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Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Zwei.

Cronakrise Flickr | Lost in Transliteration

Die Corona-Pandemie bringt für uns konstant Veränderungen mit sich: Im Tages- oder im Wochentakt werden neue Bedingungen und Regeln aufgestellt. Die meisten von uns verfolgen die Entwicklungen mehr oder weniger regelmäßig und versuchen, die Ereignisse und damit auch mögliche Szenarien der Krisenbearbeitung durch die Herrschenden einzuordnen und zu analysieren. Dabei gibt es auch Annahmen und Mystifizierungen, die es (zum aktuellen Zeitpunkt) zu hinterfragen und zu diskutieren gibt. Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Reihe zum Thema. Obwohl sich einige der Aussagen sicher verallgemeinern lassen, beziehen sich die folgenden Überlegungen in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland.


Mythos 2: Wir befinden uns in einer pandemiebedingten Krise.


Natürlich befinden wir uns in einer krisenhaften Zeit. Zum einen ist da die Gesundheitskrise: Gesundheit und Leben der weltweiten Bevölkerung sind durch das Virus und seine Ausbreitung tatsächlich bedroht. Ist von einer pandemiebedingten Krise die Rede, so ist aber zumeist eine wirtschaftliche Krise gemeint, die durch die Pandemie verursacht wird. Diese Schlussfolgerung lässt sich von zwei Seiten aus kritisieren.

Kapitalistische Krisen

Es wird zum einen ausgeblendet, dass der Kapitalismus an sich krisenhaft ist. Seine funktionellen Mechanismen haben zerstörerische Wirkung, was sich auf grundsätzlich widersprüchliche Verhältnisse dieser Wirtschaftsordnung zurückführen lässt. Der Kapitalismus ist auf die Naturkräfte und die Naturprodukte beziehungsweise natürlichen Ressourcen angewiesen. Sie bilden die Grundlage der Warenproduktion. Ungeachtet dessen strebt das Kapital nach immer besseren und umfassenderen Verwertungsmöglichkeiten, sprich mehr Profit – und das ohne Rücksicht auf die reproduktiven Grenzen der Natur. Es entzieht sich Stück für Stück die eigene Funktionsgrundlage.

Der Kapitalismus tritt damit in Widerspruch zu sich selbst. Zudem befindet sich der Mensch in einem dialektischen Verhältnis zur Natur, „insofern sie 1. ein unmittelbares Lebensmittel, als inwiefern sie [2.] die Materie, der Gegenstand und das Werkzeug seiner Lebenstätigkeit ist. […] Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen andren Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur“ (MEW 40: 516). Der Mensch ist also selbst Natur und steht ihr zugleich gegenüber, indem er sie durch seine produktive Tätigkeit verändert. Durch die kapitalistische Entfremdung von der Natur, die zu einer immer stärkeren Ausbeutung ihrer Kräfte und Ressourcen durch die menschliche Arbeit führt, tritt der Mensch also letztlich in Widerspruch zu sich selbst, indem er Lebensmittel und Gegenstand seiner Arbeit zerstört. Worum es im Kapitalismus geht, ist Kapitalverwertung und die Produktion von Mehrwert.

Es geht nicht darum, das Leben der Menschen durch Fortschritt zu verbessern, es geht nicht um Wohlstand für die breite Bevölkerung, es geht nicht um Nachhaltigkeit durch verbesserte Technologien, sondern um eines: möglichst effiziente Kapitalverwertung und den sich daraus ergebenden Unternehmensprofit. Das Argument des Fortschritts durch Innovationsdruck in der unternehmerischen Konkurrenz ist letztlich eine ideologische Überblendung dieser nüchternen Profitlogik. Der Kapitalismus mag gewaltige Produktivkräfte hervorbringen, aber eben darum wirkt er zerstörerisch auf den Menschen und die Natur. Die Form eines „Green New Deal“, wie ihn etwa EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen propagiert, ist auch deshalb eine Farce: Effizientere Technologien, die sich in einer nicht-kapitalistischen Ordnung wahrscheinlich tatsächlich im Sinne einer nachhaltigeren Produktion nutzen ließen, führen durch die Triebkräfte des Kapitals stattdessen zu Rebound-Effekten, das heißt, zu Mehrproduktion oder Mehrkonsumtion durch frei werdende Ressourcen, anstatt sie einzusparen. Einen grünen Kapitalismus gibt es nicht, da die ihm innewohnenden Mechanismen zwangsläufig die Übernutzung von Ressourcen nach sich ziehen.

Krisen ins Innere verlagern

Zur Zerstörung der Natur kommt die Zerstörung der einzelnen Menschen durch physische und psychische Belastung. Im Zuge der Neoliberalisierung haben sich dabei der Druck und Zwang auf die Arbeiter*innen zum großen Teil von außen nach innen verlagert. Selbstoptimierung und -Management werden zu Leitbegriffen immer größerer Teile der Bevölkerung. Sie sind die Prinzipien der neuen Arbeits- und Ausbeutungsmodelle. Die schlimmsten Auswüchse der Exploitation, wie sie noch im 19. Jahrhundert vorherrschten, sind nur scheinbar überwunden. Nach wie vor sind Kapitalismus und Ausbeutung eins: „Stößt die Verlängerung der Arbeitszeit aufgrund gesetzlicher oder tariflicher Beschränkungen an Grenzen, dann versucht der Kapitalist in der Regel eine Intensivierung der Arbeit durchzusetzen, etwa durch ein höheres Tempo der Maschinen“ (Heinrich 2018: 114). In diese Kerbe schlägt beispielsweise der kürzliche Vorstoß des Gesamtmetall-Chefs und Multimillionärs Stefan Wolf, Pausenregelungen aufzuweichen, sowie Mehrarbeit ohne Lohnzuschlag ableisten zu lassen.

Ungehindert würde sich das Kapital seiner einzigen wirklichen wertschaffenden Grundlage berauben: der menschlichen Arbeitskraft. Allein politische Reglements und der Staat, die die Überbelastung der Arbeiter*innen begrenzen und die Reproduzierbarkeit der Arbeitskraft garantierten, verhindern diese Entwicklung – allerdings nicht primär zugunsten der Arbeiter*innen, sondern zugunsten der Sicherung des Kapitalismus selbst. In kapitalistischen Demokratien ist die grundlegende Aufgabe der Politik, die Gesundheit und Arbeitskraft der Bevölkerung so weit zu erhalten, dass sie für das Kapital produktiv bleibt. Die realen Lebensumstände einiger Menschen mögen dadurch an verschiedenen Punkten tatsächlich verbessert werden, was aber nichts an der zerstörerischen Tendenz des Kapitalismus ändert und schon gar nicht etwas über die Qualität dieses staatlichen Modells aussagt. In einem solchen System bleiben dennoch all jene auf der Strecke, die sich nicht standardisiert verwerten lassen oder aufgrund struktureller Benachteiligung und Ausschlüsse von vornherein schlechtere Chancen haben.

Krise der Wirtschaft?

Des Weiteren müssen wir nun genauer betrachten, was eine Wirtschaftskrise im kapitalistischen Kontext überhaupt bedeutet. In eine Krise gerät die kapitalistische Wirtschaft, wenn ein großer Teil der produzierten Waren wegen zurückgehender Zahlungsfähigkeit nicht mehr absetzbar ist. Historisch betrachtet verlief die Entwicklung des Kapitalismus seit seinen Anfängen in immer wiederkehrenden Krisen. Die unternehmerische Konkurrenz und der Zwang, Profit zu machen, bedingen den Wachstumszwang im Kapitalismus. Er drängt das Kapital zu einer immer weiter getriebenen Verwertung, was in einer Situation begrenzter Ressourcen und Konsumtionsfähigkeit zwangsläufig an materielle Grenzen stoßen muss. Das führt zu zyklischen Krisen, in denen die produzierte Warenmenge abnimmt. Wachstumshemmend sind diese nur geringfügig.

Nach einem jahrelangen kontinuierlichen Anstieg nahm in Deutschland selbst in der letzten großen Wirtschaftskrise nur im Jahr 2009 die Wirtschaftsleistung um einige Prozent ab und stieg ab 2010 weiter an. Auch inmitten der Pandemie schreitet die wirtschaftliche Erholung weltweit (und insbesondere in Deutschland, dank umfangreicher finanzieller Konjunkturstützungsmaßnahmen der Bundesregierung) immer weiter voran. Entsprechend nimmt der Ressourcenverbrauch auch trotz Krisen konstant zu und hat dementsprechend das Potential zu immer verschärfteren Krisen. Damit ist nicht gesagt, dass die kapitalistische Wirtschaftsweise zusammenbrechen muss. Krisen haben für den Kapitalismus sogar nutzenbringende Wirkungen. So sind Unternehmen durch die nachlassende Kaufkraft gezwungen, ihre Produktion wieder enger an die Nachfrage bzw. Zahlungsfähigkeit der Warenkonsument*innen zu koppeln und sie durch technische Neuerungen den veränderten Bedingungen anzupassen.

In der Krise können neue Industriezweige oder Branchen entstehen und wenig profitable Unternehmen werden durch Bankrott ausgesiebt. Damit werden die Bedingungen für den nächsten Aufschwung geschaffen. Krisen sind dem Kapitalismus also nicht nur aufgrund der sachlich bedingten Kapitalbewegung inhärent, sondern er kann sie funktionell integrieren. Obwohl sie für einzelne Unternehmer*innen nachteilig sind, können sie insgesamt die Wirtschaftsordnung am Laufen halten.

Krise der Krisenerzählung

Auch die aktuelle (wirtschaftliche) Krise ist keineswegs rein pandemiebedingt. Vielmehr ist der Kapitalismus in seinem Wesen widersprüchlich und somit krisenhaft und führt zyklisch zu wirtschaftlichen Einbrüchen. Darin ist die Pandemie ein besonderer Anlass der Krise, wobei sie einen kapitalistischen Charakter hat und im Wesentlichen kapitalistisch bedingt ist. Krisen bedeuten im Kapitalismus nachlassendes Wachstum. Um die Herrschenden diese momentane Krise der kapitalistischen Warenproduktion nicht auf unserem Rücken austragen lassen, müssen wir den kapitalistischen Wachstumszwang selbst als die Krise und den Grund für Ausbeutung und Gefährdung unserer Leben, unseres Planeten und die ungerechte Ordnung unserer Gesellschaft erkennen.

Letztlich zielt die bedrohliche Rhetorik der Politik in Bezug auf die Wirtschaftskrise darauf ab, die Akzeptanz dafür zu stärken, dass eine schlecht laufende Wirtschaft vor allem unsere persönlichen Leben beeinträchtigt und das angestrebte Wirtschaftswachstum (das uns gern widersprüchlich als „wirtschaftliche Stabilität“ verkauft wird) unser ganz individuelles wie vordringlichstes gesellschaftliches Interesse sei. Doch wer profitiert am Ende am meisten von den staatlichen Konjunktur-Maßnahmen? Schlechte Kapitalverwertungsmöglichkeiten führen durch die nachlassende Nachfrage nach Arbeitskraft zu Arbeitslosigkeit und damit zu einer realen Verschlechterung der Lebensbedingungen der Lohnabhängigen durch Mangel an Einkommen zur Existenzsicherung.

Das hat mit den Lebensbedingungen der Arbeiter*innen im Kapitalismus generell zu tun. Indem man jede*n Einzelnen in die Pflicht nimmt, sich dem „kapitalistischen Gemeinwohl“ verpflichtet zu fühlen, suggeriert man, dass sich Kapitalinteressen mit sozialen Interessen decken würden. Das ist der Mythos, der in Teil drei dieser Reihe untersucht wird.


Weiterführende Literatur:

Heinrich, Michael (2018): Kritik der politischen Ökonomie: eine Einführung in „Das Kapital“ von Karl Marx. Reihe Theorie.org. Stuttgart: Schmetterling Verlag.

Marx, Karl (1968): Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. In: Karl Marx Friedrich Engels Ergänzungsband, MEW 40. Berlin: Dietz Verlag, S. 465–588.