Das Ende von „Frieden und Soziale Gerechtigkeit“?
Am vergangenen Sonntag gewann Iván Duque, Kandidat des rechtspopulistischen Centro Democrático, die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen in Kolumbien. Zuvor hatte sich der sozialdemokratische Kandidat Gustavo Petro, aufgestellt von der mitte-links Kampagne Colombia Humana, gegen seine liberalen Mitbewerber in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen am 27. Mai durchgesetzt. Er galt damit als erster dezidierter mitte-links Präsidentschaftskandidat in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl in der kolumbianischen Geschichte. Im zweiten Wahlgang aber setzte sich Iván Duque mit einer klaren Mehrheit von 54 zu 41,8 Prozent durch und konnte damit zwei Millionen Stimmen mehr verbuchen als sein Gegenkandidat Petro. Selbst unter Einbezug des im Vorlauf bekanntgewordenen möglichen Stimmenkaufs und des Wahlbetrugs durch UnterstützerInnen des rechten Kandidaten kann sogar von einem klaren Sieg der Rechten ausgegangen werden. Die Wahlbeteiligung von 53,4 Prozent gilt für das südamerikanische Land als vergleichsweise hoch, insbesondere im Vergleich zum Plebiszit über die Friedensverträge von Havanna mit den FARC am 2. Oktober 2016, bei der eine Wahlbeteiligung von 37,43 Prozent ermittelt wurde. Aufgrund der Ergebnisse der Legislativwahlen am 11. März diesen Jahres verfügt Duque darüber hinaus mit seinen UnterstützerInnenparteien, auch ohne die offensichtlich wankelmütige Partido Liberal, in beiden kolumbianischen Kammern über die klare Mehrheit.
Ein Generalangriff auf die Friedensverträge
Das Wahlergebnis ist als eine Tendenzwahl zu verstehen. Der Rechtspopulist Iván Duque, protegiert vom rechten Hardliner und Ex-Präsidenten Alvaro Uribe Vélez, ist ein ausgesprochener Feind der Friedensverträge. Während seine ParteigängerInnen immer wieder wörtlich ankündigten, „die Friedensverträge zu zerreißen“, lehnt er zudem jede Form des Waffenstillstands oder etwa Verhandlungen mit der verbliebenen marxistischen Guerilla ELN ohne deren Demobilisierung ab. Der neue rechte Präsident zielt nun, angeblich nicht mehr „zerreißend“, auf „Änderungen“ in den Friedensverträgen. Damit sind Umgestaltungen gemeint, die der ehemalige liberale Präsidentschaftskandidat Humberto de la Calle zu Recht als „Änderung des Wesensgehalts der Verträge“ bezeichnete. Es geht dabei unter anderem um die geplante Demontage der Sonderjustiz für den Frieden (JEP), einer durch die Friedensverträge aufgestellte Sondergerichtsbarkeit für Menschenrechtsverbrechen im bewaffneten Konflikt. Die Bestrafung, die sämtliche Akteure erhalten, denen Menschenrechtsverbrechen vorgeworfen werden, reichen dabei von einer breiten Palette von Resozialisationsarbeitsprogrammen bis hin zur klassischen Haftstrafe. Duque ist das nicht genug. Er möchte die JEP aushebeln und die Bestrafung der regulären Strafjustiz überantworten, die kaum mit Resozialisierungsprogrammen arbeitet. Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass Duque, im Einklang mit seinem Ziehvater Alvaro Uribe, gegen den über 250 Verfahren wegen Drogenhandel, Korruption, Vergewaltigung und Verbindungen zum Paramilitarismus anhängig sind, die Schaffung eines sogenannten „Super-Corte“ vorantreiben will. Es handelt sich hier um eine faktische Aufhebung der Kompetenzenteilung der Justiz auf höchster staatlicher Ebene. Nach diesem Vorschlag, den Duque Anfang Juni bereits beim Verfassungsgericht zur Prüfung eingereicht hat, würden die bislang sechs getrennten hohen landesweiten Gerichte (Verfassungsgericht, Bundesgerichtshof, Staatsrat, Justizrat, Sonderjustiz für den Frieden, Nationaler Wahlrat) zu einem einzigen Landesgericht, mit geringerem Personalbestand, zusammengeführt. Ein Schelm, wer hierbei Böses denkt.
Weiterhin wird es um die Demontage der politischen Partizipation der neuen Linkspartei und ehemaligen Guerilla FARC gehen. Seit der Inhaftierung des FARC-Führers und Abgeordneten des Kongresses Jesús Santrich, unter äußerst fragwürdiger Beweislage der dubiosen US-Anti-Drogenbehörde DEA im April 2018, herrscht Unsicherheit über die Besetzung der – der Ex-Guerilla laut Friedensverträgen jeweils in Senat und Kongress zugesicherten – fünf Sitze. Duque will die Führer der ehemaligen Guerilla nun entgültig hinter Schloss und Riegel bringen. Dafür käme ihm die Aushebelung der Sonderjustiz zu Gute. Die ist nämlich die einzige Regelung, die verhindert, dass die mit den USA bereits in den 1980ern auf Basis des „War on Drugs“ vereinbarten Auslieferungsabkommen wirksam werden. Es ist darüber hinaus zu erwähnen, dass die Ultrarechten unter Revision der ursprünglichen Friedensverträge bereits im Jahr 2016 das Privateigentum in den Friedensverträgen festschreiben ließ, womit seither die in Vertrag Eins verhandelte Agrarreform zu Gunsten von Vertriebenen und Kleinbauern erschwert wird. Duque möchte auch diesen Vertrag nun „strukturell reformieren“. Der neue Präsident steht also nicht nur für eine Fortsetzung der exportorientierten, post-kolonialen GroßgrundbesitzerInnen-Ökonomie Kolumbiens, sondern möchte eine Politik der Steuersenkungen, des „Schlanken Staats“ (einer möglichst kleinen gestrafften, wirtschaftsorientierten Staatsverwaltung) und der ausländischen Investitionen vorantreiben. Der Aufbau eines umfassenden Sozialstaats, der mit der Umsetzung der in den Friedensverträgen vereinbarten Bestimmungen einhergehen würde, ist damit vollkommen unvereinbar. Duque hat darüber hinaus bereits die Fortsetzung der gewaltsamen Drogenbekämpfung angekündigt, im Gegensatz zu den Bestimmungen der friedlichen Substitution in Vertrag Vier der Friedensverträge. Summa Summarum droht nun also ein Generalangriff auf jeden einzelnen Vertragspunkt der Friedensverträge. Dieser wird praktisch auf allen Ebenen komplett aushebelt und eben nicht nur, wie Duque nunmehr in seiner ersten Rede als Präsident betont hat, an einigen Stellen korrigiert.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Umstrukturierung ist ein Horrorszenario für sämtliche Kräfte, die den Friedensprozess unterstützen. Sie kann über verschiedene Ebenen erklärt werden. Der wichtigste Grund dürfte sein, dass Kolumbien sich längst weder von den Praktiken, noch vom Diskurs des Krieges verabschiedet hat. Wie bereits in einem früheren Artikel dargelegt, leidet Kolumbien unter einem stramm rechten politischen Diskurs, der die politische Verantwortung des Staates, etwa für seine Parapolitik, die Praxis des „Verschwindenlassens“ und viele weitere Verbrechen schlicht unberücksichtigt lässt und gegen jeden historischen Beleg, den Paramilitarismus zum rein kriminellen Phänomen („Bandas Criminales“, BACRIM) verklärt. In diesem Diskurs erscheinen die FARC nicht lediglich als eine der beteiligten Fraktionen, die für Menschenrechtsverbrechen zur Verantwortung zu ziehen ist, sondern vollkommen wahrheits- und faktenwidrig als Hauptschuldige und DrogenhändlerInnen, vor denen Santos angeblich „auf die Knie gegangen“ sei. Weiterhin instrumentalisiert das Centro Democrático bewusst die schwere ökonomische und politische Krise Venezuelas, um – den tatsächlich außerordentlich gemäßigten – Mitte-Linkskandidaten Gustavo Petro zu einem angeblich kommunistischen („castro-chavistischen“) Monster zu karikieren, welches „das Land in Venezuela verwandeln“ werde. Tatsächlich verlief aber die Wahl am vergangenen Sonntag eher zwischen einem liberal-grünen Sozialdemokraten und einem rechtskonservativen, neoliberalen Populisten. Eine „Wahl der Extreme“, wie sie herbeiphantasiert wird, gab es jedenfalls nie. Es handelte sich also vielmehr um eine Form der rechten Meinungsmache, die immer wieder auf allen kolumbianischen Medien hoch und runter lief und bei nicht wenigen zu einer Wahlentscheidung für den tatsächlich extremen Rechtspopulisten Duque geführt haben könnte.
Ein weiterer entscheidender Punkt ist die Fragmentierung der kolumbianischen Linken und hier insbesondere des Friedenslagers. Es spricht Bände, dass die traditionellen mitte-links Parteien des Landes – Alianza Verde und Polo Democrático Alternativo – den neoliberalen Universitätsprofessor Sergio Fajardo als Kandidaten aufstellten, der sich im Diskurs stehts bemühte, sich selbst als „Mitte zwischen den Extremen“ dastehen zu lassen und zum Beispiel in Venezuela – in Übereinstimmung mit der radikalen Rechten – eine „Diktatur“ am Werke sieht. „Mitte“ heißt in Kolumbien eben, einen stark rechts geprägten Diskurs zu bedienen. Und schließlich versagten aus dem gleichen Grund auch die liberalen FriedensbefürworterInnen Sergio Fajardo, Humberto de la Calle sowie Santos' Partido de la U und die Führung der Partido Liberal dem angeblich „extremen“ Gustavo Petro in der zweiten Präsidentschaftsrunde die Unterstützung. Während die ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Fajardo und De la Calle für ein „voto en blanco“ (Ungültig Wählen) votierten (zuletzt dann 4,8 Prozent der Stimmen), liefen letztere „Friedensparteien“ sogar offen zum Friedensgegner Duque über. Angesichts dieser Spaltung des Pro-Friedenslagers half es dann auch wenig, dass die Alianza Verde, ein Teil des Polo Democrático Alternativo und die Basis der Partido Liberal den Kandidaten Petro unter teilweise absurden Auflagen unterstützte, indem sie diesen etwa auf die Erhaltung der Demokratie verpflichteten und damit erneut in eine „extreme“ Ecke stellten.
Abseits dieser Faktoren kann festgehalten werden, dass die kolumbianische Gesellschaft offensichtlich noch nicht bereit dazu ist, das Koordinatensystem des Krieges zu verlassen. Petro stand für zu viel Wandel und zu wenig Kontinuität. Sein Programm war im Prinzip ein modernes links-liberales Programm, das bürgerliche Rechte der Minderheiten, Ökologiefragen, Frauenrechte, demokratische Rechte und die Entwicklung einer stabilen Binnenwirtschaft unter Vorzeichen eines sozialstaatlichen Kapitalismus auf Basis der Friedensverträge in den Mittelpunkt stellte. Ein Programm, das offensichtlich für den politischen Diskurs des Landes zu progressiv war, um Mehrheiten gewinnen zu können. Allerdings auch ein Programm, das nicht im Interesse des kolumbianischen Kapitals ist, dem eben an der Exportbindung, und nicht an der Entwicklung einer nationalen Industrie gelegen ist.
Widerstand oder Kapitulation?
Für die noch im Guerillakrieg aktive ELN wird das Wahlergebnis aller Voraussicht nach einen Eintritt in die bewaffnete Konfrontation auf hohem Niveau bedeuten. Es ist davon auszugehen, dass Duque nicht zuletzt auf Druck aus den Reihen seiner Partei die Verhandlungen mit der ELN, die von der Santos-Regierung zuletzt in der kubanischen Hauptstadt Havanna wieder aufgenommen wurden, platzen lassen wird – zumal diese bislang wenig ergiebig waren und immer wieder durch Phasen massiver Kampfhandlungen begleitet wurden. Die ELN hat bis zuletzt darauf hingewiesen, dass ein Gelingen von Friedensverhandlungen an der Umsetzung der Verträge von Havanna mit den FARC gemessen wird. Ein Szenario, das mit einem Präsidenten Duque nahezu unerreichbar geworden ist.
Wie die neue Linkspartei FARC auf die komplette Delegitimierung ihrer Agenda reagieren wird, ist bislang noch unklar. Bekannt ist, dass immer mehr entwaffnete Ex-Guerilleros aufgrund der mangelnden Garantien unter einem Präsidenten Duque, aber auch der Inhaftierung von Jesús Santrich die Entwaffnungszonen (ZVTN) verlassen und sich entweder anderen bewaffneten Gruppen anschließen oder untertauchen. Es ist in diesem Sinne bezeichnend, dass FARC-Führer Iván Márquez sich bereits an einen unbekannten Ort in Caqueta zurückgezogen hat. Gleichzeitig versucht die Führung der Linkspartei, ihre Basis an der Stange zu halten. Präsident Duque wird die Ex-Guerilla mit allen Mitteln attackieren und unter Druck setzen – ganz zu schweigen von der drohenden Komplett-Demontage der Friedensverträge und aller Garantien. Faktisch bleiben der FARC vor diesem Szenario nur zwei Wege offen: Sie kann den Weg der Unión Patriótica (UP), ihrer Vorgängerpartei, gehen und versuchen, den legalen Kurs aufrecht zu erhalten und sich auf den Widerstand der sozialen Bewegungen, zum Beispiel einem breiten linken Bündnis mit Petros Colombia Humana, zu verlassen. In Anbetracht der zunehmenden Bedeutungslosigkeit der Friedensverträge sowie der Ermordung von Mitgliedern und Sozialen AktivistInnen geschähe dies allerdings unter fortwährendem Zerfall der Partei. Auf diesen Kurs der Führung weist das aktuelle Statement der FARC zum Wahlsieg Duques hin. Es ist aber ebenso möglich, dass nun Sektoren an der Basis der neuen Linkspartei die Rückkehr in den bewaffneten Konflikt wählen und diese damit weiter schwächen. Angesichts der vollständigen Entwaffnung und der weitestgehenden Offenlegung ihrer Struktur wäre dies ein gefährliches Unterfangen und würde die Wiedervereinigung der derzeit führungslosen FARC-Dissidenz voraussetzen. Auf eine solche mögliche Entwicklung weisen verschiedene linke AnalystInnen hin. Daneben ist auch eine Stärkung der ELN möglich, da diese als weiterhin authentische, militante Kraft gilt.
Abseits der bewaffneten Dimension wird es für die Partei-, wie außerparlamentarische Linke im Land nötig sein, dem rechten Diskurs selbstbewusst entgegen zu treten. Es ist keine Lösung vor diesem einzuknicken, wie in den vergangenen Jahren von nahezu allen AkteurInnen geschehen, indem gegen die eigene Agenda als Linke Stellung bezogen wird, um im rechten Diskurs als „akzeptabel" zu gelten – so nachvollziehbar das angesichts der Mehrheitsverhältnisse ist. Angesichts der unter Duque fortgesetzten oder sich sogar intensivierenden staatlich-paramilitärischen Repressions- und Tötungspraxis, sowie der Ablehnung durch die Bevölkerungsmehrheit verlangt dieser Weg viel Mut und Engagement. Er ist jedoch unabdingbar, um die „linke Lücke“ in einem öffentlich wahrnehmbaren politischen Diskurs zu füllen. Die kolumbianische Linke und im Besonderen die sozialen Bewegungen brauchen dabei internationale Unterstützung und Solidarität – nicht nur gegen den weiterhin mordenden Paramilitarismus, sondern auch für die Umsetzung der Friedensverträge von Havanna als Ausgangspunkt für einen politischen Kampf gegen die Ursachen des bewaffneten Konflikts. „Frieden und Soziale Gerechtigkeit“ wird dabei eine zentrale Losung bleiben, unter der sich eine breite linke Widerstandsfront gegen den Rechtspopulisten Duque formieren kann.