„Wir wollen da sein, wo es brennt!”
Die deutschsprachige anarchistische Bewegung ist fragmentiert und wenig wahrnehmbar. So sehen es zumindest die Aktivist*innen der Plattform. Diese wollen nun eine verbindlichere Organisierung des deutschsprachigen Anarchismus schaffen und führen zu diesem Zweck eine bundesweite Info-Tour durch. Grund genug den Genoss*innen die Möglichkeit zur Vorstellung ihres Konzepts zu geben.
Jan [re:volt]: Hallo liebe Genoss*innen. Stellt doch mal kurz vor, worum es nun bei eurem neuen Projekt geht. Warum muss sich aus eurer Sicht eine anarchistische Bewegung in Deutschland reorganisieren? Warum soll das mit dem Konzept der Plattform [1] geschehen und welche Kritik steht am Gegenwartsanarchismus dahinter?
Die Plattform: Hallo Jan, erstmal vielen Dank für die Möglichkeit des Interviews. Die anarchistische Bewegung im deutschsprachigen Raum muss sich unserer Meinung nach reorganisieren, da es trotz des wachsenden Interesses am Anarchismus in der Bevölkerung keine signifikante Stärkung speziell des organisierten Anarchismus gibt. Parallel dazu gibt es, im Vergleich zu den letzten Jahren, soziale Bewegungen, die Massen auf die Straße bringen. Fridays for Future, die Kämpfe um den Hambacher Forst und generell gegen den Braunkohleabbau, gegen die neuen Polizeigesetze, für eine Seebrücke nach Europa, gegen den Rechtsruck, gegen Gentrifizierung und Verdrängung, oder auch der feministische Streik am 8. März sind nur einige Beispiele. Dennoch schafft es die anarchistische Bewegung nur sehr unzureichend, ein wahrnehmbarer Teil in den meisten dieser Kämpfe zu sein. Das liegt unserer Meinung nach nicht allein an unserer zahlenmäßigen Schwäche, sondern eben auch an zahlreichen Unzulänglichkeiten in der Bewegung selbst. Einerseits ist es nach wie vor ein weit verbreitetes Phänomen, dass große Teil der Menschen, die sich als „Anarchist*innen” bezeichnen, sich nicht dauerhaft organisieren wollen, oder sogar formale Organisierung generell ablehnen. Neben dieser problematischen Haltung dominieren weitere fehlerhafte Konzepte, wie z.B. ein falsch verstandenes Konzept der Autonomie, eine Haltung zur Gesellschaft, die von Isolation und nicht von einem Kampf innerhalb der Gesellschaft geprägt ist, sowie zur Revolution, welche eher einer generellen Aufgabe gleichkommt, als die Zuversicht in die Kraft unserer Ideen. Aus all diesen Aspekten folgt dann eine allgemeine Strategielosigkeit, Beliebigkeit und Profillosigkeit, Unzuverlässigkeit und eine weitgehende öffentliche Unsichtbarkeit, wie schlechte Außenwirkung. In unserem Grundsatzpapier könnt ihr Weiteres dazu finden.
Es geht uns nicht darum, die seit vielen Jahren andauernde positive Entwicklung im deutschsprachigen Anarchismus zu ignorieren. Die anarchosyndikalistische Freie Arbeiter*innen Union ist gewachsen, hat ihr Gewerkschaftsprofil geschärft und schafft es mittlerweile, kleine Arbeitskämpfe zu führen und diese teilweise auch zu gewinnen. Die Föderation deutschsprachiger Anarchist*innen hat verstreut existierende anarchistische Kleingruppen gesammelt und einen überregionalen Raum des Austauschs geschaffen. Das hat unter anderem dazu geführt, dass anarchistische Gruppenprojekte nun deutlich langlebiger existieren, sowie auf geringem Niveau kontinuierlich arbeiten. Es sind bundesweit in den letzten Jahren neue anarchistische Anlauforte entstanden, welche meist den Anspruch haben, offene Räume für das Viertel, in dem sie angesiedelt sind, zu sein. Wir wollen aus der langsamen, aber kontinuierlichen Aufbauarbeit der letzten Jahre nun eine neue, anspruchsvolle, anarchokommunistische Föderation aufbauen, welche die Bewegung inhaltlich, analytisch, strategisch, und vor allem in der sozialen Einmischung [2] in soziale Kämpfe voran bringt.
Jan [re:volt]: Aus der autonomen Linken kommt ja nun seit einigen Jahren ebenfalls die selbstkritische Feststellung, dass man aus der Subkultur in die gesellschaftliche Auseinandersetzung müsse. Diese Tendenz unterstreicht ihr mit der Orientierung auf eine Neuorganisierung im deutschsprachigen Anarchismus ja nun auch. Wie erklärt ihr es euch, dass die radikale Linke sich trotz der Selbstkritik immer noch praktisch sehr schwer tut, eine Neuausrichtung zu vollziehen?
Die Plattform: Das hat natürlich viele Gründe und Ursachen und es sind, wie du schon angedeutet hast, viele spannende Texte, Analysen und Aufrufe dazu in den vergangenen Jahren erschienen. Ein Kernpunkt ist sicherlich, dass die radikale Linke sich in einer Art „Szenerealität” eingerichtet und gemütlich gemacht hat. Da nun wieder heraus zu kommen, ist unglaublich schwer. Das Sein bestimmt immerhin das Bewusstsein. Wenn also erhebliche Teile der Linken den Großteil ihrer Zeit in Szeneräumlichkeiten verbringen, über Subkultur politisiert wurden und sich noch in dieser bewegen; wenn sie weiterhin recht jung und studentisch geprägt sind, ist es natürlich schwer grundsätzliche Veränderungen zu erreichen. Außerdem fällt es großen Teilen der Linken weiterhin schwer, sich die „Hände schmutzig zu machen“. Ja, diese Gesellschaft ist in Teilen autoritär geprägt und ja, in jeder sozialen Bewegung gibt es viele Akteur*innen mit einer reformistischen bzw. teilweise auch reaktionären „Kapitalismuskritik“, oder anderen aus unserer Perspektive problematischen Ansichten.
Die soziale Revolution erreichen wir aber nur mit einem Großteil der Gesellschaft. Wir erreichen sie nur, wenn wir um jeden Meter kämpfen, wie es zum Beispiel die radikale Linke in Frankreich in der heterogenen „Gelbwesten”-Bewegung tut, die man ja durchaus auch strittig sehen kann. Ob die Einmischung in eine soziale Bewegung dann erfolgreich ist, bleibt die Frage stetiger Analyse. Auch innerhalb der Plattform wird hierzu stets und immer wieder diskutiert werden. Es bleibt notwendig, die Frage nach der Zusammensetzung und den Zielen einer „Bewegung” immer wieder zu stellen und zu evaluieren. In jedem Falle handelt es sich bei der sozialen Einmischung in Bewegungen um eine der Kernstrategien unserer Initiative. Wir betrachten sie als geeignetes Mittel, um aus unserer aktuellen Schwäche heraus zu kommen. Das erklärte Ziel ist, unsere Szenrealität zu überwinden und innerhalb der Gesellschaft so zu wirken, dass wir die Menschen erreichen, statt sie zu verschrecken.
Jan [re:volt]: Der Plattformismus nach Nestor Machnow, auf den ihr euch beruft, wurde ja historisch in der anarchistischen Bewegung auch von führenden Theoretiker*innen der Bewegung immer wieder scharf als „Anarcho-Bolschewismus” diffamiert. In Deutschland ist das Konzept in der Form ja nun auch etwas Neues, da es abseits der anarchosyndikalistischen FAU ja immer nur sehr begrenzte anarchistische Organisierungstendenzen gab. Viele Anarchist*innen finden und fanden sich eher in autonomen Kleingruppen oder Hausprojekten zusammen. Wie sind denn da in der gegenwärtigen Debatte die Rückmeldungen aus der Bewegung auf eure Initiative?
Die Plattform: Aufgrund der historischen aber auch aktuellen Diffamierungen gegen den Plattformismus haben wir eigentlich mit deutlich mehr Gegenwind gerechnet. Natürlich bekommen wir einiges an Kritik ab, aber das meiste ist solidarischer Natur. Generell ist es so, dass unser Ansatz in der anarchistischen Bewegung gerade weite Kreise zieht. Wir haben das bereits im Vorfeld vermutet. Aufgrund des eher kontroversen Vorschlags, aber auch, weil wir ihn sehr ambitioniert und groß angekündigt hatten und in die Debatte bringen. Um so erfreulicher ist es, dass wir neben der vielen, für uns sehr wichtigen, solidarischen Kritik auch unheimlich viel Zuspruch erhalten. Die Allermeisten stimmen mit unserer Kritik an der Bewegung überein, auch wenn sie vielleicht nicht die gleichen Schlüsse daraus ziehen wie wir. Wir haben den Eindruck, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Bewegung genau einen solchen ernsthaften Ansatz, wie wir ihn vorschlagen, herbei gesehnt hat. Wir bewirken schon jetzt, dass es eine breite Diskussion innerhalb der Bewegung gibt und einzelne Genoss*innen, die sich bisher nicht organisiert haben, oder frustriert waren von bisherigen Erfahrungen, nun wieder Hoffnung schöpfen. Für uns ist es eine wirklich großartige Erfahrung, das so mitzuerleben und Teil eines gewissen Aufbruchs zu sein.
Jan [re:volt]: Um eure Idee zu verbreiten, macht ihr ja gerade eine bundesweite Infotour. Habt ihr da bislang den Eindruck, dass eure Idee auch abseits der üblichen anarchistischen Gruppierungen, etwa bei postautonomen Antifa-Gruppen, auf Anklang stößt? Wenn nein, wie erklärt ihr euch das?
Die Plattform: Dieser Effekt ist leider aktuell noch ziemlich begrenzt. Im Vorfeld haben wir uns schon gedacht, dass unser Ansatz auch interessant für z.B. frustrierte Kommunist*innen ist, die einer autoritären Organisierung abschwören wollen, aber bisher keine Alternative für sich gesehen haben. Das ist allerdings bislang noch nicht eingetreten. Die Diskussion läuft wirklich zum Großteil in der anarchistischen Bewegung ab, was sich auch bei den Teilnehmenden der Veranstaltungen niederschlägt. Woran das liegt? Vielleicht einfach generell daran, dass andere Teile der Linken oft Diskussionen und Anregungen, die aus der anarchistischen Bewegung kommen, eher ignorieren oder gar nicht erst mitbekommen. Wir werden sehen, was die Zukunft in dieser Frage bringt, wenn wir Stück für Stück präsenter werden. Ein Beginn ist ja vielleicht dieses Interview?
Jan [re:volt]: Ihr betreibt ja eine recht scharfe Abgrenzung zu anderen Teilen der Linken. Beispielhaft wenn ihr von „autoritären Organisierungen” sprecht. Da dürfte es ja einer breiteren Linken, oder auch „frustrierten Kommunist*innen” schwer fallen, sich bei euch wieder zu finden. Warum eine derart scharfe Abgrenzung? Zieht ihr damit nicht vielleicht unnötig Hürden in möglicher Bündnispolitik oder gegenüber möglichen Interessent*innen?
Die Plattform: Zunächst müssen wir anmerken, dass die Plattform nicht als Massenorganisation konzipiert ist. Uns ist bewusst, dass erhebliche Teile der anarchistischen Bewegung und noch größere Teile der übrigen Linken, sich nicht bei uns wieder finden werden; sondern eben nur ein gewisser Teil, den wir bewusst erreichen und ansprechen wollen. Das sind vor allem Menschen, welche sich in der inhaltlichen, strategischen, organisatorischen und praktischen Linie sehen, die wir aufgemacht haben. Wir ziehen diese „Hürden”, weil wir denken, dass ein einheitliches Vorgehen innerhalb einer Organisierung vor allem über geteilte Grundsätze und gemeinsame Vorstellungen funktioniert. Je breiter ein Ansatz inhaltlich und auf allen anderen Ebenen aufgestellt ist, desto schwieriger wird es werden, eine gemeinsam geteilte Linie oder Grundsätze zu verfolgen. Oder aber der kollektiv getroffene Grundsatz fällt schlussendlich so schwammig und beliebig aus, dass sich alle irgendwie damit abfinden können, aber niemand richtig dafür einstehen will. Wir denken auch, dass ein klares Profil unsererseits eher eine Stärke in der Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Bewegungen darstellt. Diejenigen, die sich mit uns freundschaftlich verbunden fühlen, wissen, woran sie bei uns sind. Andersherum gedacht, können wir klare Rahmen und Vorstellungen an eine Zusammenarbeit kommunizieren.
Soweit aber erstmal für unser eigenes Organisierungsverständnis. Wie sieht es nun aber mit der Bündnispolitik aus? Unsere Verbündeten, vor allem außerhalb der anarchistischen Bewegung, werden wir in Zukunft vor allem im praktischen Kampf finden. Unsere Motivation, sich in irgendwelchen linken Einheitsbündnissen den Arsch platt zu sitzen, um dann irgendwann einen für alle Seiten total verwässerten Minimalkonsens zu erreichen, ist relativ gering. Vielmehr werden wir mit allen nicht-autoritären Ansätzen, auf die wir in den sozialen Bewegungen treffen, ehrlich und auf Augenhöhe zusammen kämpfen. Aus solchen praktischen Verbindungen des Kampfes kann sich dann sicherlich durchaus auch mehr ergeben. Denjenigen aber, welche in sozialen Bewegungen agieren, um die „Schafsherde” ihrer jeweiligen Partei oder Organisation zu vergrößern, die versuchen soziale Bewegung in autoritärer Weise zu beeinflussen oder gar zu übernehmen, gilt unser erbitterter Widerstand. Das gilt unabhängig von der Weltanschauung. Leider finden sich im linken Spektrum eine Vielzahl an Gruppierungen und Parteien wieder, welche nicht an der Selbstorganisation der Massen innerhalb der Gesellschaft und der sozialen Bewegungen interessiert sind, sondern an der Unterordnung eben dieser unter ein oftmals obskures Programm der Herrschaft. Wir haben also kein großes Interesse an klassischer Bündnisarbeit. Wir wollen für unsere gemeinsamen Interessen als lohnabhängige Klasse zusammen kämpfen - innerhalb von sozialen Bewegungen, und auch über Unterschiede hinweg.
Jan [re:volt]: Eure Initiative gründet sich ja nun vor dem Hintergrund sich verschärfender gesellschaftlicher Verhältnisse. In eurem Gründungsdokument habt ihr dem gesellschaftlichen Rechtsruck ein eigenes Kapitel gewidmet. In diesem macht ihr unter anderem wachsende soziale Probleme, einen aktivierten Rassismus anhand der Flüchtlingsfrage und auch einen wachsenden Legitimitätsverlust des politischen Systems als mögliche Hauptursachen aus. Welche praktischen Konsequenzen zieht ihr daraus?
Die Plattform: Zum einen formulieren wir eine klare und konkrete Analyse der politischen Ökonomie, die eine Analyse der Weltmarktkonkurrenz und der daraus erwachsenden wirtschaftlichen Ungleichheit einschließt. Wir werden versuchen, diese Analyse einem immer breiteren „Publikum” zukommen zu lassen, um so Bewusstsein für das falsche „Jetzt” und die Klasse, das heißt Klassenbewusstsein zu gewinnen. Das ist für uns eine der Grundvoraussetzungen für gesellschaftliche Veränderung. Der grassierende Rassismus ist aus unserer Sicht da ähnlich zu behandeln. Wer über Klassenbewusstsein verfügt, ist weniger empfänglich für menschenfeindliche Ideologien. Personen, denen grundlegende Systematiken bewusst sind, zeigen sich immunisierter gegen den rassistischen Wahn, gegen die Suche nach „Sündenböcken” in Form von vemeintlich „Fremden” oder „Anderen”.
Der Aspekt des zunehmenden Vertrauensverlusts in das Bestehende wirft unserer Meinung nach zentral die Frage auf: Wendet sich dieser reaktionär oder progressiv? Erstere Wendung gilt es zu bekämpfen, letztere gilt es zu unterstützen. Hierzu zählt zum Beispiel die Unterstützung von konkreten sozialen Kämpfen. Vom Kiez über den Stadtteil, von der Stadt, bis in die Welt. Konkret sind das die Kämpfe von Lohnarbeiter*innen, von Mieter*innen, von Armut Bedrohten oder Betroffenen, oder auch von Menschen, welche von menschenfeindlichen Ideologien, wie Rassismus oder Antisemitismus betroffen sind. Kurzum: „Wir wollen da sein, wo es brennt!”
Anmerkungen:
[1] Eine anarchistische Richtung die sich auf den Text „Organisationsplattform der Allgemeinen Anarchistischen Union” beruft, der 1926 von einer Gruppe russischer Anarchist*innen im Exil veröffentlich wurde. Mit Blick auf die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit und organisatorische Schwäche der anarchistischen Bewegung wollte dieser Ansatz eine neue, verbindliche Organisierung der Bewegung erreichen. Grundlage dafür sollten theoretische und praktischer Einheit, kollektiver Verantwortung und eine förderalen Struktur sein.
[2] Der Begriff stammt aus dem Especifismo. einer Richtung des Anarchismus mit Schwerpunkt auf einer „spezifischen, anarchistischen Organisation”. Sie enstand ab 1956 in der „Federación Anarquista Uruguaya” und ist heute ein verbreitetes Organisationsmodell der anarchistischen Bewegung in Lateinamerika. Sie ähnelt dem Plattormismus in vielen Punkten. Ihre zentrale Taktik ist die Soziale Einmischung, die offene Beteiligung von Anarchist*innen an breiten sozialen Bewegungen und Klassenkämpfen. Im Gegensatz etwa zum trotzkistischen Entrismus, geht es nicht darum eine Avantgarde- oder Führungsrolle einzunehmen, sondern im Gegensatz dazu revolutionäre Positionen transparent zu kommunizieren und als Antikörper der Bewegungen gegen autoritäre Vereinnahmung zu dienen.