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Eine Runde Justiz-Lotto

14177998124_da4dfa141b_k.jpg Alper Çuğun

Alles begann mit exzessiver Polizeigewalt und einer behördlich orchestrierten Machtdemonstration gigantischen Ausmaßes. Es sind die Tage im Juli vor zwei Jahren, die Zeit des G20-Gipfels in Hamburg und die Proteste gegen das Treffen der Staatschefs samt Entourage. Die Zahl der Verletzten und Schwerverletzten bei den Übergriffen durch die Polizei, etwa bei der Welcome-to-Hell-Demonstration oder rund um die Straße Rondenbarg waren hoch. Abseits von einigen kritischen Stimmen aus dem linken Spektrum wurde öffentlich vor allem die Anzahl der verletzten ( zumeist durch Hitzeschlag und Pfefferspray-Eigenbeschuss ausgeknockten) Sicherheitskräfte oder die kaputten Schaufensterscheiben im Schanzenviertel diskutiert.

Wenige Wochen später richtet sich auf einer Berliner Solidaritätsveranstaltung für die Betroffenen der Polizeigewalt in Hamburg die staatliche Gewalt erneut gegen Aktivist_innen. Austragungsort diesmal: der Heinrichplatz mitten in Kreuzberg. Am Ende werden drei Menschen festgenommen. Derzeit laufen die Prozesse gegen sie. Die Anklage: Die drei „Heinis“, wie sich die Betroffenen selbst bezeichnen, sollen (gemeinschaftlich) Gegenwehr gegen den Polizeieinsatz geleistet haben. Zudem stehen Landfriedensbruch, tätlicher Angriff, Körperverletzung und versuchte Gefangenenbefreiung auf dem Programm.

Donnerstag, 15. August 2019, Amtsgericht Tiergarten

Schon um neun Uhr versammeln sich erste Unterstützer_innen vor dem Gebäude. Passant_innen können sich über den anstehenden Prozesstermin und die Hintergründe informieren, es gibt Kaffee und Obst. Heute wird Jürgen, alias „der zweite Heini“ angeklagt. Ein erster Heini hatte bereits einen Gerichtstermin im Mai, auch hier ist das Verfahren noch nicht abgeschlossen.

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Die Drei Heinis samt Unterstützer_innen haben es sich vor dem Gerichtsgebäude gemütlich gemacht.

Der heutige Heini hat entschieden, sich selbst zu verteidigen, ohne anwaltliche Unterstützung. „Während der Vorbereitungen auf den Prozess des ersten Heinis und meinen eigenen ist die Willkür vor und vom Gericht immer wieder ganz klar aufgeploppt. Ich habe mich zunehmend gefragt: Wofür denn dann eigentlich eine Vertretung? Streng genommen sind Anwält_innen auch ein Teil dieses Rechtssystems, von welchem ich mich ganz klar distanziere und welches ich nicht als ‚meins‘ anerkenne“ berichtet Jürgen später in einem Gespräch mit dem re:volt magazine. Er habe deshalb die Konsequenz gezogen, sich selbst zu verteidigen. In Folge dieser Entscheidung setzte er sich immer weiter mit Aspekten des Strafrechts, Gefängnissen, Prozessen gegen andere linke Aktivist_innen und so weiter auseinander. Jürgen berichtet, dass die Recherchen seinen Blick auf den anstehenden Prozess veränderten: „Da wurde mit erstmal klar, dass es keinen roten Faden in der Härte der Verurteilungen gibt. Die mögliche Höhe meiner Verurteilung hat deshalb in meiner Auseinandersetzung zunehmend eine geringere Rolle gespielt. Die gewonnene Freiheit, die ich durch die fehlende anwaltliche Vertretung erhielt, konnte ich dazu nutzen, um mich selber und mit Hilfe meines Unterstützer_innen-Kreises zu empowern und mich gegen die Richtenden zu behaupten. Auf diese Weise konnte ich den Prozess führen, so wie ich ihn am ehesten für angemessen halte.“

Lasst den Prozess beginnen...

Der Prozess beginnt mit der Verlesung der Anklageschrift. Dann kommt Unruhe auf: Als erste Amtshandlung im Saal lässt Richterin Stoppa dann den Saal räumen. Der Grund: Es gibt offiziell 30 genehmigte Plätze für Unterstützer_innen, aber noch mehr freie Stühle. Angeklagter und Publikum forderten, drei weitere potenziell verfügbare Sitzplätze an Unterstützer_innen zu vergeben. „Es waren draußen noch Leute die hinein wollten, durch die freien Sitzplätze war die Öffentlichkeit nicht komplett hergestellt. Dies ist prinzipiell ein totaler Revisionsgrund der alle Urteile zunichte macht“ erklärt Jürgen später – allerdings nur, wenn ein Antrag gestellt wird, der die Richterin dazu auffordert, diese Situation zu Protokoll zu geben. Dieser Antrag kann mündlich oder schriftlich gestellt werden. Befindet sich diese Sachlage im Protokoll, kann damit eine Revision erwirkt werden. „Für mich war das ein sehr entscheidender Moment“ erinnert sich Jürgen. „Ich musste mich an dieser Stelle zum ersten Mal gegen die Richterin behaupten. Ich habe sie insgesamt dreimal mündlich dazu aufgefordert, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben – was sie einmal komplett ignorierte und dann zum zweiten Mal sagte, sie werde das nicht tun. Beim dritten Mal, gekreuzt durch die Aufruhr im Besucher_innenraum, platzte ihr der Kragen und sie hat alle hinaus geschickt.“ Jürgen verlässt den Saal mit den Zuschauer_innen. Draußen verfasst er einen schriftlichen Antrag, um die Richterin dazu zu zwingen, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben.

Nach zehn Minuten geht es zurück in den Saal. Der Anfrage wird nicht stattgegeben. Als Begründung wird auf die erhöhten Sicherheitsvorkehrungen verwiesen . Auch die Prozessbeobachter_innen wurden im Vorfeld aus Sicherheitsgründen auch nur einzeln und nach ausgiebigen Kontrollen ins Gerichtsgebäude eingelassen; nur einige Papierblätter und Bleistifte sind erlaubt. „Damit war die Richterin aus dem Schneider. Das Verlesen beziehungsweise Einreichen meines Antrags war dadurch nicht mehr notwendig. Allerdings: Hätte sie das nicht getan, ihre Begründung abgegeben, wäre sie durch meinen schriftlichen Antrag dazu gezwungen gewesen, ihre Entscheidung zu Protokoll zu geben“ erklärt Jürgen später das Hin und Her. Hoch lebe die Justizinszenierung.

Die Richterin verkündet, jede weitere Äußerung, jedes Schnalzen, Lachen, Klatschen im Gerichtssaal werde mit einem sofortigen Ausschluss der Zuschauer_innen bestraft. Zwei Sicherheitskräfte nicken sich grinsend zu, lassen ihren Blick dann warnend über die Zuschauer _innen wandern. Ob sich der Angeklagte zur Sache selbst äußern möchte, fragt die Richterin. Wolle er nicht, meint der Heini; wohl aber hätte er einige Überlegungen mitgebracht, die er für die Zuschauer_innen gerne ausführen wolle. Dem Vortrag seiner über 18 Seiten langen Prozesserklärung wird stattgegeben. Wider Erwarten wird der Aktivist auch während seiner über 45minütigen Rede nicht verbal unterbrochen. Wohl aber blättern Staatsanwältin und Richterin immer wieder einmal unbeeindruckt in ihren Unterlagen herum, oder tauschen Blicke mit den überall im Saal verteilten Sicherheitskräften und Polizist_innen aus. Die Bullen - so wird der Heini die Ausführenden der Staatsgewalt ausschließlich nennen. Respekt hat er nicht. Nicht vor den Personen, die vor ihm sitzen, und noch weniger vor den Ämtern und Funktionen, die sie innehaben. Staatsanwaltschaft und Gericht werden im Verlauf seiner Erklärung als willige Diener eines repressiven und autoritären Staatsapparats bloßgestellt. Ein Ausschnitt daraus:

„Bei genauerer Betrachtung der politischen Verfahren in den vergangenen Jahren ist zwar im Strafgesetzbuch eine klare Linie der Rechtsprechung zu erkennen, jedoch nicht in den Verurteilungen. Menschen, die erstaunlich milde verurteilt wurden, trotz ihrer ablehnenden Haltungen, und Menschen, an denen ein Exempel statuiert wurde – trotz Entschuldigungen und Einigungen. […] Ich hatte irgendwie damit gerechnet, dass der Staat, der sich so sehr für sein Rechtssystem rühmt, weniger mit Willkür zu tun hat. Ich wurde eines Besseren belehrt. Die Abhängigkeiten von Polizei und Staatanwaltschaft, die Willkür in der Anklageerhebung gegen Bullen, fehlende Kontrollinstanzen auf allen Ebenen: bei der Polizei, bei der Staatanwaltschaft, bei gerichtlichen Gutachter_innen, in den Knästen, und auch im Maßregelungsvollzug, der ja eh sehr gerne lieber tot geschwiegen wird. Die Situation, in der ich mich gerade befinde, hat für mich nichts von einem Prozess, es ist auch kein Pokern. Es ist ein Lottospiel. Das Ganze ist historisch gewachsen: Von Staatsanwaltschaften, welche seit den Reichsjustizgesetzen 1877 Teil des Rechtssystems sind, und Richter_innen, die nahezu kaum für ihre Handlungen verurteilt wurden. Ich verweise auf das Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse Artikel 131 des Grundgesetzes, durch welches mehr als 55.000 NS-Beamt_innen, die ihre Beschäftigungs- und Rentenansprüche im Zuge der „Entnazifizierung“ verloren hatten, die Rückkehr in den Staatsdienst ermöglicht wurde. Dadurch konnte sich ein strukturell menschenverachtendes und erniedrigendes System über die Grenzen des Faschismus hinaus behaupten. Und zwar in Form von erlassenen Gesetzen wie auch in den richtenden Strukturen des Strafsystems.“

Das treffe auch auf die Staatsanwaltschaft des Amtsgerichts Tiergarten zu, führt Jürgen weiter aus. Er macht es an einigen Beispielen deutlich: „Eine Aussage, die mir über den Staatsanwalt zugetragen wurde, der unsere Anklage erhoben hat, klang in etwa so: ‚Der Herr Storm hat da so einen Fetisch, der macht am liebsten Fußball und linke Szene und drückt eigentlich überall den Landfriedensbruch mit rein‘. Wie gesagt, ich behaupte nicht, dass es so ist, ich gebe lediglich wieder, was mir zugetragen wurde. Starkes Stück, hab‘ ich gedacht. Aber wie sich bei weiteren Recherchen herausstellen sollte, hat die Staatsanwaltschaft ohnehin keine sonderlich gute Presse zu vermerken: Der ehemalige Oberstaatsanwalt Roman Reusch ist ein AfD-Vorsitzender in Brandenburg. Seinen Sitz hatte er bis zum 1. Februar 2018. Nachdem er vermehrt aufgefordert worden war, zurückzutreten, kam er diesem Ersuchen nach, wurde Generalstaatsanwalt und in verwirrender, ekelerregender und abstoßender Weise hat dieser es nun in den Bundestag geschafft. Dort ist er Teil des parlamentarischen Kontrollgremiums, welches zuständig für die Kontrolle der drei Geheimdienste ist. Des Weiteren ist er im Ausschuss für Inneres und Heimat, ein Teil des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz und zu guter Letzt auch im Richter_innenwahlausschuss für Berlin.“ Aha. Noch Fragen?

Rechte Sicherheitsdiskurse und Polizeigewalt

Dass polizeiliche Gewalt derzeit überhaupt in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wird, ist unter Anderem einer im Herbst 2018 gestarteten Studie unter der Leitung des Kriminologen Tobias Singelnstein an der Ruhr-Uni Bochum zu verdanken. Seine Befragung mit über 1000 beteiligten Personen untersucht Polizeigewalt in Deutschland. Bislang werden jährlich rund 2000 mutmaßlich rechtswidrige Übergriffe durch Polizeibeamt_innen durch Staatsanwaltschaften bearbeitet; die Dunkelziffer der tatsächlichen Gewaltakte, so die Studie, sei aber um ein Vielfaches höher: Die ersten Hochrechnungen lassen vermuten, dass Polizeigewalt in der BRD mit bis zu 12000 vermuteten Fällen im Jahr viel zu wenig Aufmerksamkeit erhält. Nur rund jeder fünfte Einsatz werde überhaupt angezeigt. Viele Betroffene wissen genau: Ihre Gewalterfahrung wird in einem Prozess gegen die Täter_innen für diese keine Konsequenzen nach sich ziehen. Im Schnitt werden 97 Prozent der Strafverfahren gegen Polizeibeamte eingestellt, ohne überhaupt vor Gericht zu kommen. Hauptverantwortlich, so der Kriminologe, seien die Staatsanwaltschaften, die „ihr Verhältnis zur Polizei nicht belasten“ wollten. Im September sollen weitere Ergebnisse der Studie veröffentlicht werden. Wahrscheinlicher als eine Verurteilung des Täters ist das Umdrehen des Spießes, wobei der_die Gewaltbetroffene plötzlich selbst als Gewalttäter_in gebrandmarkt und vor Gericht gezerrt wird. Das zeigt nicht zuletzt der brutale Übergriff auf einen Demonstranten auf dem CSD in Köln und die anschließende komplette Missachtung der offenkundigen Polizeigewalt durch die Staatsanwaltschaft.

Die qualitative Verschiebung der Polizeigewalt und die zunehmende Militarisierung des Polizeiapparats wurden nach dem G20-Gipfel offenkundig. Angebliche Gewalteskapaden der G20-Demonstrant_innen dienten als Vorwand, Polizeigesetze zu verschärfen oder bestehende Vorkehrungen für Betroffene von polizeilicher Gewalt, etwa die Kennzeichnungspflicht in NRW, rückgängig zu machen. Zudem kam es zu etlichen Verurteilungen gegen G20-Demonstrant_innen. Ihnen wurden teilweise mehrjährige Haftstrafen auferlegt. „Der G20-Gipfel als Schaufenster moderner Polizeiarbeit“, heißt es im Untertitel des Films „Hamburger Gitter“, welches das Medienkollektiv „leftvision“ im vergangenen Jahr in die Kinos des Landes brachte. Der Film macht den Sicherheitsdiskurs und die sicherheitspolitischen Nachwehen des Widerstands in Hamburg deutlich. Seit Mitte August 2019 kann man den Film auch frei im Netz anschauen. Der Untertitel hätte ruhig auch „ein Schaufenster ewiger Polizeigewalt und ihrer rechtsstaatlichen Entsprechung“ heißen können, denn nichts anderes ist zurzeit zu beobachten.

Es ist eine breitangelegte Offensive der Sicherheitsbehörden gegen Linke und marginalisierte Gruppen, die durch den Ruf nach autoritären Law- & Order-Politiken von rechts befeuert wird. Dem Säbelrasseln von rechts wird zum einen mit der stetigen Ausweitung von Befugnissen für Sicherheitsbehörden und zum anderen mit der unerbittlichen Repression nach links Rechnung getragen. Um die herrschenden Zustände aufrechtzuerhalten, werden politische Gegner_innen kriminalisiert, sanktioniert, vereinzelt und rechtsstaatlich verfolgt. Nicht zuletzt werden sowohl Justiz als auch Polizei als Horte rechtsreaktionärer Umtriebe und faschistischer Strukturen sichtbar. Das analyse & kritik-Dossier „Wie rechtsradikal ist die Polizei?“ hat jüngst einige Fälle zusammengestellt und kommt zum Schluss: „Die Polizei ist eine Einstiegsszene in rechte Milieus und ein Verstärker rassistischer Weltbilder. Wie tief Rassismus in der Polizeiarbeit verankert ist, wird in der Öffentlichkeit nur sporadisch problematisiert“. Das muss auch in der Ausrichtung von Antirepressionsarbeit dringend mitgedacht werden.

Heinis Plädoyer

Mit einer Zukunftsvision einer Welt ohne Knäste kommt die Prozessrede von Jürgen zu einem Ende. Einige Zuschauer_innen klatschen. Anlass genug, die Beobachter_innen allesamt unverzüglich aus dem Gerichtssaal hinauszuwerfen. Auch die Pressevertretung darf nicht bleiben. Innerhalb weniger Minuten tummeln sich in Saal und engem Vorzimmer über 30 Bullen und Justizbeamt_innen.

Ein weiterer Moment der Selbstbehauptung vor Gericht: Der angeklagte Heini verlässt mit seinem Publikum das Gebäude: „Durch meine Ladung bin ich belehrt worden, dass meine Anwesenheit nicht notwendig ist, und das gibt mir die Möglichkeit, Ihr ganzes Schauspiel nicht mitmachen zu müssen!“ Alles, was Richterin und Staatsanwaltschaft samt der geladenen polizeilichen „Zeug_innen“ danach besprechen, findet ohne Prozessbeobachter_innen statt. Pikant dabei: Von zwei Hauptbelastungszeugen, welche das Gericht vorlädt, hat einer entschuldigt gefehlt, ein weiterer war bis zum Moment der Saalräumung noch nicht anwesend. Es sei, so meint Jürgen, „anzunehmen, dass er auch bei der Urteilsverkündung nicht anwesend war. Das macht das Urteil umso zweifelhafter“. Vielleicht haben sie ja auch nur eine Runde Justiz-Lotto gespielt oder das Urteil erwürfelt, welches dem Angeklagten im Nachhinein durch einen Neues Deutschland-Zeitungsartikel zugetragen wird: In Abwesenheit zu 150 Tagessätzen verurteilt. Bis zum Ende August hat Jürgen das Urteil noch nicht schriftlich erhalten.


Seit einiger Zeit ist auch der Soliblog der Drei Heinis im Internet zu finden. Auf dem Blog sind nochmals einige vertiefende Überlegungen zur Antirepressionsarbeit und den bisherigen Prozessen zu finden. Der Gerichtsprozess des dritten Heinis findet indes am 24. September um 9 Uhr beim Amtsgericht Tiergarten statt.