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Der vergehende Glanz des Monsieur CAC 40

Macrons Glanz verblasst. 24mmjournalism

Keine drei Monate im Amt und schon vergeht der Glanz der liberalen antifaschistischen Hoffnung, Emanuel Macron, Präsident Frankreichs. Wollte dieser 39jährige frisch aussehende Mann nicht „weder links noch rechts“ sein, als „Außenseiter“ einen neuen Wind in die Politik bringen und, als Hoffnung auch vieler Linker, den bereits vor der Tür stehenden Faschismus in der Person Marine Le Pens stoppen? Nun, die Logik der Umstände ist stärker als die Logik der Absichten und Mythen.

 Fangen wir an mit dem „Außenseiter“-Mythos. War der Macron nämlich nie. Nach Abschluss der Eliteschulen Science Po und ENA setzte er seine steile Karriere als Manager bei den Rothschilds fort. In derselben Zeit eignete er sich die französische Version der „neuen Sozialdemokratie“ – also neoliberale Sozialdemokratie – des Blair-Verstehers Anthony Giddens an. Daraufhin ernannte ihn 2012 der damalige Präsident Hollande zum Berater für Wirtschafts- und Finanzpolitik. 2014 wurde er dann gar Wirtschaftsminister unter dem damaligen Premier Valls. Für all die schönen Steuererleichterungen sowie „Flexibilisierungen“ der Arbeitsstunden und -löhne, die er als Wirtschaftsminister durchdrückte, wurde er ganz zu Recht vom Präsidenten des größten französischen Unternehmerverbandes Mouvement des Entreprises de France (MEDEF) Gattaz in den Himmel gelobt. Ein Offizier des Kapitals wie aus dem Bilderbuch also. Da wundert es nicht, dass er als Präsidentschaftskandidat ein extrem neoliberales Programm vorlegte sowie sein Beratungsstab aus ehemaligen oder aktuellen Manager*innen von BNP, Credit Agricole, Euronext und vielen anderen großen Kapitalgruppen bestand.

 Klar, Marine Le Pen ist ganz schön fies, faschistoid und vieles mehr. Vielleicht interessierte sich deshalb das liberale bis linksliberale Milieu samt pseudo-intellektuellem, ex-marxistischem Anhang à la Misik, Cohn-Bendit und so weiter nicht so sehr für den harten, elitären Neoliberalismus von Macron. Wichtiger war es mal wieder, irgend etwas noch Böseres zu stoppen. Wie allerdings die Vertiefung neoliberaler Reformen den Faschismus aufhalten sollte, das weiß bis heute niemand. Der geläufige Slogan der Straße, „Macron 2017 = Le Pen 2022“ brachte auf den Punkt, dass die Durchsetzung von Macrons Programm eher die sozialen Entstehungsbedingungen des Faschismus fördert denn mindert.

 Dass das Ganze auf der politischen und medialen Arena ausgetragene Theater eben Theater ist und den massiven Vertrauensverlust der werktätigen Bevölkerung in diese Theaterbühne, das politische System, nicht ausgleichen kann, hat sich gleich schon in der zweiten Wahlrunde der Präsidentschaftswahl am 7. Mai 2017 gezeigt. Die Wahlabstinenz stieg um 11-12% gegenüber der ersten Runde an und erreichte mit 25% einen Rekordwert. Der Totalabsturz kam bei den Parlamentswahlen im Juni: Während sich an der ersten Runde der Parlamentswahlen nur 49% der Wahlbevölkerung beteiligten, sackte die Wahlbeteiligung in der zweiten Runde auf 42% ab. Mit 25% war die Wahlbeteiligung der Jugend auf einen Tiefststand gesunken. Demgegenüber stehen, laut einer von der EU selbst aufgegebenen Studie, 61% der französischen Jugendlichen, die aussagen, sie würden jederzeit an „großen Aufständen“ teilnehmen. So konnte zwar letztlich Macrons La République en Marche (LREM) und seine Koalitionäre 360 von 577 Parlamentssitzen ergattern, vereinigten aber – zählt man die Wahlabstinenz hinzu – nur 14% aller Wähler*innen auf sich. Die von Macron erschaffene Aura und der Glanz währten nicht lange.

Die allgemeine Krise des politischen Systems

 Dabei ist die Legitimationskrise des bürgerlichen politischen Systems nichts, was nur Frankreich zu eigen wäre. Die Bourgeoisie selbst entleerte das politische System jeden sinnvollen Gehalts: Mit dem Einsetzen des Neoliberalismus, der im Prinzip ein Angriff des Kapitals auf die Werktätigen darstellt, warfen auch die ehemals sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien alles Soziale über Bord und ähnelten immer mehr den Rechten in ihrer werktätigenfeindlichen Politik. Die selben Politiken der Privatisierung, des Sozialabbaus, der sinkenden Renten und der sich verschlechternden Arbeitsbedingungen wurden von allen etablierten Parteien, mal etwas linker mal etwas rechter verziert, durchgesetzt. Logischerweise führte dies zu einem Vertrauensverlust und zu einer Entfremdung großer Teile der Bevölkerung vom etablierten politischen System, weil sogar diejenigen, die das Soziale verteidigen sollten, aktiv daran mitwirkten, es abzuschaffen. Der PASOK in Griechenland wurde dementsprechend die Rechnung gestellt.

 Die Bourgeoisie schneidet das mit und versucht diese Entwicklungen mit Begriffen wie „Post-Demokratie“ oder, im Bezug auf Medien, „Kernschmelze des Vertrauens“ (2017 Edelman Trust Barometer) besonders dramatisch zu etikettieren. Praktisch betrachtet wird versucht, den Einbruch der aktiven Zustimmung der ins Elend verdammten Mehrheit der Bevölkerungen zu überkompensieren mit großen theatralisch inszenierten Spektakeln, die alle das große Neue, die echte Veränderung, das ganz Andere beschwören. Es ist die Hoffnung, die die Bourgeoisie versucht mit ihren spektakulären Inszenierungen für sich selbst auszubeuten. Auch das hat linke wie rechte Gesichter. Ob nun Obamas „Yes, We Can!“ oder Matteo Renzi, der sich selbst zum rottamatore (Zerschrotter des alten Systems) stilisierte; Trumps „Make America Great Again“ oder Macrons „Progressivismus“, der angeblich links wie rechts vereint – sie sind alle mit viel Schall und Rauch inszenierte Spektakel, die die erneute Zustimmung der Ausgebeuteten zu einem System hervorbringen sollen, in das sie schon das Vertrauen verloren haben und das ihnen nichts anzubieten hat. Und bei all diesen Spektakeln ist es der Fall, dass, sind die Wahlen und mit ihnen das Spektakel einmal vorbei, die große Ernüchterung und Enttäuschung einsetzt darüber, dass alles weiter seinen Gang geht wie bisher. Die Entfremdung und der Ekel vor dem politischen System vertieft sich und mit ihr die Scharlatanerie in der Hoffnung, den desillusionierten Werktätigen doch nochmal Begeisterung für den eigenen Untergang entlocken zu können. Siehe Trump. Und eben Frankreich.

Die Macronisten am Werk

Nachdem 2012 Hollande mit seinem Palaver darüber, dass die Finanzwelt sein größter Feind sei, alle Hoffnung auf sich band, setzte er letztlich eine derart kapitalfreundliche Politik durch, dass die Parti Socialiste (PS) in den Sinkflug überging. Hier setzte Macron ein. Klugerweise hatte er sich schon früh genug von der PS-Regierung abgeseilt, um sich plötzlich als frisches Gesicht gegen Faschismus und Mief zu verkaufen. Kaum jedoch wurde nach seiner Amtseinführung ganz greifbar klar, dass er einfach nur die Fortsetzung des Bestehenden auf noch extremere Art besorgt, verpuffte all der Charme und Glanz und ging auch er in den Sinkflug über.

 Was als erstes ins Auge stach, war die soziale Komposition der nun zur Partei formierten LREM im Parlament, sowie in der Regierung. Wie bei seinen Berater*innen auch teilten sich Unternehmer*innen, Manager*innen und obere Mittelklassen die Plätze. Das nur extremste Beispiel für diesen fließenden Übergang von Kapital zu Politik bei den Macronisten ist die skandalumwitterte Arbeitsministerin Pénicaud. Der erste Skandal dreht sich darum, dass sie 2013 als Managerin der Personalabteilung des Lebensmittelriesen Danone einen Tag nach der Entlassung von knapp 900 Beschäftigten alle ihre Danone-Aktien verkaufte und damit eine Mille € absahnte. Nicht dass ihr daraus ein Strick gedreht wurde: Kurz daraufhin wurde sie zur Managerin der Business France, einer staatlichen Institution, die französische Wirtschaftsinteressen im Ausland vertritt. Weil sie in dieser Funktion 2016, als Macron noch Wirtschaftsminister war, diesem eine klitzekleine Auslandsgeschäftsreise für knapp 400.000€ spendierte, läuft ein Verfahren gegen sie wegen Günstlingswirtschaft.

 Korrupt ist es aber natürlich nicht, dass der derzeitige Büroleiter ihres jetzigen Ministeriums Antoine Foucher bis 2016 im Leitungsgremium des MEDEF war. Das ist einfach nur Kapitalismus – der natürlich Korruption neben, unter oder parallel und organisch zum Normalgeschäft beinhalten kann. Auch hier bei den Macronisten nichts unerwartetes. Zu den Grundprinzipien von Macrons politischem Programm hatte es gehört, endlich mit Korruption, Vetternwirtschaft und dergleichen aufzuräumen und saubere Politik zu betreiben. Während sein rechter Konkurrent Fillon von den Republikanern in Korruptionsaffären unterging, konnte sich Macron ein sauberes Gesicht bewahren. Auch hier währte das frische Gesicht nicht lange. Im Juni ging eine Skandalbombe nach der anderen hoch. Insgesamt vier Minister*innen (Goulard, Ferrand, Bayrou, Sarnez) mussten wegen Korruptionsskandalen zurücktreten, wobei nur einer – Ferrand – in prominenter Position der LREM angehörte (die drei anderen sind Mitglieder des kleineren Koalitionspartners Mouvement démocrate (MoDem)).

 Betreffs parteiinterner Demokratie stellte sich – oh Wunder – heraus, dass sich die Macronisten auch hierin in nichts von den anderen Bewegungen und Parteien unterschieden. Es mag die anfängliche Formation als Bewegung [1] gewesen sei, die Hoffnung auf einen Anti-Bürokratismus und „echter Demokratie“ gemacht hat, obwohl dem Parteiprogramm sehr eindeutig zu entnehmen war, wohin die Fahrt gehen sollte. Die Formation als Bewegung ist mittlerweile nicht mehr nur unter der Linken der letzte Schrei. Auch die Eliten haben aufgrund der oben ausgeführten allgemeinen Krise des politischen Systems „die Bewegung“ für sich entdeckt. Eine „Bewegung“ – wie schön, wie inklusiv, offen und so anders als der bestehende Parteienmief! Als Bewegung von Eliten kann man dann auch sehr schön mit dem Finger auf die anderen Eliten, den alten Mief, zeigen und sie für all die Entfremdung, den Frust und den Vertrauensverlust ins politische System verantwortlich zeichnen. Blöd nur, dass sich mit der Transformation zur Partei Mitte Juli der neoliberal-technokratische Charakter und das dementsprechende Programm der LREM logischerweise auch auf die parteiinternen Organisationsstrukturen auswirkte. Und zwar derart, dass nun zum Beispiel die jeweiligen Provinz- und Stadtleiter*innen sowie Abgeordnetenkandidat*innen und die gesamte Spitze der Partei ausschließlich von der Parteiführung (Parlamentsabgeordnete, Macron himself und die Minister*innen) bestimmt werden. Nur knapp 25% der Parteiführung werden von den lokalen Parteiorganisationen gewählt. So autoritär ist die parteiinterne Organisationsstruktur geworden, dass laut einer Mitgliederbefragung keine 10% der eigenen Mitglieder sie für gut befinden. Einige Macronisten wurden deshalb stinkig und gründeten eine parteiinterne Opposition namens LRM en colère, also quasi wütende LREMisten.

 Die Argumente für diese autoritäre top-down Organisationsform sind altbekannt: Expert*innen sind kompetenter, effizienter und sowieso vertrauenswürdiger als Nicht-Expert*innen, also der Großteil der Bevölkerung (und der eigenen Parteibasis). Korrekter lässt sich festhalten, dass – wie zu erwarten – der Umfang und die Qualität der neoliberalen Angriffe auf die Errungenschaften der Werktätigen in Frankreich seitens der Macronisten so heftig sind, dass sie schockmäßig und schnell durchgesetzt werden müssen, um dem Widerstand den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ansonsten fluten am Ende die Leute noch die Straßen!

Neoliberales Bombardement

 Das Kernelement des macronistischen neoliberalen Bombardements stellt eine vertiefende Reform des Loi Travails, also des Arbeitsgesetzes, dar. Die schon im Jahre 2016 nach dem deutschen Vorbild (Hartz I-IV) vorgenommenen Reformen des Arbeitsrechts (damals Loi El Khomry benannt nach der damaligen Arbeitsministerin) führten zu monatelangen heftigen militanten Massenaufständen inklusive der Entstehung einer vornehmlich aus Studis und Prekären bestehenden Basisbewegung namens Nuit Debout, weshalb einige Kernelemente der Reform zurückgezogen werden mussten. Zugleich leitete die Reform und der Massenwiderstand dagegen das Ende der PS ein.

 Was die Macronisten nun vorhaben ist jene zurückgezogenen Kernelemente und einige zusätzliche Elemente eben doch durchzudrücken. Und zwar im Procedere auf dieselbe Art wie schon 2016: Das Parlament wird umschifft durch ein Ermächtigungsgesetz für den Präsidenten, der ohne jegliche parlamentarische Debatte die von Technokraten ausgearbeiteten Reforminhalte festlegt und mittels Verordnungen durchdrückt. Die einzelnen Elemente der vorgesehen Reform sind so dermaßen arbeiter*innenfeindlich, dass einige den Verdacht äußerten, sie seien vom MEDEF selbst verfasst worden. Schauen wir uns die hauptsächlichen Eckpunkte an:

 Einer der wichtigsten Punkte ist die Deckelung der zu zahlenden Abfindungen bei ungerechtfertigten Entlassungen. Das war mit der Reform von 2016 als Option eingeführt worden, soll jetzt aber verbindlich werden. Entlassungen aufgrund gerechtfertigter „wirtschaftlicher Gründe“ (sprich schlechte Geschäfte) werden erleichtert, insbesondere für multinationale Unternehmen. Die brauchen nur mehr die Bilanzen ihrer jeweils in Frankreich situierten Betriebe aufweisen, um Entlassungen aufgrund wirtschaftlicher Gründe vornehmen zu können. So lässt sich Stellenabbau sehr einfach betreiben: Einfach Kapital vom Betrieb in Frankreich zu einem anderen Betrieb des Unternehmens außerhalb von Frankreich verschieben und voilá, schon gibt es genug „wirtschaftliche Gründe“ um Massenentlassungen vornehmen zu können. Neben der Erleichterung von befristeten Arbeitsverträgen (contrat à durée déterminée) wird zusätzlich eine neue Beschäftigungsform namens contrat de projet, die dem deutschen Werkvertrag ähnelt, eingeführt, die den Arbeiter*innen noch weniger Rechte einräumt aus die befristeten Arbeitsverträge.

 Ein anderes sehr grundlegendes Element der Reform ist die Umkehrung in der Hierarchie der Tarifverträge von Land → Beruf → Betrieb hin zu einer Stärkung betrieblich geregelter Verträge. Diese Umkehrung der Hierarchie ist eines der zentralsten Kernelement des Neoliberalismus in der Veränderung der Arbeitsbeziehungen. Mit dieser Umkehrung wird verhindert, dass die in sparten- oder landesweiten Gewerkschaften organisierten Arbeiter*innen auf gleicher Ebene mit den zumeist ebenfalls sektoral oder landesweit aufgestellten Kapitalist*innen kämpfen können. Während die Kapitalist*innen alle Verhandlungsmacht einer nicht bloß auf einen einzelnen Betrieb reduzierten Unternehmensstruktur beibehalten, verlieren die Arbeiter*innen ihre äquivalente Macht und werden in die Betriebe eingepfercht. Mit der vorgesehen Reform ist es nun möglich, betrieblich über Arbeitssicherheit und Arbeitszeiten zu verhandeln. Außerdem sollen betrieblich geregelte Verträge überhaupt unabhängig von Flächentarifverträgen (in Frankreich bisher meist landesweit abgeschlossen) geschlossen werden und von ihnen abweichen können. Bei Betrieben unter 50 Beschäftigten ist es nun möglich, dass die Kapitalist*innen auch mit nicht-gewerkschaftlichen Arbeiter*innenvertretungen (also vom Boss des Betriebs zusammengeschusterte Pseudo-Vertretungen) Verträge abschließen. Zu all dem kommt hinzu, dass die bisher vier unterschiedlichen Personalvertretungen in den Betrieben zu zwei zusammengelegt werden sollen.

 Aber das neoliberale Bombardement der Macronisten beschränkt sich mitnichten bloß auf die Arbeitsbeziehungen im engeren Sinne. Es wird auch ausgeweitet auf die Verteilungsverhältnisse. So soll der Druck auf Arbeitslose, die Arbeitslosenhilfe beziehen, massiv erhöht werden. Hier diente wieder Deutschland als Vorbild. Der Zweck ist natürlich derselbe wie in Deutschland: Unter dem Deckmantel einer Bekämpfung von „Sozialmissbrauch“ werden Sanktionen und Druck aufgebaut, um Arbeitslose davon abzuhalten, überhaupt Arbeitslosenhilfe zu beantragen, oder aber jeden Scheißjob anzunehmen. Aus Deutschland wissen wir, dass diese Zwangsjacke erheblich mit dazu beigetragen hat, dass sich arbeiter*innenfeindliche Beschäftigungsverhältnisse (Niedriglohnsektor, ungenügende Teilbeschäftigung, befristete Beschäftigung usw.) ausweiteten. Sprich der neoliberale Eingriff in die Verteilungsverhältnisse dient hier dazu, die Durchsetzung neoliberaler Arbeitsbeziehungen abzusichern.

 Auch in das Steuersystem wird typisch neoliberal eingegriffen. Während einerseits eine – aus Staatsperspektive – Witzsumme von 100 Millionen € im Jahr gespart werden soll dadurch, dass der Heizkostenzuschuss für Mietkostenzuschussempfänger*innen um fünf € gestrichen wurde, soll andererseits die Unternehmenssteuer innerhalb von fünf Jahren von 33% auf 25% gesenkt werden und die „Reichensteuer“ fast vollständig entfallen. Allein diese Streichung wird für drei bis vier Milliarden € weniger Staatseinnahmen im Jahr sorgen. Die Zeitschrift Capital, deren Kapitalnähe ja schon im Namen steckt, rechnete genüsslich vor, dass 46% der geplanten Steuerreformen den höchsten 10% nutzen werden.

 In einer Klarheit, die kaum einer interpretierenden Analyse mehr bedarf, sprach Macrons Premier Edouard Philippe aus, worum es den Macronisten bei der Steuerreform geht: in einem Interview mit der Financial Times sagte er, dass die Reform „für die Reichen“ sei und dass es ihre oberste Priorität sei, Reiche und Unternehmer*innen in das Land zu holen. Es ist also kein Zufall, dass einige französische Zeitungen Macron schon als „Monsieur CAC 40“ [2] bezeichnen. Irgendwo muss man ja aber laut Austeritätsmantra des Neoliberalismus sparen bzw. die Einnahmen erhöhen. Und wenn das ganz zufälligerweise bei den Reichen nicht geht, dann muss man eben bei den Werktätigen ansetzen. So sollen einerseits bis 2022 13 Milliarden € bei den Lokalverwaltungen gespart werden, sprich es werden um 13 Milliarden € weniger Schwimmbäder, Schulen und Kitas saniert oder neugebaut. Andererseits werden die Beiträge zu den Sozialversicherungen zum Nachteil der Niedrigeinkommen erhöht.

 Und aufgrund aller dieser Entwicklungen schon in den ersten Tagen der Macronisten, die zeigen, dass sie in keinster Weise von den anderen Parteien der Bourgeoisie unterschieden sind, sondern sich ganz besonders in der Durchsetzung von Neoliberalismus und Technokratismus hervortun, ist es dann auch nicht verwunderlich, dass der Glanz des Monsieur CAC 40 ganz schnell erblasste. Alle Meinungsumfragen, von YouGov über Elabe bis hin zu Ifop, zeigen, dass die Popularität von Macron und das Vertrauen in die Regierung rasant eingebrochen ist und irgendwo bei 30% rumdümpelt, während die Unzufriedenheit massiv zunimmt.

Technokratenbasar und Widerstandsfront

 Die allgemeine Krise des politischen Systems in den bürgerlichen Gesellschaften des Westens hat, wie erwähnt, auch Frankreich erreicht. Das seit dem 2. Weltkrieg etablierte Parteiensystem bricht auseinander. Während die klassisch-gaullistische republikanische Partei Les Républicains (LR) in Korruptionsaffären versinkt und sich in ein pro-Macron sowie ein anti-Macron Lager spaltet, wurde die PS geradezu vernichtet. Nachdem der Präsidentschaftswärter der PS Benoit Hamon nur 6,36% der Stimmen ergattern konnte, verlor er bei den Parlamentswahlen auch noch seinen Sitz im Parlament wie 90% aller bisherigen PS-Abgeordneten. Auch er fügte sich der Bewegungsmode, verließ die PS und gründete eine „Bewegung des 1. Juli“. Jetzt hat er plötzlich vor, bei den Demos gegen die Arbeitsmarktreform mitzumachen. Der alte PS-Veteran und parteiinterne Hauptopponent von Hamon, Manuel Valls, hingegen verließ gemeinsam mit den Altehrwürdigen der PS ebenfalls die Partei und unterstützt seitdem die Macronisten. Die Rest-PS hingegen ruft zum Widerstand gegen die Arbeitsmarktreform auf – die sie ja selbst letztes Jahr ins Rollen gebracht hat.

 Niemand ist sich zu blöd für nichts, der schamloseste Prinzipienausverkauf und Opportunismus greift um sich. Im Prinzip hat sich ein Technokratenbasar entwickelt. Es rettet sich, wer kann, manchmal auf ganz lukrative Pöstchen. Während der Finanzminister Le Maire und der Minister für den öffentlichen Dienst Darmanin von der LR stammten und für die Übernahme der jeweiligen Ministerialposten aus ihrer Partei geschmissen worden, führt die PS-Veteranin Le Drian weiterhin das Amt des Außenministeriums und ist der alte sozialistische Bürgermeister von Lyon, Collomb nun der Innenminister. Die Liste lässt sich fortsetzen. Ideologische oder gar minimal praktische Differenzen sucht man vergeblich, alles, das in der Lage dazu ist, strömt zum Kapital. Macron vervollkommnt die Partei der Ordnung als Haufen von Offizier*innen des Kapitals sowie prinzipienlosen Opportunist*innen. Ein Restteil der Opportunist*innen kleidet sich in oppositionellen Gewändern in der Hoffnung, morgen wieder dort zu sitzen, wo sich gestern noch saßen.

 Dann gibt es natürlich den Front National, der sich aber schlecht hält und in sich selbst in einem Kampf zwischen traditionalistischem und Erneuerungsflügel befindet und sich nicht eindeutig zwischen leicht links angehauchtem und direkt rechtsaußen-faschistoidem Populismus entscheiden kann. Offensichtlich ist es Mélenchons France Insoumise (Unbeugsames Frankreich), das real und in den Augen der Bevölkerung die Opposition darstellt – und vielleicht wieder die Straße. Die Protestwelle vom 12. September war mitnichten eine „Demonstration der Schwäche“ wie Laurent Berger, Chef des größten Gewerkschaftsdachverbandes Confédération française démocratique du travail (CFDT), die nicht zu den Demos aufrief, im Vornherein „befürchtete“. Mit, nach Angaben der linken Confédération générale du traivail (CGT), knapp 400.000 Protestierenden (das Innenministerium spricht von 233.000) bei Aktionen in knapp 200 Städten wurde Stärke demonstriert. Klar, das war nicht so stark wie letztes Jahr. Andererseits sind auch schon für den 21. und 23. September die nächsten Aktionstage angekündigt. Die Schlacht ist noch längst nicht entschieden.

 

[1] LREM war, bevor es zur Partei wurde, eine „Bewegung“ namens En Marche!.

[2] Die CAC 40 ist das französische Pendant zur deutschen DAX. Es ist der Leitindex der 40 führenden französischen Aktiengesellschaften.