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Überwachen und lagern. Gegen die smarte Zukunft

Einblick in das spanische Logistikzentrum von Amazon España in San Fernando de Henares bei Madrid (2013) Álvaro Ibáñez

Unterscheidet sich unsere Zukunft in 30 Jahren wirklich so krass von heute? Die Rede von der Ära des digitalen Kapitalismus hat sich durchgesetzt. Bei uns allen. Für wenige, die „Erfolgreichen“, ist es der nächste Schub der Erneuerung und des Profits, für viele andere eine weitere bittere Phase der politischen Ökonomie des Kapitalismus. Das heißt, für die meisten ein Alptraum aus Funktionieren, Reproduzieren und Konsumieren, und nicht selten: gesellschaftlicher Ausschluss. In der Nachkriegszeit wurde an vielen Punkten die Abschaffung der Arbeit durch Innovation und Automatisierung herbei geträumt. Fliegende Autos gibt es im Jahr 2017 immer noch nicht, obwohl die „Back to the future“-Generation in den 1980er Jahren mit dieser Erzählung aufwuchs und mit ihrer technischen Vorarbeit der Generation der „Millenials“ den Weg ins „Informationszeitalter“ ebnete. Die zumeist männlichen Trekkies der 1980er und 1990er sind anfangs zu Softwarebossen (Bill Gates), dann zu Innovatoren (Steve Jobs) und jetzt zu Alleskönnern (Jeff Bezos) mutiert und geben seit über 20 Jahren den Takt an. Dabei hat sich am Endziel dieses Traums nie etwas verändert: Jedes einzelne verrückte Detail der Star Trek Serie, sei es das Beamen, künstliche Intelligenz oder unendliches Leben, befinden sich weiterhin auf der Agenda der Alphamännchen aus Silicon Valley und anderen Clustern dieser Welt. Die „Internetrevolution“, die Vernetzung und Vermessung der Welt, bildet die Basis für eine futuristische Zukunft, die gar nicht mehr so utopisch anklingt, wie uns die kritische Serie Black Mirror spektakulär vorführt. Und die Comedyserie Silicon Valley führt den Anspruch derselben, Glück für die gesamte Menschheit herzustellen, vor. Geliefert haben sie bisher jedenfalls nichts.

Digitalisierung: eine Leerstelle der Linken

Die Linke hat sich lange nicht wirklich bemüht, aus dem Trauma der Erfahrung der gescheiterten techno-futuristischen Vision der Sowjetunion ihre Lehren zu ziehen. Angesichts des proklamierten und längst schon durchgesetzten Ende der Geschichte haben wir uns nicht gefunden – vor allem nicht gegenüber der alternativlosen Technologisierung unserer Welt. So fängt jede erste Diskussion an: Die Prozesse der Digitalisierung sind über uns hinweg gerollt, heute sind wir bloß Teil von ihnen. Keine politische Gruppe kann ohne Social Media in punkto Öffentlichkeitsarbeit überleben, ein großer Teil von uns rutscht zum Ermessen unseres Erfolgs schon mal ins Like-zählen ab. Sogar unter linken Aktivist*innen wächst der Teil derer, die im Sektor der Sozialen Medien ihre Dienste anbieten, und zum Beispiel den Facebook-Account der oder des nächsten Landtagsabgeordneten pflegen. Bei den Gewerkschaften hingegen ist Automatisierung weiterhin ein Schreckenswort: Es gibt mittlerweile zwar ein begrenztes Bildungsangebot zum Thema „Digitalisierung“; wohin das hinführen soll, ist aber unklar.

Die radikale Linke hat die Entwicklungen von Google, Facebook, Amazon und Co zwar hin und wieder diskutiert, aber großteils schlichtweg verpennt. Sowohl das Programm der Partei Die.Linke, wie auch unterschiedliche technologiekritische Gruppen und NGOs konzentrieren sich lediglich auf das Thema digitale Rechte – keine Spur von einer Art „linker Innovation“. Die massiven Umstellungen in Produktion und Reproduktion der Gesellschaft werden zwar etwas überfordert wahrgenommen, aber schon „zu groß und mächtig“ seien die Gegner, zu kompliziert und überladen das System. Das Potential an Organisierung von Leiharbeiter*innen, Wissensarbeiter*innen, Beschäftigten der Logistikbranche und der Start-Up Industrie wurde bisher kaum konkreter ins Auge gefasst (mit wenigen guten Ausnahmen).

In linken akademischen Kreisen und der linken Öffentlichkeit touren lediglich alt-neue Geister rum: Auf der einen Seite die Postwachstumskritiker*innen, die sich für einen ökologischen Fußabdruck und somit Veränderung des eigenen Konsums abgekoppelt von jeglichen Verteilungsfragen einsetzen; auf der anderen Seite die Akzelarationist*innen und Postkapitalist*innen, die durch Automatisierung die Chance für eine neue linke Prophezeiung sehen – Beschleunigung für alle und zwar sofort! Interessantere Debatten gab es aber bereits in feministischen Kreisen und Kämpfen: Das Cyborg Manifesto von Donna Harraway war vor über 30 Jahren bahnbrechend in der Diskussion über das Verhältnis von Mensch zur Maschine und wird bis heute immer wieder aufgegriffen.

In diesen dunklen Zeiten, wo eine emanzipatorische Bewegung, die nach den Sternen greift und dabei Träume in die Realität umsetzt, wohl noch in weiter Ferne liegt, in denen die (extreme) Rechte jeglicher Couleur und Form triumphiert, die Neoliberalen mit den Liberalen sich in einem vermeintlich grünen, friedlichen und beschleunigten Kapitalismus vereinen, könnte der Blick auf die Kämpfe um die Zukunft, die im Hier und Jetzt schon stattfinden, mehr als einen Rettungsanker bilden. Bei den Prozessen der Reorganisation des Kapitals entstehen Risse und Lücken, Plätze des Gemeinsamen und gesellschaftliche Brüche, die vorher kaum vorstellbar waren. Aber die despotischen Arbeitsformen des gegenwärtigen Kapitalismus und die Proteste der Arbeiter*innen gegen sie sind aus der Vorstellungswelt und dem Vokabular vieler Linker verschwunden. Die Kämpfe beim als Versandhandel getarnten Logistik-und Internetgiganten Amazon könnten eine Chance für uns sein, der vorprogrammierten Langeweile und Handlungsunfähigkeit zu entkommen. Und dabei etwas Gutes zu tun, nicht „nur“ für die Beschäftigten. Das Prinzip des Kapitalismus verändert sich nicht: Die Ausbeutung war, ist und wird immer da sein, solange es eben den Kapitalismus gibt. Solange sich das Kapital weiterhin entwickelt (oder auch nicht), reorganisiert oder Blasen aufbläht, sind Krisen und weiter soziale Zuspitzung vorprogrammiert. Und wo Ausbeutung stattfindet, finden Kämpfe statt: Seit Marx, Smith, Ricardo & Co wurde viel Tinte vergossen, um die Entwicklungsstadien des Kapitalismus zu beschreiben, sie voneinander zu trennen oder ihnen einen neuen Sinn zu geben. Der Kapitalismus, seine Reorganisation und sein Reaktionsvermögen, kann vor allem aber an der Geschichte der Kämpfe gegen ihn gemessen werden. Amazon gibt die Schablone ab für die Reorganisation der Arbeitswelt, wie sie zukünftig auch in der restlichen Industrie stattfinden wird. Gerade deshalb ist es wichtig, sich diese Logik aber auch die Logik der Widerstände anzuschauen.

„the everything store“ - Der Logistikgigant Amazon

„This is not only the largest river in the world, it’s many times larger than the next biggest river. It blows all other rivers away.“  [1]
Jeff Bezos über den Namen Amazon

Es ist – natürlich ohne Überraschung - die großartige Geschichte eines Mythen erschaffenden Start-ups. Der New York Times Finanzjournalist Brad Stone hat sie festgehalten in einem Buch, das die britische Zeitung Times als Meisterwerk des investigativen Finanzjournalismus bezeichnete. Die Suche nach dem Unternehmensnamen ist lang, die verschiedenen Vorschläge allein sagen schon einiges über die ursprüngliche Idee von Amazon selbst aus: Cadabra, MakeItSo.com, Awake.com, Browse.com, Bookmall.com, Aard.com, Relentless.com (also unerbittlich.com). Der Name sollte sich nicht von Anfang an auf Bücher beschränken, wie etwa einer der ersten Konkurrenten, Books.com. Amazon-Gründer Jeff Bezos, kommt aus der Wallstreet vom Hedgefund D.E. Shaw, mitten aus einem Milieu von Nerds, die sich als erklärtes Ziel gesetzt hatten, so richtig viel Geld zu machen. In der Zeit beginnt die Ära des Internets: The next big thing! Und Jeff Bezos verlässt seinen gut bezahlten Job, um den Risikoritt auf einer Welle der riesigen Weiten des Internets zu vollziehen.

Amazon.com wird am 1. November 1994 registriert. Am 9. August desselben Jahres lanciert Netscape Communications ihren ersten Browser Mosaic Web und eröffnet somit die Pforte ins weltweite Netz auch für die breite Öffentlichkeit. Das Netz ist bereit zum Abheben. Bezos und sein kleines Team, darunter seine Frau Mackenzie und der Techniker Kaphan, arbeiten bis zum erfolgreichen Launch zwei Jahre durch. Sie überleben durch die finanziellen Investitionen von Familienmitgliedern und den Kontakten aus Bezos D.E. Shaw Zeit.

In der ersten Woche nach dem Launch im April 2005 kommen Bestellungen in Wert von 12.000 Dollar an, aber es werden Bücher in Wert von gerade einmal 846 Dollar verschickt. In der zweiten Woche sind es 14.000 Dollar an Bestellungen, und 7.000 Dollar verschickte Ware. Der lange Weg hin zur heutigen Prime-Auslieferung – das Unternehmen wirbt heute im Jahre 2017 mit der Auslieferung innerhalb einer Stunde – beginnt also mit deutlich kleineren Schritten.

Als das logistische Chaos der Lagerung und Verschickung bewältigt war, begann die Expansion, die zum zentralen Motto der Zukunftsvision Amazons wurde. Täglich stiegen die Bestellungen –  und die Investitionen. Expansion bedeutete bei Bezos und seinem Team direkte Reinvestition aller verfügbaren Finanzressourcen. Die mittelfristige Vision Amazons, das Versprechen auf Gewinne nach den ersten Expansionsrunden, lockte die Investoren trotz der anfänglichen Schwierigkeiten. Das ausgebrochene Abenteurertum des Internets tat bis zur Jahrtausendwende sein Übriges. Das Prinzip war einfach. Es besagte grob formuliert: Wir haben einen Laden, der im Prinzip alles – erst einmal Bücher, aber sukzessive andere Waren – verkauft und die Möglichkeiten bisheriger Warenhäuser übersteigt. Wie das? Indem das Plattformprinzip die sonstigen Grenzsetzungen des zweiseitigen Markts, die Verbindung zwischen Konsumenten und Produzenten, über einen Mittler, das heißt die langfristige Lagerung und seine Kosten, umgeht. Die Hoffnung war, dass der Netzwerkeffekt sein Übriges tun würde. Der Aktienkurs bestätigt bis heute diesen unglaublichen Trend. Das Vertrauen in Amazon wächst und wächst weiter, und hat beinah prophetische Züge genommen. „Everything is possible“, sagt Bezos, und alle machen mit. Es sprießen die plattformkapitalistischen Unternehmen aus dem Boden wie die Pilze.

Im Jahr 1997 wechselte Rick Dalzel von Amerikas größter Einzelhandelsfirma Walmart zu Amazon. Vor seinem Weggang sagte ihm Don Soderquist, Walmarts Chief Operating Officer, dass Amazon eine innovative Idee sei, aber begrenztes Potential hätte, da es nicht sein eigenes Inventar hat und das Modell gegen eine Wand fahren wird, sobald es 100 Millionen Dollar Umsatz erreiche. Wie herzzerreißend die Ereignisse waren, macht auch folgender Satz des Managers deutlich: „Wenn du dich entscheidest zu gehen, dann bist du nicht länger ein Mitglied der Walmart Familie.“ Frühe Konkurrenten wie der renommierte Buchhandel Barnes and Nobles und eben Walmart waren schnell gezwungen, mit eigenen Webangeboten nach zu ziehen. Ein hoffnungsloser Prozess, der sich bis heute fortsetzt. Denn es kam halt gerade andersrum – die Modernisierungsprozesse jener großen Unternehmen wurden zum Verhängnis der tausenden von „reellen“ Läden.

Die Vision des „everything stores“ ist heute Realität. Mittlerweile regelt ein Algorithmus die Wegläufe der Lagerbeschäftigten effizienter und die neue Einkaufsform hat sich den flexiblen Beschäftigungsverhältnissen in der Gesellschaft perfekt angepasst. Amazon beschäftigt weltweit 118.000 Menschen (in Deutschland über 16.000), operiert über alle Grenzen hinweg und ist zum Schrecken – nicht nur - jeder*s Einzelhändlers*in geworden. Sogar der Möbelriese IKEA überlegt, seine Produkte in Zukunft über Amazon zu verkaufen. Das schwedische Fleischbällchen-Ritual samt Bällebad knickt ein vor Amazon. Die Lagerhäuser bilden ein Netz, das die Belieferung in immer kürzeren Zeiten möglich macht. Wie bei allen Start-ups ist „der Kunde König“. Immer schneller, immer präziser sollen die Produkte jede und jeden auf den Planeten erreichen. Dabei ist dem Einsatz von Technik als Technologie keine Grenzen gesetzt: Amazon experimentiert in Kalifornien und anderswo mit vollautomatisierten Robotern und Künstlicher Intelligenz, das erste vollautomatisierte Fulfillment Center wurde schon in Betrieb genommen. Drohnen könnten bald den guten alten Postboten obsolet machen, und sogar sich selber die Tür zum privaten Haus öffnen, um das Paket abzulegen. Die bekannten „Jeffismen“, wie Stone die Phrasen von Bezos nennt, drücken diese Träume aus: „Es gibt noch so viel, das erst noch erfunden werden muss. Es gibt so viel Neues, das passieren wird. Die Leute haben noch keine Ahnung, wie wirkungsvoll das Internet sein wird und das ist immer noch Tag Eins auf diesem großen Weg.“

Dass es nicht beim Wunderstore Amazon stehen bleiben wird, machen sämtliche neueren und geplanten Projekte von Amazon deutlich. Seit dem Winter 2016 wird auch in Deutschland das „intelligente Abhörsystem“ Alexa angeboten. Alexa wird als die neue Assistentin im Haushalt angepriesen, die für uns auf die Suche im Internet geht oder andere Dinge im smarten Zuhause regelt – quasi reproduktive Tätigkeiten mehr und mehr ersetzen kann und vermutlich auch wird. Der Unterschied zu der klassischen Suchmaschine ist, dass Alexa nur eine Antwort gibt. Vielleicht stammt sie aus der Suchmaschine Bing, vielleicht von Wikipedia, vielleicht vom Meistbietenden: In jedem Fall aber wird man Alexas Worte für bare Münze nehmen – ohne jede Auswahlmöglichkeit.

Bisher ist es ein mit hoch empfindlichen Mikrofonen bestückter Zylinder namens „Echo“, der in der Wohnung steht und auf das Codewort Alexa und Anweisungen wartet. Kombiniert mit anderen Elementen im Haushalt und außerhalb wettet Amazon auf das zukünftige Smart Home und Smart City Konzept mit. Dieses Konzept basiert auf die massive Vernetzung und Vermessung innerhalb der Metropolen und Haushalte mit dem Ziel, sämtliche Bereiche des Lebens von Autofahren über Werbeeinblendungen im urbanen Raum bis hin zum automatischen Bestellen von Milch, wenn sie leer ist, ans Internet zu koppeln. Amazon passt perfekt in einer Ökonomie des Bedingungslosen Grundeinkommens und der „Sharing-Economy“, wo am Ende – idealerweise – niemand mehr ein Auto besitzt oder Pakete per Hand ausliefern muss.

Ein Großteil der Einnahmen bei Amazon macht mittlerweile auch das Cloud-Geschäft aus. Schon seit 2006 bietet Amazon Unternehmen Serverkapazitäten zur Datenablegung zur Verfügung an und hat bis heute, neben Firmen wie IBM und Microsoft, etwa ein Drittel dieses Marktes erobert. Das Ganze wird infrastrukturell von sogenannten Serverparks, also riesigen Computerverbünden, getragen, neben den Fulfillment Centern das wichtigste fixe Produktionsmittel Amazons. Riesiger Beliebtheit erfreut sich auch die Crowdworking Plattform „Mechanical Turk“ – dazu aber später mehr.

Der frühe Jeffism „get big fast“ („werde schnell groß“) dominiert noch heute das Geschehen bei Amazon – die Expansionsmöglichkeiten scheinen grenzenlos zu sein. Im Buch von Stone und in der gesamten aktuellen Presse zu Amazon erscheinen stündlich neue News zum Unternehmen, wie etwa dass Amazon Studios Herr der Ringe zur Serie machen will als Antwort auf Game of Thrones von Netflix. Dabei wird kein Wort über die Menschen verloren, die hinter Bezos und seinem mittlerweile umfangreichen Team die wirkliche Arbeit verrichten. Schon früh hat sich Bezos’ Führungsstil angedeutet. Sein altes Team hat er graduell durch neue Leute ersetzt – diese manische Suche nach Superbrains, die die alten verrosteten Hirne ersetzten, setzt sich bis heute weiter fort. Und ist kein Alleinstellungsmerkmal Amazons. Gleiches gilt für das andere „Team“ – was Amazon unter dem Motto „Work hard, have fun and make history“ als Arbeitgeber gemeinsam mit seinen tausenden Vorarbeiter*nnen und niedrig qualifizierten Beschäftigten vorgibt zu sein. Nur durch ein autoritäres und hochtechnisiertes Arbeitsmodell gelingt es Amazon, Jeff Bezos’ Träume der vernetzten Zukunft umzusetzen. Durch seine Marktmacht übt Amazon nebenbei auch Druck auf Produzent*innen aus und beeinflusst somit indirekt auch die dortigen Arbeitsverhältnisse. Im Mittelpunkt steht letztlich nicht einfach ein einsamer Algorithmus, der ähnlich wie bei Google die populäre Suchfunktion von Amazon.com regelt, sondern eine gigantische Maschinerie der Logistik, die im Laufe des letzten Jahrhunderts durch Europaletten – Stichwort: Rationalisierung – möglich geworden ist.

Amazons Arbeitsregime – Basis für die globale Ausbeutung

Seit Marx hat sich das Kapital vielfach verändert. Die neueste Reorganisation vollzieht sich unter dem Label der „Digitalisierung“. Wir erleben neue und alte Formen der Unterwerfung von Menschen unter das kapitalistische Kommandosystem. Digitalisierung ist, wie wir sie heute erleben, dennoch keine Revolution. Die neuen Arbeitsverhältnisse sind lediglich eine Rekombination aus Taylorismus, also der Zerteilung und Reorganisation von Arbeitsprozessen, dem Fabriksystem des Fordismus und der Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen im Postfordismus. Die Auswirkungen dieser Transformationen für die Arbeitswelt sind weiterhin gravierend und Gewerkschaften finden kaum angemessene Antworten auf die vielen Fragen, die diese Veränderungen aufwerfen. Die Prozesse der Disruption – bei denen ein bestehendes Geschäftsmodell oder ein bestehender Markt durch eine neue Innovation abgelöst wird – wie sie Amazon mit seinem aggressiven Expansionsverhalten vollführt, schlagen um sich und verschärfen wie oben beschrieben die Digitalisierung ganzer Sektoren.

Die Wissenschaftler Barthel und Rottenbach gehen in ihrer Analyse über die Arbeitsbedingungen bei Amazon davon aus, „dass die kapitalistische Anwendung der digitalen Maschinerie bei Amazon und die Strategien der Subsumtion der Arbeit zeigen, unter welchen Bedingungen ein wachsender Teil der Arbeiter*innen in den kommenden Jahren leben und kämpfen wird.“ Diese technische Entwicklung und die ihr entsprechende reelle Subsumtion der Arbeit müssen ihnen zufolge daher als Momente des Klassenkampfes analysiert werden. Dabei ergeben sich vielfache Widerstandsmöglichkeiten: Hunderte Beschäftigte wie bei Amazon Leipzig versuchen auf individuelle und kollektive Weise sich der vollkommenen Kontrolle durch Vorgesetzte und Handscanner zu entziehen durch längere Pausen oder gemeinsamen Streiks.

Die Fulfillment Center von Amazon sind die Industriefabriken der aktuellen kapitalistischen Ära. Sie sind in strukturschwachen Region angesiedelt, wo Arbeitsplätze rar sind. Wichtigste Merkmale: Kleinstadt, Autobahn- und Schienenanbindung. Tausende Menschen verrichten täglich anstrengende und repetitive Arbeit, dürfen ihr eigenes Gehirn nicht einschalten und sind ihren Vorgesetzten lückenlose Rechenschaft schuldig. Es ist eine Arbeit, von der ein Großteil der Gesellschaft profitiert – zumindest der Teil, der auf den Internetbestellhype aufgesprungen oder oft auf Paketauslieferung angewiesen ist. Bestellen bei Amazon ist zu einer wichtigen reproduktiven Säule wie die Post oder das Wasserwerk geworden. Mit dem Unterschied, dass sich Amazon von Anfang an in privaten Händen befand. Angepasst an die heutigen technologischen Erfordernissen wurde das Fabriksystem für die neuen Kapitalbedürfnisse modernisiert: Der Handscanner als das neue zentrale Produktionsmittel, automatisierte Lagerungssysteme, computerisierte Steuerung durch den Algorithmus und allseitige Kontrolle sind die bestimmenden Elemente dieses modernisierten Fabriksystems. Amazons „Chaos Prinzip“ (das Lagerungssystem, welches durch den Algorithmus organisiert wird) ist kein Chaos, sondern versucht, unmittelbarer den Bestellvorgang rückzukoppeln mit der Logistikorganisation zum Zweck der Beschleunigung und Erfüllung der Lieferzeit. Jeder Klogang, jede Zigarette, jedes Gespräch kann und wird in vielen Fällen eingesehen werden. Die Möglichkeiten der direkten Kontrolle haben sich in den letzten Jahrzehnten verbilligt und durchgesetzt. Da braucht es nicht mal mehr das Argument „Diebstahlschutz“ für die Installation von Kameras, wogegen sich einige Beschäftigte in der Vergangenheit eingesetzt hatten.

Das Arbeitsmodell Amazon umfasst nicht nur die Arbeit an den Fulfillment Center – ein Fakt, der bei der Breite der Aktivitäten dieses globalen Unternehmens leicht vergessen wird. Tausende und abertausende von Menschen verrichten weltweit Arbeit für Amazon direkt von zuhause aus an ihren Bildschirmen, sind also Arbeiter*innen. Und zwar nicht nur die Konsument*innen, die mit ihren Daten und Bewertungen die Maschinerie weiter für lau speisen. Amazon betreibt seit 2005 die Plattform Mechanical Turk, eine digitale Crowdwork-Plattform der On-Demand Ökonomie [2], die es Unternehmen ermöglicht, tausende Klickworker*innen für verschiedenste Aufträge, sogenannte Microtasks, zu gewinnen. „Klickworker“ zeichnen sich dadurch aus, dass sie kleine, nicht komplexe aber dennoch (noch) nicht computer- oder algorithmusgesteuerte Aufgaben – eben Microtasks – wie die Beseitigung von unerwünschtem Inhalt, per „Mausklick“ erledigen – und zwar über Stunden hinweg. Allein in Deutschland wird die Zahl von Klickworker*innen auf über eine Million beziffert. Die Fabrik verlässt dabei den klassischen materiellen und fixen Standort und nistet sich in jedem Leben ein, das gewillt und flexibel oder genötigt genug ist, nebenbei Zusatzarbeiten auszuführen. Amazon ist also Vorreiter einer „digitalen Taylorisierung“ in Form von lückenloser Kontrolle und maschineller Menschensteuerung, ob nun in den Lagerhallen durch den Handscanner oder für die Crowdworker durch die App. Gewerkschaftliche Organisierung? Eine Seltenheit.

Das Fulfillment Center und die tausenden von Klickworker*innen bilden die Basis für das globale hochtechnisierte Ausbeutungsmodell der Zukunft. Daran ist außer der enormen Technisierung und Reorganisation der Arbeitsprozesse nicht viel neu. Die technische Entwicklung des Logistikbereichs, nicht nur bei Amazon, ging einerseits mit der Qualifizierung Weniger und massenhafter Entqualifizierung andererseits einher. Die Klassenzusammensetzung ändert sich: zum Beispiel werden viele ehemals Erwerbslose oder Zeitbeschäftigte angestellt.  Diese veränderten Klassenzusammensetzungen basieren auf „Errungenschaften“ des Kapitals in den letzten Jahrzehnten, wie etwa die hohe Flexibilisierung und Prekarisierung, die mittlerweile auch die „white-collar workers“, also das klassische Industrieproletariat betrifft. Die Vision und Umsetzung der Agenda2010 in Deutschland machte solche Formen der Ausbeutung – wie etwa Arbeitsverhältnisse ohne feste Verträge und Kündigungsschutz – hier überhaupt erst möglich. Nicht zuletzt deswegen setzt Emanuel Macron im Moment in Frankreich folgenreiche Arbeitsreformen durch. Der charismatische Leader von „En Marche“ ist bekannt für seine Faszination für neue Technologien und seine Kooperation mit Plattformfirmen wie Uber und Airbnb. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten könnten Visionen eines Bedingungsloses Grundeinkommens und selbstfahrender Autos, wo jede*r sich zumindest einige Fahrten mittels Uber leisten darf, durchaus Realität werden. Aber nicht ohne die Tausenden, die entweder mit Handscannern oder 3D-Druckern die ganze Party erst möglich machen.

„Wir sind keine Roboter“ - Der langjährige Kampf der Amazon Beschäftigten

Seit 2013 streiken die Amazon Beschäftigten an verschiedenen Standorten in Deutschland. Allein am Standort Rheinberg bei Düsseldorf gab es über 80 Streiktage. Für Deutschland eine Ausnahme, für Amazon Beschäftigte Normalität. Noch immer zählt Deutschland im europäischen Vergleich zu den streikarmen Ländern und gilt in diesem Sinne als wirtschaftsfreundlich. [3] Unterstützt durch die Gewerkschaft ver.di fordern die Streikenden einen einheitlichen Tarifvertrag, wie er auch im Einzelhandel gilt. Amazon selbst sieht sich als Logistikunternehmen und orientiert sich zwar an den Löhnen der Branche, zahlt aber nicht den geltenden Tarifvertrag. Amazon Mitarbeiter*innen verdienen „nicht schlecht“. Für einige der neuen Mitarbeiter*innen, die an Leiharbeit und Erwerbslosigkeit gewohnt sind, bedeutet der Job oft auch sozialer Aufstieg. Dieser Aufstieg und die – erzwungene – Teambildung sind zwei Aspekte, die Amazon in seiner Propaganda positiv hervorhebt. Für andere, die im Bereich Einzelhandel oder Logistik tätig sind, können die neuen Methoden im Punkto Arbeitsorganisation und Kommunikation zur Überforderung führen. Die Beschäftigten im Onlineversandhandel sind im Verhältnis zu ihren Kolleg*innen im stationären Einzelhandel besonders stark mit sinkenden Einkommen und Einschränkungen ihrer Rechte konfrontiert, da gerade die großen Unternehmen union buster sind, also nicht mit Gewerkschaften verhandeln und sogar versuchen, Gewerkschaftsarbeit aktiv zu behindern und aus den Arbeitgeberverbänden auszutreten.

Und zwar zum Beispiel wie folgt: Bei der Streikwelle 2014 bei Amazon organisierten sich auch Beschäftigte gegen ver.di und distanzierten sich „von den derzeitigen Zielen, Argumenten und Äußerungen der ver.di, die in der Öffentlichkeit über Amazon und damit über uns verbreitet werden.“ Sie sammelten über 1000 Unterschriften, 700 allein aus dem Standort in Leipzig. Ver.di bezweifelte die Echtheit der Aktion: „Angeblich ist er allein von Beschäftigten getragen, doch im Umfeld der Aktion gibt es Hinweise, dass das Management die Aktion unterstützt.“ Übrig geblieben ist die „Pro Amazon“ Gruppe ALTIV e.V., die von einer Amazon-Beschäftigten aus Koblenz geleitet wird und sich rechtlich gegen die Streiks wehren möchte.

Es können unter den Amazon Beschäftigten drei große Gruppen ausgemacht werden. Auf der einen Seite eine relativ große Minderheit, die nicht viel von den Arbeitsbedingungen und Amazon selbst hält sowie bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di organisiert und streikwillig ist. Auf der anderen Seite steht eine andere relativ große Minderheit, die sich bei Amazon sehr gut aufgehoben fühlt, nicht in der Gewerkschaft organisiert ist und sich von Streiks fern hält. In der Mitte befindet sich ein großer Pool an Beschäftigten, die sich weder so richtig mit dem Unternehmen identifizieren, noch aber sich an den Streiks beteiligen. Die Gründe dafür sind ähnlich wie bei anderen Unternehmen: Angst vor Problemen und Mobbing, Entlassung von Befristeten, Versperrung von Aufstiegschancen.

Die Streiks werden von ver.di-Vertrauensleuten in den Betrieben organisiert und von ver.di-Sekretär*innen unterstützt. In Leipzig streikten in den letzten Jahren immer jeweils 200 bis 600 Menschen, in Rheinberg 400 bis 600. Die Streiks werden in vielen Fällen koordiniert. In einzelnen Standorten wie Rheinberg wurden zuletzt neue Streiktaktiken wie die Abweichung vom angegeben Streikzeitpunkt eingesetzt. Am 30. Oktober 2017 streikten Beschäftigte in Leipzig, Bad Hersfeld und Graben. Aber Rheinberg trat erst am 2. November spontan in einen dreitägigen Streik, da das Management auf den 30. Oktober vorbereitet war und der Effekt dadurch gering gewesen wäre. Die Geheimhaltung eines Streiks ist für den Effekt des Kampfs von enormer Bedeutung: Aufgrund der Vielzahl der Standorte plus die Fulfillment Center in Polen kann das Amazon Management bequem per Mausklick auf die Veränderungen reagieren. Ein effektiver Streik muss daher überraschend sein, was wiederum auf Kosten der kurzfristigen Medienaufmerksamkeit gehen kann, die für das Durchsetzen des Anliegens ebenfalls enorm wichtig ist. Die Organisation eines Streiks gleicht dabei einem wahren Balanceakt. Beim Kampf von Amazon können wir von solchen kollektiven Organisierungsprozessen lernen.

Die Studie von Sabrina Apicella bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung geht der Frage nach, warum eigentlich bei Amazon in Deutschland gestreikt wird. Ihr zentrales Argument ist, „dass der Wandel der Verkaufsarbeit erstens durch die Einführung technischer und digitaler Geräte und Software gekennzeichnet ist, zweitens durch ihre Taylorisierung, also die zunehmende Zerstückelung in ihre kleinsten Bestandteile und künstliche Neuzusammensetzung (Outsourcing des Kundenkontakts, Hierarchien).“ Eines der Ergebnisse der Studie ist, dass es den Streikenden gar nicht primär „nur“ um mehr Lohn geht. Zentral sind eher die Arbeitsbedingungen und das geringe Mitspracherecht. In den Interviews der Studie, in vielen Berichten und Artikeln und in unseren Gesprächen mit Beschäftigten an verschiedenen Standorten wird von ihnen immer wieder hervorgehoben, dass sie sich wie Maschinen fühlen. Die engen Arbeitsvorgaben und die technisierte Kontrolle empfinden die Arbeiter*innen als Angriff auf ihren Körper, die in ernst gemeinten Scherzen mit Robotisierung oder gar Cyborgisierung, also einer mit einer fremdbestimmten Mechanisierung verglichen werden.

Das Fazit der Studie von Apicella beinhaltet mitunter den Aufruf, dass der Kampf von Amazon auch von der Unterstützung von Außen lebt. In den Interviews äußern die Beschäftigten, dass ihnen zwar der Tarifvertrag zentral sei, aber die Arbeit von ver.di auch ihre Grenzen erreicht. Hier muss, wie Apicella bemerkt, das Rad nicht neu erfunden werden: In Leipzig wurden von den Aktiven im Betrieb und den zuständigen Gewerkschaftssekretär*innen bereits Aktionen durchgeführt, die in die Richtung einer Thematisierung der robotisierten Arbeitsverhältnisse weisen. So wurden etwa Flyer zu den Themen „Pausenklau“ oder „Skandalisierung von Feedback-Gesprächen wegen weniger Minuten Inaktivität“ verteilt. Mit Widerstandsformen wird reichlich experimentiert, wie etwa der Amazon-Arbeiter Christian Krähling in einem Interview (ak 631) beschreibt: „Bei den Kollegen ist der „Dienst nach Vorschrift“ sehr beliebt. Es gibt eine Unmenge an Vorschriften und Arbeitsanweisungen bei Amazon, und wenn man die wirklich alle verfolgt, dann kann man eigentlich nicht mehr richtig arbeiten.“

In der Zukunft wird weiterhin mit Streiks zu rechnen sein, da die „egalitär-libertären Ideale des horizontalen Milieus“, also des Teils der Beschäftigten, die nach Apicella offen für Organisierung sind, weiter mit den Arbeitsbedingungen in Widerspruch geraten werden. Bisher ist aber, so das Fazit der Studie, die zivilgesellschaftliche und politische Unterstützung begrenzt gewesen: „Diese Schwäche des gewerkschaftlichen Arbeitskampfes dürfte besonders für die gewerkschaftlich Aktiven in den Betrieben, aber auch für die Gewerkschaftssekretär*innen nach fast drei Streikjahren eine eher deprimierende Erfahrung darstellen.“

Die Organisierung der Amazon-Beschäftigten hat auch schon eine internationale Dimension erreicht. Arbeiter*innen aus Polen, Deutschland und Frankreich befinden sich seit paar Jahren im Austausch im Rahmen des Projekts Amworkers. Dabei zeichnet sich auch eine interessante Diskussion um Gewerkschaftsmodelle ab, die natürlich auch Widersprüche hervorbringt. In Poznan bei Polen organisiert die anarchosyndikalistische Gewerkschaft IP etwa 350 Beschäftigte (Februar 2016), in Wroclaw die Solidarnosc etwas mehr als über 100 Beschäftigte. Beide Gewerkschaften trennen Welten, was aber nicht bedeutet, dass nicht auch Grenzen überwunden werden. Die IP tritt in Leipzig öffentlich mit ver.di Leuten in den Austausch. In Frankreich sind die CGT und Sud Solidaires die Hauptakteure. Kontakte gibt es wohl auch nach Spanien, Italien und sogar in die USA. Eines der positiven Ergebnisse: Wenn die Beschäftigten an deutschen Amazon-Standorten streiken, treten die Kolleg*innen im polnischen Poznan inzwischen in einen Bummelstreik, statt sich zu Streikbrecher*innen machen zu lassen. Mit dem Bummelstreik umgehen sie die „50-Plus-Regel“, die besagt, dass eine Gewerkschaft erst an einem Standort als vertreten gilt, wenn über 50 Prozent der Belegschaft dafür stimmen.

Werden wir zur Hydra des Kapitalismus!

In dem beeindruckenden Buch Die Vielköpfige Hydra beleuchten Peter Linebaugh und Marchus Rediker die Geschichte von Kämpfen in einer frühen Phase des Kapitalismus, namentlich in einer Phase der Expansion des britischen Empires über die großen Meere hinweg. Sie präsentieren die Geschichten der Enteigneten der ehemals in Gemeineigentum genutzten Allmende, der gewaltsam verschleppten afrikanischen Sklav*innen, der zum Militär oder zur See gepressten städtischen Proletarier sowie der Ureinwohner*innen der Karibik und der „Indianer“ der beiden Amerikas. Sie alle revoltierten gegen die gnadenlose Gewalt des sich entfaltenden Kapitalismus. Sie alle wurden von den Herrschenden als Hydra bezeichnet, das mehrköpfige Monster aus dem antiken Mythos des Herkules, der stets zwei Köpfe nachwuchsen, wenn einer abgeschlagen wurde. Ein unkontrollierbares Wesen also, das immer wieder neu und gewissermaßen „vermehrt“ auftaucht, trotz aller Enthauptungsversuche. Zwar hat sich heute die kapitalistische Barbarei weiterentwickelt und verändert, und die Phase der ursprünglichen Akkumulation durch Landnahme von damals scheint erstmal nicht direkt mit der Erschließung neuer Räume durch das Kapital mittels der Sammlung von Daten und mittels Algorithmen verbunden zu sein. Nichtsdestotrotz werden aber weiterhin Märkte erobert, neusortiert und Lohnabhängige und Ausgeschlossene in immer neuen Episoden ausgebeutet. In den Plantagen und Sklavenkolonien des frühen Kapitalismus wurde neben dem Surplus auch Erfahrungen in der Arbeitsorganisation beziehungsweise Terrorismus gegen die Sklav*innen erprobt. Erfahrungen, die dann in Europa reimportiert wurden und in die Fabriken gelangten.

Dieser transkontinentale Erfahrungs- und Widerstandszusammenhang, „der revolutionäre Atlantik“, hat das entstehende globale Kapitalsystem in Frage gestellt. Die jetzigen Kämpfe bei Amazon sind auch Teil eines potentiell globalen Widerstandes, die, ausgehend von ihren Arbeitsverhältnissen, in ähnlicher Weise das gesamte System anzweifeln.

Die größte Aufgabe wird das Zusammenbringen der Kämpfe und Auseinandersetzungen sein. Aber das heißt nicht zwangsläufig, alle in eine einzige Organisation zu pressen. Das wäre ein Missverständnis, eine große Illusion. Etwas mehr als das Alt(oder Nicht-)bewährte sollte uns umtreiben. Viele der Postkapitalist*innen (z.B. Paul Mason) hingegen beenden ihre Bücher mit einem Plädoyer für das Bedingungslose Grundeinkommen. In all diesen Fällen wird die Perspektive der Kämpfe fallen gelassen, oder sie tauchen maximal in einer Aufzählung von großartigen Sachen, die gerade so passieren, auf. Diesen Fehler sollten wir als radikale Linke auch nicht machen. Es sind gerade die Kämpfe und ihre Potenziale, die unseren Fokuspunkt bilden sollten.

Wenn Logistik und Infrastruktur, Extraktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Zentrum der kapitalistischen Produktion rücken, werden sie zu optimalen Angriffszielen, die sich, wie Basisgewerkschaften immer betonen, bereits mit dem Einsatz weniger Mittel effektiv stören lassen. Der Logistikbereich hat eine enorme „Produktionsmacht“ (Beverly Silver), so dass hier bei entsprechender Organisation das Potenzial für die Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit liegen kann, die durch die Globalisierung der Weltwirtschaft wesentlich geschwächt wurde. Die Logistik ist das Nadelöhr der globalen just-in-time-Produktion, einer Organisation der Produktion und des Transports von Waren, die das Ziel hat, lange Lagerung zu vermeiden und die Märkte direkt und effizient zu bedienen. Teilweise findet diese Logistik in aller Öffentlichkeit – auf der Straße – statt, so dass sie dort auch unterbrochen werden kann.

Indem wir die Klassenkomposition des aktuellen Kapitalismus untersuchen und darin agieren, lassen sich neue Verbindungen herstellen. Das Verschwinden der fordistisch organisierten Lohnarbeit in ihrer bisherigen Form bringt Verteilungskämpfe mit sich, wie in den vergangenen Jahren etwa die Auseinandersetzungen der Taxifahrer*innen mit Uber zeigten, ebenso wie die Angestellten des Lieferservice Deliveroo, die ihre prekären Arbeitsverhältnisse hinterfragen, und Careworker*innen, die gegen den Umbau des Gesundheitssystems streiken. Kontrolle, Arbeitsverdichtung und psychisch und körperliche Belastungen, wie sie bei Amazon erfahren werden, spielen gerade auch bei diesen (Frauen-)Betriebskämpfen in den Kranken-und Pflegeberufen eine große Rolle. Es gilt außerdem, den Fokus auf den Westen zu hinterfragen – Kämpfe gegen die Ausbeutung von Ressourcen oder inhumane Produktionsbedingungen vollziehen sich auf dem ganzen Globus. Auch die Kritik der Disziplinierung und Messung des Körpers – Stichwort: Selbstoptimierung – sowie neuer Formen von Kontrolle und Spaltung könnten eine größere Rolle einnehmen.

Konkret bedeutet es für uns als radikale Linke, in der nächsten Zeit durch die Kampagne Make Amazon Pay! dem Kampf der Beschäftigten bei Amazon näher zu kommen – es ist ein erstes Experimentierfeld, das mit Vorsicht und Respekt betreten werden sollte. Diese Menschen kämpfen schon seit Jahren – hören wir uns an, was sie zu sagen haben. Und bleiben wir im Bereich Logistik bei Amazon nicht stehen: Auch bei Zalando, DHL oder Obi finden sich kämpferische Belegschaften, die den Kampf in ihrem Bereich als gemeinsamen Kampf begreifen und die Diskussionen führen, die über bloße Lohnforderungen hinausgehen. Ein erster Schritt ist schon getan, wenn so viele von uns wie möglich den öffentlichen Brief der internationalen Amazon Arbeiter*innen ausdrucken und mit Beschäftigten an den verschiedenen Standorten ins Gespräch kommen. Wir werden relativ schnell entdecken, dass uns keine Welten trennen.

Was wird passieren, wenn sich ver.di mit Amazon auf einen Tarifvertrag einigt? Und was wenn nicht? Eine Niederlage in den Verhandlungen wäre verheerend nicht nur für die Leute bei Amazon, sondern für den gesamten Bereich Einzelhandel und Logistik. Amazon schafft da Tatsachen – da fängt es erst an, spannend zu werden. Schaffen wir es, in der Öffentlichkeit die Forderung nach einem gesellschaftlichen Verhandeln über Arbeitsbedingungen und Automatisierung zu etablieren? Die Hydra schlummert schon in den sich weiter verbreitenden Kämpfen der Foodora-Fahrer*innen, Freelancer und Massenarbeiter*innen – und in uns. Können wir die Kämpfe verbinden? Make Amazon Pay! ist ein erster winziger Schritt. Machen wir mehr draus.


John Malamatinas lebt in Brüssel, Köln und Thessaloniki und ist in verschiedenen antikapitalistischen Gruppen und Netzwerken aktiv. Seine vornehmliche Beschäftigung gilt den Themengebieten Nationalismus, soziale Kämpfe und Krise in Griechenland.


Die Aktionswoche Make Amazon Pay! findet vom 20. bis zum 26. November 2017 in mehrere Städten in der Bundesrepublik mit verschiedenen Unterstützungsaktionen weltweit statt. Mehr Infos findet ihr hier.


Anmerkungen:

[1] Auf Deutsch: „Das hier ist nicht nur der größte Fluss der Welt, er ist zugleich um ein Vielfaches größer als nächstgrößte Fluss. Er stellt alle anderen Flüsse in den Schatten.“

[2] Laut der technologiekritischen Gruppe Capulcu ein viel geeigneter Begriff für die Sharing- oder Plattformökonomie, denn Uber oder Mechanical Turk haben nichts mit „Teilen“ zu tun, sondern eher mit der marktförmigen Erschließung ehemals nicht kommodifizierter Tätigkeiten, wie das Auto zu teilen.

[3] Vergleiche Sabrina Apicella, Amazon in Leipzig. Von den Gründen, (nicht) zu streiken, RLS-Studie 09/2016, 2016.


Weiterführende Literatur:

Aufruf zu Make Amazon Pay, Herbst 2017

Sabrina Apicella: Amazon in Leipzig. Von den Gründen, (nicht) zu streiken, RLS-Studie, Mai 2016

Nina Scholz / Carolin Wiedemann: „Widerstand durch „Dienst nach Vorschrift“. Interview mit Christan Krähling“, in: Analyse & Kritik, Ausgabe 631 , November 2017.

Georg Barthel und Jan Rottenbach: „Reelle Subsumtion und Insubordination im Zeitalter der digitalen Maschinerie. Mit-Untersuchung der Streikenden bei Amazon in Leipzig“, in: Prokla 187, 2017.

Ralf Ruckus: „Der amerikanische Traum für zwei Euro pro Stunde, in: Sozial. Geschichte Online, 18 – 2016.

Brad Stone: the everything store. Jeff Bezos and the age of Amazon, Corgi Books 2013.

Donna Haraway: „Manifesto for Cyborgs: Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980's“, in: Socialist Review 80, 1985, S. 65-108.

…ums Ganze!: Prime Life Now! Ein Plädoyer dafür, den Kampf gegen den Rechtsruck mit den Auseinandersetzungen im Logistiksektor zu verbinden, 2017.

Capulcu: Disrupt! Widerstand gegen den technologischen Angriff, Unrast Verlag 2017.

Timo Daum: Das Kapital sind wir! Zur Kritik der digitalen Ökonomie, Edition Nautilus 2017.

Nina Scholz: Nerds, Geeks und Piraten. Digital Natives in Kultur und Politik, Bertz+Fischer 2014.

Keine Zukunft ist auch keine Lösung. Eine Broschüre von Theorie.Organisation.Praxis B3rlin zu Digitalisierung und Kommunismus, 2016

Peter Linebaugh und Marcus Rediker: Die Vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks, Assoziation A, 2008.