amid_the_Covid_19_Pandemic">Schon 2018</a> betrug die Höhe der Kreditrestrukturierungen für Unternehmen 30 Milliarden $. Aber darauf zu spekulieren, dass Unternehmen, die heute Kredite nicht mehr zurückzahlen können, morgen plötzlich wieder in der Lage hierzu sind, stellt eine sehr riskante Flucht in die Zukunft dar. Man denke an das an sich unbedeutende Unternehmen Diriteks Tekstil, dessen Börsenwert im Jahr 2020 um ganze 246% zulegte. Diriteks Tekstil musste Anfang des Jahres schon Schulden von über einer Million TL restrukturieren, konnte die erste Rückzahlungsrate trotz günstiger Konditionen dennoch nicht zahlen und sah sich folgerecht einem Vollstreckungsverfahren seitens des Gläubigers, der öffentlichen Halk Bank, <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/zombilerin-yukselisi-makale-1502135">ausgesetzt</a>. Ein Ökonom der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) spricht mit Bezug auf die notleidenden Kredite in der Türkei treffend vom „<a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-10-12/turkey-s-credit-boom-seen-at-risk-of-backfiring-into-bad-loans">elefant-in-the-room</a>“. Und nicht ohne Grund sind die Profite der öffentlichen Banken – die ja zu jener Kreditschwemme zu realen Negativzinsen politisch forciert wurden – <a href="https://t24.com.tr/haber/kamu-bankalarinin-karinda-sert-dusus-vakifbank-in-kari-yuzde-56-halkbank-in-yuzde-92-azaldi,951544">ins Bodenlose gefallen</a> und gehen mittlerweile <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/ekonomi/kamu-bankalarindan-iki-ayda-11-milyar-tllik-zarar-iki-nedeni-var-6512170/">ins Minus</a>.</p><p>Der Wert der Lira fällt indes weiter. Die Dollarisierung der Einlagen, also der Anteil von $-Bankeinlagen an allen Bankeinlagen, als Schutz vor Währungsverfall und Inflation beträgt weiterhin <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/further-depreciation-turkish-lira-appears-inevitable">fast 60%</a>, die Inflation ist mit <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkish-inflation-climbs-two-year-high-likely-delaying-interest-rate-cut">mittlerweile 18,95%</a> (Juli) erneut stark gestiegen und die Schere zwischen der Inflation der Produzentenpreise und der Verbraucherpreise <b>[8]</b> hat mit fast 26% mittlerweile einen <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/fiyatlara-uretici-farki-sonbaharda-geliyor-haberi-627126">historischen Höchststand</a> erreicht. Diese Entwicklung wird sich sehr sicher in kurzer Zeit auf die Verbraucherpreise niederschlagen. Kaum jemand glaubt mehr den erwähnten Inflationszahlen des TÜIK; alternative Berechnungen der Untersuchungsgruppe Inflation (<i>Enflasyon Araştırma Grubu</i>, ENAG) gehen von einer fast dreifachen Inflationsrate (<a href="https://twitter.com/ENAGRUP/status/1345997008117649408">36%</a> für 2020) als der offiziell angegebenen aus. Es verwundert nicht, dass die ENAG wegen „gezielter Verleumdung“ und „Irreführung der Öffentlichkeit“ <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-05-08/turkish-researchers-face-fines-for-publishing-own-inflation-data">prompt</a> seitens des TÜIK und des Finanzministers angezeigt und vom Staatsanwalt vorgeladen wurde.</p><h4><i>Lange Rede, kurzer Sinn: Die kräftigen Wachstumszahlen verdecken nicht nur die Ausmaße der sozialen Depravation, sondern überhaupt die fundamentale Instabilität des Akkumulationsregimes und des Krisenmanagements.</i></h4><p>Diese werden seit Jahren palliativ behandelt, wobei sich Instabilität und Krisen Jahr um Jahr verschärfen. Ob und wann sich diese Instabilität erneut als manifeste Krise Bahn bricht, steht in den Sternen geschrieben. Fest steht jedoch: Umso mehr sie sich verschärft, umso heftiger bricht sie hervor, wenn es soweit ist. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt: Das ist immer wieder der Fall. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass der stets wiederkehrende Zyklus aus struktureller Instabilität – Krise – palliatives Krisenmanagement beendet wird, solange das derzeitige politische und Akkumulationsregime bestehen bleibt.</p><h2><b>Das Unbehagen im Akkumulationsregime</b></h2><p>Im Unterschied zu den untergeordneten Kapitalfraktionen geht es dem Großkapital unmittelbar ganz prächtig: Die größten Kapitalgruppen und Privatbanken der Türkei wie <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/koc-holding-2020de-927-milyar-tl-kar-etti-1814053">Koç</a>, Sabancı, İş Bankası und so weiter legten <a href="https://www.birgun.net/haber/ulkede-kriz-yasanirken-koc-ve-sabanci-net-karini-ikiye-katladi-321976">2020</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/koc-holding-in-konsolide-cirosu-ilk-ceyrekte-5-kat-artti-ceo-cakiroglu-son-5-yilda-43-3-milyar-tl-yatirim-yaptik,951019">wie auch</a> <a href="https://www.bloomberght.com/sabanci-ilk-ceyrekte-krini-47-artirdi-2279847">bisher</a> im Jahr 2021 <a href="https://t24.com.tr/haber/is-bankasi-ilk-ceyrek-karini-yillik-bazda-yuzde-27-artirdi,952180">kräftig zu</a>, an Umsätzen so sehr wie an Profiten. Ähnliches gilt für die <a href="https://www.dunya.com/ekonomi/iso-500-aciklandi-iste-pandemi-yilinda-sanayinin-devleri-haberi-622485">größten 500 Industrieunternehmen</a> der Türkei, deren größte zu ebenen jenen Kapitalgruppen gehören – auch wenn ihre Verschuldung und Schuldenrückzahlungen ebenfalls zunahmen und sich ihre kräftigen Profitsteigerungen hauptsächlich aus dem nicht-operativen Geschäft ergaben (also außerhalb ihres industriellen Kerngeschäfts liegend, z.B. im Finanzwesen). Woher kommt also das Unbehagen der führenden ökonomischen Akteure im Akkumulationsregime? Warum beschwert sich der TÜSIAD fast durchgehend über das derzeitige Regime (außer es legt mal wieder eine orthodox-neoliberale Wende hin)?</p><h4><i>Marxistische Theoretiker*innen und Kritiker*innen haben überzeugend dargestellt, dass Erdoğans weiter oben dargestellten permanenten „Zigzag’s“ nicht einer persönlichen Schrulle des Präsidenten entspringen oder gar einer islamistischen Ideologie, wie es öfter aus (links-)liberalen Kreisen zu hören ist.</i></h4><p>Es handelt sich vielmehr um einen immer prekärer werdenden Balanceakt des Regimes zwischen den ökonomischen Interessen des Großkapitals und denen der KMU, wobei die letzteren gemeinsam mit ihren Beschäftigten zur Hauptwähler*innenbasis des derzeitigen Regimes gehören. In Abgrenzung zu liberalen Analyseansätzen tendieren die marxistischen dennoch oft in eine allzu rigide strukturalistische Richtung: Die These vom „<a href="https://www.taylorfrancis.com/chapters/edit/10.4324/9781003098638-5/making-new-neoliberal-state-turkey-melehat-kutun">neuen Neoliberalismus</a>“ legt beispielsweise nahe, dass der Autoritarismus Erdoğans eine geradezu notwendige Folge der Krise des finanzialisierten Neoliberalismus (in der Türkei) darstellt. Dabei streben doch gerade die bürgerliche Opposition in der Türkei und die ökonomisch dominanten Akteure, das Großkapital, eine Perspektive der Restauration des Neoliberalismus anstelle des derzeitigen dezisionistischen Regimes an. Der Marxist Ümit Akçay <a href="https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/13569775.2020.1845920">hebt zwar hervor</a>, dass die bisher größte Krise des Regimes, die sich durch den Gezi-Aufstand 2013 manifestierte, nicht unmittelbar aus einer Krise des Akkumulationsregimes folgte. Er führt aus, dass es so etwas wie „[t]he political elite’s survival strategies“ (S. 10) gab, die zu einer Staatskrise und dann zum Wandel des politischen Regimes hin zur präsidialen Diktatur führten – sprich, sich politische Kämpfe nicht eins zu eins auf die Verhältnisse im Akkumulationsregime zurückführen lassen. Gleichzeitig bleiben sie davon auch nicht gänzlich unabhängig, da beispielsweise im betreffenden Fall die Akkumulationskrise die Staatskrise verschärfte. Dann aber ordnet Akçay den politischen Autoritarismus in der Türkei dem allgemeinen globalen Trend zum Autoritarismus angesichts wirtschaftlicher Stagnation zu und identifiziert überhaupt politischen Autoritarismus mit Neoliberalismus, den er als – ausschließliche? – <a href="https://newleftreview.org/sidecar/posts/erdogans-zigzags">Ursache</a> für jenen Autoritarismus betrachtet – als ob das eine zwangsläufig aus dem anderen folgte. Auch historisch betrachtet ist dies ungenügend: Als sei es nach Thatcher und Reagan nicht zur Formation eines „progressiven Neoliberalismus“ gekommen; als gäbe es aktuell nicht Biden in den USA, den Aufschwung des Grünen Kapitalismus in Europa und die neoliberale Restaurationsperspektive in der Türkei als reale Alternativen für die dominanten Fraktionen des Kapitals.</p><p>Der Marxist Ali Rıza Gürgen hebt gegen liberale Ansätze <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/sermayeyi-agirlamak-makale-1509511">hervor</a>, dass nicht der Autoritarismus von Erdoğan für die prekäre Situation der internationalen Kapitalflüsse in die Türkei verantwortlich sei, sondern – so legt es sein Artikel nahe –<i> ausschließlich</i> der globale Kontext, das heißt die globale Krise des Kapitalismus im Zuge der Coronapandemie, die ein Versiegen der Kapitalströme in die Peripherie mit sich brachte. Es stimmt natürlich, dass die türkische Wirtschaft wegen ihrer abhängigen Finanzialisierung auf internationale Kapitalströme besonders sensibel reagiert. Warum dann aber beispielsweise letztes Jahr die Lira derjenigen Währung der Schwellenländer wurde, die am stärksten abwertete, obwohl alle Schwellenländer mehr oder minder im selben globalen Kontext operieren und alle mehr oder minder von internationalen Kapitalflüssen abhängen, lässt sich nicht allein damit erklären.</p><h4><i>Selbstverständlich hat die Politik und damit auch die unvorhersehbare – oder eigentlich: vorhersehbar im Zickzackkurs prozessierende – Wirtschaftspolitik des Regimes unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalkreisläufe: Die offensichtlich politisch herbeigeführte Negativzinspolitik der TCMB letzten Jahres führte sehr unmittelbar zu einem Versiegen der internationalen Kapitalströme und verschärfte die Krise.</i></h4><p>Die erneute „Unberechenbarkeit“ und Politisierung der Wirtschaftspolitik seit März dieses Jahres nach einem kurzen orthodox-neoliberalen Intermezzo führt weiterhin zu einem Fall des Wertes der Lira, damit zu einer Steigerung der Inflation und so weiter, die sich nicht allein aus der strukturellen Akkumulationskrise erklären lassen, sondern wesentlich durch die Wirtschaftspolitik des Regimes verschärft werden. Politik und Wirtschaftspolitik gehen somit selbst nicht unmittelbar oder ausschließlich auf in ihren Funktionen für die Erfüllung der Interessen der dominanten ökonomischen Akteure. Sie funktionieren ebenso im Sinne des politischen Machterhalts, was sich nicht immer oder nicht in jeder Hinsicht mit den Interessen der dominanten ökonomischen Akteure deckt und zugleich unmittelbare Auswirkungen auf die Akkumulation hat. Umgekehrt sind die dominanten Fraktionen des Kapitals nicht nur am weitestgehend reibungslosen Funktionieren der Kapitalkreisläufe interessiert, sondern ebenso am gesamtgesellschaftlichen Kontext, in dem die Kapitalkreisläufe eingebettet sind, sprich an der Stabilität gesellschaftlicher Hegemonie.</p><p>Die marxistischen Erklärungsansätze zur derzeitigen Situation in der Türkei leiden meines Ermessens daran, dass sie bestimmte ökonomische Zusammenhänge als gegeben und als ausschließlich oder hauptsächlich determinativ für gesellschaftliche Verhältnisse ansehen, dabei aber die gesellschaftlichen und hegemonialen Aspekte von Vergesellschaftung sowie den (Klassen-)Kampf um hegemoniale (ökonomische) Strategien essentialistisch oder funktionalistisch relativieren und ihnen keine wesentliche Determinationskraft zuordnen. Wie schon hervorgehoben, hat das Wirtschaftsmanagement unter Erdoğan den wirtschaftspolitischen Spielraum der „goldenen Jahre“ (2002-10) dazu genutzt, klientelkapitalistische Beziehungen aufzubauen und zu stärken, anstatt diesen für ein Upgrade der kapitalistischen Struktur der türkischen Wirtschaft insgesamt zu verwenden. Diese klientelkapitalistischen Beziehungen sind zwar, gesamtwirtschaftlich gesprochen, nebensächlich: Der linke Analytiker Bahadır Özgür <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/baskan-ve-milli-oligarklari-makale-1501497">skandalisiert</a> zwar zurecht, dass die größten 10 Unternehmen, die die größten Staatsaufträge erhalten, 2002-19 Aufträge in Höhe von 203,9 Milliarden $ oder Aufträge von einem Volumen von 26%/BIP zugesprochen bekommen haben. Damit ist laut WB die Türkei das Land, in dem die größten 10 Unternehmen am meisten Staatsaufträge relativ zum BIP bekommen, noch vor Brasilien mit 9,8%/BIP. Aber diese Relationen verblassen im Vergleich zum Großkapital, was Özgür und viele andere linke Analytiker*innen nicht betonen und daher ein verzerrtes Bild reproduzieren: Allein die größte Kapitalgruppe der Türkei, die <a href="https://www.koc.com.tr/hakkinda/biz-kimiz">Koç Holding</a>, hat einen jährlichen Umsatz von 6%/BIP; die <a href="https://tusiad.org/tr/tusiad/hakkinda">TÜSIAD</a> als Ganze hingegen produziert 50%/BNP ausschließlich des öffentlichen Sektors. Weder Koç noch die TÜSIAD als Ganze zählen zum klientelkapitalistischen Netzwerk im engeren Sinne, sondern bilden den Hauptmotor des türkischen Kapitalismus. Aufgrund dieser vergleichbar untergeordneten Rolle des Klientelkapitalismus war daher die Großbourgeoisie diesen Beziehungen gegenüber lange Zeit auch mehr oder minder gleichgültig eingestellt, oder hielt sie für einen Preis, den man für die im Sinne des Großkapitals umgesetzten neoliberalen Reformen seitens der AKP zahlen musste. Sie sind aber für den politischen Machterhalt des Regimes unerlässlich, so sehr, wie sie im derzeitigen dezisionistisch-polykratischen Politikgefüge gleichzeitig auch zu einer Last werden für das Regime, da ein „Skandal“ nach dem anderen auffliegt (ich führe dies später aus). Zum anderen: Auch das wirtschaftliche Krisenmanagement des Regimes zielt ganz offensichtlich darauf, durch Stützung der KMU das politische Überleben des Regimes zu sichern. Wegen der ökonomischen Subordination der KMU und wegen des Realitätssinnes der AKP wird dabei stets der prekäre Balanceakt mit dem Großkapital gesucht, woraus sich der schon beschriebene Zickzack-Kurs herleitet, der aber zugleich die fundamentale wirtschaftliche Instabilität verschärft.</p><h2><b>Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus</b></h2><h4><i>Gesellschaftliche Hegemonie besteht nicht allein aus und dient nicht allein der ökonomischen Dominanz beziehungsweise Hegemonie der führenden Fraktionen des Kapitals, wie sich umgekehrt ökonomisch hegemoniale Akteure nicht allein um (ihre) ökonomische Dominanz und Hegemonie kümmern, sondern auf umfassende gesellschaftliche Hegemonie visieren.</i></h4><p>In der Organisation gesellschaftlicher Hegemonie werden nicht nur die Interessen der ökonomisch relevanten Akteur*innen prozessiert, sondern auch derer, die im Politischen, Kulturellen und Sozialen Deutungsmuster, Ideologien, Vermittlungsformen usw. im Sinne gesellschaftlicher Hegemonie und damit ebenfalls politische, kulturelle (und andere) Hegemonie(n) organisieren. Militarismus, Chauvinismus, gesellschaftliche Polarisierung, Dezisionismus und dergleichen sind hierbei ebenso Mittel, mit denen das derzeitige Regime in der Türkei versucht, sich teils mit nicht unmittelbar ökonomischen Methoden eine neue Legitimationsbasis zu schaffen und daher nicht allein als Funktionen für die kapitalistische Akkumulation zu betrachten. Daher funktioniert der politische Machterhalt des Regimes beziehungsweise die Sicherung seines Überlebens trotz aller Krisen im Land weiterhin, auch wenn seit längerem die Legitimation des Regimes schleichend untergraben wird. Der immer <a href="https://tr.euronews.com/2020/11/09/metropoll-turkiye-nin-nabz-anketi-ak-parti-oylar-ilk-kez-yuzde-30-un-alt-nda">noch verbreitete Unglaube</a> der Bevölkerung, dass die Opposition es <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halkin-yarisindan-fazlasi-muhalefet-partilerinin-iktidara-karsi-alternatif-cozum-onerileri-sunamadigini-dusunuyor,938203">besser</a> machen könne (bzw. dass es tragfähige <a href="https://t24.com.tr/haber/arastirma-muhafazakar-secmen-sosyal-demokrat-secmene-kiyasla-daha-karasiz-secmenin-stratejik-oy-verme-egilimi-guclu,921725">alternative Parteien</a> gäbe), der weiterhin fest verankerte Glaube von fast 80% der AKP-Wähler*innen an eine <a href="https://www.turkuazlab.org/wp-content/uploads/2020/12/Turkiyede-Kutuplasmanin-Boyutlari-2020-Arastirmasi-Sunumu.pdf">ausländische Verschwörung</a> hinter dem Gezi-Aufstand 2013, und die damit im Zusammenhang stehende viel stärkere Zunahme der wahltechnisch betrachtet <a href="https://t24.com.tr/haber/arastirma-muhafazakar-secmen-sosyal-demokrat-secmene-kiyasla-daha-karasiz-secmenin-stratejik-oy-verme-egilimi-guclu,921725">Unsicheren/Schwankenden</a> als derer, die statt den Regimeparteien nun die Oppositionsparteien wählen wollen, bezeugt das Gewicht der relativen Autonomie politischer und sozialer Muster von Macht und Identitätsbildung auch inmitten einer Hegemoniekrise.</p><p>Weder die Krise des Akkumulationsregimes, noch die allgemeinere Legitimationskrise haben unmittelbar und unvermittelt soziale und politische Effekte. Sie haben nur vermittelt durch die Formen des Politischen und des Sozialen Effekte, die somit co-determinativ sind und deren Eigenheiten daher nicht einfach funktionalistisch entkernt werden können. Umgekehrt gefährden insbesondere gesellschaftliche Polarisierung und Dezisionismus aus der Perspektive des orthodox-neoliberalen bürgerlichen Lagers – wegen der durch sie teils induzierten, teils verschärften Hegemoniekrise – die Stabilität des gesamten gesellschaftlichen Systems ungleicher und ausbeuterischer gesellschaftlicher Beziehungen (nicht nur der ökonomischen) grundlegend, weshalb sie, zumindest in ihrer eigenen diskursiven Repräsentation, für eine stabilere Form der Regulation<i> aller</i> gesellschaftlichen Verhältnisse streiten. <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/iktidar-bloku-icinde-arayislar-makale-1507278">Das regulationstheoretische Argument</a>, dass das (hegemoniale) Projekt politischer Akteure die Interessen der Bourgeoisie im weitesten Sinne mit einbeziehen muss, und dass erst die Synchronisation von politischem Projekt mit diesen Interessen die Kontinuität des Machtblocks gewährleistet, ist zwar so allgemein gehalten richtig, weicht der Bearbeitung dieser Felder aber letztlich aus und zieht sich auf eine deskriptive Position zurück (Feststellung von Synchronität oder Asynchronität/Krise). Es ist daher auch zugleich nicht richtig: Zum einen aufgrund der Bandbreite an Möglichkeiten, die zwischen vollständiger Synchronisation und vollständiger Asynchronität liegen. Es fehlt die Antwort auf die Frage nach den Faktoren, die festlegen, welche Position genau zwischen vollständiger Synchronisation und vollständiger Asynchronität eingenommen wird und damit nach Akteur*innen, Funktionsweisen und Interessen (innerhalb) derjenigen gesellschaftlichen Verhältnisse, die miteinander synchronisieren oder asynchron sind. Damit im Zusammenhang lässt es zum anderen die Frage nach der Eigenheit nicht-ökonomischer Sphären und somit nicht-ökonomischer Interessen, Akteure, Hegemonien usw. im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse unbeantwortet und legt einen Funktionalismus „in letzter Instanz“ nahe (in letzter Instanz müssen diese anderen Verhältnisse nämlich mit den ökonomischen synchronisieren). Aus dieser unzureichenden theoretischen Bearbeitung folgt aber die unzureichende Analyse hegemonietheoretisch ausschlaggebender Prozesse, was der theorie- und analyseimmanente Grund für die Attraktivität nicht-marxistischer Ansätze ist.</p><p>Liest man die Verlautbarungen des TÜSIAD genauer, kann man eine ineinander verschränkte ökonomische wie politisch-regulative, in jeder Hinsicht jedoch <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/kavga-turkiye-kapitalizmini-kim-nasil-yonetecek-makale-1517988">sehr umfassende</a> Kritik am derzeitigen Regime herauslesen: <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/tusiad-yik-baskani-ozilhan-ekonomi-yonetimini-elestirdi-1824292">Ökonomisch</a> wird ganz offen für eine neoliberale Restauration auf erweiterter Grundlage optiert. Politisierung der regulativen Institutionen, Unvorhersehbarkeit, Unfähigkeit in der Inflations- und Währungsverfallsbekämpfung und somit palliatives statt transformatives Krisenmanagement werden darin scharf kritisiert. Im Gegenzug werden eine neoliberale Geldpolitik, depolitisierte regulative Institutionen, ein Krisenmanagement und eine Wirtschaftspolitik eingefordert, die die industrielle Produktionsbasis des türkischen Kapitalismus eine Stufe höher heben kann, statt mit Kreditschwemmen bankrotte Geschäftsmodelle am Leben zu halten. Das Kalkül ist, in den globalen Lieferketten aufzusteigen und China partiell abzulösen. <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/catismanin-alternatif-bir-yuzu-tusiad-ve-mhp-makale-1526777">Politisch-regulativ</a> betrachtet kritisiert der TÜSIAD fast alle wichtigen politischen Entscheidungen des Regimes: Ob nun den Austritt aus der Istanbuler Konvention, das HDP-Verbotsverfahren, die Berufung des neuen Rektors der Boğaziçi-Universität wider den Willen der Studierenden und Lehrenden, die Bildungspolitik, die Infragestellung des Laizismus, die Repression der Medien, die diplomatische Isolation des Landes oder die politisierte Justiz – <a href="https://t24.com.tr/haber/tusiad-yuksek-istisare-konseyi-baskani-ozilhan-dan-sedat-peker-aciklamasi-kamuoyu-nezdinde-dile-gelen-bu-suphelerin-giderilmesi-gerekiyor,959760">nicht zuletzt</a> die durch Sedat Pekers „Offenbarungen“ publik gemachte Versumpfung des Staates. All dies wird kritisiert aus der Angst heraus, dass ansonsten gesellschaftliche Polarisierung und Legitimationseinbruch die Hegemoniekrise so sehr verschärfen könnten, dass sie nicht mehr nur die derzeitige Regierung und das derzeitige politische Regime gefährden. Aus demselben Grund bezieht sich der Vorsitzende des TÜSIAD, Simone Kaslowski, positiv-wohlwollend auf Bidens Krisenpaket, das er als „<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/kavga-turkiye-kapitalizmini-kim-nasil-yonetecek-makale-1517988">sozialdemokratisch gefärbt</a>“ charakterisiert. Bezüglich des Krisenmanagements in der Türkei äußert er, wie oben hervorgehoben, Sorge wegen Inflation und Arbeitslosigkeit.</p><p>Inwiefern die Vorschläge der restaurativen Akteure überhaupt für die popularen Klassen von Nutzen sind, diskutiere ich am Ende des Artikels genauer. Für diesen Abschnitt möchte ich allerdings Folgendes hervorheben: Natürlich wäre Erdoğan ohne den Neoliberalismus nicht möglich gewesen. Dessen krisenhafte Umsetzung in den 1990ern delegitimierte fast alle Parteien außerhalb der AKP, vor allem die sozialdemokratische Linke; zudem zerschlug die Privatisierungswelle der 2000er die organisiertesten Teile der Arbeiter*innenklasse, wie überhaupt der Neoliberalismus für einen <a href="http://arastirma.disk.org.tr/wp-content/uploads/2020/09/D%C4%B0SK-AR-12-Eyl%C3%BCl-RAPOR-SON.pdf">grundlegenden Positionsverlust</a> der Arbeiter*innenklasse sorgte (Entrechtung, stagnierende Reallöhne, klaffende Produktivitäts-Lohn-Schere, finanzielle Abhängigkeit usw.).</p><h4><i>Eine desorientierte, zunehmend sozial depravierte Arbeiter*innenklasse bei gleichzeitiger (partieller) Delegitimation der bürgerlichen Linken ist eine der wichtigsten Bedingungen für den Aufstieg der autoritären Rechten, die so einerseits das Vakuum füllen, andererseits den sozialen Unmut auf ihre Art und Weise prozessieren kann.</i></h4><p>Marxist*innen wie Korkut Boratav, Galip Yalman, Pınar Bedirhanoğlu oder Ümit Akçay haben diese Entwicklungen exzellent aufgearbeitet. Es sind dies aber nicht die einzigen und hinreichenden Gründe für den Aufstieg der autoritären Rechten – im Fall der Türkei: für die Errichtung einer präsidialen Diktatur unter Führung von Erdoğan. Es bedarf auch einer autoritären Rechten, die, um der eigenen politischen Macht willen, einen erfolgreichen sozialen und politischen Kampf mit politischen Kontrahent*innen und den relevanten sozialen Akteuren um politische und soziale Führung ausficht. Eine autoritäre Rechte, die zudem in der Lage ist, eine gewisse aktive oder passive Massenbasis zu schaffen. Einmal an der Macht, ist diese auch seitens der Großbourgeoisie nicht mehr ohne weiteres kontrollierbar und deshalb – außer in außerordentlichen Krisenzeiten – selten von ihr erwünscht. Daher ähnelt der TÜSIAD heute dem Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren kann, die er selbst herbeirief (oder zumindest stark in ihrer Genese unterstützte). Es gibt aber auch keinen Zaubermeister, der helfen kann. Insofern ist es richtiger, den derzeitigen Autoritarismus nicht als „neuen Neoliberalismus“ zu bezeichnen, <a href="https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Studien/Studien_6-19_Globalisierung.pdf">sondern als</a> „Ergebnis einer mit zunehmender Härte geführten Auseinandersetzung<i> um</i> Neoliberalismus“ (S. 59) seitens diverser im engeren Sinne ökonomischer und nicht-ökonomischer Akteur*innen. Erdoğan bleibt an das Großkapital gebunden, das die ökonomische Hauptkraft in der Türkei ist. Und ebenso bleibt das Großkapital an Erdoğan gebunden: Denn seine Regierung hält, wenn auch krisenhaft, die Profite des Kapitals und neoliberale Arbeitsverhältnisse aufrecht. Eine allzu antagonistische Opposition gegen Erdoğan zu betreiben, vergrößert die Gefahr, ganz andere Geister, nämlich die popularen, zu entfachen, was wiederum aus Sicht des Großkapitals und der bürgerlichen Opposition ganz andere Risiken birgt. Daher befinden sich Erdoğan und Großkapital in einem instrumentellen Zweckverhältnis miteinander, das sie bei erstbester Gelegenheit über den Haufen schmeißen würden – wäre dies nur möglich, ohne große Krisen zu riskieren!</p><h2><b>Autoritäre Konsolidierungsversuche</b></h2><h4><i>Die schon bekannten autoritären Konsolidierungsversuche des Regimes setzen sich derweil ununterbrochen fort. Sie setzen sich zusammen aus Unterdrückung (erstens und zweitens), sowie Einbindung und Spaltung zugleich der Opposition (zweitens und drittens). Außerdem findet der Versuch der Festigung eines autoritären, dezisionistischen Regimes inklusive einer ihm entsprechenden neuen Legitimationsbasis statt (viertens).</i></h4><p><i>Erstens</i> wird der Kampf um die entscheidenden oppositionsgeführten Großstädte weitergeführt. Wie schon dargelegt, bilden die oppositionsgeführten Großstädte – insbesondere Ankara und Istanbul – die politische Hauptschlagkraft der bürgerlichen Opposition gegen das Regime, wie sie selbst Ergebnis eines erfolgreichen Kampfes der Opposition sind. Seit den Kommunalwahlen 2019, also seitdem Ankara und Istanbul nach Jahrzehnten von der AKP (oder Vorgängerparteien der AKP) an die Opposition übergingen, decken deren neugewählte Bürgermeister <a href="https://t24.com.tr/haber/yavas-in-aktardigi-3-katrilyonluk-yolsuzluk-iddiasinin-bilancosu-sus-bitkileri-de-var-osmanlispor-da,919238">einen Korruptions- oder Misswirtschaftsfall</a> <a href="https://www.birgun.net/haber/35-milyon-dolarlik-kamu-zarari-310611">nach</a> <a href="https://www.sozcu.com.tr/2020/gundem/akp-doneminde-ibbde-paralari-odenen-isler-ortada-yok-6158045/">dem anderen</a> aus der AKP-Ära auf. Zugleich nutzen sie die Mittel der Stadtverwaltungen, um durch dienstleistungsorientierte Politik und milde redistributive Maßnahmen für die Mittellosen eine gewisse Massenbasis für die bürgerliche Opposition aufzubauen. Es ist <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/chp-iktidar-icin-yerel-yonetimlere-yogunlasti-haber-1501385">offensichtlich</a>, dass die bürgerliche Opposition darauf abzielt, durch den Erfolg in den Kommunalverwaltungen in die Macherrolle zu kommen, Barrieren bei Regime-Wähler*innen zu brechen und ergo genügend Unterstützung aufzubauen, um die nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Erdoğan und das um ihn herum organisierte Regime hingegen versuchen, den Handlungsspielraum der oppositionellen Stadtverwaltungen so weit wie möglich einzuschnüren, um diese Rechnung der Gegenseite zu vereiteln.</p><p>Mehrere Mechanismen greifen dabei ineinander: Zum einen werden zwar die Bürgermeister der betreffenden Städte von der oppositionellen CHP gestellt, die Stadtparlamente sind aber immer noch von AKP und MHP dominiert. Das bedeutet, die Parteien des Regimes nutzen ihre Parlamentsmehrheiten, um die Legislative und Exekutive auf Munizipalebene zu blockieren. Zudem nutzt Erdoğan die Mittel des Zentralstaates, um die Ressourcen der Städte so weit wie möglich zum Versiegen zu bringen: So bekommen oppositionsgeführte Städte (und Unternehmen) unterdurchschnittlich wenig zentralstaatliche Gelder und <a href="https://2020.tr-ebrd.com/state-banks-on-the-rise/">öffentliche Kredite</a>, weshalb sie sich <a href="https://t24.com.tr/haber/ibb-4-metro-hatti-icin-eurobond-la-580-milyon-dolar-borclandi-imamoglu-kamu-bankalari-garabet-tavri-birakmali,918696">internationale</a> Partner oder Kreditgeber wie die <a href="https://t24.com.tr/haber/ibb-eminonu-alibeykoy-tramvay-hatti-projesi-icin-fransiz-kalkinma-bankasi-ndan-93-milyon-euro-luk-finansman-destegi-alacak,961088">französische</a> oder <a href="https://t24.com.tr/haber/ibb-ile-avrupa-imar-ve-kalkinma-bankasi-arasinda-mutabakat-metni-imzalandi-ilk-proje-incirli-beylikduzu-metro-hatti-olacak,950060">europäische</a> Entwicklungsbank suchen. Es werden aber auch historische Stätten wie etwa der <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/ibbden-gezi-parki-alaninin-sultan-beyazit-hani-veli-hazretleri-vakfina-devredilmesine-iliskin-aciklama-1821921">Gezi Park</a> oder der Galata-Turm (beides Istanbul), die sich eigentlich im Eigentum der Großstädte befinden, an zentralstaatliche Ministerien übertragen und somit aus den Händen der Stadtverwaltungen genommen. Nicht zuletzt interveniert die Zentralregierung permanent in die Angelegenheiten der Städte: Spendensammlungen der Munizipalitäten, um von der Corona-Pandemie Betroffenen zu helfen (und natürlich gesellschaftliche Legitimation aufzubauen), wurden etwa der „Parallelstaatlichkeit“ und des Terrorismus bezichtigt und seitens des Innenministeriums unter einem juristischen Vorwand verboten. Die oppositionellen Munizipalitäten <a href="https://t24.com.tr/haber/imamoglu-2020-de-ihtiyac-sahiplerine-618-milyon-890-bin-lira-destek-saglandi,937437">wussten</a> dies aber mehr oder minder <a href="https://t24.com.tr/haber/mansur-yavas-duyurdu-6-milyon-tek-yurek-kampanyasi-ikinci-kez-basladi,942920">zu umgehen</a>. Die Auseinandersetzung um das Spendensammeln und -verteilen der oppositionellen Munizipalitäten setzt sich <a href="https://t24.com.tr/video/imamoglu-ndan-bagis-kampanyasina-izin-vermeyen-bakan-soylu-ya-tepki-132-bin-ailenin-bayramda-yuzlerinin-gulmesini-istemeyen-bir-kisi-var-o-da-icisleri-bakani,40154">bis heute</a> fort, <a href="https://t24.com.tr/haber/tunc-soyer-tv-ler-bizi-yok-saydi-ama-48-saatte-ankara-nin-gonderdiginden-daha-fazla-yardim-topladik,913291">ebenso</a> wie das Bemühen derselben, <a href="https://t24.com.tr/haber/mansur-yavas-bayram-oncesinde-100-milyon-lira-tutarinda-yeni-destek-paketi-hazirladik-185-bin-ailemizin-kartlarina-500-lira-yatirdik,964909">alternative</a> Methoden der <a href="https://t24.com.tr/haber/mansur-yavas-duyurdu-kampanyamiz-bir-ayda-20-milyon-tl-destek-aldi,950661">Redistribution</a> zur Anwendung zu bringen und somit der Repressionskeule des Regimes zu entgehen. Auch <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/ibbdeki-akp-yolsuzluklarini-acikliyoruz-her-yol-tugvaya-1843746">beschlagnahmte</a> das Innenministerium einen Großteil der „Antikorruptionsdossiers“ der Istanbuler Stadtverwaltung, bevor diese die Dossiers finalisieren und der Justiz übergeben konnte.</p><p>Der derzeit größte Konfliktpunkt, der mehrere dieser Mechanismen zusammenführt und daher symptomatisch ist, ist der Konflikt um <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/405297.megaprojekt-istanbuls-untergang.html"><i>Kanal Istanbul</i></a>, ein megalomanes, mehrere Dutzend Milliarden Dollar teures Projekt zur Anlage eines künstlichen zweiten Wasserkanals parallel zum Bosporus. Von den ökologisch potenziell desaströsen Folgen dieses Projekts abgesehen, ist offensichtlich, dass es sich hier ökonomisch betrachtet um ein klassisches Klientelprojekt handelt – die Bauaufträge gehen natürlich an Erdoğan-nahe Unternehmer. Zugleich ist es ein Prestigeprojekt Erdoğans, mit dem er sich erneut als Visionär und „Macher“ präsentieren will. Und nicht zuletzt ist es ein Armdrücken zwischen Erdoğan und der Istanbuler Munizipalität darum, wer eigentlich in Istanbul das Sagen hat.</p><p><i>Zweitens</i> geht die umfassende Repression gegen Oppositionelle und Dissidenten ununterbrochen weiter. Demonstrationen oder Kundgebungen sind, wenn sie nicht regierungsnah sind, <a href="https://t24.com.tr/haber/tihv-2020-yilindaki-hak-ihlallerini-paylasti-hak-savunucularina-24-yil-hapis-cezasi-90-tutuklama-1079-haber-ile-97-internet-sitesine-erisim-engeli,958235">fast unmöglich</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/chp-den-adalet-raporu-804-gun-eylem-yasagi-6-bin-322-gozalti-761-is-cinayeti-349-habere-erisim-engeli,959513">geworden</a>, Folter und Gewalt seitens Beamt*innen nimmt zu. Unabhängige oder nicht regierungskonforme Fernsehsender werden im Gegensatz zu regimetreuen mit <a href="https://www.hrw.org/news/2020/12/15/turkey-crackdown-independent-tv-channels">horrenden Strafzahlungen</a> des Obersten Rundfunk- und Fernsehrates (<i>Radyo ve Televizyon Üst Kurulu</i>, RTÜK) überzogen, dessen Chef laut Eigenaussage zudem Erdoğans „Empfehlungen und Vorschläge“ als Befehle ansieht. Der letztes Jahr neu gegründete Fernsehsender <i>Olay TV</i> musste innerhalb kürzester Zeit <a href="https://t24.com.tr/haber/nevsin-mengu-ne-izmir-marsi-ne-mehter-marsi-caldik-haber-yaptik-cavit-caglar-hdp-yanlisi-diyerek-baskiyi-mesrulastiriyor,923135">schließen</a> – mutmaßlich wegen großem politischem Druck, da der Sender auch über die pro-kurdische, linke HDP berichtete. Natürlich gehen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/mhp-medyasi-kaynak-aktariminda-akp-medyasini-geride-birakti-ulkeyi-bahceli-yonetiyor-1848890">fast alle</a> öffentlichen Reklameschaltungen und damit Unsummen an Geldern <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/iktidar-destekcisi-medyaya-akan-kamu-kaynagi-3-adaletsizlikten-cok-daha-buyuk-bir-sorun-var-haber-1528410">an regimetreue Sender und Zeitungen</a>, kaum welche an oppositionelle. <a href="https://ifade.org.tr/reports/EngelliWeb_2019_Eng.pdf">Nicht nur</a> werden Hunderttausende Webseiten blockiert und Tausende Social Media-Accounts juristisch verfolgt; die Regierung überzog auch Facebook, Youtube, Instagram, TikTok und Twitter mit <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2020-11-04/biggest-social-media-companies-are-fined-by-turkey-under-new-law">Strafen</a> in Höhe von insgesamt 1,2 Millionen €, weil sie keine der Regierung gegenüber für das Unternehmen verantwortlichen lokalen Repräsentanten ernannt hatten. Das Gesetz, das dies erfordert, wie auch die Strafzahlungen stehen im Zusammenhang mit dem Versuch des Regimes, mehr direkte Kontrolle auf die Social Media-Unternehmen auszuüben. Eine <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/turkey-plans-further-clampdown-independent-media">weitere Verschärfung</a> des Medienrechts, wonach die Kontrolle der Regierung über Nachrichtenplattformen, die Gelder aus dem Ausland beziehen (also im Prinzip die gesamte alternative Onlinepresse), wurde schon angekündigt als „Kampf gegen die fünfte Kolonne“. Zudem wurden seit 2018 etwa 40 (oft oppositionelle) Journalist*innen <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/erdogan-endorses-mob-attack-opposition-leader-warning-more-come">tätlich angegriffen</a>. Der oppositionelle, nationalistisch orientierte Sender<i> Halk TV</i> wurde während einer Liveübertragung aus den Waldbrandgebieten Anfang August von einem regierungsnahen Mob <a href="https://yetkinreport.com/2021/08/06/tv-yayinina-baskin-bakan-istifasi-ve-bir-asker-videosu/">angegriffen</a>, nachdem zuvor der RTÜK Sender, die nicht regierungskonform über die Waldbrände berichteten, mit „den heftigsten Sanktionen“ bedroht (und diese dann <a href="https://bianet.org/bianet/medya/248607-rtuk-once-tehdit-etti-sonra-ceza-kesti?bia_source=mailchimp&ct=t(RSS_EMAIL_CAMPAIGN+-+Bianet+T%C3%BCrk%C3%A7e+G%C3%BCnl%C3%BCk)&mc_cid=bee6f913c5&mc_eid=4504c19f40">umgesetzt</a>) und der millionenfach auf Twitter geteilte #HelpTurkey-Hashtag öffentlich und juristisch <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkish-prosecutor-investigates-tweets-calling-help-wildfires">angeprangert und verfolgt</a> wurde, weil er die Türkei als „schwach“ darstelle.</p><p>Die Verfolgung geschieht auch außerhalb der Türkei, <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/exiled-turkish-journalist-attacked-outside-home-germany">wie jüngst der Angriff</a> auf den kritischen Investigativjournalisten Erk Acarer in Berlin und die Existenz von <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/407199.gefahr-f%C3%BCr-t%C3%BCrkische-oppositionelle-im-fadenkreuz.html">Todeslisten</a> mit Namen von türkeistämmigen Oppositionellen und Dissidenten in Deutschland gezeigt hat. Das Vorgehen beschränkt sich nicht allein auf Journalist*innen, sondern hat System. Erst neulich wurde die Chefin der rechten Oppositionspartei IYI, Meral Akşener, bei einem Besuch in Rize am Schwarzen Meer von einem aufgestachelten Mob empfangen und musste die Stadt frühzeitig verlassen. <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-salgin-surecinde-milletimizin-hem-sagligini-guvenligini-asini-ve-isini-korumak-icin-devletimizin-tum-imkanlarini-seferber-ettik,954704">Erdoğans Kommentar</a>, an Akşener gerichtet: „Danke Gott dafür, dass sie nicht zu weit gegangen sind, und dir [nur, A. K.] eine Lehre erteilt haben. Das sind noch die guten Tage, wartet mal ab, was da noch kommt“, ist paradigmatisch für die drohende, Gewalt relativierende oder <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/siddetin-tarihcesi-daha-neler-olacak-neler-galeri-1525820">zur Gewalt anstachelnde Sprache</a>, die zentrale Personen des Regimes seit Jahren gegen oppositionelle Politiker*innen, Journalist*innen, Akademiker*innen und andere nutzen. Dabei ist MHP-Chef <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-bu-kez-ahmet-sik-i-hedef-gosterdi-mhp-nin-hedef-gosterdigi-kimler-saldiriya-ugramisti,957623">Bahçeli</a> oft viel direkter als Erdoğan. So bezeichnete er Protestierende an der Eliteuniversität Boğaziçi als „<a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-bogazici-universitesi-nde-turkiye-nin-sinir-uclariyla-oynaniyor-eskiyalar-bogazici-ne-tutunarak-ulkemize-meydan-okuyor,930788">giftige Schlangen, deren Köpfe wir zerquetschen müssen</a>“.</p><p>Die Repressionswelle gegen die HDP wurde in der vergangenen Zeit immer intensiver. <a href="https://t24.com.tr/haber/hdp-nin-hak-ihlalleri-raporu-son-5-yilda-16-binden-fazla-hdp-li-gozaltina-alindi-4-bine-yakin-hdp-li-tutuklandi,919835">Tausende</a> ihrer Mitglieder, Funktionsträger*innen und sogar Parlamentarier*innen wurden in den letzten Jahren in Untersuchungshaft genommen, etwa 1000 <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/2990310-iki-bucuk-yilda-1336-dosya">Immunitätsaufhebungsanträge</a> liegen für HDP-Parlamentarier*innen im Parlament vor und fortlaufend finden Razzien gegen sie statt. Mittlerweile läuft auch das sogenannte „<a href="https://t24.com.tr/haber/3530-sayfalik-kobani-iddianamesinden-kapatilmasi-icin-cagri-yapilan-hdp-ile-ilgili-iddialar-cikti-myk-toplantisina-kck-lilar-katildi-hdp-liler-de-orgut-yoneticisi,925222">Kobane-Verfahren</a>“ auf Grundlage einer <a href="https://t24.com.tr/haber/demirtas-in-avukatlari-suclamalara-20-ayri-baslikla-yanit-verdi-gizli-tanik-aslinda-yok-twitter-hesabi-sahte,929051">hanebüchenen</a> Anklageschrift gegen insgesamt 108 ältere Führungspersonen der HDP. Gegen die Partei ist mittlerweile auch ein umfassendes Verbotsverfahren beim Verfassungsgericht anhängig (<a href="https://t24.com.tr/haber/hdp-nin-kapatilmasi-istemine-cozum-sureci-gerekce-gosterildi-hdp-kapatilir-mi-hangi-secenekler-soz-konusu,960815">ebenfalls</a> auf Grundlage einer hanebüchenen Anklageschrift), das auch eine Politikverbotsforderung für Hunderte HDP-Politiker*innen enthält; beide Anklagen mit dem Hauptvorwurf der Spaltung von Staat und Nation beziehungsweise der Zuarbeit zu einer „Terrororganisation“ (also der PKK).</p><p>Auch hier gilt: Was von oben abgesegnet wurde, findet von unten seine Entsprechung. Am 15. Juni 2021 ermordete ein überzeugter Faschist in Izmir Deniz Poyraz, eine Mitarbeiterin im dortigen Büro der HDP am 15. Juni 2021. Die Tat, begangen von einem, der <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/hdpli-ertugrul-kurkcu-saldirganlari-acikladi-3-silahli-iceri-giriyor-1845160">in Syrien gekämpft</a> und sich <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/gokcer-tahincioglu-yuzlesme/deniz-poyraz-in-katili-onur-gencer-icimi-soguttum-beni-serbest-birakin,31464">laut Eigenaussage</a> vorgenommen hatte, so viele HDP’ler wie er konnte zu ermorden, ist – egal ob es ein <a href="https://ilerihaber.org/icerik/deniz-poyrazin-katili-onur-gencerin-izmir-valiliginin-yonetiminde-oldugu-balcova-termal-oteli-sik-sik-ziyaret-ettigi-ortaya-cikti-127333.html">geplantes Attentat</a> oder ein Selbstläufer war – direkte Folge einer von oben gezielt betriebenen Politik der <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/gundem/turkiye-cok-gergin-dil-mutlaka-degismeli-6531109/">gewalttätigen Polarisierung</a> im Sinne des Machterhalts. <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/erdogans-game-plan-next-election-involves-kurdish-vote">Es folgten</a> weitere auch bewaffnete Attacken auf HDP-Büros und ein <a href="https://bianet.org/english/human-rights/247964-seven-people-from-kurdish-family-shot-dead-at-home-in-racist-assault">Massenmord</a> an einer kurdischen Familie in Konya, bei der sieben Mitglieder der Familie von einem türkischen Faschisten ermordet wurden, kaum ein paar Wochen nachdem sie von einem aufgestachelten Mob, an dem auch der spätere Massenmörder teilnahm, angegriffen wurden. <a href="https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155265.kurdische-familie-dedeo%C4%9Fullar%C4%B1-tuerkei-grosse-feuer-ueberall.html">Einen Tag darauf</a> griff ein faschistischer Mob von 300 Personen kurdische Landarbeiter*innen in Elmalı an und forderte sie dazu auf, das Land zu verlassen.</p><h4><i>Offensichtlich dient die Entfesselung der Repression im Allgemeinen (wie im Besonderen gegen die HDP) dazu, Teile der Opposition zu demobilisieren und zu zermürben sowie, bezüglich der Medien, zu Regimediskursen massenwirksame alternative Diskurse zu verhindern. Außerdem dient sie dazu, eine autoritär-faschistoide Massenbasis aufzubauen.</i></h4><p>Beim angestrebten HDP-Verbot könnte die Rechnung der Regierung weniger die sein, die Formation einer alternativen, mitte-links orientierten pro-kurdischen Partei in der Türkei <i>überhaupt</i> zu verhindern. Wichtigen politischen Akteur*innen in der Türkei ist klar, dass dies eher unwahrscheinlich ist und auch, dass sich pro-kurdische Parteien in der Vergangenheit immer stärker reformierten, nachdem sie verboten wurden. Das Kalkül ist vermutlich eher, dass eine Schließung der HDP (oder eine Kappung der ihr zustehenden staatlichen Zuschüsse) <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/3112432-butun-hesaplar-eylule-odakli">kurz vor den nächsten Wahlen</a> zu einer gleichmäßigen Verteilung des Wähler*innenpotenzials der HDP auf Regime- wie restlichen Oppositionsparteien führt (oder die Effizienz der HDP weiter reduziert) und somit den Regimeparteien den Sieg ermöglicht. Es ist aber bislang nicht abzusehen, in welche Richtung sich das Verbotsverfahren entwickelt, da sein Ausgang wesentlich von den derzeitig laufenden Machtkämpfen abhängt und nicht von juristischen Prozessen (wären Recht und Gesetz Maßstab des Verfahrens, wäre es gar nicht erst zu einem Verbotsverfahren gekommen).</p><p>Die in diesem Artikel wegen einem innenpolitischen Fokus stiefmütterlich behandelte Außenpolitik, in diesem Fall das Verhältnis zur USA und zur EU, hat diese Repressionsorgie im Allgemeinen und das Verbotsverfahren gegen die HDP im Besonderen nicht nachteilig affiziert, <a href="https://jacobinmag.com/2021/03/turkey-erdogan-hdp-peoples-democratic-party-pro-kurdish-socialism">im Gegenteil</a>. Die durch die politische wie ökonomische Integration der Türkei in den euro-transatlantischen Kapitalismus sowie durch Druck ihrer Hauptakteure (USA, EU) erzeugte Wiederannäherung der Türkei an die außenpolitischen Interessen der NATO war Grund genug für diese, keine weiteren Sanktionen gegen die Türkei zu erheben – <a href="https://www.reuters.com/article/us-turkey-eu-exclusive-idUSKBN2BA1KP">mit explizitem Verweis</a> darauf, dass auch ein drohendes HDP-Verbot daran nichts ändern würde. Dies steht <a href="https://revoltmag.org/articles/deutsch-t%C3%BCrkische-untiefen/">in Kontinuität</a> zur Außenpolitik des euro-transatlantischen Blocks gegenüber der Türkei der letzten Jahre, wonach die wirtschaftliche und geheimdienstliche Zusammenarbeit sowie Rüstungsexporte weiter Blüten trieben, während gelegentliche Skandalisierungen der Menschenrechtslage in der Türkei als disziplinierende Hebel genutzt wurden, um die Türkei ökonomisch wie außenpolitisch auf Linie zu halten. Jedenfalls folgten niemals auch nur annähernd so harte Sanktionen gegenüber der Türkei wie gegenüber Russland, China oder seit neuestem Belarus. <a href="https://www.swp-berlin.org/en/publication/customs-union-old-instrument-new-function-in-eu-turkey-relations/">Seit geraumer Zeit</a> verweisen bundesdeutsche Think Tanks zudem <a href="https://www.dw.com/tr/almanyadan-%C3%A7arp%C4%B1c%C4%B1-t%C3%BCrkiye-raporu-kurumlar-felce-u%C4%9Frat%C4%B1ld%C4%B1/a-57127795">ganz offen</a> und unverblümt darauf hin, dass sich die EU ihrer mangelnden „normativen Kraft“ bewusst werden und sich daher darauf beschränken sollte, wirtschaftliche Druckmechanismen dafür zu nutzen, die Türkei ausschließlich in außenpolitischen Angelegenheiten auf Linie zu bringen.<i> Hic Rhodus, hic salta</i> – zeige hier und jetzt, was du kannst! Das HDP-Verbotsverfahren ist das Rhodos der Fabel, und <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57611741">die EU sprang</a>: Es wurde eine Vertiefung der für die Türkei sehr wichtigen Zollunion und eine Verlängerung des „Flüchtlingsdeals“ vereinbart statt neuen Sanktionen. Insofern ist der EU keine Inkonsequenz vorzuwerfen – außer freilich derjenigen, „Menschenrechte“ ganz nach gusto hochtrabend im Munde zu führen aber sich nur dann für sie zu interessieren, wenn es gegen Russland, China, Belarus, Venezuela oder Kuba geht.</p><p>Aber die Repression gegen die HDP ist,<i> drittens</i>, auch ein integrales Element der Spaltung und Einbindung von Teilen der Opposition.</p><h4><i>Die (Nicht-)Thematisierung der „kurdischen Frage“ auf Grundlage eines assimilatorischen türkischen Nationalismus und die Normalisierung eines rasenden militaristisch-nationalistischen „Antiterrordiskurses“ hat den antikurdischen türkischen Nationalismus zu einer wichtigen Mobilisierungs- und Legitimationsquelle für politische Akteur*innen gemacht.</i></h4><p>Sogar der klassisch progressiv-neoliberale Ali Babacan, ehemals Wirtschaftsminister unter der AKP, nun Chef der kleinen Oppositionspartei DEVA, der sonst einen sehr starken Fokus auf „Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte“ hat, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/ali-babacan-cozum-surecinde-hukumet-bir-adim-atacak-orgut-bir-adim-atacak-tavri-orgutu-guclendirdi,28323">kritisiert</a> den in der Vergangenheit liegenden „Friedensprozess“ mit der PKK, weil er die PKK gestärkt habe. Abdullah Gül, der letzte Präsident vor Erdoğan, der tendenziell Babacan-nah ist und die Polarisierung im Land wie auch das Präsidialsystem (wenn auch oft in sehr diplomatischen Worten) ablehnt, lehnt zwar den Verbotsantrag gegen die HDP ab – allerdings mit der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/murat-sabuncu/11-cumhurbaskani-gul-t-24-e-konustu-hdp-ye-kapatma-davasi-acilmasini-ve-gergerlioglu-nun-milletvekilliginin-dusurulmesini-cok-yanlis-buluyorum,30262">Begründung</a>, dass eine Schließung der HDP „Terrororganisationen“ (also die PKK) stärken würde und nicht etwa, weil ein solches Verbot gegen jede Minimalvorstellung von Rechtsstaatlichkeit geht. Sogar Babacan <a href="https://t24.com.tr/haber/ali-babacan-dan-anayasa-nin-ilk-dort-maddesi-sorusuna-uygun-iklim-yaniti,932645">drückt sich darum</a>, die Präambel und die ersten vier Paragraphen der <a href="https://www.tbmm.gov.tr/anayasa/anayasa_2018.pdf?TSPD_101_R0=08ffcef486ab2000ff259786418a411d0b908f239414891a82ca1e70fb157d3ec257397cacea6e8a08eee612741430007014cc9d5900a144826ec0c4b95c00ba5e6519cb6a8fb620e0367c3e8ace91d2b73f56888936220fa477a70f4a0c573f">Verfassung</a>, die unter anderem einen rasenden geschichtsmetaphysischen türkischen Nationalismus und einen staatsverherrlichenden „Atatürkismus“ auf Verfassungsrang erheben, infrage zu stellen. Daher und weil sich die bürgerliche Opposition weitestgehend mit dieser Normalisierung arrangiert und diese teilweise auch für ihre eigenen Zwecke nutzt, wird der antikurdische türkische Nationalismus von Regime- wie von Oppositionsparteien mehr oder minder stark geteilt.</p><p>Die Regimeparteien waren, machiavellianisch betrachtet, sehr geschickt darin, diesen militaristisch-nationalistischen „Antiterrordiskurs“ auch auf die HDP auszuweiten und diese mit der PKK in eins zu setzen. <a href="https://www.turkuazlab.org/wp-content/uploads/2020/12/Turkiyede-Kutuplasmanin-Boyutlari-2020-Arastirmasi-Sunumu.pdf">Mittlerweile</a> ist die HDP – neben der AKP – die <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/galeri/metropoll-arastirma-akp-yuzde-277-ile-secmenin-asla-oy-vermem-dedigi-ilk-parti-1852570/2">am stärksten abgelehnte</a> Partei in der Bevölkerung, auch eine politische Zusammenarbeit mit ihr wird <a href="https://t24.com.tr/haber/area-arastirma-olasi-cumhurbaskanligi-secimlerinde-mansur-yavas-muharrem-ince-ile-abdullah-gul-e-fark-atiyor,899856">mehrheitlich abgelehnt</a>. Mit der intensivierten Repression gegen die HDP manövriert das Regime daher auch die bürgerliche Opposition in eine schwierige Position. Diese wissen ja: Ohne die HDP, die bei landesweiten Wahlumfragen bei etwa 10% der Stimmen liegt, und somit auch ohne politische Zugeständnisse an die HDP scheint ein Sieg gegen die Regimeparteien und Erdoğan unmöglich. Beispielsweise waren die HDP-Wähler*innen die <a href="https://revoltmag.org/articles/t%C3%BCrkischer-fr%C3%BChling/">Königsmacher</a> bei den Kommunalwahlen in Istanbul 2019. Andererseits ist die Ablehnung von PKK und HDP insbesondere bei der oppositionellen MHP-Abspaltung IYI und innerhalb ihrer Wähler*innenbasis sehr stark. Orientiert sich die Hauptoppositionspartei CHP also allzu offen auf eine Zusammenarbeit auch mit der HDP, dann riskiert sie einen Bruch mit der IYI und anderen kleineren Oppositionsparteien, was die Aussichten auf einen Sieg gegen Erdoğan bei Wahlen ebenso unwahrscheinlich macht. Regimeakteure konzentrieren daher ihre verbalen Attacken und „Terrorismusvorwürfe“ auch <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-gayemiz-daha-guclu-bir-turkiye,942434">ganz besonders</a> auf die CHP und <a href="https://www.birgun.net/haber/siyasette-ittifak-savaslari-332225">versuchen</a> – teils mit <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-den-iyi-parti-lideri-meral-aksener-e-onerimiz-gecerliligini-korumakta-don-evine-bitsin-bu-cile,922602">expliziten Einladungen</a> –, die IYI und andere kleinere Oppositionsparteien auf ihre Seite zu ziehen. Ganz davon abgesehen gibt es auch innerhalb der CHP und den CHP-Wähler*innenschaft starke anti-kurdische und anti-HDP Tendenzen.</p><p>Es ist also ein beständiges Schwanken der bürgerlichen Hauptoppositionsparteien hinsichtlich der HDP zu sehen: <a href="https://t24.com.tr/haber/iyi-parti-genel-baskan-yardimcisi-hdp-yi-problemli-goruyoruz-fezlekeler-geldiginde-evet-diyecegiz,935268">Bekundete</a> der stellvertretende Chef der IYI, Yavuz Ağıralioğlu, dass sie die Aufhebung der Immunitäten von HDP-Parlamentar*iennen unterstützen werden (weil Terror!), <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-den-iktidara-1994-ruhu-dedikleri-iste-o-yirtip-attiklari-gomlegin-ta-kendisi,936623">ruderte</a> gleich darauf die Chefin der IYI, Meral Akşener, zurück und betonte, man würde nicht einfach so, ohne genauere Prüfung, die Immunitätsaufhebungsanträge abnicken. Dieselbe Akşener sagte <a href="https://www.diken.com.tr/hdpyle-ittifak-yapmayiz-diyen-aksenerden-demirtasa-terorle-ic-ice-oldugu-gercek/">aber auch</a> noch kurz zuvor im Februar 2021, Selahattin Demirtaş (der ehemalige Co-Vorsitzende der HDP, der seit mehreren Jahren im Gefängnis sitzt) sei organisch mit dem „Terror“ verbunden und sie suche kein Bündnis mit der HDP. Zur Verbotsdrohung gegen die HDP blieb und bleibt sie allerdings <a href="http://www.diken.com.tr/hdpyle-ittifak-yapmayiz-diyen-aksenerden-demirtasa-terorle-ic-ice-oldugu-gercek/">gezielt vage</a> und hält sogar eine Unterstützung dafür von Teilen ihrer Partei für möglich. Innerhalb der IYI wird <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/iyi-parti-once-icerige-bakacak-1817197">diskutiert</a>, wie es zu bewerkstelligen ist, sich so scharf wie möglich von der HDP abzugrenzen, zugleich aber auch nicht dem Regime zuzuarbeiten; etwa, indem man beispielsweise durch Akzeptanz der Immunitätsaufhebungen auch die Ausweitung der Repression auf die restliche Opposition ermöglicht. Die IYI denkt <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/iyi-parti-cephesi-demirtasin-onerisinin-milleti-baltalayacagini-dusunuyor-1825490">offensichtlich auch</a> über die Gründung eines dritten Wahlbündnisses nach, sollten CHP und HDP offen miteinander koalieren. Einige <a href="https://t24.com.tr/amp/haber/iyi-parti-toplu-istifa-aksener-e-guvenimiz-sarsildi,916591">wenige Austritte</a> aus der IYI wegen der „Nähe zur HDP“ hat es ebenfalls schon gegeben. CHP-Chef Kılıçdaroğlu hingegen weicht zwar vom Ultranationalismus seines Vorgängers Deniz Baykal betreffs der „kurdischen Frage“ ab, <a href="http://www.aljazeera.com.tr/gorus/cozum-surecinde-chp-ucuncu-yol-mumkun-mu">lehnte aber</a> den „Friedensprozess“ mit der PKK ab 2009/2010 <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglundan-cozum-sureci-aciklamasi,229601">dennoch ab</a> – mit der Begründung, dieser nutze der PKK und Öcalan. In den letzten Jahren <a href="https://www.jacobinmag.com/2016/11/turkey-erdogan-coup-hdp-pkk-syria-gulen-ypg">stach er damit hervor</a>, dass er militärische Invasionen der türkischen Armee gegen die PKK und kurdische Gebiete in Syrien unterstützte und zudem denjenigen Immunitätsaufhebungsanträgen zustimmte, die überhaupt erst zur Inhaftierung der ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP (und später auch zur Inhaftierung eines CHP-Parlamentariers) führten. Auch aktuell lehnt er die offensichtlich zur Schwächung und Spaltung der Opposition eingesetzten Immunitätsaufhebungsanträge nicht rigoros ab, sondern bekundet, man müsse erst mal deren Inhalte „<a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/chp-genel-baskan-kemal-kilicdaroglu-yasalarla-oynayan-iktidar-gidicidir-1815708">prüfen</a>“.</p><p>Ein wirkliches Novum war allerdings die Reaktion der bürgerlichen Opposition auf eine in ihrer Zielsetzung und Umsetzung <a href="https://yetkinreport.com/2021/02/16/13-sehit-sorulari-harekatin-amaci-neydi-sorumlusu-kim/">bis heute</a> <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/sedat-ergin/o-magarada-saat-saat-ne-oldu-41743108">nicht ganz aufgeklärten</a> Militäroperation des türkischen Staates im irakisch-kurdischen Gebirge von Gara im Februar 2021. Während der Operation kamen <a href="https://t24.com.tr/haber/milli-savunma-bakani-akar-gara-da-13-vatandasimizin-naasina-ulasildi,932974">13 türkische Geiseln</a> in der Hand der PKK um, wofür sich der türkische Staat und die PKK gegenseitig beschuldigten. Während die bürgerlichen Oppositionsparteien bei solchen Operationen – insbesondere mit so hohen Verlusten – üblicherweise sofort an der Seite der Regierung stehen, blieben sie diesmal kritisch-distanziert und <a href="https://www.kisadalga.net/yazar/garede-cuvallayan-iktidar-ve-muhalefetin-soru-sorma-basarisi_2608">stellten viele Fragen</a> bezüglich des Zwecks und des genauen Ablaufs der Operation. Das versetze <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/aksener-tarzi-muhalefet-41743103">natürlich</a> das Regime <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-hicbir-sey-adina-terore-goz-yumulamaz-tarafsiz-ve-hareketsiz-kalinamaz,933916">in Rage</a>. In diesem Fall durchschauten also die bürgerlichen Oppositionsparteien die politische Inszenierung des Operationsablaufs als Methode des Regimes, sich Legitimation auch im oppositionellen Lager zu organisieren. Das Verbotsverfahren gegen die HDP ist in dieser Hinsicht natürlich auch eine Initiative des Regimes, um die bürgerliche Opposition dazu zu zwingen, sich nicht mehr schwankend angesichts der „kurdischen Frage“ beziehungsweise der HDP zu verhalten, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/gundemi-hdpye-odaklayan-iktidar-anayasa-degisikligiyle-bir-daha-acilmamasinin-pesinde-1815713">sondern sich eindeutig zu positionieren</a> – und dafür den Preis bezahlen (nämlich entweder die Unterstützung der Kurd*innen oder die der Nationalist*innen zu verlieren).</p><p>Die Versuche zur Spaltung und Einbindung der Opposition erfolgen indes nicht ausschließlich über die „kurdische Frage“. Zum einen fällt die wohlwollende Berichterstattung über Spaltungen innerhalb der Oppositionsparteien ins Auge. Eine <a href="https://t24.com.tr/haber/umit-ozdag-iyi-parti-yi-chp-nin-uydu-partisi-haline-getirmislerdir,936900">offiziell</a> mit Verweis auf die „kurdische Frage“ und Nähe zur Gülen-Gemeinde erfolgte Abspaltung von der IYI wurde seitens der Regimepresse gut aufgenommen. Auch der Präsidentschaftskandidat der CHP von 2018, Muharrem Ince, trat aus der CHP aus und hat mittlerweile eine eigene Partei gegründet. Auch über ihn wurde in der Regimepresse <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/erdoganin-anayasa-hamlesinin-puf-noktalari-41730444">sehr wohlwollend</a> berichtet und das Vorgehen der CHP gegenüber Ince skandalisiert. Aber es wird unter Umständen auch direkter interveniert: So <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/trumptan-once-trumptan-sonra-41709165">besuchte</a> Erdoğan im Januar 2021 ein wichtiges Mitglied der kleinen oppositionellen Partei der Glückseligkeit (<i>Saadet Partisi</i>, SP), die aus der Tradition des politischen Islams in der Türkei kommt und von deren Vorgängerin sich die AKP als Abspaltung gegründet hat. Offensichtlich konnte Erdoğan diese Persönlichkeit (Oğuzhan Asiltürk) von einer Wiederannäherung an die AKP überzeugen. Seit kurzem plädiert Asiltürk offen dafür, dass sich die SP der Wahlallianz des Regimes, der Volksallianz (<i>Cumhur İttifakı</i>) anschließt und ihre oppositionelle Rolle aufgibt. Er <a href="https://t24.com.tr/haber/saadet-partisi-nden-oguzhan-asilturk-e-yanit-partinin-yetkili-kurullari-ve-karar-organlari-bellidir,959353">versucht</a> mittlerweile zunehmend aggressiv, die Macht innerhalb der SP zu übernehmen, wobei auch die derzeitige SP-Führung selbst in ihrer Opposition zur AKP <a href="https://t24.com.tr/haber/karamollaoglu-dogru-bulmadigimiz-politikalarini-degistirmesi-sartiyla-ak-parti-yle-ittifak-yapilabilir,928502">nicht immer klar</a> positioniert ist. Offensichtlich zielen diese Taktiken darauf ab, eine Demobilisierung, Demoralisierung und/oder sogar ein Überlaufen von Teilen der Opposition herbeizuführen.</p><p>Nicht zuletzt erfolgen Einbindungsversuche der Opposition auch über die kümmerlichen Reste gemeinschaftlicher oder konsultativer Verfahren sowie einer angeblich an Rechtsstaatlichkeit orientierten Reformagenda. Bei der <a href="https://www.haberturk.com/adalet-bakani-gul-den-hsk-secimi-mesaji-uzlasmayla-secilmesi-cok-onemli-3077728">Besetzung</a> von sieben neuen Mitgliedern des für die Ernennung aller wichtigen Richter*innen und Staatsanwält*innen zuständigen Rats für Richter und Staatsanwälte (<i>Hakim ve Savcılar Kurulu</i>, HSK) erlaubte das Regime der CHP und IYI, zwei der Mitglieder zu ernennen und somit so etwas wie eine „gemeinsame Verantwortung in der Staatsführung“ zu evozieren. Auch wurde <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/erdoganin-asilturk-ile-gorusmesinde-yeni-anayasanin-da-gundeme-geldigi-belirtiliyor-1811157">zeitweise</a> darüber gemunkelt, das Regime könne einige wenige Zugeständnisse an die rechten Oppositionsparteien machen bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung – und selbstredend im Gegenzug Unterstützung für die neue Verfassung erhalten. Und wie schon vor zwei Jahren wurde mit großem Tamtam ein <a href="https://t24.com.tr/haber/canli-erdogan-insan-haklari-eylem-plani-ni-acikliyor,936450">Menschenrechtsaktionsplan</a> verkündet, das angeblich Menschenrechte schützen und willkürlichen Haftstrafen vorbeugen und dadurch als Schein einer Teilliberalisierung die oppositionelle Energie dämpfen sollte. Letztlich tragen die Zugeständnisse an gemeinschaftliche Verfahrensweisen und die Reformagenda allerdings nicht weit, da sie schon von Anfang an weitestgehend Makulatur waren.</p><p>Denn gemeinschaftliche Verfahren und Rechtsstaatlichkeit vertragen sich,<i> viertens</i>, nicht mit dem andauernden Faschisierungsprozess als Krisenbearbeitungsmodus, der daher auch einer anderen Legitimationsbasis, namentlich einer autoritären bedarf. In dieser Hinsicht erfolgte zuzüglich der in diesem Artikel schon beschriebenen repressiven Maßnahmen und zur Gewalt anstachelnden Reden seitens des Regimes auch eine erneute Diskussion um die Wiedereinführung der <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-dan-bahceli-nin-aym-cagrisina-destek-tbmm-bir-adim-atarsa-seve-seve-ben-de-buna-katilirim,906649">Todesstrafe</a> sowie <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-dan-anayasa-mahkemesi-aciklamasi-aym-baskani-ve-uyeleri-ayni-dusuncede-degilse-geregini-yapmali,909193">mehrmalige</a> <a href="https://yetkinreport.com/2021/04/01/bahceli-istedi-diye-erdogan-aym-duzenine-son-verir-mi/">Forderungen</a> nach der <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-anayasa-mahkemesi-tekrar-yapilandirilmali-yeni-anayasa-surecinde-yuksek-mahkemenin-mevcut-durumu-mutlaka-ele-alinmali,932241">institutionellen Entmachtung</a> oder gar <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-aym-milletin-mahkemesi-olmayacaksa-derhal-kendisini-feshetsin-basindaki-zat-da-gecikmeden-istifa-etsin,933415">Abschaffung</a> des Verfassungsgerichtes, da es in einigen wichtigen politischen Verfahren nicht nach dem Gefallen des Regimes entschied. Als Zementierung konservativ-autoritären Lebensstils wurden <a href="https://t24.com.tr/haber/hafta-sonu-tekel-bayileri-kapatilacak-mi-marketlerde-icki-satisi-olmayacak-mi-genelgede-acik-hukum-yok-fiili-yasak-mi-gundemde,919504">Alkoholverkaufsverbote</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/icisleri-bakani-soylu-dan-tam-kapanma-aciklamasi-denetimleri-en-ust-seviyede-tutmaliyiz,948802">während</a> pandemiebedingten Lockdowns verhängt, <a href="https://t24.com.tr/video/erdogan-muzik-yasagini-saat-24-00-e-cekiyoruz-kusura-bakmasinlar-gece-kimsenin-kimseyi-rahatsiz-etmeye-hakki-yok,39860">Musik und Unterhaltung</a> müssen aktuell trotz vollständiger Öffnungen um Mitternacht beendet werden. Und es erfolgte die lang angekündigte Aufkündigung der Istanbuler Konvention zum Schutz vor häuslicher Gewalt seitens des türkischen Staates. Der Austritt aus diesem Abkommen war schon letztes Jahr versucht worden, traf aber auch innerhalb des Regimes auf großen Widerstand. Dieses Jahr war das Regime <a href="https://www.duvarenglish.com/turkeys-erdogan-quits-istanbul-convention-with-a-midnight-presidential-decree-news-56713">erfol</a><a href="https://www.duvarenglish.com/turkeys-erdogan-quits-istanbul-convention-with-a-midnight-presidential-decree-news-56713">greich darin</a>, die Kündigung der Istanbuler Konvention durchzudrücken – mit dem <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskanligi-iletisim-baskanligi-ndan-istanbul-sozlesmesi-aciklamasi,940584">Argument</a>, diese legitimiere mit dem Begriff „gesellschaftliches Geschlecht“ „widernatürliche“ (also nicht-heteronormative) Sexualitäten, was „unserem“ Moralverständnis <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56492232">wi</a><a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56492232">derspräche</a>. Die restriktive und homophobe Sexualitäts- und Alltagsmoral zielt damit aber nicht nur auf die Unterdrückung und Demoralisierung alternativer Lebensentwürfe und Sexualitäten, sondern vor allem auch auf die Schaffung (oder Stärkung) von und Legitimation durch konservativ-autoritäre Sozialcharaktere. Warum sonst kommt eine Familien- und Sozialministerin auf die Idee, den Anstieg von Gewalt an Frauen für „<a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/why-women-are-calling-turkeys-only-female-cabinet-member-resign">tolerabel</a>“ zu halten, da sie einen (noch) stärkeren Anstieg mit der Pandemie erwartet hätte? Zugleich erdreistete sich aber das Tourismusministerium Ende Juli 2021 ernsthaft und ohne Scham ein Promotionsvideo über Istanbul mit dem Titel „<a href="https://twitter.com/TCKulturTurizm/status/1419764679019278336?s=19">Istanbul is the new cool</a>“ zu drehen und zu veröffentlichen, das Istanbul als eine säkulare, liberale, offene, lebensfreudige, unbeschwerte, potenziell queere und hippe Stadt darstellte, um irgendwie noch westliche Tourist*innen anzuziehen. Als ob „Enjoy, I’m vaccinated“ nicht gereicht hätte. Die <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/secular-turks-mock-governments-appropriation-care-free-lifestyles-istanbul-promo">zynischen Kommentare</a> auf Twitter reichten von „das war/ist Istanbul vor/nach der AKP“ bis hin zu „Frauen tanzen, Ballett auf den Straßen, wilde Nächte, Getränke, Tische... Es ist so schön, ich frage mich welches Land das wohl sein mag“.</p><p>Nicht zuletzt gab es einige institutionelle Veränderungen zur Stärkung der repressiven Apparate. Die Veränderungen zielen auf die Festigung eines autoritären Staatsaufbaus: <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2021/01/turkey-gives-police-access-military-alarming-human-rights.html">Beispielsweise</a> ist es mittlerweile dem Geheimdienst (MIT) und der Polizei erlaubt, bei „terroristischen oder gesellschaftsbezogenen Ereignissen“ auf Waffenbestände des Militärs zuzugreifen. Zudem ist es mittlerweile <a href="https://t24.com.tr/haber/bakan-soylu-toplumsal-olaylarda-kayit-yasagina-dair-emniyet-genelgesi-anayasa-ya-aykiri-degil-basini-engellemez,949777">verboten</a>, mit Handys Aufnahmen von polizeilichen Maßnahmen zu tätigen. Auch wurde die <a href="https://www.hrw.org/news/2020/12/24/turkey-draft-law-threatens-civil-society">Kontroll- und Interventionsmacht</a> des Innenministeriums über die Vorstände von NGOs <a href="https://media-cdn.t24.com.tr/files/Venedik_Komisyonu_Turkiye_raporu.pdf">bedeutend gestärkt</a>. Und es wird seitens des Regimes die Einführung einer <a href="https://www.haberturk.com/yazarlar/muharrem-sarikaya/2958771-yeni-anayasanin-olmazsa-olmaz-iki-sarti-1-cumhurbaskanligi-hukumet-sistemi-2-uniter-yapi">neuen Verfassung</a> <a href="https://yetkinreport.com/2021/02/03/yeni-anayasadan-ilk-haberler-daha-guclu-baskanlik/">diskutiert</a>, die <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/yeniden-kurulus-anayasasi-41737612">offensichtlich</a> eine verfassungsrechtliche Stärkung der Präsidialdiktatur parallel mit einer Stärkung der türkisch-nationalistischen und islamistischen Elemente der Verfassung zum Ziel hat. Aber keine dieser Maßnahmen konnte verhindern, dass Anatolien Ende Juli wortwörtlich in Flammen aufging.</p><h2><b>Anatolien in Flammen</b></h2><h4><i>Seit Ende Juli wüten die vermutlich verheerendsten Waldbrände in der Geschichte der</i> <a href="https://atmosphere.copernicus.eu/copernicus-mediterranean-region-evolves-wildfire-hotspot-while-fire-intensity-reaches-new-records"><i>modernen Türkei</i></a><i>.</i> <a href="https://www.economist.com/europe/2021/08/07/turkeys-deadly-fires-raise-the-heat-for-erdogan"><i>Über 160.000 Hektar Waldfläche</i></a><i> verbrannten vom 28. Juli bis zum 9. August in</i> <a href="https://twitter.com/bekirpakdemirli/status/1424804281941733379/photo/1"><i>über 270 Bränden</i></a><i>, die 53 von insgesamt 81 Provinzen in Flammenmeere verwandelten.</i></h4><p>Es ist natürlich einerseits Zufall, dass im selben Jahr die Corona-Pandemie auf der Welt wütet; in Texas im Februar eine historische <a href="https://www.nbcnews.com/news/us-news/death-toll-rises-210-february-cold-wave-texas-n1273911">Kältewelle</a> zum Zusammenbruch des Elektrizitätsnetzwerkes und zu über 200 Kältetoten führte; Kanada und Teile der USA eine bisher nicht gesehen Hitzewelle von 50° Celsius durchmach(t)en; in Rheinland-Pfalz beziehungsweise Nordrhein-Westfalen (und in Belgien, Luxemburg, der Niederlande und der nordöstlichen Schwarzmeerküste der Türkei) geradezu <a href="https://www.nationalgeographic.co.uk/environment-and-conservation/2021/07/experts-fear-germanys-deadly-floods-are-a-glimpse-into-climate-future">diluvianische Sintfluten</a> zu immensen Zerstörungen und zum Tod von fast 200 Menschen führten; weitere Regionen rund um das <a href="https://www.vice.com/en/article/n7bk9d/a-heatwave-has-triggered-a-massive-melting-event-in-greenland">Mittelmeer in Flammen</a> stehen (Waldbrände in Italien, Griechenland, dem Balkan, Algerien...); auch Kalifornien mit dem größten Waldbrand seiner Geschichte kämpft; es sogar in Sibirien zu weitflächigen Waldbränden kommt, während in Grönland die Eiskappen wegen einer Hitzewelle <a href="https://www.vice.com/en/article/n7bk9d/a-heatwave-has-triggered-a-massive-melting-event-in-greenland">massiv schmelzen</a> und so weiter. Aber es ist zugleich überhaupt kein Zufall, sondern diese Extremwetterereignisse sind eine logische Konsequenz von geradezu eiserner Notwendigkeit. Sie folgen aus dem menschengemachten Klimawandel, wie der <a href="https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2021-08/klimawandel-ipcc-bericht-weltklimarat-erderwaermung-extremwetter/komplettansicht">aktuell veröffentlichte</a> Weltklimabericht des<i> Intergovernmental Panel on Climate Change</i> (IPCC) in aller Ausführlichkeit und wissenschaftlich fundiert festhält. Extremwetterereignisse werden daher unausweichlich zunehmen, einzig die Frage nach dem <i>wann</i> und <i>wo</i> beherbergt eine Prise Zufall. Ähnlich verhält es sich mit dem zumindest stark durch menschliche Handlungen begünstigten Ausbruch und der Verbreitung von Epidemien und Pandemien. Vielleicht wird dieses Jahr irgendwann als das erste ökologische Katastrophenjahr bezeichnet werden, in dem sich die mit apodiktischer Notwendigkeit aus dem Klimawandel und den spezifischen Formen menschlicher Landwirtschaft folgenden Extremwetterereignisse und Pandemien in einem bislang noch nicht gekannten Ausmaß akkumulierten – und damit auch den Menschen in den imperialistischen Zentren die Klimakrise fassbar vor Augen führten. Die UN spricht schon davon, dass wir auf einen Planet hinsteuern, der zu einer „<a href="https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/Human%20Cost%20of%20Disasters%202000-2019%20Report%20-%20UN%20Office%20for%20Disaster%20Risk%20Reduction.pdf">uninhabitable hell</a>“ (S. 3) wird und Leo Panitch bläut uns, etwas arg pessimistisch, schon seit Jahren ein, dass wir uns <a href="https://catalyst-journal.com/2020/06/class-theory-for-our-time">darauf vorbereiten müssen</a>, den Sozialismus unter Umständen aufzubauen, die denen von<i> Blade Runner</i> ähneln.</p><h4><i>Das derzeitige Inferno in Anatolien ist allerdings nicht nur eine Geschichte des menschengemachten Klimawandels. Es führt – wie in einem Brennglas – alle in diesem Artikel bereits angesprochenen sozialen Entwicklungen und Antagonismen konzentriert zusammen und verschärft sie: den neronischen Hochmut des Regimes, das Desinteresse des neoliberalen Staates an Mensch und Natur, die Faschisierung, den Lynchmob, die antikurdische Hetze – aber auch das Potenzial umfassender Solidarität.</i></h4><p>An erster Stelle ist das Totalversagen des neoliberalen Staates zu nennen, wo es um Schutz und Überleben von Mensch und Natur geht: Angesichts der völlig unzureichenden Ausstattung von Feuerwehr und Feuerlöschflugzeugen versuchten Dorfbewohner*innen, Polizist*innen und Gendarmen individuell mit eigenen Händen, kleinen Wasserkübeln, Decken und dergleichen den Flächenbrand zu besänftigen; die Evakuation von Tausenden von Menschen aus Küstenorten und Tourismusressorts wurde teils mit <a href="https://www.youtube.com/watch?v=Pk2NZ9Q2_o8">privaten Mitteln</a>, das heißt mit Privatjachten, Jetskies und kleinen Booten organisiert. Ganze Dörfer und Städte mussten evakuiert werden; auch das <a href="https://www.youtube.com/watch?v=1IP3j2NrQVY">Kohlekraftwerk Ören</a> bei Milas/Muğla, das in letzter Sekunde abgeschaltet und gemeinsam mit der ganzen Umgebung von den Seestreitkräften des türkischen Militärs evakuiert wurde. Es war eine der wenigen Situationen, in denen die Regierung das Militär, das seit dem Putschversuch 2016 direkt dem Gouverneur und der Regierung mit Ausnahme des militärischen Verteidigungsfalles weisungsgebunden untersteht, zu Hilfe rief. Die Furcht vor einer (eher fiktiven denn wahrscheinlichen) kemalistischen „Vereinigung von Volk und Armee“ durch gemeinsame Aktion sitzt tief. Viele <a href="https://www.youtube.com/watch?v=6Fs8YITtkwo">freiwillige Brandbekämpfer*innen</a> aus allen Landesteilen, oft politisch links eingestellt, und Dorfbewohner*innen <a href="https://www.youtube.com/watch?v=QgN7tnoEkZ4">berichten</a> <a href="https://www.youtube.com/watch?v=rCcHGmm6Uaw">davon</a>, dass lange Zeit gar keine oder kaum Flugzeuge/Helikopter eingesetzt wurden – oder sie, von Staat und Regierung in Stich gelassen, die Brände selbst bekämpfen mussten. „Ich weiß nicht, wer uns helfen wird“, ruft – verzweifelt und wütend zugleich – Ismail Öztürk, ein Dorfbewohner bei Manavgat/Antalya, dessen gesamtes Dorf niederbrannte.</p><p>Im Zentrum der Debatte um Staatsversagen steht die beizeiten von Atatürk gegründete gemeinnützige Institution der Türkischen Luftfahrtgesellschaft (<i>Türk Hava Kurumu</i>, THK) und natürlich das Forst- und Landwirtschaftsministerium. Die THK diente historisch nicht nur der Verbreitung und Ausbildung der Luftfahrt, sondern auch der Bekämpfung von Bränden. Noch 2002 besaß sie 19 Löschflugzeuge, die in den 2000er-Jahren im In- wie im internationalen Ausland zum Einsatz kamen. Ab etwa 2010 wurde sie <a href="https://www.bloomberg.com/news/articles/2021-08-06/grounded-firefighting-aircraft-haunt-erdogan-as-blazes-rage">zunehmend heruntergewirtschaftet</a>, indem ihr bestimmte privilegierte Einkommensquellen staatlicherseits gekappt und islamistischen Organisationen übergeben wurden. Seit 2019 wird sie von einem regimetreuen Zwangsverwalter geführt, der 2015 kurzfristig einen Ministerposten innehatte (den für Handel und Zölle), und die THK gemeinsam mit dem Forst- und Landwirtschaftsministerium ganz aus der Brandbekämpfung <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/tuncay-mollaveisoglu/bu-bir-yonetim-krizi-goz-gore-gore-yandik-1857732">herauszog</a>. Das Herunterwirtschaften der THK ist dabei nicht nur (aber auch) Teil des antikemalistischen Kulturkampfes der AKP: Die THK steht immer noch für ein „Erbe Atatürks“ und galt als kemalistische Bastion. Das Kaputtsparen der de facto halbstaatlichen, aber nach Privatrecht operierenden THK ist aber auch ganz simpel Teil einer neoliberalen Austeritätspolitik, die an allen hauptsächlich sozialen und infrastrukturellen Ausgaben spart, die als „überflüssig“ gelten. <a href="https://griechenlandsoli.com/2021/08/07/polizisten-im-uberfluss-aber-keine-feuerwehrleute/">Ein Blick</a> auf das Nachbarland Griechenland, in dem die <a href="https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-Verheerende-Waldbraende-bedrohen-auch-die-Hauptstadt-6156901.html">durch Austerität</a> fast handlungsunfähige Feuerwehr verzweifelt mit dem <a href="https://www.independent.co.uk/climate-change/greece-fires-news-live-wildfires-weather-b1898720.html">wenigen Personal</a>, das ihr zur Verfügung steht, versucht, die Brände zu bekämpfen – während zugleich die Polizei massiv aufgestockt wurde und wird –, macht deutlich, <a href="https://www.heise.de/tp/features/Griechenland-erst-saniert-dann-verbrannt-6158465.html?seite=all">wie ähnlich</a> sich zwei neoliberale Staaten an der euro-transatlantischen Peripherie bei allen ideologischen und kulturellen Differenzen sind.</p><p>Anstatt die durchaus vorhandenen <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58029855">funktionsfähigen Teile</a> der Flotte der THK sofort zu nutzen – <a href="https://www.youtube.com/watch?v=ZW88UT6Ol_U">sieben Flieger</a> standen die ganze Zeit flugbereit bei Etimesgut/Ankara auf dem Flugfeld – und die reparaturbedürftigen schnellstmöglich auf Vordermann zu bringen, regnete es <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58029855">Schmähungen und Drohungen</a> auf die THK und alle, die den Einsatz der THK einforderten. Dabei plapperte der Forst- und Landwirtschaftsminister Bekir Pakdemirli natürlich heraus, dass dem Ministerium selbst <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58029855">keine Feuerlöschflugzeuge</a> zur Verfügung stünden. Und der derzeitige Zwangsverwalter der THK gab zu, dass er sich „auf einer Hochzeit“ befand, als ihn CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu verzweifelt versuchte, per Telefon zu erreichen. Dieser wollte ihm das Angebot der am heftigsten vom Feuer betroffenen Gebiete (alle CHP-geführt) überreichen, wonach die betreffenden Munizipalitäten vorschlugen, die Wartungskosten der THK-Feuerlöschflugzeuge zu übernehmen, damit diese schnellstmöglich in den Einsatz geschickt werden könnten. Bis Feuerlöschflugzeuge und -helikopter von Russland, der Ukraine, Israel und Aserbaidschan und anderen Ländern – übrigens zu vermutlich bedeutend <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/tuncay-mollaveisoglu/ormanlar-yansin-diye-her-sey-yapildi-1848468">höheren Kosten</a> als eine <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58029855">Wartung</a> der THK-Flotte – angemietet wurden und die EU Hilfe schickte, waren die Brände schon zu einem Flächenbrand ausgewachsen.</p><h4><i>Sehenden Auges also ließ das Regime die Provinzen in Flammen aufgehen – genauso, wie der römische Geschichtsschreiber Sueton Kaiser Nero beschreibt, der dem Großen Brand von Rom untätig zugeschaut haben soll.</i></h4><p>Wie der Nero der Erzählungen Suetons, so verfolgt – abgesehen von der neoliberalen Inkompetenz – auch das Regime in der Türkei offensichtlich mehrere Kalküle mit dem laxen Vorgehen gegen die Brände. Ein Faktor ist vermutlich ein politökonomischer: <a href="https://www.tema.org.tr/basin-odasi/basin-bultenleri/canakkale-icin-kader-ani">Bis zu</a> 70% <a href="https://www.tema.org.tr/basin-odasi/basin-bultenleri/yasalarla-madencilikten-korunan-alanlar-belirlenmeli">einiger</a> betroffener Provinzen sind mit Bergbaulizenzen versehen. Das Abbrennen der Wälder „vereinfacht“ da natürlich den Bergbau, zumal – zufälligerweise? – unmittelbar zu Beginn der Brände <a href="https://yetkinreport.com/2021/07/31/yanginlar-sonmeden-orman-ve-kiyilar-yeni-yagmaya-aciliyor/">ein Gesetz</a> verabschiedet wurde, das im Prinzip dem Präsidenten das Recht zuspricht, nach Gutdünken Waldgebiete als Bergbaugebiet zu deklarieren. Obwohl der Schutz der Wälder auf Verfassungsrang verbindlich festgelegt ist, wurde dieses Verfassungsprinzip während der AKP-Ära <a href="https://monde-diplomatique.de/artikel/!5761209">kontinuierlich untergraben</a>. Der Bergbau (Gold, Metalle, usw.) stellt nun mal eines der lukrativsten Investitionsmöglichkeiten für AKP-nahe Kapitalgruppen dar. Auch jetzt wird zwar versprochen und versichert, dass alle niedergebrannten Wälder aufgeforstet werden. Ähnliche hochheilige Versprechungen haben sich allerdings in der Vergangenheit als <a href="https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155310.waldbraende-in-tuerkei-grosse-waldgebiete-zerstoert.html">blanke Lügen</a> erwiesen.</p><p>Ein weiterer Faktor ist ein gedoppelter politischer. Zum einen wird die Unfähigkeit, die Brände zu bekämpfen – auch von Erdoğan selbst – <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/erdogan-struggles-contain-political-fallout-turkeys-wildfires">der Opposition zugeschrieben</a>. Alle Kommunalverwaltungen der am heftigsten von den Bränden betroffenen Provinzen an der West- und Südküste der Türkei sind nämlich unter Kontrolle der CHP. Das ist natürlich Teil des allgemeinen Kampfes um die Hegemonie zwischen Regime und Opposition um die Gunst der Bevölkerung. Zugleich aber soll und darf aus Regimeperspektive brennen, was zum verhassten West- und Südküstenstreifen der Türkei gehört – das heißt diejenigen Teile des Landes, die während der AKP-Ära durchgehend in der Hand der kemalistischen CHP (oder, wenn auch etwas weniger stabil, der MHP) blieben und daher nun in neronischer Verachtung dem Brand ausgeliefert wurden. Und inmitten dieses Infernos sang <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/erdogandan-yangin-aciklamasi-suikast-iddiasi-yogun-sekilde-sorusturuluyor-1856606">das Regime</a> und <a href="https://onedio.com/haber/yandas-medyanin-turkiye-nin-yangin-basarisi-hakkinda-yaptigi-gecmis-haberleri-okuyunca-saskina-doneceksiniz-996006">die Regimepresse</a> <a href="https://www.sabah.com.tr/gundem/2021/08/10/son-dakika-yanginlarda-buyuk-basari-tarihe-gecen-anlar">eine Ode</a> auf die angeblich unvergleichlich effektive Brandbekämpfung(sinfrastruktur) des türkischen Staates und <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/08/turkish-prosecutor-investigates-tweets-calling-help-wildfires">schwang die Repressionskeule</a> gegen den millionenfach geteilten #HelpTurkey-Hashtag auf Twitter.</p><p>Der andere Teil des politischen Kalküls ist die Nutzbarmachung der Brände für die Entfachung des antikurdischen Rassismus und der faschistischen Massenmobilisierung zwecks Legitimationserhalt. <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/407845.waldbr%C3%A4nde-in-der-t%C3%BCrkei-schuld-sind-die-anderen.html">Erdoğan höchstpersönlich</a> legte eine Verursachung der Brände durch die PKK nahe. Er bezeichnete die Opposition erneut als „Terroristen“ und <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-58075222">drohte</a> durch die Blume mit Gewalt im Falle eines solchen „Vaterlandsverrats“, was die dann natürlich tatsächlich stattfindenden Übergriffe legitimierte und anfachte. Natürlich gibt es bis heute keine Beweise dafür, dass „Saboteure“ oder die PKK die Feuer gelegt haben. Der türkische Staat müsste sich grundlegend Gedanken über seinen Existenzgrund machen, wenn Saboteure und/oder die PKK so fähig wären, dass sie fast die Hälfte des Landes in ein Flammenmeer verwandeln können. <a href="https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155310.waldbraende-in-tuerkei-grosse-waldgebiete-zerstoert.html">Unter Führung</a> vermutlich der MHP (aber auch Teilen der oppositionellen MHP-Abspaltung <a href="https://twitter.com/alibaydas/status/1422198847305129988">IYI</a>) und mit tatkräftiger Unterstützung der regimetreuen <a href="https://www.jungewelt.de/artikel/407468.hasskampagne-massaker-an-kurden.html">Revolverpresse</a> wurden über <a href="https://sendika.org/2021/07/kim-yakti-627226/">Social Media-Accounts</a> und <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/yalan-yangini-provokasyon-linc-hedef-gosterme-haber-1530516">Internetseiten</a> Hetze gegen angebliche „PKK-Terroristen“ und andere „Bösewichte“ betrieben und bewaffnete rechte Volkswehren zum „Schutze des Vaterlandes“ gegründet. Anstelle die Feuer zu bekämpfen und die Regeneration von Mensch und Natur zu fördern, wie linke Freiwillige es taten, konzentrierten sich diese Volkswehren darauf, Lynchmobs und sogar <a href="https://twitter.com/svendscha/status/1422498595547271168">Passkontrollen</a> auf viel befahrenen Straßen zu organisieren. Alle, die „ausländisch“, „suspekt“ oder, noch schlimmer, wie Kurd*innen aussahen beziehungsweise per Geburtsort als „Kurde“ identifiziert werden konnten, wurden <a href="https://www.zeit.de/zett/politik/2021-08/rassismus-tuerkei-waldbraende-kurdische-bevoelkerung">angegriffen</a> und regelrecht zum Abschuss freigegeben. Die Aufwiegelung ging so weit, dass ein <a href="https://twitter.com/kazdaglariist/status/1422173374822944770">Gendarmerie-Kommandant intervenierte</a> und organisierte Zivilist*innen in scharfen Worten mahnte, nicht auf Falschinformationen bezüglich angeblicher „Terroristen“ und Sabotageakten reinzufallen. Die Gendarmerie hätte eine Reihe an solchen anonymen Meldungen geprüft; alle seien falsch gewesen und hätten Unschuldige bewusst zur Zielscheibe erkoren. Der Kommandant hob explizit hervor, dass solcher Art Informationen der wechselseitigen Aufhetzung und der Lynchjustiz dienten. Offensichtlich befürchten auch Teile des Staates, dass die betriebene Hetze zu einem unkontrollierbaren Chaos und zur weiteren Destabilisierung des Landes führt.</p><h2><b>Alle gegen alle – im Namen von Staat und Erdoğan!</b></h2><p>Denn inmitten der autoritären Konsolidierungsversuche verschärft sich mit dem sich einengenden ökonomischen Spielraum und der allgemeinen Krisenhaftigkeit der konflikthafte Charakter der Polykratie. <a href="https://www.jstor.org/stable/40185021"><i>Polykratie</i></a> bezeichnet ein „äußerst komplizierte[s] Herrschaftsgefüge[], aufgebaut aus mehreren, sich gegenseitig nicht selten bekämpfenden und blockierenden Zentren, die allerdings in der Regel […] dem allmächtigen Führer“ (S. 417) untergeordnet bleiben. Zu so einer Situation kommt es üblicherweise mit der schrittweisen Ersetzung konstitutionell-institutioneller Vermittlungs- und Politikformen durch dezisionistische Politik- und Staatsformen. <i>Dezisionismus</i> heißt in diesem Fall, dass das politische Handeln nicht primär mittels rechtsstaatlich-konstitutionell abgesicherten und für alle relevanten Machtakteur*innen verbindlichen Regeln, Normen und gemeinschaftlichen Vermittlungsformen stattfindet. Vielmehr sind es unmittelbare Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen, aus deren Handlungen auch Gesetz und Norm folgen oder zumindest nach gusto interpretiert/angewandt werden (können). <b>[9]</b></p><p>Die grundlegende dezisionistische Fiktion ist natürlich diejenige, dass es in einem politischen Zustand, in dem der Dezisionismus dominant ist oder eine wichtige Rolle spielt, nur<i> einen</i> Souverän gibt, aus dessen Entscheidung dann alles Relevante folgt beziehungsweise dem alle anderen politischen Organe untergeordnet sind. Stattdessen tun sich unter dem einen offiziellen (dezisionistisch agierenden) Souverän (in diesem Fall Erdoğan), der sich auch in das Geschäft anderer staatlicher Institutionen <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/erdal-saglam/fiyat-istikrari-komite-kurarak-saglanamaz-1848776">einmischt</a>, lauter kleinere (Möchtegern-)Souveräne und Machtblöcke hervor, die miteinander konkurrieren um Macht und Einfluss, eben eine Polykratie. Da aber konstitutionell-institutionelle Vermittlungsformen politischer Konflikte fehlen oder den dominanten dezisionistischen stark untergeordnet sind, werden diese Konflikte oft hinter den Kulissen geführt. Bündnisse und Kooperationen werden ad hoc und institutionell nicht abgesichert geschlossen – und genauso abrupt wieder aufgekündigt. Dabei nehmen alle untergeordneten, aber dennoch entscheidenden, Akteur*innen für sich in Anspruch, ganz und gar im Sinne des offiziellen Souveräns (Erdoğan) oder des Staatswohls zu handeln, da diese Elemente das Einzige sind, worauf sich die dezisionistischen Akteure als übergeordnete Institutionen einigen können. Da diese selbst aber durch den Dezisionismus entweder fast jedweder Verbindlichkeit und objektivierter Institutionalisierung beraubt sind oder aber selbst wesentlich dezisionistisch agieren, wird der politische Konflikt innerhalb des polykratischen Gefüges zunehmend eruptiv und agonal ausgetragen, insbesondere, wenn der politische und ökonomische Verteilungsspielraum durch die andauernde Krisenhaftigkeit kleiner wird.</p><h4><i>Erdoğan thront als Schiedsrichter letzter Instanz über dem polykratischen Kampfplatz und versucht, dessen Volatilität durch ad hoc kalkulierte Balanceakte unter Kontrolle zu halten.</i></h4><p>Es macht daher auch Sinn, von einem (politischen) Regime zu sprechen, da nicht alle relevanten politischen Akteur*innen auch öffentliche oder offen gelegte politische Funktionen übernehmen, aber dennoch im und außerhalb des Staates politisch maßgeblich sind. Die MHP hat beispielsweise keinen einzigen Ministerialposten inne – dennoch organisiert sie ihre Kader in bestimmten Staatsapparaten und wirkt ganz maßgeblich mit an der Formulierung der Regierungspolitik.</p><p>Über die Ausmaße dieses polykratischen Zustandes habe ich <a href="https://revoltmag.org/articles/zwischen-faschisierung-elitenzwist-und-widerstand-die-t%C3%BCrkei/">anderorts</a> ausführlich <a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">geschrieben</a>. Ich möchte hier auf die aktuellen Entwicklungen eingehen. Zum einen hat sich der Machtkampf zwischen dem – von den Nationalisten der MHP unterstützten – Innenminister Süleyman Soylu, der nicht aus der Tradition des politischen Islams stammt, und dem aus der Tradition des politischen Islams kommenden Schwiegersohn von Erdoğan, Berat Albayrak (ehemals Finanz- und Wirtschaftsminister), durch den weiter oben diskutierten Rücktritt von Albayrak Ende letzten Jahres vorerst im Sinne von Soylu – und daher im Sinne des nationalistischen Lagers beziehungsweise eines nationalistischen Kräftenetzwerkes im derzeitigen Regime – entschieden.</p><p>Dieses Netzwerk befindet sich mit dem erneut eskalierten Krieg gegen die Kurd*innen ab 2015 und der, politisch betrachtet lebenserhaltenden, Unterstützung der MHP für die AKP schon seit geraumer Zeit im Aufwind. Auch in diesem Jahr übernahm der MHP-Chef Bahçeli wie in den Jahren zuvor die Initiative im Faschisierungsprozess der Türkei, indem er die Wiedereinführung der Todesstrafe, mehrmals die Entmachtung und/oder Abschaffung des Verfassungsgerichtshofes und letztlich eine neue Verfassung vorschlug. An letzterem <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/mhpnin-hazirladigi-yeni-anayasa-calismasinin-ayrintilari-belli-olmaya-basladi-1833808">entfacht</a>e sich ein bisher nicht weiter hochgekochter Konflikt mit der AKP, da Bahçelis Vorschlag zwar auf ein autoritäres Staatssystem ausgerichtet ist, aber auch explizite Kontrollmechanismen des Präsidenten, beispielsweise durch ebenfalls direkt gewählte Präsidentenberater (sozusagen durch faschistische Tribune) vorsieht. Auch bei der Verbotsforderung gegenüber der HDP war Bahçeli lautstark vorne dabei – mit Sicherheit auch deswegen, um der Möglichkeit einer taktisch-instrumentellen Annäherung der AKP an die HDP oder einem erneuten „Friedensprozess“ zuvorzukommen, da die MHP selbst Haupttreiberin und eine der Hauptprofiteurinnen des militaristischen Kurses ist. Demgegenüber könnte die AKP unter Umständen auch wegen ihrer Geschichte zu einem taktisch-instrumentell verstandenen „Friedensprozess“ mit der kurdischen Bewegung zurückkehren oder eine Rückkehr wahltaktisch in Aussicht stellen, auch wenn dies aufgrund der Entwicklungen immer unwahrscheinlicher wird. Ähnliches, wenn auch auf einem viel niedrigeren Niveau, wurde schon bei den Kommunalwahlen 2019 versucht. <b>[10]</b> Dass Erdoğan <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-sizler-baskalarinin-evlatlarini-daga-olume-gonderenlerin-kendi-evlatlarini-yurt-disinda-nasil-ihtimamla-buyuttuklerini-yasattiklarini-da-gayet-iyi-biliyorsunuz,964882">vor Kurzem</a> die mehrheitlich kurdische Großstadt Diyarbakır besuchte und betonte, es sei nicht die AKP gewesen, die den „Friedensprozess“ beendet habe (sondern natürlich PKK und HDP), war für die türkischen Verhältnisse seit 2015 ein Novum, weil es den Friedensprozess zumindest wieder zum Thema machte. <a href="https://www.trthaber.com/haber/gundem/cumhurbaskani-erdogan-yangin-mahalline-gorevli-olmayanlar-giremeyecek-600203.html">Erst kürzlich</a> hob er kontrafaktisch hervor, dass es der türkische Staat gewesen sei, der die Kurd*innen in Kobâne vor dem IS geschützt habe. <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-cumhur-ittifaki-dunden-daha-guclu-bir-sekilde-ayaktadir,965572">Prompt intervenierte</a> Bahçeli und gab öffentlich zu verstehen, dass niemand irgendwelche „Absichten“ (sprich, auf einen erneuten Friedensprozess) herauslesen sollte.</p><h4><i>Im Zuge der Erstarkung des nationalistischen Lagers in seiner Breite sowie der erneuten offenen Militarisierung der Türkei sind auch zentrale Akteur*innen des</i> <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57257229"><i>Tiefen Staates der 1990er</i></a><i> als wirkmächtige Akteur*innen erneut in die Öffentlichkeit gerückt.</i></h4><p>Ryan Gingeras <a href="https://www.jstor.org/stable/40586942">hält fest</a>, dass der Begriff des Tiefen Staates genutzt wird, um</p><p><i>to explain why and how agents employed by the state execute policies that directly contravene the letter and spirit of the law. It is a phrase that generally refers to a kind of shadow or parallel system of government in which unofficial or publicly unacknowledged individuals play important roles in defining and implementing state policy. Although military officers are often seen as ringleaders in administering the Turkish deep state, the participation of narcotics traffickers, paramilitaries, terrorists and other criminals is also deemed essential in constructing the deep state. […] Paramount to the operation and survival of the deep state is the extreme emphasis placed upon state security[.]</i> (S. 152-54, 173)</p><p>Im Tiefen Staat spielen also Persönlichkeiten innerhalb und außerhalb des Staates eine zentrale Rolle in der Formulierung und Umsetzung legaler wie vor allem illegaler Sicherheitspolitik im Namen der „Staatssicherheit“. Die ehemalige Premierministerin <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/gokcer-tahincioglu-yuzlesme/cinayetler-kasetler-yalanlar-ve-sorusturulmayan-suclar,31087">Tansu Çiller</a>, die alle (das heißt vor allem auch rechtswidrig vorgehende Paramilitärs) als „Helden“ bezeichnete, die für den Staat töten und getötet werden; der ehemalige Polizeichef und Innenminister <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57235924">Mehmet Ağar</a>, der für den Aufbau der Sondereinsatzkräfte der Polizei und ihrer semi- bis illegalen Kriegsführung in den kurdischen Gebieten in den 1990er maßgeblich verantwortlich war (und wegen der Bildung einer kriminellen Organisation während seiner Amtszeit ins Gefängnis musste); sowie nationalistische Mafiabosse, darunter auch Sedat Peker, wurden seit 2015/16 juristisch wie politisch rehabilitiert und unterstütz(t)en seitdem die AKP. Auch Innenminister Süleyman Soylu kommt aus der politischen Tradition, aus der auch Mehmet Ağar kommt. <a href="https://t24.com.tr/haber/susurluk-u-hatirlatan-o-fotografi-gozaltinda-kaybedilenlerin-yakinlari-yorumladi-onlar-icin-adalet-hic-islemedi,909907">Ein</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/susurluk-u-hatirlatan-o-fotografi-gozaltinda-kaybedilenlerin-yakinlari-yorumladi-onlar-icin-adalet-hic-islemedi,909907">Fot</a>o aus dem letzten Jahr, auf dem besagter Mehmet Ağar, ein ultranationalistischer Mafiaboss und zwei <a href="https://www.dw.com/tr/faili-me%C3%A7hullerle-an%C4%B1lan-isim-korkut-eken/a-57694554">ehemalige hochrangige Militärs</a> aus dem Gebiet der „speziellen Kriegsführung“ in einem Luxusyachthafen posieren, zeigt deutlicher als alle Worte, was Tiefer Staat in der Türkei ist.</p><p>Aber die Konflikte innerhalb dieses polykratischen Regimes nehmen nicht ab, sondern eher zu. So kam es zu einem größeren Machtkonflikt mit einer spezifischen nationalistischen Fraktion, die wegen ihrer außenpolitischen Perspektive einer zu erschaffenden Balance zwischen USA und Russland als Eurasier bezeichnet werden. <a href="https://warontherocks.com/2021/04/turkeys-talk-show-nationalists/">Diese Fraktion</a> war ebenfalls nach dem Bruch zwischen AKP und Gülen-Gemeinde 2012-13, spätestens jedoch ab 2016 juristisch wie politisch rehabilitiert worden. Sie konnte sogar eine starke mediale Präsenz entwickeln und in Diplomatie und außenpolitischer Sicherheitsdoktrin partiell den Ton angeben, trotz fehlender elektoraler Verankerung. Der vorgeschobene Grund für den jetzt aufbrechenden Machtkonflikt war eine eher spielerische denn ernsthafte Infragestellung des Vertrages von Montreux (1936), der die Hoheit der Türkei über die Bosporus-Meerenge und die Freiheit der Handelsschifffahrt garantiert, dabei aber zugleich den internationalen militärischen Schiffsverkehr stark einschränkt. Diese Infragestellung ist jedoch ein Symptom der <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/akp-bu-kumpasin-neresinde-makale-1518245">außenpolitischen Reorientierung</a> des Regimes in Richtung einer engeren Zusammenarbeit mit den USA und dem Westen im Allgemeinen: Vor allem Staaten, die nicht Anrainer des Schwarzen Meeres sind, sind von den militärischen Beschränkungen des Vertrages betroffen. <a href="https://www.zeitschrift-luxemburg.de/die-tuerkei-zwischen-neuer-eu-annaeherung-geopolitischen-verwicklungen-und-putschbedatte/">Daher</a> veröffentlichten unter anderem mehr als 100 ehemalige Admiräle aus besagter eurasischer Fraktion eine Erklärung, die zur Einhaltung des Vertrages mahnte, da sie eine Beschädigung des Verhältnisses zu Russland befürchteten. Es war zugleich ein Manöver, um ihrer offensichtlich anstehenden politischen Liquidation <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/metin-gurcan/bir-amiral-bildirisi-analizi-gercekler-dogrular-yanlislar-senaryolar,30491">zuvorzukommen</a>. AKP und MHP reagierten umgehend und verurteilten die Erklärung als „Putschversuch“; es folgte eine riesige Razzia gegen die Admiräle. Ein hochrangiger AKP’ler bezeichnete die Erklärung als „<a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56658215">Gottes Segen</a>“ – so wie Erdoğan den Militärputsch 2016 als Gottes Segen bezeichnet hatte –, der ihnen die Säuberung der eurasischen Elemente ermögliche. Der intellektuelle Kopf der Eurasier, der ehemalige Admiral Cem Gürdeniz, war gemeinsam mit anderen wichtigen eurasischen Militärs nach Jahren der teils öffentlichen Lobpreisung seitens des Regimes im Handumdrehen zur<i> persona non grata</i> geworden – eine typische Entwicklung in dezisionistisch-polykratischen Bündniskonstellationen.</p><p>Auch mit dem Hauptbündnispartner MHP und der um sie und in ihr organisierten nationalistischen Fraktion kommt es zu Konflikten. Die „kurdische Frage“ und die Kontrolle über das Präsidialamt beziehungsweise die Debatte um die neue Verfassung habe ich schon erwähnt. Es gibt aber auch einen Kampf um die ideologische Deutungshoheit im Allgemeinen. Eine Wiederannäherung Erdoğans und der AKP an Parteien sowie an Kultur- und Symbolpolitik des politischen Islams ist klar erkennbar. Nach 2015-2016 hatte eine türkisch-nationalistische und staatsverherrlichende Wende stattgefunden, da die AKP angesichts der Hegemoniekrise und des Bruchs mit ihrem ehemaligen Bündnispartner, der Gemeinde des Predigers Fetullah Gülen, das Bündnis mit unterschiedlichen nationalistischen Fraktionen in Staat und Gesellschaft suchte. Jetzt aber versucht die AKP wieder umzuschwenken. Ihr geht es dabei wie bei der instrumentellen Tuchfühlung an die Kurd*innen zum einen darum, das eigene Bündnisnetzwerk ausweiten und damit zugleich die Opposition zu schwächen. Das habe ich weiter oben bezüglich der Annäherungen an die<i> Saadet Partisi</i> (SP) ausgeführt. Die AKP nahm hierfür auch eine <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56505590">innere Erneuerung</a> ihrer Kaderstruktur vor und versetzte erneut viele Persönlichkeiten aus der Tradition des politischen Islams in entscheidende Stellen der Parteistruktur. Andererseits geht es ihr aber auch darum, im Ideologischen und Kulturellen dafür zu sorgen, dass ihr die Führung nicht zugunsten der nationalistischen Fraktionen entgleitet. Schon früher gab es darum Konflikte. Wegen der Abschaffung eines <a href="https://t24.com.tr/haber/bahceli-den-andimiz-kararina-sert-tepki-danistay-skandal-bir-karara-imza-atmis-milli-gerceklerle-catismistir,939250">erznationalistischen Eidspruchs</a> in Schulen oder bestimmter <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/harp-okullarina-giris-kosullarini-belirleyen-yonetmeliklerde-kritik-degisiklik-irticai-faaliyet-cikarildi-1822750">anti-islamistischer Regularien</a> bei den Rekrutierungsmechanismen des Militärs gab es jüngst einen ähnlichen Konflikt zwischen AKP und nationalistischen Fraktionen.</p><p>Dabei treten auch in der Reorientierung der AKP auf einen <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/erdogan-erken-secime-mi-hazirlaniyor-41851386">islamistischen Kulturkampf</a> dezisionistische Elemente zutage: Der Imam der erst jüngst wieder in eine Moschee konvertierten Hagia Sophia, Boynukalın, trat mehrmals initiativ ins Rampenlicht, indem er <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56434283">lautstark</a> gegen hohe Zinsen, den Laizismus, LGBTQI*, die Nutzung des Begriffs „<a href="https://t24.com.tr/haber/ayasofya-nin-bas-imami-prof-boynukalin-kadin-cinayetleri-vurgusu-kadini-erkege-dusman-etmeye-calisan-bir-sloganik-medya-propagandasidir,937665">Femizid</a>“ sowie die Istanbuler Konvention Stellung bezog und das seiner Interpretation nach vom Quran <a href="https://t24.com.tr/haber/mehmet-boynukalin-dan-tepki-toplayan-aciklamalar-bana-dusen-hisseden-hepinize-kaliteli-pamuk-aldim-alayinizin-cehenneme-kadar-yolu-var,949592">verbürgte Recht</a> des Mannes über die Familie zu herrschen verteidigte. Er überschätzte sich allerdings. Nach großem öffentlichen Druck trat er im April diesen Jahres <a href="https://t24.com.tr/haber/ayasofya-daki-bas-imamlik-gorevinden-ayrilan-boynukalin-kararimin-bir-sebebi-de-ayasofya-imami-konusuyor-da-biz-niye-konusmayalim-hezeyanlarina-meydan-vermemektir,944470">zurück</a>. An seiner Statt ergriff gleich der nächste Imam die Initiative: Bei einem Gebet, bei dem auch Erdoğan zugegen war, bezeichnete er den Staatsgründer Atatürk als „<a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-in-katildigi-programda-ataturk-e-atfen-zalim-ve-kafir-diyen-imama-tepki-yagdi,955487">Unterdrücker und Ungläubige</a>n“, was natürlich ebenfalls zu einem großen Skandal wurde. Ein anderer AKP-Parlamentarier war der Meinung, dass „<a href="https://t24.com.tr/haber/meclis-teki-butce-gorusmelerinde-akp-li-aydogdu-nun-seriat-bizim-hukukumuzdur-sozleri-tutanaklara-gecti,919767">die Scharia unser Gesetz</a>“ ist, während ein stellvertretender Fraktionsvorsitzender der AKP die Perspektive vertrat, dass die geplante neue Verfassung eine „<a href="https://www.birgun.net/haber/akp-den-akp-ye-yanit-kurulus-anayasasi-soz-konusu-degil-334242">Verfassung der Neubegründung</a>“ der Republik anstrebe. Der eigentliche Fraktionsvorsitzende der AKP ruderte prompt zurück und versicherte, dass man an der Republik von 1923 festhalten werde.</p><p>Der Kampf um die Justiz setzt sich ebenfalls fort. Wie gehabt beschweren sich zentrale Figuren des Verfassungsgerichtshofs regelmäßig über unterschiedliche Aspekte mangelhafter Rechtsstaatlichkeit im Land; etwa über die mangelhafte Umsetzung von Urteilssprüchen des Verfassungsgerichtes. Dabei hält sich das Verfassungsgericht selber „nach oben hin“, also hinsichtlich der Umsetzung von Urteilen des Europäischen Menschengerichtshofes, <a href="https://t24.com.tr/haber/berberoglu-karari-ilk-degil-turkiye-yargisinda-anayasa-muhim-degil-parasi-neyse-oderiz-donemi,909009">nicht immer</a> an dessen Beschlüsse. Es handelt also selbst nicht rechtsstaatlich und ist intern politisch <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/sedat-ergin/anayasa-mahkemesinin-hassas-dengeleri-41636492">grob in zwei Lager</a> gespalten. Erdoğan versucht, <a href="https://t24.com.tr/haber/cumhurbaskani-da-eski-istanbul-bassavcisi-ni-secti-fidan-27-kasim-da-yargitay-a-23-ocak-ta-anayasa-mahkemesi-uyeligine-secildi,928355">eigene Leute</a> in diese Institution zu platzieren, die noch nicht vollständig unter seiner Kontrolle ist. Innerhalb des polykratischen Herrschaftsgefüges hat sich das Verfassungsgericht den Ärger führender Vertreter des Regimes zugezogen, da es in einigen besonders krassen rechtswidrigen Fällen nicht im Sinne des Regimes entschied: Beispielsweise beim <a href="https://t24.com.tr/haber/karayollarinda-yuruyusu-engelleyen-kurala-iptal-demokratik-protesto-hakkina-iptal-karari-baskanin-oyuyla-verilebildi,915544">Demonstrationsrecht</a>, dem ersten Verbotsantrag gegen die HDP (das <a href="https://t24.com.tr/haber/aym-hdp-iddianamesini-iade-kararini-gerekcesiyle-yargitay-a-gonderdi,946185">mangels</a> überzeugender Begründung einstimmig zurückgewiesen wurde!) und bei der offensichtlich rechtswidrigen und rein politisch motivierten <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57679999">Inhaftierung</a> eines HDP-Parlamentariers (Ömer Faruk Gergerlioğlu). Es kam sogar zu einem <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/aym-uyesiyle-icisleri-arasinda-isik-atismasi-haber-1501618">sehr heftigen öffentlichen Schlagabtausch</a> zwischen einem vermutlich linksnationalistischen Richter des Gerichts und dem Innenminister Soylu. Aus diesen Gründen speist sich die mehrfach erfolgte Forderung nach der Abschaffung des Verfassungsgerichtes, allen voran seitens der MHP. Das Verfassungsgericht befürchtet, dass der Vertrauenseinbruch in das Justizsystem zu groß wird und es „notwendigerweise zu Suchbewegungen außerhalb des Justizsystems“ (AYM-Vorsitzender Arslan) <a href="https://t24.com.tr/haber/aym-baskani-mahkemelerin-yargilama-ilkelerine-uygun-bir-sekilde-uyusmazliklara-cozum-uretemedigi-bir-yerde-hukuk-disi-arayislarin-ortaya-cikmasi-kacinilmaz,962130">kommt</a>; dass also die staatliche Ordnung aktiv in Frage gestellt und Gerechtigkeit außerstaatlich gesucht wird. Ähnlich argumentiert auch der Justizminister Abdülhamit Gül, der deshalb mit Innenminister Soylu <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-55769361">seit längerem</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/akpden-suleyman-soyluya-bir-tepki-daha-1807819">im Clinch</a> liegt. Soylu fordert <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/adalet-bakani-gulun-karsi-ciktigi-bazi-duzenlemeleri-iceren-torba-teklif-mecliste-1851289">beispielsweise</a> im Gegensatz zu Justizminister Gül die Fortführung von Elementen des Ausnahmezustandes; diese seien nützlich im „Kampf gegen den Terror“ (Soylu hat sich in dieser Angelegenheit mittlerweile durchgesetzt). Aber letztlich bilden die Gegensätze Verfassungsgericht-Lokalgerichte oder (Abdülhamit) Gül-Soylu nur unterschiedliche Nuancen desselben dezisionistisch-polykratischen Herrschaftsgefüges im Justizsystem. Die Justiz als solche ist in hohem Maße durchpolitisiert und so zu „unabhängigen“ Entscheidungen nicht fähig. Sichtbar wird dies etwa aus einer Untersuchung von Reuters auf Grundlage von Daten des Justizministeriums, nach der 45% der 21.000 Richter*innen und Staatsanwält*innen drei oder <a href="https://www.reuters.com/investigates/special-report/turkey-judges/">weniger als drei Jahre Erfahrung</a> im Amt haben.</p><h2><b>„Der Staat ist heilig, nicht aber das Wort eines jeden, der ihm dient“</b></h2><p>Zurück zum Aufhänger des Essays, dem berüchtigten Mafiaboss, Stoßtruppler des tiefen Staates und mittlerweile Social Media Star Sedat Peker.</p><h4><i>Peker ist MHP’ler und tritt ein für die Schaffung eines großtürkischen Reiches – er ist also ein typischer ultranationalistischer Faschist, genauer gesagt ein</i> <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-56695017"><i>Pantürkist</i></a><i>. Als Mafiaboss übernahm er</i> <a href="https://warontherocks.com/2021/06/the-state-stays-dark-mafia-politics-return-to-turkey/"><i>laut seinen eigenen Aussagen</i></a><i> auch bewaffnete Aufgaben für den Staat im Kampf gegen die PKK.</i></h4><p>In Geheimdienstberichten der 1990er wird er namentlich genannt als Akteur innerhalb der mit dem Geheimdienst konkurrierenden staatlichen Elemente des Tiefen Staates. In den späten 1990ern und frühen 2000ern erlosch sein Glanz – wie der der anderen nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates. Innerhalb der staatlichen Elemente des Tiefen Staates setzte sich die Überzeugung durch, nach der Inhaftierung von Abdullah Öcalan seien diese schwer kontrollierbaren und relativ autonomen Akteure nicht mehr nützlich genug für den Staat. Ein Mafiaboss nach dem anderen landete im Gefängnis oder musste ins Ausland fliehen, die kurdische Hizbullah wurde dezimiert. Aber wie schon erwähnt: Spätestens mit der offen militaristisch-nationalistischen Wende der AKP ab 2015 krochen diese Kreaturen wieder hervor. Auch Sedat Peker, der 2016 wieder zu fragwürdigem „Ruhm“ gelangte: Er bedrohte die Akademiker*innen für den Frieden (BAK) damit, dass er in ihrem Blut duschen werde. Seitdem wurde er wieder zu einer angesehenen und für das Regime mobilisierenden Persönlichkeit – bis er sich 2020 ins Ausland absetzte. Einige Monate später, im April 2021 kam es dann zu einer großen Razzia gegen seine Familie und seine Mafiastrukturen.</p><p>Laut eigener Aussage hatte ihn der Innenminister Soylu vor dieser möglichen Razzia gewarnt und Peker deshalb empfohlen, für einige Zeit ins Ausland zu verschwinden, bis sich die Lage beruhige. Es ist bisher nicht wirklich ersichtlich, warum genau Soylu Peker fallen ließ; auch Peker äußert in seinen ersten Videos Verwunderung und vor allem Entrüstung über den Innenminister: Peker habe doch auch aus dem Ausland so sehr für Soylu im Kampf gegen Albayrak Position bezogen. „<a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-besinci-video-devletin-bilgisi-dahilinde-fethullah-gulen-le-gorusmeye-gittigini-soyleyen-mehmet-agar-in-elinde-yazili-emir-var-midir-yoksa-devlet-geleneginde-teror-orgutu-liderine-sozlu-talimatla-insan-yollanir-mi,38886">Du warst doch mein Rückkehrticket</a>“, bricht er an einer Stelle in seinem fünften Video ehrlich entrüstet hervor, als er sich direkt an Soylu wendet. Im Endeffekt ist dieses Detail vielleicht auch unwichtig. Im Allgemeinen können wir einen polit-ökonomischen und vermutlich einen politischen Ursachenkomplex für den Zwist ausmachen, auch ohne alle Details genau zu kennen.</p><p>Politökonomisch betrachtet handelt es sich um ein <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/peker-agar-ve-ortadaki-pamuk-sekeri-makale-1521106">Auseinanderbrechen</a> von Teilen des unendlich komplex ausdifferenzierten milliardenschweren Klientelgeflechts der Netzwerke um und zwischen Erdoğan und dem Regierungsclan der Aliyevs in Aserbaidschan, in welchem die nicht zum engen Netzwerk gehörenden Akteure geschasst wurden, als sich ökonomische Probleme (primär Schuldenrückzahlungsprobleme) einstellten. Peker war wohl mit einem azerischen Oligarchen alliiert, der in Bedrängnis geriet und unterging – das zumindest legt die verlinkte Analyse von Bahadır Özgür nahe. Politisch betrachtet ist es ein <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ahmet-sik/sedat-peker-videolari-bize-ne-anlatiyor-ne-anlatmiyor,30964">wahrscheinliches Szenario</a>, dass sich ein Teil des nationalistischen Machtblocks dafür einsetzt, dass Albayrak (oder Soylu?) sich zum Nachfolger von Erdoğan heraufarbeitet, um im Windschatten des schwachen Albayrak (oder Soylus?) erneut die dominante Kraft im Staat zu werden. Peker hat sich wohl Gerüchten nach relativ autonom und gegen diesen Block und Albayrak (oder Soylu?) gestellt und geriet dadurch auf die politische Abschussliste. Warum ihn dann der mit Albayrak verfeindete Soylu fallen ließ, darüber können wir, wie gesagt, derzeit nur spekulieren. <a href="https://t24.com.tr/haber/sedat-peker-e-erhan-tuncel-i-kim-emanet-eder-diyen-soylu-ya-peker-den-yanit-bana-bu-komployu-kuran-organize-sube-yetkilileri-feto-culukten-cezaevinde,954416">Mittlerweile</a> rühmt sich Peker auch damit, dass er Soylus Pläne auf das Präsidialamt zerstört habe. Eventuell war nicht Albayrak, sondern Soylu die Person, die den Windschatten für die nationalistische Fraktion hervorbringen sollte. Oder aber die Person änderte sich im Laufe der Zeit.</p><p>Was wir wissen ist, dass Soylu bisher versucht, <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/mustafa-balbay/saray-soylu-surgun-1842920">die ganze Affäre</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/mustafa-balbay/saray-soylu-surgun-1842920">dahingehend</a><a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/mustafa-balbay/saray-soylu-surgun-1842920"> auszunutzen</a>, gegen die islamistischen Fraktionen innerhalb der AKP vorzugehen und partiell auch gegen vergangene Politik der AKP wie beispielsweise den Friedensprozess zu wettern, also in die Offensive zu kommen. Dabei hat er aber einen schweren Stand: Innerhalb der <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/tolga-sardan-buyutec/emniyet-terfilerinde-serh-krizi-ve-cumhurbaskanligi-ndan-soylu-ya-gelen-mesaj,31540">zentralen Machtstellen des Polizeiapparates</a> ist anscheinend schon ein Kampf zwischen Soylu-nahen und anti-Soylu-Fraktionen entbrannt – und auch <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/yoneylem-arastirmanin-turkiye-siyaset-paneli-haziran-verileri-cumhuriyette-1850431">in Bevölkerungsumfragen</a> steht Soylu <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/anket-secmenin-yuzde-75-i-sedat-peker-in-iddialarina-inaniyor,12123">mittlerweile</a> <a href="https://ahvalnews.com/tr/suleyman-soylu/bahceli-savunsa-da-mhp-secmeni-de-soyludan-destegini-cekti-arastirma">schlecht da</a>. In einem der wichtigsten Think Tanks des Regimes, SETA, hat es <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/yazarlar/baris-terkoglu/setanin-cocuklari-birbirini-yedi-1847859">vermutlich</a> die zuvor Soylu unterlegene Albayrak-Fraktion geschafft, die gesamte Soylu-nahe Fraktion auszumerzen (die wiederum, typisch für einen polykratischen Führerstaat, mit viel Pathos und der Ansage: „wir werden weiter auf dem Weg marschieren, den der Präsident gezeigt hat“, den Think Tank mit wehenden Fahnen verließ). <a href="https://www.dw.com/tr/merkez-bankas%C4%B1ndaki-siyasi-atama-furyas%C4%B1-90-ki%C5%9Fiyi-buldu/a-58056396">Auch innerhalb</a> der Bürokratie der TCMB <a href="https://t24.com.tr/haber/kulis-merkez-bankasi-na-eski-hsk-uyesi-yazar-in-atanmasi-ekonomi-burokrasisinde-berat-albayrak-etkisinin-surdugunun-gostergesi,965616">scheint</a> die Albayrak-Fraktion die Oberhand gewonnen zu haben. Wie gesagt: Wo Dezisionismus und Polykratie herrschen, da können Verbündete von gestern Feinde am nächsten Tag sein und umgekehrt.</p><h4><i>Pekers erneuter Aufstieg und das Aufplatzen der von ihm „aufgedeckten“ Skandale als Form politischer Abrechnung wären nicht möglich gewesen ohne die ausgeuferten Verschränkungen von Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus – letzterer als Mechanismus der Loyalitätsbildung – der letzten Jahre.</i></h4><p>Anfänglich – wie er selbst in seinen Videos betont – motiviert aus Entrüstung, Wut und Rachedurst erzählte Peker in einer immer wieder durch ausführliche Drohungen und Kampfansagen an Mehmet Ağar, Albayrak und Soylu durchsetzten manisch-narzisstischen Inszenierung aus dem Plauderkästchen dezisionistischer und klientelistischer Willkür hinter den Kulissen. Bis Mitte-Ende Mai ging es in seinen Videos darum, wie sich angeblich Mehmet Ağar im oben erwähnten politökonomischen türkisch-azerischen Geflecht den ebenfalls oben erwähnten Luxusyachthafen mit unlauteren Mitteln krallte; sein Sohn (ein AKP-Parlamentarier) eine Frau vergewaltigt und umgebracht und sich dann durch den Staat habe decken lassen; darum, dass der Sohn des ehemaligen AKP-Premiers Binali Yıldırım, Erkam Yıldırım, angeblich den Drogenhandel zwischen Kolumbien-Venezuela-Türkei-Zypern organisiert habe; um einen lokalen Polizeichef in Silivri, der Suizid beging, weil er anscheinend dem Druck politischer Direktiven Soylus nicht mehr standgehalten habe; um eine Hand voll erzopportunistischer Journalisten wie Hadi Özışık oder Veyis Ateş, die sich inmitten der Auflösung des Konstitutionalismus im Glanze von Macht und Geld zu Vermittlern zwischen Macht und Geld aufgespielt hätten (unter anderem auch zwischen Peker und Soylu); um Süleyman Soylu selbst, der seine Position als Minister ausgenutzt habe, um sein Versicherungsunternehmen aufblühen zu lassen; aber auch darum, wie Peker im Zypern der 1990er seinen Bruder dem Militär für extralegale Aktivitäten zur Verfügung stellte; wie er im Sinne der AKP 2015 mit Gewalt gegen Medien vorging; wie er AKP-Parlamentariern und AKP-nahen Auslandsorganisationen wie den (zwischenzeitlich verbotenen) Osmanen Germania Geld zusteckte und so weiter und so fort. Wortmeldungen seitens in den Videos genannter Personen, Leaks von Videos und Gesprächen, einige journalistische Recherchen und sogar einige wenige Rücktritte (<a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/gundem/veyis-atesle-ilgili-flas-gelisme-6491448/">Veyis Ateş</a> kündigte von seinem Sender, <a href="https://t24.com.tr/haber/yalikavak-marina-dan-mehmet-agar-aciklamasi-gorevinden-ayrildi,955288">Mehmet Ağar</a> trat von seiner CEO-Position im Luxusyachthafen zurück) legen bei den meisten von Peker erzählten Geschichten nahe, dass in ihnen zumindest <a href="https://farukbildirici.com/sedat-peker-vakasinda-gazetecilik-bilancosu/">ein Fünkchen Wahrheit</a> innewohnt; wie viel genau davon Realität, wieviel Fiktion, wie viel bloß falsches Wissen oder Überheblichkeit ist, werden wir indes wohl erst dann lernen, sobald uns alle relevanten staatlichen Quellen offengelegt werden – wenn überhaupt. Die türkische Justiz tut angesichts der „Enthüllungen“ von Peker bisher jedenfalls – gar nichts.</p><p>In der partiell auch von Peker „aufgedeckten“ Geschichte des dubiosen Geschäftsmannes <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/ahmet-sik/a-dan-z-ye-sezgin-baran-korkmaz-olayi,29414">Sezgin Baran Korkmaz</a> kommen alle diese Fäden des Dezisionismus, der Polykratie und des Klientelkapitalismus exemplarisch zusammen. Korkmaz, ein aggressiver Investor kurdischer Abstammung, gehört zu den typischen Neureichen der AKP-Ära. Nach 2016 arbeitete er sich durch Anbiederung an den Staat nach oben, etwa durch Vermittlungstätigkeiten zwischen der us-amerikanischen Geschäftswelt und der türkischen. Unter Umständen spielte er auch eine wichtige <a href="https://kronos34.news/tr/sezgin-baran-korkmazin-ucagi-40-kez-venezuelaya-gitmis/">Vermittlerrolle</a> im Drogenhandel zwischen Venezuela und der Türkei. Für seine Dienste wurde er offensichtlich klientelistisch belohnt: mit Insiderinformationen zu Unternehmen in der Türkei, die sich in Schwierigkeiten befanden. Diese kaufte er dann aggressiv und vermutlich teils mit unlauteren Mitteln auf. Zudem betrieb er Geldwäsche für die Kingston-Brüder, einer Betrügerbande in den USA, die sich vom us-amerikanischen Staat rechtswidrig Milliarden von Dollar an Zuschüssen zuwenden ließen. Korkmaz hatte offensichtlich Kontakte in alle Bereiche ökonomischer, politischer und juristischer Macht in der Türkei und ließ aus all diesen Bereichen wichtige Personen in seinen Luxushotels umsonst verkehren. Aber er war eben nicht der einzige Klient der Macht: Ein türkischer Konkurrent, der Korkmaz auch ökonomisch unterlegen war und von ihm vernichtet zu werden drohte, wandte sich vermutlich an den Innenminister Soylu (die Details der Story bleiben noch vage). Mit Appellen an Nation, Vaterland und dergleichen hochtrabende Dinge bat er diesen, Korkmaz aus dem Verkehr ziehen zu lassen. Soylu sah vermutlich die Chance gekommen, sich einen getreuen ökonomischen Klienten aufzubauen. Er informierte Korkmaz, ähnlich wie später Peker, vor einer bevorstehenden Razzia und riet ihm zur Flucht. Das Büro für die Untersuchung von Finanzkriminalität (MASAK) fertigte zeitgleich einen vernichtenden Bericht über Korkmaz an – ein paar Monate, nachdem ein vorhergehender Bericht desselben MASAK nichts gegen Korkmaz aufzudecken hatte. Und schon war Korkmaz plötzlich Saulus statt Paulus. Die Leser*in weiß mittlerweile schon: Solche abrupten Umkehrungen sind typisch für dezisionistisch-polykratische Herrschaftsgefüge. Hinzu kommt nun, dass der schon genannte Journalist Veyis Ateş Korkmaz telefonisch kontaktierte – Teile des Telefongesprächs wurden im Zuge des „Skandals“ <a href="https://t24.com.tr/haber/ses-kaydi-var-aciklamasi-haberturk-sunucusu-veyis-ates-firari-sezgin-baran-korkmaz-dan-10-milyon-euro-istedi-mi,959129">veröffentlicht</a> – und sich als Vermittler zwischen ihm und Soylu anbot; natürlich im Gegenzug für eine läppische Aufwandsentschädigung von 10 Millionen Euro!</p><h4><i>Der Staat war also nicht nur tief, sondern auch sumpfig geworden, voller Kreaturen, denen noch die „nationalen Werte“ der alten Mafiosis und Paramilitärs des Tiefen Staates zu bloßen Instrumenten ihres reinen individuellen Machtopportunismus wurden.</i></h4><p>Interessant ist, dass Peker in seinen ersten Videos stets hervorhob, nicht gegen den Staat zu sein. Im Gegenteil, er hielt bei seinen „Aufdeckungen“ und Attacken auch stets den Staatspräsidenten Erdoğan außen vor. Mehrmals betonte er, dass er im Staate aufgewachsen und für ihn gedient habe. „<a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/sedat-peker-1834751">Der Staat existiert ewig</a>, er ist heilig. Es gibt aber kein Gesetz, das vorschreibt, dass das Wort eines jeden, der dem Staat dient, auch heilig ist“, so Peker im dritten Video, und später im siebten Video: „<a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-7-video,39060">Der Staat ist ein Geist</a> und es ist dieser Geist, der heilig ist“. Deshalb, so Peker, greife er bestimmte üble oder „tiefe“ Elemente im Staat an, nicht aber den Staat als solchen. Er hob hervor, dass „sie“ – Ağar, Soylu, Albayrak … und so weiter? – Erdoğan umgarnt hätten und rief Erdoğan, den er seinen „großen Bruder“ nannte, dazu auf, im Sinne des Staates (und somit natürlich in seinem eigenen) zu intervenieren. Im vierten Video sprach er davon, dass er „<a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-dorduncu-video-koruma-polisimi-sen-vermedin-mi-suleyman-soylu-temiz-suleyman-in-istifa-olayi-var-ya-bir-gun-once-robot-hesaplardan-tweetler-hazirlandi,38805">vor dem Staat in den Staat</a>“ flüchtete. Das kann wörtlich verstanden werden: Aus der Türkei flüchtete er nach Albanien, dann in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Es ist aber vor allem im übertragenen Sinne zu verstehen: Geschasst im Machtkonflikt innerhalb des polykratischen Staatsgebildes seitens einer ihm feindlich gesinnten Fraktion flüchtete er nach vorne, mitten in dieses Gebilde hinein – in der Hoffnung, das Spiel gegen die ihn verfolgenden Elemente im Staat zu wenden und sich selbst erneut als lukrativen Agent desselben präsentieren zu können. Alle seine Videos sind daher ebenso viele Gesprächsangebote an den Staat im Allgemeinen, an Erdoğan im Besonderen.</p><p>Ende Mai drehte er jedoch den Hahn weiter auf. Er betrat sehr sensible Themenbereiche – vermutlich, weil seine Versuche, erneut vom Staat ernst genommen zu werden, bis dato keine Früchte getragen hatten. In seinem achten Video machte <a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-8-video,39238">er öffentlich</a>, wie seinem Wissen nach die Türkei Waffen an Jihadisten in Syrien lieferte – unter anderem ihn selbst „ausnutzend“, wie er es bezeichnete. Peker kündigte an, auch in eine Abrechnung mit Erdoğan höchstpersönlich gehen zu wollen und dessen Gedächtnis „aufzufrischen“, <a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-8-video,39238">da Erdoğan leider</a> im Sinne von Soylu Partei ergriffen habe. Er fing an, die AKP im Allgemeinen anzugreifen und darüber zu berichten, wie nicht nur Soylu Klientelismus betreibe, sondern auf welche Art und Weise in allen AKP-Munizipalitäten Korruption und Vetternwirtschaft stattfände. Peker nutzte die Gelegenheit, seine Zuschauer*innen dazu aufzurufen, sich gegen die Regierung zu stellen, diese umzuwälzen und die Ordnung zu verändern, damit Korruption und Klientelismus aufhörten. Er schlug sogar einen linkspopulistischen Ton an: Er sprach von der Plünderung von Ressourcen durch eine Handvoll Klientelkapitalisten, während die Bauern und das Volk in Armut dahindarbten. Er äußerte sich auch darüber hinaus politisch und kritisierte die Kurden- und Alevitenpolitik der Regierung. Auch während der Waldbrände Ende Juli/Anfang August kritisierte er die Schuldzuweisungen an die HDP und <a href="https://sendika.org/2021/07/sedat-peker-yanginlari-hdpliler-cikariyor-demek-halkimizi-hdp-binalarina-saldirtma-amacindan-baska-ne-ise-yarayabilir-627191/">bezeichnete</a> die Vorwürfe als „Spiel von Provokateuren im Gewande der Vaterlandsliebe“. Peker vertrat damit eine politische Linie, die sich eigentlich als Mehrheitsmeinung im Staat der frühen 2000er durchgesetzt hatte, namentlich die in diesen „Fragen“ enthaltenen sozialen Antagonismen durch milde integrative Kompromisse zu entschärfen und damit der PKK die soziale Basis abzugraben, ohne von den Prinzipien des türkischen Nationalismus gänzlich abzuweichen. Letztlich konnte er noch so oft betonen, dass er nur einzelne Individuen im Staat angriff und der Staat heilig sei: Ende Mai/Anfang Juni befand Peker sich eindeutig auf Kriegsfuß mit Regierung wie Staat.</p><p>Seine veränderte Strategie machte vermutlich Eindruck. In Kombination mit dem großen öffentlichen „Erfolg“ seiner Videos kam es deshalb ab Anfang/Mitte Juni zu einer merklichen Veränderung im Vorgehen von Peker. Am Wochenende des 12./13. Juni 2021 erschien nicht wie erwartet ein neues Video. Zunächst hieß es, Peker sei von türkischen Kommandos entführt worden. Es stellte sich heraus, dass ihn <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/sedat-peker-dubaili-yetkililer-tarafindan-konutundan-alindi-iddiasi-1844197">Beamte der VAE</a> (vermutlich des Geheimdienstes) zu einer Befragung einbestellt hatten. Wir wissen nicht genau, was dort und anderweitig besprochen wurde. <a href="https://t24.com.tr/haber/sedat-peker-ailemin-yanina-geldim-mit-timlerinin-yaptigi-operasyonla-yakalandigim-asla-dogru-degildir,958887">Peker selbst</a> erzählt die eher unwahrscheinliche Geschichte, dass ihn die VAE-Beamten davor warnten, weitere Videos zu veröffentlichen, da sein Leben in höchster Gefahr sei. Wahrscheinlicher ist, dass die VAE gegen außenpolitische Konzessionen der Türkei Druck auf Peker aufbauten; gleichzeitig ist es sehr wahrscheinlich, dass um diesen Zeitpunkt herum auch Verhandlungen zwischen Peker und dem türkischen Staat, oder besser gesagt, bestimmten Fraktionen im türkischen Staat stattfanden. Die Videos hörten abrupt auf. Seitdem twittert Peker seine „Enthüllungen“ nur mehr. Er ging auch nicht wie angekündigt dazu über, Erdoğan ins Zentrum zu stellen. Stattdessen schoss er sich wieder vor allem auf Süleyman Soylu und dessen angebliches Klientelnetzwerk ein: Beispielsweise machte er publik, dass Soylu angeblich auch nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 unter der Hand <a href="https://t24.com.tr/haber/sedat-peker-den-bakan-soylu-ya-arkandaki-saibeli-organizasyonla-15-temmuz-sonrasinda-da-devlet-envanterine-kayitli-olmayan-silahlari-dagitmaya-neden-devam-ettiniz,964626">Langfeuerwaffen an Zivilisten verteilte</a> in der Vorbereitung auf einen Bürgerkrieg (was <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/turkish-mobster-claims-akp-supporters-secretly-armed-after-putsch">plausibel</a> ist, da eine bei der angeblichen Waffenübergabe beteiligte Person das von Peker angeführte Übergabetreffen bestätigt hat, ohne jedoch zu wissen was übergeben wurde, und laut einer Analyse von Daten des Innenministeriums bis zu 100.000 Waffen aus staatlichen Inventaren fehlen). <a href="https://yetkinreport.com/2021/06/16/pekerin-olasi-haber-kaynaklari-ve-mit-operasyonu-haberi/">Es ist seitdem offensichtlich</a>, dass Peker seither (wenn nicht schon zuvor) unmittelbar aus dem Polizei- und Justizapparat heraus sensible Informationen auch über <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/emniyette-dun-alinan-ifadeyi-bugun-sedat-peker-yayinladi-haber-1527661">sehr aktuelle Ereignisse</a> erhält, die er sodann auch veröffentlicht.</p><p>Peker hat also sein subjektives Ziel, als jemandes Agent im Staat zu fungieren und darin zugleich seine eigenen Interessen zu verfolgen, vorerst erfolgreich erreicht. Ende Mai waren seine Videos schon insgesamt <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57236348">172 Millionen mal</a> angeschaut gewesen, in den Sozialen Medien folgen ihm ebenfalls Millionen Menschen. Öffentliche Umfragen über Kenntnis und Einschätzung der Inhalte von Pekers Videos seitens der Bevölkerung der Türkei oszillieren in ihren Ergebnissen zwar noch zu extrem, um daraus zu tragfähigen Schlüssen zu kommen; es ist aber offensichtlich, dass Peker zu einem popularen Phänomen geworden ist.</p><h4><i>Das von ihm wohlkomponiert inszenierte Simulacrum, die Simulation des „Ehrenmannes“, der überpotente Männlichkeit, Gewaltbereitschaft, einen exzessiv-manischen Narzissmus und ein dementsprechendes Selbstbewusstsein gekoppelt mit einer aufmüpfigen, gar politisch oppositionellen Haltung, aber im Namen von Staat (devlet), Nation (millet) und Vaterland (vatan) verkörpert, macht den verführerischen Bann seiner politischen Ästhetik aus.</i></h4><p>Sehr erfolgreich auf wenige Minuten ist dies in einem <a href="https://www.youtube.com/watch?v=RwJcYJylUEg">Kunstvideo</a> des Youtubers Tımar Rutherford zur Darstellung gebracht worden. Peker selbst ist natürlich alles andere als irgendwie „oppositionell“ oder gar emanzipatorisch: „Wenn ich Dreck bin, dann nur Dreck der untersten Stufe in einem ganzen System an Dreck“, hebt Peker selber <a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-9-video-yasadikca-ve-yaslandikca-degil-direndikce-buyuruz,39442">in aller Ehrlichkeit</a> im bisher letzten seiner langen Videos hervor. Durch seine Popularität und seine Befähigung, wichtige Akteur*innen der polykratischen Konfiguration ins Wanken zu bringen und öffentlich zu demaskieren, hat er erreicht, was viele andere Machtnetzwerke im polykratischen Gefüge nicht schaffen. Darin liegt Pekers derzeitige Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit, was ihn letztlich nützlich gemacht hat – für wen auch immer innerhalb des polykratischen Gefüges. Ryan Gingeras hält dazu passend <a href="https://www.jstor.org/stable/40586942">fest</a>, dass die nicht-staatlichen Elemente des Tiefen Staates zwar vornehmlich mit Bezug auf den Staat wirkmächtig werden, dass sie aber nicht darin aufgehen, willenlose Instrumente für staatliche Akteure zu sein. Darüber hinaus verfolgen sie auch eigene Interessen und legen sich dafür, wo nötig, auch mit staatlichen Akteuren an.</p><p>Was hat sich also machtpolitisch hinter den Kulissen getan Ende Mai/Anfang Juni? <a href="https://yetkinreport.com/2021/05/23/peker-konustukca-erdoganin-mintika-temizligi-kolaylasiyor/">Eine These</a> wäre, dass Erdoğan durch Pekers Performance überzeugt ist, jetzt den geeigneten Moment gefunden zu haben, sich einer nationalistischen Fraktion im Machtblock zu entledigen, dass aber Bahçeli, der auch als erster von beiden öffentlich Soylu in Schutz genommen hat, blockt. Andererseits hat Peker vor Kurzem auch wenig subtil damit gedroht, die <a href="https://t24.com.tr/haber/sedat-peker-den-suleyman-soylu-ya-tum-suclarin-yaninda-bana-bilgi-sizdirdigin-icin-yuce-divana-kesin-gideceksin,965735">Gewalt eskalieren zu lassen</a>, wenn „sie“ bei den nächsten Wahlen, die „sie“ laut Peker offensichtlich verlieren werden, nicht von selbst die Macht abtreten. Es ist nicht ganz klar, ob Peker mit „sie“ Erdoğan und die AKP meint, oder nur bestimmte Teile des derzeitigen Regimes. Letztlich können wir derzeit nur spekulieren, mit wem im Staat Peker zusammenarbeitet. Fakt ist, dass die Causa Peker beziehungsweise die vom ihm öffentlichkeitswirksam aufgerollten Skandale eindrücklich vor Augen führen, welches Ausmaß Dezisionismus, Polykratie und Klientelkapitalismus in der Türkei mittlerweile angenommen haben.</p><h4><i>Das ganze Land schaut auf die Youtube-Videos eines gewaltaffinen, im Namen des Staates mordenden Mafiabosses</i> <a href="https://yetkinreport.com/2021/05/25/ikinci-perde-soylunun-yanitladigi-tek-soruyla-acildi/"><i>anstatt</i></a><i> auf das Parlament und die Justiz für entscheidende Entwicklungen in Politik und Recht – kann es ein eindrücklicheres Bild für die Ersetzung von Konstitutionalismus durch Dezisionismus und Polykratie geben?</i></h4><p>Und zeigen nicht gerade die von ihm „aufgedeckten“ Skandale, wie sehr Dezisionismus und Polykratie mit Korruption, Vetternwirtschaft, Glücksrittertum, kurzum: Klientelkapitalismus zusammengewachsen sind? Zugleich zielt Pekers Vorgehen natürlich darauf ab, diese etablierten Mechanismen zu festigen. In der klassisch paternalistischen Manier des Rechtspopulismus entfacht er den berechtigten Unmut und die Leidenschaften der Bevölkerung in einer tendenziell reaktionären Art und Weise – und dann noch in einer Form, die die Bevölkerung passiv mobilisiert, sie also explizit nicht selbst zur Organisation und zur Aktivität aufruft, sondern als mobilisierte Manövriermasse im innerpolykratischen Machtkampf zur Hand haben möchte.</p><h2><b>Die widerständige Türkei und die etatistische Opposition</b></h2><p>Beim Versuch einer paternalistischen Mobilisierung der Bevölkerung steht Peker nicht alleine da. Der Unmut in der Bevölkerung und der Unglaube in die Institutionen des Staates ist, wie gezeigt, weit verbreitet. Es gibt aber darüber hinaus auch zahlreiche Widerstände und Kämpfe gegen die vom Regime und vom Neoliberalismus herbeigeführten destruktiven Zwänge, Verbote, Entrechtungen, Depravationen. So kämpften und kämpfen <a href="https://sendika.org/2021/05/salgin-yonetiminin-on-dorduncu-ayinda-isci-sinifi-mucadelesi-617316/">die gesamte Pandemie über</a> Arbeiter*innen an vielen Standorten gegen Entlassungen, Nicht-Erfüllung von Corona-Maßnahmen, fehlende Auszahlung von Löhnen und vieles mehr – <a href="https://sendika.org/2021/03/genel-is-genel-merkezi-kartal-belediyesi-ile-tis-imzaladi-isciler-irademiz-yok-sayildi-dedi-609945/">auch</a> in <a href="https://elyazmalari.com/2021/02/23/kadikoyun-simarik-grevcileri/">oppositionsgeführten Kommunen</a>. Zwar waren am <a href="https://sendika.org/2021/05/1-mayis-2021-direnis-iradesi-sokakta-616787/">1. Mai 2021</a> im Prinzip alle Demonstrationen verboten, Linke und Gewerkschafter*innen organisierten aber in vielen Stadtteilen und -plätzen kleinere Kundgebungen und ließen sich von Gewahrsamnahmen nicht einschüchtern. An der Boğaziçi Universität, einer der prestigeträchtigsten Universitäten des Landes, kam es seit Januar diesen Jahres zu einer riesigen Protestwelle gegen einen von Erdoğan per Dekret und gegen die Wünsche der Studierenden und Lehrenden eingesetzten AKP’ler als Zwangsverwalter-Rektor – mit Erfolg: Erst vor Kurzem wurde der Rektor, <a href="https://yetkinreport.com/2021/01/05/otomatik-taslakerdogan-emaneti-ehline-bakin-nasil-veriyor/">Melih Bulu</a>, ebenfalls per Erdoğans Gnadendekret abgesetzt. Die <a href="https://www.nd-aktuell.de/artikel/1154670.der-erste-zwangsverwalter-geht.html">Boğaziçi-Uni</a> gehört neben einer kleinen Handvoll anderer Eliteuniversitäten zu den Universitäten, die die AKP trotz 20-jähriger Regierungszeit nicht kontrolliert bekommt. Die feministische Bewegung ist die Einzige, die wegen ihrer großen Legitimation immer noch Demos organisieren und teils die Polizei zum Rückzug von den Straßen zwingen kann. Dabei hat die Mobilisierungsfähigkeit der feministischen Bewegung mit zunehmender Repression und Austritt aus der Istanbuler Konvention nicht abgenommen, sondern zugenommen. Die HDP ist zwar durch den autoritären Dauerbeschuss kaum mehr handlungsfähig, bleibt aber weiterhin standhaft; auch in Wahlumfragen bleibt sie weiterhin stabil bei um die 10%. Der Kampf der Anwaltskammern gegen die regimefreundliche Reform derselben letzten Jahres wie auch der geradezu heroische Kampf der Ärztekammer für eine populare Pandemiepolitik und gegen die Verdrehungen und Inhumanität des Regimes unter den widrigsten Umständen zeigen, dass es auch in und durch organisierte Korporationen – Überreste des fordistischen Erbes in der Türkei – Widerstand gegen den Autoritarismus möglich ist.</p><p>Auch angesichts dieser Kämpfe und anderen wichtigen politischen Fragen ist regelmäßig eine mehr oder minder starke beziehungsweise absolute Mehrheit der Bevölkerung anderer Meinung als das Regime: Eine absolute Mehrheit der Bevölkerung lehnt den Austritt aus der <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-saadet-partililerin-yuzde-81-i-mhp-lilerin-yuzde-31-i-istanbul-sozlesmesi-nden-cikilmasini-onaylamiyor,942740">Istanbuler Konvention</a> ab; eine absolute Mehrheit lehnt die staatlichen Profitgarantien für die zahlreichen „<a href="https://www.turkuazlab.org/wp-content/uploads/2020/12/Turkiyede-Kutuplasmanin-Boyutlari-2020-Arastirmasi-Sunumu.pdf">Megaprojekte</a>“ (Brücken, Tunnel, Flughäfen, usw.) ab und unterstützt deren <a href="http://www.metropoll.com.tr/upload/content/files/1870-ekim20-ayin5rakami.pdf">Verstaatlichung</a>; eine Mehrheit lehnt auch den <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halk-kanal-istanbul-un-yapilmasi-hakkinda-ne-dusunuyor,962105">Kanal Istanbul</a> ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass es keine politische Einmischung in die <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/arastirma-millet-ittifaki-na-yakinim-diyenlerin-orani-cumhur-ittifaki-na-yakinim-diyenlerden-fazla,11090/4">Universitäten</a> geben und diese ihre Rektor*innen selber wählen sollten und unterstützt den Protest an der <a href="https://t24.com.tr/haber/konda-arastirmasindan-carpici-sonuc-toplumun-yuzde-67-si-bogazici-universitesi-ogrencilerini-hakli-buluyor,943200">Boğaziçi-Universität</a>; ebenso eine absolute Mehrheit lehnt jedwede Beschränkung des <a href="http://www.metropoll.com.tr/upload/content/files/1870-ekim20-ayin5rakami.pdf">Verfassungsgerichtes</a> ab; eine absolute Mehrheit bevorzugt <a href="https://www.milliyet.com.tr/yazarlar/guneri-civaoglu/muhafazakar-kesim-mri-6447122">Laizismus</a> statt „die Scharia“ (81% gg. 18%); eine Mehrheit lehnt die Enteignung des <a href="https://t24.com.tr/haber/metropoll-arastirma-semenin-neredeyse-yarisi-markette-pazarda-gida-enflasyonunun-yuzde-40-ve-uzerinde-oldugunu-soyluyor,943359">Gezi-Parkes</a> und seine Überführung in ministeriales Eigentum ab; eine absolute Mehrheit ist der Meinung, dass die <a href="https://t24.com.tr/haber/anket-halkin-yaklasik-yuzde-60-i-emekli-amiraller-bildirisinde-darbe-imasi-oldugunu-dusunmuyor,944750">Erklärung der Admiräle</a> zum Vertrag von Montreux keinen Putschversuch darstellt; und nicht zuletzt findet eine Mehrheit die von der Opposition betriebene Skandalisierung der <a href="https://t24.com.tr/foto-haber/metro-poll-den-carpici-anket-millet-ittifaki-na-egilim-cumhur-ittifaki-na-egilimden-3-puan-fazla,11919/4">Verschleuderung der TCMB-Reserven</a> richtig.</p><p>Angesichts der autoritären Furie, wie sie in der Türkei wütet, ist dieses Niveau an Widerstand, Kämpfen und abweichender politischer Meinung der Bevölkerungsmehrheit beachtlich. Der LKW-Fahrer, der bei einem Besuch der oppositionellen CHP über die ökonomische Misere seines Berufsstandes klagt und dann spontan vor laufender Kamera explodiert: „<a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/nakliyeciden-chpli-vekillere-abi-bir-kukreyelim-haber-1527446">Bruder, lass’ mal brüllen wie ein Löwe</a>. Mein verehrter Bruder, hau doch mal die Faust auf den Tisch und brüll mal. Es geschieht Unrecht, die Menschen hier leiden, den Menschen geht es schlecht, sie sind hungrig“, hat schon viel in Kauf genommen. Es bedarf viel Mut, eine solche Kampfansage in der heutigen Türkei vor laufender Kamera abzulassen.</p><h4><i>An Kampfbereitschaft und Mut fehlt es wahrlich nicht. Aber die Kämpfe finden nur selten zu einer relativ geeinten politischen Form und Perspektive zusammen</i>.</h4><p>Das Potenzial atomisierter und demobilisierter Proteste und individueller Kampfbereitschaft bleibt aber notwendig beschränkt und tendenziell offen für eine reaktionäre Degeneration, Hoffnungslosigkeit, Kapitulation vor dem Herrschenden und/oder Rückzug. Angesichts dessen verfolgt die bürgerliche Opposition eine sehr etatistische Form der Politik. Die Nähe bis hin zu Identität der bürgerlichen Opposition zur/mit der Regierung bezüglich der „kurdischen Frage“ habe ich schon erwähnt. Auch in allen Angelegenheiten, die als „staatlich“ akzeptiert sind, wie beispielsweise die grundsätzliche Vorstellung einer <a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-ndan-abdulkadir-selvi-abdulkadir-selvi-benim-adima-nasil-konusuyor-yoksa-birileri-selvi-ye-yazdiriyor-mu,919825">Substanz</a> und Einheit des Staates und die Verteidigung seiner Institutionen (<a href="https://t24.com.tr/haber/chp-den-charlie-hebdo-tepkisi-hicbir-ulke-turkiye-cumhuriyeti-nin-cumhurbaskani-na-hakaret-edemez-ettirmeyiz,911906">inklusive des Präsidialamtes</a>!) und <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/dort-partiden-abdye-caatsa-kinamasi-haber-1507401">Interessen</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/meral-aksenerden-erdoganin-cagrisina-yanit-1757650">nach Außen</a>, steht die bürgerliche Opposition <a href="https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2020/09/turkey-russia-erdogan-dispute-armenia-azerbaijan-nagorno.html">Seite an Seite</a> mit dem Regime (oder fordert <a href="https://t24.com.tr/haber/ali-babacan-ve-ahmet-davutoglu-ndan-ortak-basin-toplantisi,938443">sogar</a> ein <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-bu-ulkede-millete-terorist-diyenler-andimiz-i-yasaklayanlar-oldu,939659">noch härteres Vorgehen</a>). Sie stimmen damit de facto zu, wenn wichtige Wortführer*innen des Regimes die Unterscheidung machen in <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/nedret-ersanel/mehmet-agar-bu-olaylar-neticesinde-baska-siyasi-beklentiler-var-ise-acik-soyleyeyim-o-olmaz-2057662">Regierungsangelegenheiten</a>, bei denen man durchaus unterschiedlicher Meinung sein könne, und <a href="https://www.sabah.com.tr/yazarlar/donat/2021/05/06/kanayan-yara">Staatsangelegenheiten</a>, bei denen Einheit gefordert sei. Dabei gibt es natürlich nicht einen „heiligen Geist des Staates“, der zeitlos durch Raum und Zeit west, wie es Peker und viele vor ihm behaupteten. Die Anrufung einer mystischen „Essenz des Staates“ ist allerdings ein Mittel, um Zustimmung zu einer grundsätzlich autoritären Vergesellschaftungsform zu generieren – etwas, worin sich in der Tat Regierende wie bürgerliche Oppositionelle seit Gründung der Republik, ja seit dem späten Osmanischen Reich einig sind. Insofern lässt sich mit Fug und Recht von einer autoritären Staatstradition in der Türkischen Republik sprechen.</p><h4><i>Die bürgerliche Opposition teilt aber auch den Aspekt der paternalistischen Mobilisierung, die der autoritären Staatstradition zueigen ist.</i></h4><p><a href="https://t24.com.tr/haber/kilicdaroglu-video-ile-seslendi-buradan-siyasi-iktidara-acik-bir-cagrida-bulunuyorum-turkiye-nin-evlatlarini-serbest-birakin,930648">Kemal Kılıçdaroğlu</a> so sehr <a href="https://t24.com.tr/haber/sedat-peker-izmir-hdp-il-baskanligina-yapilan-provokasyon-amacli-saldirinin-cok-daha-buyuklerini-ne-yazik-ki-onumuzdeki-zamanlarda-yasayacagiz,959773">wie</a> <a href="https://t24.com.tr/video/sedat-peker-den-8-video,39238">Sedat Peker</a>, <a href="https://t24.com.tr/haber/imamoglu-ndan-hutbe-aciklamasi-diyanet-gencleri-ayirmayan-devlet-yoneticileri-olsun-diye-de-dua-etsin,931708">Imamoğlu</a> (CHP-Bürgermeister von Istanbul) so sehr wie <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/bogazicili-ogrencilerden-bahceliye-yanit-once-terorist-demekten-vazgec-1816006">Bahçeli</a>, <a href="https://t24.com.tr/haber/aksener-kktc-mustakil-bir-devlettir-haddinizi-bilin,931922">Meral Akşener</a> so sehr wie die <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/hdpye-saldiri-aydinlatilmali-41834543">Revolverpresse</a> des Regimes sind sich einig im Aufruf, dass die Menschen „ja nicht auf die Straße“ gehen oder zumindest „Maß und Zurückhaltung“ in ihrem Protest wahren sollen, weil sonst alles außer Kontrolle gerät und Chaos das Land regiert. Als disziplinierend-mobilisierendes Element werden dazu verschwörungstheoretische Ideologiefragmente „<a href="https://dukespace.lib.duke.edu/dspace/bitstream/handle/10161/22556/Goknar%20-%20Political%20Melodramas%20of%20Conspiracy.pdf?isAllowed=y&sequence=2">as an intentionally deployed weapon of politics</a>“ (S. 2) genutzt. „Jemand hat auf den Knopf gedrückt“ <a href="https://www.hurriyet.com.tr/yazarlar/abdulkadir-selvi/turkiyenin-onundeki-kritik-esik-41842003">und</a> <a href="https://www.sozcu.com.tr/2021/yazarlar/ismail-saymaz/sen-suclusun-mehmet-ali-bey-6492402/">ähnliche Sätze</a> sind politische Allgemeinplätze geworden, die implizieren, dass es ein – natürlich nie konkret zu identifizierendes – Mastermind (<i>üst akıl</i>) gibt, das <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-yargimiz-nasil-15-temmuz-un-hesabini-soruyorsa-6-8-ekim-olaylarinin-hesabini-da-bolucu-orgutun-unsurlarindan-soruyor,906889">laut Erdoğan</a> <a href="https://t24.com.tr/haber/erdogan-son-8-yilda-partimize-yonelik-kesintisiz-saldiri-doneminden-milletimizin-destegiyle-ciktik,964513">seit Gezi 2013</a> in den unzusammenhängendsten Ereignissen als das eine identische Subjekt wirkt, um die Türkei durch wechselseitige Polarisierung und Aufhetzung der Bevölkerung zu vernichten. <a href="https://www.yenisafak.com/yazarlar/ibrahim-karagul/sedat-pekere-feto-dosyalari-mi-verildi-zaafi-olan-dubaiye-kosuyor-bin-zayedin-tetikcisi-oluyor-onlarca-sedat-peker-harcanir-2058569">Auch Sedat Peker</a> wird von der Revolverpresse in diese Verschwörung eingeordnet.</p><p>Natürlich gibt es kein Mastermind. Es ist das Regime selbst, das Polarisierung und Aufhetzung betreibt, um Alternativen zu unterdrücken und sich eine autoritäre Legitimationsbasis zu schaffen. In Kombination mit anderen Krisenelementen bringt dies aber auch eine Reihe nichtintendierter Effekte mit sich, wie sich verschärfende außenpolitische und soziale Antagonismen, Prekarität, usw., die durchaus wirklich zu einer Art von Kontrollverlust führen, nämlich zur Hegemoniekrise an sich. Das verschwörungstheoretische Framing versucht bloß, diese Hegemoniekrise disziplinierend zu organisieren. Denn wo hinter allem Unzusammenhängenden und allen Verwerfungen ein böser Mastermind zum Schaden Aller agiert und man nie weiß, ob nicht auch etwas als Gut erscheinendes eigentlich dem Bösen dient, da macht sich eine passivierende Ängstlichkeit breit. Der Glaube daran wächst, dass es der Lenkung durch die das Volk führenden Elite bedarf, welche allein kompetent den Kampf gegen dieses Mastermind ausfechten kann. „[C]onspiracy isn’t just a symptom of authoritarian politics, […] it imagines and prefigures that authoritarianism“ (S. 6), fasst Göknar im eben zitierten Artikel folgerichtig zusammen. Ein erfolgreicher Kampf gegen die Taktiken des Regimes, in dem die Bevölkerung selbst organisiert partizipiert, ist der erfolgversprechendste Weg gegen die Präsidialdiktatur: Die Wahrnehmung der eigenen Wirkmächtigkeit ist das beste praktische Gegenmittel gegen die verschwörungstheoretische Disziplinierung im Allgemeinen, aber vor allem auch gegen die in der Diffusität des Alltagsverstandes verankerten, jahrzehntelang von den Herrschenden geförderten reaktionären Elemente wie den antikurdischen Rassismus <a href="https://www.bbc.com/turkce/haberler-turkiye-57485198">oder</a> die <a href="https://t24.com.tr/haber/area-arastirma-olasi-cumhurbaskanligi-secimlerinde-mansur-yavas-muharrem-ince-ile-abdullah-gul-e-fark-atiyor,899856">Unterstützung</a> für <a href="https://www.gazeteduvar.com.tr/son-anket-millet-ittifaki-onde-galeri-1500153?p=5">außenpolitischen Chauvinismus</a>.</p><p>Die bürgerliche Opposition will dies aber offensichtlich nicht. Sie hofft darauf, durch die Exploitation reaktionärer Sedimente im Alltagsverstand eine paternalistische Mobilisierung gegen das Regime zu organisieren, mit dem sie das Regime stürzen und den Übergang zu einer restaurierten neoliberalen Hegemonie einleiten kann – ohne eine zu starke populare Partizipation zu riskieren, die bedeutend mehr als eine bloße Restauration des Neoliberalismus auf die politische Agenda setzen könnte. Wie sehr die bürgerliche Opposition das Regime stürzen und wirklich abschaffen will, ist ohnehin an sich fragwürdig. Der Chef der Hauptoppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, gab erneut zu verstehen, dass sie <a href="https://t24.com.tr/video/kilicdaroglu-kanal-istanbul-ihalesine-girecek-ulkeye-mesafe-koyacagiz-paralarini-odemeyecegiz-bizden-bir-banka-kredi-verirse-gunu-geldiginde-o-da-gorur,38698">keine Abrechnung</a> (<i>devr-i sabık</i>) mit der AKP-Ära und ihren Verbrechen vorhaben, sollten sie an die Macht kommen. Ähnlich der schon erwähnte stellvertretende Vorsitzende der IYI, Yavuz Ağıralioğlu, der „<a href="https://t24.com.tr/haber/iyi-partili-agiralioglu-ak-parti-deki-arkadaslarimiza-dusman-degiliz-onlarin-rakipleriyiz,941960">unsere Freunde in der AKP</a>, inklusive Herr Erdoğan“ explizit nicht als Feinde, sondern als Konkurrenten unter dem Banner derselben Sache, „Nation und Heimat“ bezeichnete.</p><p>Unter dem Druck der Faschisierung sind auch Teile der Linken, allen voran starke Fraktionen innerhalb der HDP, auf eine Taktik der „Demokratiefront“ umgeschwenkt, der zufolge die Zusammenarbeit aller „demokratischer Parteien“ zwecks Sturz des Regimes Priorität hat. Die Linke, auch die HDP, wäre allerdings besser beraten, sich primär auf das zu konzentrieren, was sie von den bürgerlichen Parteien unterscheidet: Eine Perspektive auf die Überwindung des Neoliberalismus im Sinne der popularen Klassen und eine umfassende Demokratisierung durch populare Massenmobilisierung und -partizipation. Ansonsten bleiben nicht nur die materiellen Bedingungen der Möglichkeit einer reaktionären Organisierung und Mobilisierung der popularen Klassen erhalten, sondern auch die ideellen und politischen – wie der antikurdische Rassismus, der militaristische Chauvinismus und dergleichen. Erst wenn das Volk selbst an der politischen Macht aktiv partizipiert und über sein Geschick selbst entscheidet, werden die Bedingungen der Möglichkeit des Autoritarismus aufgehoben, <a href="https://t24.com.tr/yazarlar/riza-turmen/akp-sonrasi-turkiye-yeni-bir-demokrasi,31141">so</a> Rıza Türmen, ehemaliger Richter der Türkei am Europäischen Menschengerichtshof und linker Demokrat. Die revolutionären Elemente innerhalb der Linken müssen dabei zusätzlich den Punkt stark machen, dass es nicht bloß um Klientelkapitalismus und Neoliberalismus geht und dass strategisch die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher letztlich der einzige Weg ist, die notwendigen (wenn auch nicht allein hinreichenden) Grundlagen für ein gutes Leben für die Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. Dass sich Linke prioritär auf ihre Aufgaben konzentrieren, schließt eine taktische Wahlzusammenarbeit, so denn Wahlen stattfinden sollten, nicht aus. Im Gegenteil: Erst dann, wenn die Linke ihre Aufgaben gut macht, kann sie bei einer möglichen Wahlallianz eine Anerkennung linker Positionen erzwingen.</p><p>Das kurz- bis mittelfristige Ziel für Linke sollte sein, Erdoğan zu stürzen – aber unter Umständen, in denen die Linke so stark wie möglich ist. Es wäre sogar wünschenswert, wenn sie bei den nächsten Wahlen einen selbstbewussten und eigenständigen dritten Parteienblock im Unterschied zum Regimeblock wie zum Block der bürgerlichen Opposition bilden könnte, anstatt direkt oder indirekt dem bürgerlichen Oppositionsblock zuzuarbeiten. Nur durch organisatorische und ideologische Autonomie sowie einer erfolgreichen popularen Praxis kann die Linke Positionen erkämpfen. Zusammenschlüsse wie Einheit für Demokratie (<i>Demokrasi İçin Birlik</i>, DİB), die sich aus Parteien und Organisationen, Bewegungen und Einzelpersonen zusammensetzen, <a href="https://t24.com.tr/haber/demokrasi-icin-birlik-ten-muhalefete-armut-pisip-kimsenin-agzina-dusmeyecek,907330">versuchen gerade</a>, solch eine <a href="https://www.evrensel.net/haber/436368/demokrasi-konferansi-halkin-gercek-halk-egemenligi-kuracagi-yolculuga-katki-sunmaya">populare Perspektive</a> zusammen mit einer popularen Mobilisierung zu entwickeln.</p><h4><i>Vielleicht sind wir derzeit an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr so sehr um die Frage geht, ob Erdoğan stürzt – sondern eher darum, wie er stürzt und wie die Türkei nach Erdoğan aussehen wird. Diesem Kampf um die Zukunft der Türkei sollten wir uns selbstbewusst und voll Lebensfreude stellen.</i></h4><hr/><h2><b>Anmerkungen:</b></h2><p><b>[1]</b> Für die Entwicklungen und theoretischen Einschätzungen zu den Entwicklungen vor/bis September 2020 verweise ich auf meinen längeren Analyseartikel „<a href="https://revoltmag.org/articles/virus-als-katalysator/">Virus als Katalysator</a>“, ebenfalls hier im<i> re:volt magazine</i> erschienen. Ich werde die dort ausgeführten Dinge hier nicht mehr ausführlich behandeln und auf permanente Verweise auf jenen Artikel verzichten; wo keine Quellen angegeben sind oder nicht weiter ausgeführt wird, lassen sich Details in jenem Artikel nachlesen.</p><p>Für viele wichtige inhaltliche Diskussionen und Literaturempfehlungen danke ich dem Arbeitskreis<i> Social and Political History of Turkey</i>. Besonderer Dank gilt dabei Axel Gehring und Svenja Huck für wichtige inhaltliche und formale Kommentare. Ganz besonderen Dank zudem an Johanna Bröse für eine sehr genaue inhaltliche und sprachliche Redaktion des<i> gesamten</i> Artikels. Was wäre der Artikel nur ohne dich und deine Arbeit? Für alle Fehler, Fehleinschätzungen und Verrücktheiten, die weiterhin im Artikel geblieben sind, bin natürlich nur ich verantwortlich. Gedankt sei auch Jo aus dem <i>re:volt</i>-Kollektiv für die meines Ermessens sehr treffende Collage, die als Titelbild des Artikels fungiert.</p><p><b>[2]</b> Ein in der Zwischenzeit vorlegter Rechenschaftsbericht des Finanzministeriums nennt fast identische Zahlen: 2,4%/BIP direkte Ausgaben, 9,3%/BIP Kredite usw. <a href="https://ms.hmb.gov.tr/uploads/sites/12/2021/06/Kamu-Maliyesi-Raporu-1.pdf">Siehe</a> T.C. Hazine ve Maliye Bakanlığı,<i> Kamu Maliyesi Raporu 2021-I</i>, Mai 2021, S. 30.</p><p><b>[3]</b> Minibusse sind kleinere Busse, die etwa 10-20 Sitz- und 5-10 Stehplätze haben und eines der meistgenutzten Fortbewegungsmittel in der Türkei darstellen.</p><p><b>[4]</b> Sind die Zinsen niedriger als die Inflationsrate, spricht man von realem Negativzins. Das heißt die Zinsen sind – egal ob sie nominell positiv, das heißt über 0% liegen – real negativ, da sie unterhalb des Niveaus der Preissteigerung verbleiben. Jeder, der zu realem Negativzins investiert, betreibt also im Normalfall ein Verlustgeschäft. Im betreffenden Fall ist ein realer Negativleitzins der TCMB daher ein sehr starker negativer Investitionsimpuls für ausländisches Kapital. Anders sieht es beispielsweise bei <a href="https://www.deutsche-finanzagentur.de/de/private-anleger/bundeswertpapiere/bundesanleihen/">bundesdeutschen Staatsanleihen</a> aus, die ebenfalls einen realen Negativzins abwerfen. Da sie jedoch gemeinsam mit der deutschen Wirtschaft und im Unterschied zur Türkei als stabil und als sicherer Hafen gelten, investieren Finanzmarktakteur*innen durchaus in sie um diese dann beispielsweise als Sicherheiten für weitere Finanzgeschäfte zu nutzen.</p><p><b>[5]</b> Bei einem Währungs- oder Devisenswap werden Mengen zweier Währungen wechselseitig getauscht, um in Zukunft wieder rückgetauscht zu werden. Die TCMB beispielsweise nutzt solche Swaps, um kurzfristig an dringend notwendige Devisen heranzukommen. Damit verschiebt sich das Problem des Devisenmangels in die Zukunft.</p><p><b>[6]</b> Da die türkische Wirtschaft bei wesentlichen Inputs an Importe gebunden bleibt, wirkt sich natürlich ein Wertverfall der Lira unmittelbar auf die Inflation aus und zieht regelmäßig eine Steigerung derselben mit sich. So wurde dann zwar nach den desaströsen 1990ern, als die TCMB noch eine Fokussierung auf einen fixen TL-Wert hatte und inmitten der Transformationskrisen zum regulierten Neoliberalismus und spekulativer Attacken im Prinzip handlungsunfähig wurde, die Wechselkursfokussierung der TCMB aufgegeben im Sinne einer Preisstabilitätsfokussierung. Da letzteres aber ebenfalls eine gewisse Stabilität des Wechselkurses voraussetzte, intervenierte die TCMB wo nötig natürlich auch in den Devisenmarkt, so beispielsweise 2004-05. Aber das waren noch gute Zeiten, da war das Akkumulationsregime noch nicht fundamental krisenhaft, sondern wurde nur zyklisch negativ affiziert von volatilen internationalen Finanzströmen.</p><p><b>[7]</b> Was Zinshebungen in den USA und daher Kapitalabflüsse aus der Peripherie in die USA wahrscheinlich machte <a href="https://www.mahfiegilmez.com/2021/03/faiz-nicin-artrld-simdi-ne-olacak.html">und daher</a> trotz orthodox-neoliberaler Geldpolitik des türkischen Zentralbankchefs zu einem Fall des Wertes der TL führte. Auch die beste Wirtschaftspolitik kann im Regelfall die strukturellen Defizite eines spezifischen Akkumulationsmodells nicht beheben, in diesem Fall die abhängige Finanzialisierung der türkischen Wirtschaft.</p><p><b>[8]</b> Üblicherweise werden die Steigerungen der Verbraucherpreise als offizielle Inflationsrate angegeben. Produzentenpreise hingegen bezeichnen die Preise, die Produzenten für ihre Inputs bezahlen. <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/turkeys-inflation-spirals-out-control">Wegen der Importabhängigkeit</a> der türkischen Wirtschaft und dem Fall des Wertes der Lira ins Bodenlose sind die Produzentenpreise um mehr als 40% gestiegen, weit mehr als die Verbraucherpreise. Das heißt letztlich, dass die Kosten der Unternehmen viel stärker steigen als die Preise, zu denen sie ihre Waren verkaufen können. Auf kurz oder lang werden also Bankrotte folgen oder eine <a href="https://www.al-monitor.com/originals/2021/07/wealthy-turks-drive-consumption-despite-soaring-inflation">Anpassung</a> der beiden divergierenden Preisentwicklungen stattfinden, das heißt die sich schon <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/son-dakika-lpgye-zam-geldi-1848996">beschleunigende</a> <a href="https://www.cumhuriyet.com.tr/haber/kapanmanin-faturasi-agir-oldu-1846972">Steigerung der Verbraucherpreise</a>.</p><p><b>[9]</b> Ich nutze damit den Begriff etwas anders als Carl Schmitt, der ihn als ein metaphysisches Letztbegründungsprinzip jeder Rechtsordnung, egal ob liberal oder monarchisch oder sonst wie, verstanden wissen will und ihn zudem normativ positiv auflädt. Daher die Charakterisierung von Schmitt als proto-faschistisch. Ich nutze den Begriff als Analysetool für<i> eine</i> mögliche Strukturierung eines gegebenen politischen Systems (im betreffenden Fall der Türkei), zudem sicherlich ohne eine normative Aufwertung.</p></div>
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