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Angriff auf den Friedensprozess in Kolumbien

Santrichlibre https://www.publimetro.co

Am vergangenen Montag, den 9. April 2018, verhaftete der exekutive Arm der kolumbianischen Staatsanwaltschaft CTI (Cuerpo Técnico de Investigación) Jesús Santrich, führendes Mitglied der legalen Linkspartei FARC (Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común) in seinem Haus im Bogotaner Stadtteil Modelia. Der Vorwurf lautet auf Produktion, Transport und Verkauf von Drogen, insbesondere mittels Charterflügen in die USA. Die Vorwürfe werden von einem New Yorker Gericht erhoben, das via Interpol die Auslieferung des ehemaligen Kommandanten der inzwischen demobilisierten Guerilla FARC-EP beantragt hat. Laut kolumbianischen Tageszeitungen sollen die US-amerikanische Botschaft in Kolumbien und die international geheimdienstlich operierende US-amerikanische Anti-Drogen-Behörde DEA (Drug Enforcement Administration) ebenfalls eine Rolle bei den Ermittlungen gespielt haben. Laut den Ermittlungsbehörden liegen stichhaltige Beweise in Form von internationalen Transaktionen, Buchführungen zum Handel, Computerdaten und einem angeblich mitgeschnittenen Treffen mit kolumbianischen Narcos im November 2017 gegen Santrich vor. Dem Ex-Guerillero, der mit bürgerlichem Namen Seuxis Hernández Solarte heißt, droht nun die Auslieferung, Verurteilung und Inhaftierung in den USA, basierend auf der Auslieferungsgesetzgebung für die Verfolgung des Drogenhandels aus dem Jahr 1980. Aktualisiert wurde das Gesetz nochmals als Vertrag zwischen den USA und Kolumbien 1986.

Sondergerichtsbarkeit bricht Auslieferungsjustiz

Ganz unabhängig davon, ob Santrich nun tatsächlich Verbindungen zum Drogenhandel hat oder nicht handelt es sich bei ihm um einen Präzedenzfall. Die Friedensverträge von Havanna zwischen der kolumbianischen Regierung des scheidenden Präsidenten Juan Manuel Santos, die im Winter 2016 gezeichnet wurden, sehen eine sogenannte Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) vor. Unter diese Gerichtsbarkeit fallen laut Friedensverträgen sämtliche Menschenrechtsverletzungen durch Guerilla und Staat innerhalb der Periode des bewaffneten Konflikts bis zur Unterzeichnung der Friedensverträge 2016. Angemerkt werden muss hier, dass jede/r gefangene KämpferIn der ehemaligen Guerilla in der Vergangenheit grundsätzlich auf Basis der Straftatbestände Rebellion und Drogenhandel zu hohen Haftstrafen verurteilt wurde. Das Strafmaß für sämtliche Straftaten, inklusive des vermeintlichen Drogenhandels, ist demnach in dieser Sondergerichtsbarkeit erheblich reduziert – aus Gründen der Wiedereingliederung der Guerilla ins gesellschaftliche Leben und der politischen Partizipation als legale Organisation. Darüber hinaus wird die Auslieferung an die USA grundsätzlich untersagt:

,,Es kann keine Auslieferung genehmigt werden, noch können Maßnahmen, die zu einer Auslieferung führen unternommen werden in Hinblick auf Taten oder Verhalten, die Gegenstand der Spezialjustiz für den Frieden (JEP) sind und während dem Konflikt begangen wurden'' [1]

Die erste Revision der Verträge

Unter anderem die Garantien auf sichere politische Betätigung, politische Partizipation und Wiedereingliederung in das politische Leben stehen allerdings bereits seit dem explizit von Regierungsseite gewollten Plebiszit im Oktober 2016 zur Disposition. [2] Zunächst konnte die politische Elite um Santos aufgrund der knappen Ablehnung des Plebiszits bei niedriger Wahlbeteiligung, den Friedensvertrag in die Revision durch die Rechtsradikalen um Álvaro Uribe Vélez geben. Unter anderem ist in der Revision der Verträge die für die ehemalige Guerilla so wichtige Landreform faktisch verunmöglicht worden, da das Privateigentum, das sich die GroßgrundbesitzerInnenfamilien historisch illegal mit Hilfe von Paramilitärs und Vertreibungen angeeignet haben, als unantastbar festgeschrieben wurde. [3] Zudem wurden die Haftstrafen der Sonderjustiz verschärft und, besonders wichtig, der Verfassungsrang der Verträge gestrichen, womit diese als gewöhnliche Verträge gelten. Wer weiß, wie fahrlässig z.B. Tarifverträge mit der Regierung in Kolumbien gehandhabt werden, hat eine Vorstellung davon, wie bitter diese Pille für die FARC gewesen sein muss.

Liberale und rechtsradikale Elite im Konflikt

Die nicht minder neoliberale und konservative Regierung um Juan Manuel Santos und ihr Projekt des Friedensprozesses befand sich bis heute faktisch durchweg unter politischem Angriff der Rechtsradikalen. Dahinter verbirgt sich ein politischer Dissens zweier kolumbianischer Kapitalfraktionen mit gegenläufigen politischen Interessen. Santos vertritt mit US-Unterstützung das multinationale Kapital, sowie die Sektoren der kolumbianischen Wirtschaft, die sich von einem Frieden einen wirtschaftlichen Boom versprechen (etwa der Tourismus-Sektor). Uribe und seine Rechtsradikalen hingegen stehen für die Agenda der GroßgrundbesitzerInnen im ländlichen Teil Kolumbiens, die kein Interesse an einer, wie in den Friedensverträgen vereinbarten, Landreform haben und eine militärische Zerschlagung der Opposition bevorzugen. Da es sich bei den GroßgrundbesitzerInnen um keinen vernachlässigbaren Teil der kolumbianischen Eliten, sondern um eine wichtige Wirtschaftskraft handelt, befand sich Santos faktisch seit 2012 unter konstantem Druck, nicht zu viele Zugeständnisse an die Guerilla zu machen. Er ging dazu über, Vereinbarungen zu sabotieren und sich als starken Mann in den Verhandlungen zu präsentieren.

Systematische Blockade und: ,,Die FARC sind an allem Schuld!‘‘

Vor diesem Hintergrund ist wenig verwunderlich, dass die Regierung seit Zeichnung der Friedensverträge faktisch immer wieder vertragsbrüchig wurde, vereinbarte Maßnahmen nicht oder nur langsam umsetzte oder genau gegenläufig zu den Friedensverträgen handelt. Man kuscht dabei allerdings nicht nur vor den Rechtsradikalen und ihrer Medienmacht, sondern Teile der Friedensverträge sind auch schlicht nicht im Interesse der Eliten des Landes. So ist das sogenannte Fast-Track-Verfahren, das den Friedensverträgen entsprechende Gesetzpakete im Eilverfahren durch die parlamentarischen Institutionen jagen sollte, inzwischen ausgesetzt [4]. Reformen kommen kaum noch ohne Neudiskussion durch, was faktisch einer Neuverhandlung der Friedensverträge gleichkommt – nur mit einer entwaffneten, entmachteten, in Entwaffnungsszonen (ZVTN) eingepferchten ex-Guerilla. Und diesmal mit der gesamten Rechten des Landes, statt mit dem liberalsten Teil der Oligarchie. Die soziale Opposition wird nach wie vor auf Demonstrationen durch die Anti-Riot-Polizei ESMAD brutal attackiert, nicht selten mit Todesfolgen. Die Koka-Anbaugebiete werden nicht, wie in den Verträgen mit staatlichen Substitutionsprogrammen vorgesehen umgewandelt, sondern nach wie vor mit Vernichtungsfeldzügen der Armee übersät. Dabei kommt es auch zu Massakern der Armee. Dazu kommen nicht eingehaltene menschenrechtliche Standards in den Übergangszonen der Guerilla, mangelhafte Schutzgarantien gegenüber der neuen Partei FARC im Wahlkampf, eine nach wie vor zunehmende Ermordung von sozialen AktivistInnen, insbesondere im ländlichen Raum. Alles bei gleichzeitiger Untätigkeit des Staates gegenüber dem Paramilitarismus und der Beförderung eines öffentlichen Diskurses, der eine blanke Weste des Staates im bewaffneten Konflikt und die alleinige Schuld der Guerilla, entgegen aller anerkannten Statistiken, historisch festschreiben möchte.

Der Rechtsruck manifestiert sich

Wenn wir nun noch die kürzlichen Wahlergebnisse zu Regional- und Landesparlamenten, die den FriedensgegnerInnen um das Centro Democrático satte Zugewinne, wenn auch keine Mehrheit bescherten, betrachten, wird die Gefährlichkeit der derzeitigen Situation klar. Der derzeit in Umfragen führende Kandidat des Centro Democrático, Iván Duque Márquez, ließ in den Fernsehdebatten keinen Zweifel daran, dass er insbesondere die Sonderjustiz und die Beteiligung der ehemaligen Guerilla nicht respektieren wird. ,,Die FARC kamen in den Kongress ohne zu entschädigen, ohne Strafen abzusitzen, ohne die Wahrheit zu sagen (…) was wir machen müssen, ist das Mandat des 2. Oktobers (des Plebiszits – Anm. d. Verf.) zu verteidigen, um die Friedensverträge zu reformieren‘‘. Diese Aussagen sind, wie der liberale Präsidentschaftskandidat und ehemalige Unterhändler im Friedensprozess Humberto de la Calle im vorangegangenen Moment der Debatte richtig feststellte, gleichbedeutend mit der Neutralisierung der Friedensverträge.

Schwenkt Santos auf die Rechtsradikalen ein?

Der Friedensprozess steht somit mit der Verhaftung und möglichen Auslieferung Santrichs auf Messers Schneide. In einer gestrigen Pressekonferenz äußerte der scheidende Präsident Juan Manuel Santos, dass er nicht zögern werde, Santrich auszuliefern, da die ihm vorgeworfenen Taten nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags datiert und stichhaltig seien. Viel wahrscheinlicher ist allerdings, dass Santos vier Wochen vor den Präsidentschaftswahlen und vier Tage vor dem Besuch des amerikanischen Vize-Präsidenten Mike Pence in Kolumbien vor der radikalen Rechten, den USA und seinen Anhängern Stärke demonstrieren und mit einem konstruierten Fall ein Exempel statuieren will, um auf eine mögliche Verschärfung der Gangart gegenüber der ex-Guerilla unter – einer derzeit sehr wahrscheinlichen – ultrarechten Folgeregierung vorzubereiten. Denn: Eine Auslieferung des FARC-Offiziellen bedeutet nicht nur eine faktische Unterminierung aller Sicherheitsgarantien und der Sonderjustiz als Präzedenzfall, sondern sägt auch noch an der Vereinbarung zur politischen Partizipation, da Santrich einer von fünf Abgeordneten der neuen Partei im Kongress ist. Also genau an jenen zwei Vertragspunkten, die insbesondere die Rechtsradikalen und ihr aussichtsreicher Kandidat Iván Duque angreifen.

Die Zersplitterung der Linken

Die Oligarchie und ihr liberaler, wie konservativer Flügel rechnen also damit, dass die neue Linkspartei und ihr demobilisierter Anhang in den ZVTN das einfach mit sich machen lassen, oder zumindest testen sie aus, wie weit sie bei der Revision der Verträge gehen können. Die Guerilla und die sozialen Bewegungen hatten in diesem Punkt die Haltung der Oligarchie gegenüber dem Friedensprozess genau so eingeschätzt. Gehörig verkalkuliert haben sie sich aber in der Einschätzung der Stärke der sozialen Bewegungen des Landes, der eigenen Mobilisierungsfähigkeit und der Unterstützung für den Frieden in der Mehrheitsgesellschaft. Man rechnete seitens der FARC-Führung fest damit, es mit der Stärke der Straße im Rücken mit der Oligarchie aufnehmen zu können. Insbesondere das außerparlamentarische Segment der linken Gegenöffentlichkeit ist seit Abschluss des Friedensvertrags aber erstaunlich passiv geworden, während weite Teile der organisierten legalen Linken sich von den FARC distanzieren, sich mit verschiedenen Kandidaturen und Kampagnen untereinander separieren und damit der Marginalisierung der Linken und einer Wahlniederlage bei der Präsidentschaftswahl zuarbeiten. Während die Rechte mit Iván Duque einen einzigen Kandidaten stellt, ist die Mitte und linke Mitte mit Germán Vargas Lleras, Humberto de la Calle, Sergio Fajardo, Gustavo Petro, sowie ursprünglich sogar noch Piedad Córdoba und ex-FARC-Kommandant Timoleón Jiménez, aka Rodrigo Londoño (in dieser Reihenfolge von rechts nach links in den politischen Positionen) heillos zersplittert.

Revision der Friedensverträge bedeutet Revival der bewaffneten Gruppen

Die Oligarchie nutzt also die Schwäche und Zersplitterung der Linken zur Revision der Verträge. Soweit so bedauerlicherweise absehbar. Wenn dieser Friedensprozess aber wieder einmal aufgrund der Unwilligkeit der kolumbianischen Oligarchie für soziale und demokratische Veränderung scheitern sollte, wird es aber eben auch zu einem Wiederaufleben des bewaffneten Konflikts kommen. Noch hat die Führung der legalen Linkspartei die Kontrolle über die Mehrheit der demobilisierten Guerillerxs in den ZVTN. In einer Pressekonferenz zum Morgen des 10. April verurteilten die FARC scharf den Vertragsbruch der Regierung, riefen aber zugleich ihre AnhängerInnenschaft zur Ruhe auf. Mit zunehmendem Vertragsbruch durch die Regierung und vor allem mit möglichen Massakern unter einer rechtsradikalen Regierung, könnte es jedoch zu Massendesertionen aus den ZVTN zur weiterkämpfenden FARC-Dissidenz oder zur aktuell mächtigsten Guerilla ELN kommen. Und das nicht nur aus politischer Überzeugung, sondern auch, weil den demobilisierten Guerillerxs bei einer Demontage der Sonderjustiz für den Frieden schwere Haftstrafen und politische Verfolgung drohen.


Anmerkungen:

[1] Artikel IX :,No se podrá conceder la extradición ni tomar medidas de aseguramiento con fines de extradición respecto de hechos o conductas objeto de la JEP, cometidos durante el conflicto armado y con anterioridad a la firma del Acuerdo Final. Por otra parte, cualquier delito cometido con posterioridad a la firma del Acuerdo Final podrá ser objeto de extradición“

[2] Die Regierung setzte das Plebiszit ohne Rücksprache mit der FARC-EP-Delegation in den Friedensverhandlungen durch.

[3] Vertrag 1: S. 13 ,,Nichts, was in den Verträgen vereinbart wurde darf das verfassungsgemäße Recht auf Privateigentum antasten''

[4] Das Verfassungsgericht erklärte das Fast Track Verfahren 2017 für verfassungswidrig. Die Rechtsradikalen jubelten.