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[Audio] „Es ist eine Revolution des Mittleren Ostens“ – Gespräch zu feministischen Kämpfen

Frauen-rojava-4.JPG Herausgeber_innenkollektiv

1000 kleine Revolutionen jeden Tag. So könnte die Zustandsbeschreibung unserer Welt sein, in der Frauen* tagtäglich Kämpfe auszufechten haben. Einmal jährlich, zum Internationalen Frauen*kampftag am 8. März, werden wir daran erinnert oder erinnern uns selbst daran. Wir gehen auf die Straße, oder - wie vielleicht im letzten und in diesem Jahr vermehrt - werden mit kreativen Aktionen aktiv und versuchen, unseren Widerstand in die Welt hinauszutragen. Und das ist gut so. Es ist allerdings viel zu selten, dass die Kämpfe abseits dessen sichtbar werden - oft sind es nur Fragmente, die zu uns durchdringen. Aber letztlich kämpfen wir immer wieder gegen dasselbe System, dieselben Strukturen - in der Lohnarbeit, im Privaten, in unserem politischen Umfeld. Den Bezugnahmen auf ausgefochtene Kämpfe, Errungenschaften, Erinnerungen und Erfahrungen wird oft zu wenig Raum gegeben - und damit auch dem Potenzial, sie weltweit zu verbinden. Nach wie vor gibt es aber ein Verständnis von Revolution, das mit sehr maskulinen Kämpfern und martialischen Umstürzen assoziiert wird. Dabei zeigen uns die klassenkämpferischen, antirassistischen und antikapitalistischen Bewegungen der letzten Jahre ja vor allem eines überdeutlich: Frauen* kämpfen an vorderster Front mit, weil es sie in besonderem Maße betrifft, oder weil sie realisiert haben, dass der Widerstand notwendig auch ein feministischer sein muss. Weil für sie Feminismus zum Lebensalltag oder als Überlebensstrategie einfach dazugehört.

1000 kleine Revolutionen jeden Tag. Das ist auch der Titel eines Beitrags, der genau vor zwei Jahren im re:volt magazine erschien. Es war ein sehr ausführliches Gespräch mit Teilnehmer*innen der feministischen Delegation „Gemeinsam kämpfen“, die sich zu diesem Zeitpunkt seit mehreren Monaten in Rojava – dem Gebiet in Nord- und Ostsyrien –aufhielten. Mit im Gepäck hatten sie viele Fragen – und vermutlich noch mehr davon bei ihrer Rückkehr. Im kollektiven Prozess haben sie seitdem daran gearbeitet, ihre Erfahrungen über den Aufbau der Selbstverwaltung, allem voran aber auch die Gespräche mit den Frauen vor Ort niederzuschreiben. Entstanden ist dabei ein beeindruckender Sammelband, der kürzlich im Verlag edition assemblage erschien. Das Buch trägt den Namen „Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II“. Die Frauenbewegung in Rojava ist eine wichtige Inspirationsquelle für die Überlegungen, was eine feministische Revolution bedeuten könnte. Jo vom re:volt magazine hat darüber mit Anja, Clara und Olga gesprochen, die Teil des Herausgeber_innenkollektivs sind.

Im Folgenden sind zentrale Punkte des Gesprächs zusammengefasst. Den Audiobeitrag mit dem Gespräch in voller Länge könnt ihr hier hören:



Olga erinnert sich: „Als das Buch schon fast fertig war, sind wir nochmal durchgegangen und haben in den Interviews nach einem passenden Zitat für den Titel gesucht. Wir haben dort den Satz „Wir wissen was wir wollen und was wir tun“ gefunden und fanden das sehr passend.“ Es ist ein Zitat von Medya Abdullah, von der Anja dann mehr erzählt: „Medya Abdullah ist die Vertreterin der Selbstverteidigungskräfte in Derîk. Eine Frau, die acht Kinder hat, 50, 60 Jahre alt ist und die sagt: Mein Leben ist die Revolution. Ich bin glücklich, in dieser Zeit zu leben! In einer Zeit, wo wir vielleicht denken, da ist Krieg, dort sind sehr schwierige Verhältnisse, die Menschen fliehen nach Europa. Und sie sagt: Ich bin glücklich, in dieser Zeit zu leben und endlich die Träume einer befreiten Gesellschaft, die wir ein Leben lang hatten, in die Praxis umzusetzen.“

Kollektivität im Prozess

Der Austausch der feministischen Delegation mit den Genossinnen der Frauenbewegung in Rojava hält noch immer an. Das Buch ist daher auch eine Gemeinschaftsarbeit mit vielen Beteiligten aus Europa sowie aus Nord- und Ostsyrien. Texte wurden hin- und hergeschickt, Ideen und Anmerkungen natürlich, und immer wieder aktuelle Berichte aus der Region, die andauernden militärischen Angriffen, vor allem des türkischen Militärs und islamistischer Gruppierungen, ausgesetzt ist.

Als ich mit den drei über die Intention des Bandes spreche, führt Anja aus: „Uns war es wichtig, die Akteurinnen der Revolution aufs Cover zu bringen, also die Frauen dort und nicht uns selbst. In vielen Medien wird der militärische Aspekt hervorgehoben, man sieht Guerilla-Kämpferinnen oder Kämpferinnen der YPG/YPJ. Uns war es wichtig zu zeigen, dass es vor allem auch die Zivilgesellschaft ist, die die Revolution trägt.“ Es gehe dem Herausgeber_innenkollektiv darum, die Geschichte der Frauenrevolution Rojavas aufzuschreiben, in allen gesellschaftlichen Teilbereichen. Clara fügt hinzu: „Die Frauen haben uns auch immer wieder gesagt: Verbreitet das! Es ist also unsere Aufgabe, das, was wir dort gelernt haben mit Menschen zu teilen. Es ist also weniger 'Wir geben denen eine Stimme!', als dass sie uns die Möglichkeit gegeben haben, mit ihren Geschichten zu lernen und die Geschichten weiterzutragen.“

Die Auseinandersetzungen mit den Geschichten der Frauen in Rojava wurden in einem anderen Interview ein „kollektiv erkämpfter Erfahrungsschatz“ genannt. Ich fand das sehr passend und habe die drei nach ihren Überlegungen zu Kollektivität gefragt.

„Morgens zusammen aufstehen, zusammen frühstücken, saubermachen, zusammen die Planung machen, auch Essen wurde immer abwechselnd für alle gekocht“, beschreibt Olga das Zusammenleben auf der Delegationsreise und stellt dabei insbesondere die gemeinsamen Routinen für Kritik und Selbstkritik heraus: „Wichtig für das kollektive Zusammenleben war auch ein regelmäßiger Rahmen, in dem das Zusammenleben kritisiert werden kann, oder man sich selbst kritisieren kann. Das ist Kritik mit einer gemeinsamen Perspektive: Wir sind geprägt von einem patriarchalen, kapitalistischen System und wollen dahingehend unsere Verhaltensweisen ändern. Wie wirkt es sich auf unser Zusammenleben aus, und was heißt das dann auch in der persönlichen Veränderung.“ Das bedeute auch, Kollektivität „nicht nur als die Schaffung eines kollektiven Rahmens zu begreifen, mit den Leuten, mit denen ich mich organisiere. Sondern dass wir nur Gesellschaft verändern, wenn es die Grenzen, die es in der Gesellschaft gibt – die mich zum Beispiel fernhalten von Leuten, mit denen ich weniger eine Realität teile – auch aufbricht.“ Kollektivität, merkt Clara an, hat auch viel mit der Bereitschaft zu tun, voneinander zu lernen: „Von Kämpfen, die bereits stattgefunden haben, Kämpfe, die gerade stattfinden. Und auch dort über die eigene Region hinwegzukucken und zu fragen: Welche Fragen stellt man, aus welcher Perspektive kuck ich – und diese auch aktiv zu verändern.“

Insofern können wir, das machen alle drei Gesprächspartnerinnen* deutlich, von diesen Formen der Kollektivität und Organisation viel dazulernen, weil sie sich damit in fokussierter Form gegen das Herrschafts- und Ausbeutungssystem wehren, dass es weltweit gibt. Auch für uns im Zentrum Europas sind kollektive Strukturen überlebenswichtig, nur sind sie in unseren hoch individualisierten Gesellschaften oft nicht so direkt sichtbar. Olga beschreibt ihren Eindruck: „Hier, in Berlin, wirkt der politische Kampf oft als etwas, was man nebenbei macht, nicht aber als Notwendigkeit gegen dieses System, das uns einfach kaputt macht. Es ist dasselbe System, das letztendlich auch Rojava versucht kaputt zu machen. Um diesen Kampf gemeinsam zu kämpfen, müssen wir viel globaler denken und die Angriffe, die es auf Rojava gibt, auch auf uns beziehen.“

„Die Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da“

Clara macht deutlich, dass es in der Revolution die Bereitschaft braucht, sich andauernd grundlegende Fragen zu stellen: „Und sich auch immer wieder zu erneuern. Da haben wir viel dazugelernt. Wir sehen: Klar, es gibt diese Herausforderungen, und die gibt es auch in anderen Teilen der Welt, weil wir eine sehr staatlich geprägte Gesellschaftsform haben. Dort herauszukommen, das wurde uns bewusst, das dauert einfach lange. Es ist ein Prozess. Jeden Tag müssen wir ein Stück schauen, und jeden Tag müssen wir auch daran arbeiten. Das heißt, in uns, miteinander und uns gegenseitig aufmerksam machen in den Strukturen. Wir haben gemerkt: Das sind Fragen, die werden immer wieder präsent sein. Wir haben keine anderen Antworten gefunden darauf, würde ich sagen. Aber andere Umgänge mit den Fragen: Es sind Fragen, die dürfen da sein, und die müssen auch da bleiben. Das haben uns auch vor allem die Frauen gezeigt, mit denen wir Interviews geführt haben. Damit man auch in der Revolution, wenn man denkt: Oh, jetzt grade läuft es doch ganz gut! – dass man dann trotzdem sagt, ne, lass uns das anschauen, lass schauen, was nicht so gut läuft und eine Bereitschaft dazu haben, miteinander immer weiter zu wachsen, und nicht aufzuhören. Nicht an einem Punkt zu sagen, okay, jetzt ist alles entspannt, jetzt chillen wir. Sondern eher immer weiter dranzubleiben.“

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Das Dorf der Freien Frauen, Jinwar, über das im Buch auch berichtet wird.

Anja ergänzt: „Was wir oft für ein falsches Verständnis von Revolution haben; im Sinne, dass man irgendwo reingeht, alles umschmeißt und damit etwas Neues erschafft. Doch so funktioniert das nicht. Wir tragen ja die staatlichen Strukturen noch in uns. Die loszuwerden ist ein langer Kampf, ebenso wie der Kampf, Neues aufzubauen. Die Revolution kommt nicht mit einem Knall und ist dann da. Revolution ist etwas, was durch eine langjährige, kontinuierliche Arbeit aufgebaut wird.“ In Bezug auf die Region Nord- und Ostsyrien macht Anja zudem eine weitere wichtige Anmerkung, die auch die Verbundenheit der Kämpfe sichtbar macht: „Im Buch kommen auch viele arabische Frauen zu Wort, nicht nur kurdische Frauen. Vielleicht wird die Revolution hierzulande in erster Linie als eine kurdische Revolution wahrgenommen, das ist aber überhaupt nicht der Fall. Inzwischen ist der Großteil der Bevölkerung in der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien nicht kurdisch, sondern arabisch. Und auch flächenmäßig sind die meisten Dörfer und Städte, die dort in der Selbstverwaltung sind, überwiegend arabisch bewohnt. Es ist also nicht eine kurdische Revolution in erster Linie, sondern eine Revolution des mittleren Ostens.“

„Feminismus ist kein Teilbereichskampf“

Mit Bezug auf den Internationalen Frauen*kampftag frage ich, was die Erfahrung in Rojava und die Auseinandersetzung mit den Kämpfen den drei für die feministischen Kämpfe weltweit mitgegeben hat. Anjas Antwort ist kurz und knapp: „Diese Entschlossenheit, über Jahrzehnte zu kämpfen. Oder auch einen sicheren Ort zu verlassen, um dort einen Teil der Revolution zu sein. Da können wir uns eine Scheibe von abschneiden.“ Olga führt aus, dass es wichtig ist, „dass wir Feminismus nicht als ein Teilbereichskampf sehen, sondern als eine gesamtgesellschaftliche Utopie. Also dass es nicht nur ein Kampf ist gegen die sexistischen Zustände und bestimmte Probleme, gegen die wir Abwehrkämpfe führen. Sondern für eine antipatriarchale, befreite Gesellschaft." Und das schließe eben ganz viele Lebensbereiche mit ein: „Was heißt es, aus einer Perspektive der Frauenbefreiung, ein Gesundheitssystem aufzubauen oder eine Wirtschaft oder ein Bildungssystem oder Kultur und Medien und so weiter? Das ist nicht nur eine Frage für Frauen, Lesben, Trans, Inter (FLINT), sondern für alle. Trotzdem müssen wir uns als FLINT autonom organisieren und unsere Themen voranbringen – aber darin eine gesamtgesellschaftliche Perspektive stärken und in feministischen Kämpfen gesellschaftlichere Ansätze entwickeln“.

Anmerkungen

Das Herausgeber_innenkollektiv reiste als feministische Delegation der Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ im Winter 2018/19 von Deutschland aus in die nord- und ostsyrischen Gebiete, um das basisdemokratische Projekt Rojava besser kennenzulernen.

Der Band „Wir wissen was wir wollen. Frauenrevolution in Nord-und Ostsyrien. Widerstand und gelebte Utopien Band II“ erschien im Februar 2021. Auf der Webseite des Verlags edition assemblage gibt es weitere Informationen dazu sowie die Möglichkeit, den 560 Seiten–Wälzer direkt zu bestellen. Der Band ist die Fortsetzung des Werks „Widerstand und gelebte Utopien“, das 2012 im mittlerweile verbotenen Mezopotamien Verlag erschien. Im ersten Band lag der Fokus auf Nordkurdistan.

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Cover des Sammelbands "Wir wissen was wir wollen"