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Wir sind keine Konjunkturpuffer!

rota 3.jpg ROTA - Migrantische Selbstorganisation

Der Beitrag wurde eingesprochen von Maja Tschumi.



Mit dem Ausbruch der „Corona-Pandemie“ seit Anfang dieses Jahres und den entsprechenden politischen Maßnahmen hat sich die seit längerem schwelende Wirtschaftskrise konkretisiert und verschärft. Unlängst ist von einer globalen Rezession die Rede, deren Ausmaß jener der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gleicht und global bis zu 200 Millionen Arbeitsplätze zu vernichten droht.

In der Schweiz geht das Staatssekretariat für Wirtschaft von einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von etwa sieben Prozent aus. Einen derartigen Einbruch gab es das letzte Mal Mitte der 1970er Jahre während des „Erdölschocks“, in dessen Folge 340.000 hiesige Arbeitsplätze vernichtet wurden. Zum Großteil davon betroffen waren migrantische Arbeiter*innen, die sogenannten Saisoniers oder Gastarbeiter*innen und schweizerische Frauen*. 250.000 Gastarbeiter*innen mussten als sogenannte „Konjunkturpuffer“ die Schweiz verlassen, da ihnen die befristete Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wurde. Und die schweizerischen Frauen* wurden in die unbezahlte Hausarbeit zurück gedrängt.

Heute nimmt der Bundesrat – also die Bundesregierung der Schweiz – 65 Milliarden Franken in die Hand und versucht damit alle Spalten zu stopfen, die „der Virus“ ins Gefüge der Gesellschaft reißt, um die ökonomischen und sozialen Folgen der derzeitigen Krise zu bekämpfen.

Ihr Krisenmanagement – unsere Forderungen!

Schweizweit sind bereits 40 Prozent der Arbeiter*innen in Kurzarbeit, während weiterhin 2.000 Arbeiter*innen täglich ihren Job verlieren. Die offizielle Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent vor der Pandemie könnte auf bis zu sieben Prozent ansteigen. Um einen allfälligen Einkommensverlust auszugleichen, kann teilweise Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend gemacht werden, doch das gilt lange nicht für alle. Die Explosion der Anträge für Sozialhilfe verdeutlichen das: Die Zahl der Neuanmeldungen hat sich in der Deutschschweiz insgesamt vervierfacht. Besonders betroffen sind Arbeiter*innen in prekären Arbeitsverhältnissen wie Stundenlöhner*innen und Teilzeitangestellte, Alleinerziehende, Working Poor, aber auch Selbstständigerwerbende. Derweil halten sich migrantische Menschen ohne Arbeitslosenversicherung (ALV) mit der Anmeldung bei den Sozialwerken zurück, weil der Bezug von Sozialhilfe durch eine Reihe von Gesetzesrevisionen eine negative Auswirkung auf den Aufenthaltsstatus hat. Die Folge ist, dass Migrant*innen oft in noch prekärere Arbeits- und Lebensverhältnisse abdriften und effektiv zu Tagelöhnern werden, die von der Hand in den Mund leben.

  1. Deshalb ist es jetzt in der Krise von größter Dringlichkeit, diese negative Kopplung zwischen Sozialhilfebezug und Aufenthaltsrecht aufzuheben und eine weitere Verelendung der untersten Schichten der Arbeiter*innenklasse zu verhindern!

Teil des Maßnahmenpaketes des Bundesrates ist es, der ALV genügend Geld zur Verfügung zu stellen, um Kurzarbeitsentschädigung (KAE) auszahlen zu können. Das ist sehr wichtig. Nur ist dieses Geld eigentlich für die 80-prozentige Lohnfortzahlung der Arbeiter*innen gedacht, die aufgrund der Maßnahmen nicht oder nur reduziert arbeiten können und nicht dafür, dass Firmen, die diese Gelder beantragen, weiterhin Dividenden auszahlen können – was sie aber faktisch tun!

  1. Deshalb braucht es ein Verbot von Dividendenzahlungen für diejenigen Firmen, die Ersatzgelder für Arbeiter*innen von der ALV beziehen!

Außerdem muss gewährleistet werden, dass diese Gelder dort hinfließen, wo es wirklich benötigt wird. Das Problem ist einerseits, dass viele Arbeitgeber*innen sich quer stellen, um keine Präzedenzfälle und Verbindlichkeiten für prekär angestellte Arbeiter*innen zu schaffen, obwohl die bundesrätliche Bestimmung den Anspruch dieser Schichten angesichts der Notlage explizit gewährleistet. Andererseits ist es teilweise für Spitzenverdiener*innen möglich, KAE zu beantragen, da der Verdienstausfall für Einkommen von bis zu 148.200 Franken gilt.

  1. Deshalb muss eine effektive Kontrollstelle geschaffen werden, an die sich Arbeiter*innen für den Fall der Verweigerung ihres Anspruchs seitens ihrer Arbeitgeber*innen wenden können! Die Einkommensgrenze, bis zu der ein Anspruch wegen Verdienstausfall besteht, muss herabgesetzt werden!

Das reduzierte Einkommen – wenn es ausgezahlt wird – bringt gering verdienende Arbeiter*innen in finanzielle Schwierigkeiten, da Mieten und Krankenversicherungsprämien weiterhin wie gewohnt gezahlt werden müssen. Bisher hat der Bundesrat diesbezüglich noch nicht interveniert und so die Renten der größten Immobilienbesitzer*innen der Schweiz garantiert.

  1. Deshalb muss der Bundesrat einen Mietzins- und Prämienerlass für Arbeiter*innen an der unteren Einkommensgrenze erwirken und ein minimales Einkommen für alle Menschen garantieren, die sich in der Schweiz befinden!

Aufgrund der Maßnahmen ist von einem Anstieg der Schuldlast im Staatshaushalt die Rede. Das stimmt. Nur muss klar sein, dass der Großteil dieser Schulden auf Liquiditäts- und Kreditgarantien für Großunternehmen und Banken entfällt, die davon hauptsächlich profitieren! Es kommt hinzu, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Anstieg der Verschuldungsquote in der Schweiz bis Ende 2021 um lediglich sechs Prozent rechnet, das heißt von einem Anstieg des Staatsdefizits von 40 Prozent auf 46 Prozent ausgeht, was in keinster Weise ein finanzielles Problem darstellt. Nur ein kleiner Teil der 65 Milliarden Franken, nämlich 14 Milliarden Franken, wird für die Finanzierung der ALV aufgewendet.

  1. Deshalb muss die Liquidität der ALV unbedingt weiterhin gesichert werden, da sie die juristisch festgelegte jährliche Verschuldungsgrenze von knapp acht Milliarden Franken schon erreicht hat – statt noch mehr Geld für Banken und Konzerne auszugeben!

Dann steht die Frage im Raum, wem diese Schuldenlast am Ende aufgebürdet werden wird. Höhere Lohnabgaben der Arbeiter*innen an die ALV seien unvermeidbar, sagen die Wirtschaftseliten und warnen gleichzeitig vor den fatalen Folgen allfälliger Steuererhöhungen. Stattdessen müsse man jetzt mutig genug sein, um die Diskussion der allgemeinen Erhöhung des Rentenalters „anzupacken“. Damit machen sie unmissverständlich klar, wen sie für die Begleichung der Ausgaben zur Kasse beten werden: Den Scherbenhaufen sollen wieder wir Arbeiter*innen zusammenzukehren!

Und noch zynischer wird es, wenn man sich anschaut, wie seit Wochen alle Wirtschaftsverbände und rechten Kräfte den Bundesrat mit der Forderung bombardieren, die Maßnahmen aufzuheben und zum gewohnten Alltag zurückzukehren. Bezahlen kann man also diesen Verbänden nach auch mit der Gesundheit der Arbeiter*innen. Um die rückläufigen Profite zu kompensieren, sollen Arbeiter*innen herhalten und zum Auslöser einer zweiten Infektionswelle gemacht werden, die die ohnehin massiv belastete öffentliche Gesundheitsstruktur vollends an die Wand fahren würde. Auch hier sollen wieder die Arbeiter*innen die Misere ausbaden.

  1. Deshalb braucht es eine vorsichtige und schrittweise Aufhebung des Lockdowns und eine Verteilung der Schuldenlast auf jene, die von der Krise profitieren!

Dadurch, dass sich das Parlament zu Beginn der Pandemie in der Schweiz Mitte März selbst in den Lockdown geschickt hat und es den Kommissionen verboten wurde, zu tagen, regiert der Bundesrat seit nun schon sieben Wochen per Dekret. Die einzigen Kräfte, die ihn derzeit maßgeblich beeinflussen können, sind die Lobbyisten der Wirtschaftsverbände. So hat nun also der Bundesrat eine zügige Aufhebung des Lockdowns entschlossen und riskiert damit eine zweite Imfektionswelle. Im schlimmsten Fall wird diese zu einem neuen Lockdown und zu noch tiefgreifenderen ökonomischen und sozialen Verschärfungen führen, als der jetzige. Wenn es um die Wurst geht, dann steht auch in der Schweiz der Kapitalismus über der Demokratie.

  1. Deshalb muss das Parlament wieder tagen! Der maßlosen Lobbypolitik muss im Sinne der Demokratie Einhalt geboten werden!

Im Rahmen der Zweiten Phase der Lockerung wurde am 29. April auch die Grenze für den Familiennachzug von EU-Bürgern wieder geöffnet – nicht aber für „Angehörige von Drittstaaten“. Außerdem bleiben die Schengengrenzen zu, womit es im Moment keine Möglichkeit gibt, Asyl in der Schweiz zu beantragen. Man kann die Ungleichheit in dieser Situation also schlicht auch dadurch verschärfen, indem einfach nichts getan wird!

  1. Darum müssen wir die Situation der ohnehin entrechteten Menschen mit besonders kritischem Blick prüfen und ihre Ungleichbehandlung bekämpfen!

Nicht auf unserem Rücken!

„Gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“, heißt es in der Präambel der Verfassung der Schweiz. Wir machen uns nichts vor, denn angesichts der herrschenden Krise ist es klarer denn je: Wir migrantischen Arbeiter*innen können als schwächstes Glied der Arbeiter*innenklasse von unserer Freiheit keinen Gebrauch machen, denn niemand braucht unsere Arbeitskraft.

Wir arbeiten in denjenigen Branchen, in denen die prekärsten Verhältnisse herrschen und die von der Krise am stärksten betroffen sind. Wir fallen als Erste. Arbeitslosigkeit betrifft uns bis zu fünf Mal so stark wie nicht-migrantische Arbeiter*innen, weil wir oft die Arbeit verrichten, die sonst niemand unter den herrschenden Bedingungen verrichten will. Wir wissen, dass die Arbeitgeber*innen uns benutzen, um die Löhne, trotz der von Jahr zu Jahr steigenden Profite, zu drücken und niedriger zu halten, als sie eigentlich sein könnten und sollten. Wir wissen, dass sie uns Arbeiter*innen spalten und unseren migrantischen Teil als Abschreckung für den Rest benutzen, dass sie auf uns zeigen und sagen: „Da könnt ihr sehen, was aus euch wird, wenn ihr euch nicht fügt!“. Wir sind das Ende der Fahnenstange: Unsere Sozialrechte sind eingeschränkt, und erst recht unsere politischen Rechte; heute müssen wir mehr denn je um unser Aufenthaltsrecht bangen.

Und was ist mit den tausenden illegalen Arbeiter*innen, die auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt effektiv ihren Platz haben, die unter den schlechtesten Bedingungen arbeiten, aber keinen Arbeitsvertrag bekommen und keinen ordentlichen Aufenthalt beantragen können? Was ist mit den vielen illegalisierten migrantischen Arbeiterinnen in den Privathaushalten, die Betreuungsarbeit unter prekärsten Umständen leisten? Was ist mit dem Gesetz, dass gleiche Arbeit gleich entlohnt werden muss? Was passiert mit diesen Frauen*, deren ohnehin unsicheres Einkommen angesichts der Krise nun ganz und gar auf der Kippe steht?

Was ist mit den vielen Geflüchteten, die noch nicht einmal so frei sind, ihre Arbeitskraft unter normalen Verhältnissen verkaufen zu können? Sie werden zu Zeiten der Pandemie in den Kollektivunterkünften ihrem Schicksal überlassen, ohne dass auch nur im Ansatz für die hygienischen Minimalstandards gesorgt wäre.

Angesichts der herrschenden Lage sagen wir: Wir sind keine Konjunkturpuffer! Wir bezahlen die Kosten der Krise nicht, indem wir uns abschieben lassen, um die Arbeitslosenzahlen zu senken; indem wir auf unseren Lohn verzichten oder mit unserer Gesundheit herhalten! Wir Frauen* ziehen uns nicht wieder in die unentgeltliche Hausarbeit zurück, um den Arbeitsmarkt zu entlasten; wir stemmen die ganze Betreuungs- und Pflegearbeit nicht wieder allein! Wir entrechteten migrantischen Arbeiter*innen und Geflüchtete verharren nicht im Schatten der Illegalität, sondern fordern unsere legitimen Rechte!

Mit Brecht grüßen wir den Kampf aller Arbeiter*innen und sagen: „Unsere Herren, wer sie auch seien, sehen unsre Zwietracht gern. Denn solang sie uns entzweien, bleiben sie doch unsre Herrn“.