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„Unsere Lebensbedingungen müssen sich grundlegend ändern“

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„Die Gesundheit aller am Asylsystem beteiligten Personen hat oberste Priorität“, schreibt der schweizerische Bundesrat. Gleichzeitig soll aber „sichergestellt werden, dass die Kernfunktionen des Asylsystems aufrechterhalten und die Asyl- und Wegweisungsverfahren weiterhin durchgeführt werden können“. Damit positioniert sich die Schweiz – als Mitglied des Europarates – gegen den dringlichen Aufruf der Menschenrechtskommissarin, die Abschiebungen auszusetzen.

Von allen Asylzentren sind die allgemeinen Lebensverhältnisse in den sogenannten „Rückkehrzentren“ oder „Abschiebegefängnissen“ am prekärsten. Hier warten diejenigen Personen auf ihre Abschiebung, die einen negativen Entscheid auf ihren Asylantrag bekommen haben – die Prozesse dazu laufen teilweise jahrelang. Viele müssen auch in diesen Zentren sehr lange als entrechtete Personen ausharren, weil ihre Abschiebung zum Beispiel aufgrund nicht vorhandener „Rückführungsabkommen“ oder fehlender Identitätsdokumente nicht möglich ist. Dass die „oberste Priorität“, die der Bundesrat hier ausruft, nicht für alle gilt und uns letztlich damit nur noch deutlicher vor Augen führt, worin die „Kernfunktion“ des Asylsystems besteht, lässt sich anhand dieser Abschiebelager zeigen.

Unerträgliche Situation in denRückkehrzentren

Für die Verwaltung der Rückkehrzentren sind die kantonalen Behörden zuständig. Im Kanton Zürich erregt ein Fall im Abschiebelagers in Adliswil derzeit immer größere mediale Aufmerksamkeit: Eine Familie dort wurde bereits vor über zehn Tagen positiv auf COVID-19 getestet. Das drängte den sozialdemokratischen Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP) dazu, in seiner allgemeinen Pressemitteilung zur Lage der Asyleinrichtungen dazu Stellung zu beziehen. Seiner Aussage zufolge verhält es sich mit der Situation im Lager in Adliswil wie folgt: Die von einem Corona-Fall betroffene Familie in Adliswil sei „nach ärztlicher Abklärung umgehend isoliert“ worden. „Alle Bewohnerinnen und Bewohner“ hätten Zugang zu Desinfektionsmitteln und Seife, auch seien „(w)eitere Isolationsmöglichkeiten (…) eingerichtet“ worden. Und weiter: Im Kanton habe man alle erforderlichen Maßnahmen ergriffen – das bedeutet nach Aussagen des Sicherheitsdirektors, dass die Bewohnerinnen und Bewohner „laufend über die geltenden Maßnahmen informiert und im Umgang mit den Verhaltens- und Hygieneregeln des BAG [Bundesamt für Gesundheit, Anm. Red.] sensibilisiert“ werden. Zudem seien „(i)n allen kantonalen Zentren (…) Isolierzimmer für Verdachtsfälle und erkrankte Personen eingerichtet“ worden. Fehr resümiert zuversichtlich: „Die medizinische Betreuung der Bewohnerinnen und Bewohner durch die Hausärztinnen und Hausärzte ist auch in der aktuellen Situation uneingeschränkt gewährleistet.“ Auch die Regeln des Social distancing, so der Sicherheitsdirektor, könnten in den Rückkehrzentren „dank betrieblichen Anpassungen besser umgesetzt werden.“ Und weiter: „Damit die Bewohnerinnen und Bewohner die Unterkunft nicht mehr täglich zum Einkaufen verlassen müssen, ist in der Spezialunterkunft für vulnerable Personen und in mehreren Rückkehrzentren, so zum Beispiel in Adliswil, auf Catering-Betrieb umgestellt worden“. Und nicht zuletzt, die ökonomische Konsequenz, das Aussetzen der täglichen existenzsichernden Nothilfen: „Der gleichen Zielsetzung dient die Anpassung bei der Auszahlung von Nothilfe – diese erfolgt nicht mehr täglich, sondern neu einmal in der Woche.“

Inwiefern wurden diese Maßnahmen nun aber in den Lagern umgesetzt und welche Wirkung zeigen sie? Darüber haben wir – die migrantische Selbstorganisation ROTA – mit Mamado* aus Kurdistan gesprochen, der seit über einem Jahr im Rückkehrlager in Adliswil lebt.

„Unsere Lebensbedingungen müssen sich grundlegend ändern!“

Im Gespräch mit Mamado wird deutlich, dass fast keine der genannten Maßnahmen umgesetzt wurden. Im Gegenteil: Die Kommunikationsstrategie der Kantons- wie Bundesbehörden entpuppt sich als schlechter und manipulativer Versuch, die Inkompetenz der Verwaltungsstrukturen und die Realität der Zustände in diesen Lagern zu verdecken. Zudem erscheint das Verhalten der Behörden sehr willkürlich, da in anderen Asyleinrichtungen viele der genannten Vorkehrungen getroffen wurden.

Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass gerade die Bewohner*innen der Abschiebelager sich selbst und der Pandemie überlassen werden. Es handelt sich hier um jene Asylsuchende, die jegliche Grund- und Menschenrechte in der Schweiz verloren haben und denen damit unmissverständlich klar gemacht wird, dass ihr Recht auf Leben hier niemanden interessiert.

ROTA: Mamado, bei euch im Lager wohnt eine Familie*, die positiv auf COVID-19 getestet wurde. Was unternimmt die Lagerverwaltung?

Mamado: Die Verwaltung hat nicht wirklich viel unternommen. Die Familie wurde nicht isoliert oder in Quarantäne genommen. Sie benutzt weiterhin alle Kollektivräume und Sanitäranlagen, die wir auch benutzen. Die Familienmitglieder machen ihren Abwasch dort, wo alle ihn machen und holen die gelieferten Nahrungsmittel auch selbst dort ab, wo alle sie abholen. Effektiv teilen wir also die Räume mit ihnen. Wir können uns diesbezüglich nicht abgrenzen oder schützen.

Die betroffene Familie hat öffentlich in den Medien davon berichtet, dass sie krank und nicht unter Quarantäne gestellt worden sei. Es seien zwar mobile Duschen und Toiletten eigens für sie aufgestellt worden, aber diese sind weit vom Lager entfernt und für die Familie mit Kind nicht immer gut erreichbar. Tagsüber können sie diese mobilen Sanitäranlagen nutzen. Nachts aber ist es aufgrund der Dunkelheit und Krankheit schwieriger, vor allem auch für das Kind, weshalb sie hin und wieder die kollektiven Sanitäranlagen nutzen.

Wie sieht es mit der Versorgung von Hygieneutensilien und der Aufklärung zum Schutz vor Corona aus?

Die Küche ist generell sehr schmutzig. Allgemein wurde das Lager bisher weder gereinigt noch desinfiziert. Die Verwaltung hat uns keine Desinfektionsmittel zur Verfügung gestellt. Erst gestern wurden Flüssigseifen und Shampoos geliefert und verteilt. Davor sind wir selbst zum Roten Kreuz gegangen, wo wir dann Hygieneutensilien bekommen haben. Wir wurden bisher nicht über den Stand der Dinge zur Corona-Pandemie informiert. Bevor Mario Fehr von der Sozialdemokratischen Partei unser Abschiebelager besichtigte, wurden lediglich die vom BAG verteilten Hinweise zu den empfohlenen Hygienemaßnahmen aufgehängt – also, wie wir niesen und unsere Hände waschen sollen. Dazu kommt, dass sie uns dann gesagt haben: „Haltet euch an den Sicherheitsabstand von zwei Metern und verlasst eure Zimmer nicht“. Natürlich haben wir uns zuvor schon über das Internet selbst informiert und verfolgen die Nachrichten. Deshalb kannten wir diese Verhaltensregeln bereits, bevor sie die Poster aushingen. Aber abgesehen von den Postern gab es keine weiteren Informationen oder Materialien dazu.

Wie gehen die Bewohner*innen mit der Situation um?

Wir betrachten uns hier eigentlich als eine große Familie. Normalerweise ist es so, dass sich die anderen Familienmitglieder im Haus entsprechend verhalten, wenn ein Familienmitglied krank wird. Wir versuchen also, auf die Bedürfnisse der Erkrankten zu achten. Im Lager leben wir alle aber so eng zusammen und benutzen dieselben Räume: die Küche, die WCs und die Duschen. Die Korridore sind eng und sobald wir unsere Zimmer verlassen, begegnen wir uns ständig und können gewiss keine zwei Meter Distanz einhalten. Wir versuchen nun also auch, die notwendigen Maßnahmen so gut es geht einzuhalten, aber das reicht in keinster Weise aus. Man müsste etwas grundlegend an unseren Lebensbedingungen ändern, damit wir in der Lage wären, die Vorschriften einzuhalten.

Die alten und kranken Mitbewohner*innen, also die Risikogruppen, wurden ins Abschiebelager in Embrach gebracht. Das ist richtig so. Aber hier gibt es bis heute keine Quarantäneräume, obwohl wir eine infizierte Familie unter uns haben. Hinzu kommt, dass das Zimmer dieser Familie am Ende eines sehr engen Korridors liegt, über den man zehn Wohnräume erreicht. Die Familie bewegt sich ständig in diesem Korridor, sitzt draußen im Garten und begegnet uns an vielen Orten, und die Verwaltung tut so, als sei einfach nichts Bedenkenswertes daran. Wir brauchen hier Quarantäneräume.

Wie ist es mit dem Zugang zum Gesundheitssystem?

Niemand darf in die Praxis zu den Ärzten gehen, außer er oder sie weisen schwerste Krankheitssymptome auf. Meiner Frau zum Beispiel geht es seit einigen Tagen sehr schlecht. Ich habe die Verwaltung darum gebeten, dass sie die Arztpraxis aufsuchen darf oder ein Arzt gerufen wird. Sie haben nicht reagiert. Vorhin kam dann die Nachricht, dass sie vielleicht morgen zum Arzt gehen kann. Wir warten ab.

Obwohl die Verwaltung also weiß, dass es positive Fälle von Corona gibt und weitere Bewohner*innen Krankheitssymptome aufweisen, wird nichts unternommen?

Als COVID-19 bei der betreffenden Familie festgestellt wurde, haben wir der Verwaltung mehrmals gesagt, dass sie die notwendigen Maßnahmen umgehend ergreifen müssen. Die Familie wurde nicht daran gehindert, sich frei im Lager zu bewegen, noch sorgte man dafür, dass sie wenigstens Atemschutzmasken und Einweghandschuhe bekommen und benutzen, sobald sie die Kollektivräume betreten. Ihre Antwort auf unser Drängen war, dass sie nichts tun können und der Kanton und das Migrationsamt zuständig seien. Sie hätten die entsprechenden Stellen bereits kontaktiert, bisher aber noch keine Antwort erhalten.

Die Lagerverwaltung zieht sich auf die Position zurück, dass sie hier nur Angestellte seien und lediglich das ausführen, was ihnen aufgetragen wird. Und da ihnen diesbezüglich nichts aufgetragen worden sei, könnten sie an der Situation nichts ändern, ihnen seien die Hände gebunden. Kürzlich haben sie uns Folgendes gesagt: „Es handelt sich hier um eine globale Sache, um eine Pandemie, weshalb wir alle lernen müssen, diese Zustände auszuhalten.“ Was soll ich dazu noch sagen? Heute wurde eine weitere Familie positiv getestet. Wir haben alle Angst vor einer weiteren Ausbreitung im Lager. Es herrscht zunehmend große Unsicherheit zwischen den Menschen hier, weil wir überhaupt nicht wissen, wer das Virus schon in sich trägt und wer nicht. In einem Lager ist dies nochmal sehr viel schwerer zu ertragen.

Die Situation in den Lagern war ja bereits vor dem Ausbruch der Pandemie extrem prekär. Wir wissen, dass ihr als illegalisierte Personen ohne jegliches Aufenthaltsrecht durch eure schiere Anwesenheit gegen geltendes Gesetz verstoßt und immer wieder dafür bestraft werdet. Hat sich diesbezüglich etwas getan?

Seit dem Ausbruch der Pandemie kommt die Polizei nicht mehr ins Lager. Davor sind sie ständig gekommen, meist sehr früh am Morgen, um die Menschen vor den Augen ihrer Kinder festzunehmen und wegzubringen. Mir ist das schon zwei Mal passiert. Meine Frau haben sie auch schon mal mitgenommen. Wir haben drei Kinder, eines davon ist noch ein Säugling, weshalb ich die Polizei darum gebeten habe, dass sie mich statt meiner Frau mitnehmen. Sie haben dann meiner Frau Handschellen angelegt, meine Kinder haben geschrien und geweint. Ich konnte nichts machen. Das passiert hier so gut wie allen Bewohner*innen. Wir werden zwar wieder freigelassen und kommen auch wieder hierher, aber sie brummen uns hohe Geldstrafen auf für illegalen Aufenthalt. Meist mehrere tausend Franken, die natürlich niemand von uns hat. Das wiederholt sich ständig. Sie verfolgen damit das Ziel, uns so lange für unser fehlendes Recht, uns hier aufzuhalten, zu bestrafen, bis wir selber gehen. Unsere Anwälte wissen, dass es sich mit diesen Strafen so verhält. Aber weder können wir gehen noch können sie etwas dagegen tun.

Der Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP) hat gesagt, dass aufgrund der besonderen Lage fertige Mahlzeiten geliefert werden, damit die Bewohner*innen ihre Mahlzeiten nicht mehr in den Kollektivräumen zubereiten müssen. Dafür sei euch die tägliche Nothilfe von 8,50 Schweizer Franken gestrichen worden, weil ihr die ja jetzt nicht mehr nötig haben würdet. Was sagst du dazu?

Ich wurde mit der Verteilung der Essenlieferungen hier im Lager beauftragt. Ich sehe also, was das für Essen ist und was damit passiert. Das Meiste davon wird nicht verzehrt. Die Menschen hier kommen aus allen möglichen Ländern und jeder und jede hat religiöse und kulturelle Besonderheiten. Ihnen bekommt dieses Essen entweder nicht oder es verstößt gegen religiöse Essensregeln. Oder auch, weil sie dieses Essen nicht kennen, wird es oft nicht verzehrt. Dies führt dazu, dass wir trotz der Wichtigkeit, uns gerade jetzt gut und gesund zu ernähren, letztlich weniger Nahrung zu uns nehmen. Das kann unser Immunsystem schwächen und uns für COVID-19 anfälliger machen. Man muss uns die Möglichkeit und die Räume geben, uns selbst gut zu ernähren.

Aufgrund dieser Umstrukturierung habe ich seit Wochen kein Geld mehr von der Verwaltung bekommen. Das machen sie, damit wir nicht mehr einkaufen gehen. Da aber das Catering-Essen für uns nicht essbar ist, können wir im Moment nicht einmal mehr die Grundbedürfnisse unserer Kinder befriedigen.

Und wie steht es um deinen Asylantrag?

Meine Akte wurde geschlossen und seither hat sich nichts getan. Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, ob sie erneut geprüft wird oder nicht. Ich bin seit über einem Jahr schon in diesem Rückkehrzentrum. Sowohl das Migrationsamt als auch die Polizei, die mich immer wieder mal verhaftet, sagen mir, dass ich das Land verlassen soll. Ich kann aber nicht zurück in mein Land, weil ich dort politisch verfolgt werde und mich dort eine langjährige Gefängnisstrafe erwartet. Ich habe keine Chance auf einen Einspruch dort. Das Gerichtsurteil wurde letztinstanzlich bestätigt. Die Behörden hier interessiert aber nur, dass ich dieses Land verlassen soll.

[Stand: 03. April 2020]


* Am Montag, den 5. April erhielt Mamado [Name geändert; Anm. d. Aut.] ein positives COVID-19-Testergebnis. Damit sind es offiziell drei Familien, die in Adliswil am Virus erkrankt sind. Über das Wochenende wurde die zwei anderen infizierten Familien bereits in verschiedene Einrichtungen im Kanton Zürich verlegt und befinden sich in Quarantäne. Die Bewohner*innen des Abschiebelagers berichten allerdings von vielen weiteren Menschen mit entsprechenden Symptomen. Der Kanton und die Verwaltung habe trotz zahlreicher Hinweise und Protest der Bewohner*innen und der behandelnden Ärzt*innen viel zu spät reagiert, meint Markus Fritzsche, Arzt in Adliswil: „Ich gehe davon aus, dass etliche erkrankt sind. Wir verlieren wertvolle Zeit.“ Die Maßnahmen beschränken sich einzig darauf, die positiv diagnostizierten Personen zu verlegen, anstatt weitere Präventivmaßnahmen zu ergreifen und den Schutz der Bewohner*innen effektiv zu gewährleisten. Unter den Bewohner*innen befinden sich viele gesundheitlich geschwächte Personen, weshalb sowohl die zuständigen zivilen als auch staatlichen Verwaltungsinstanzen grob fahrlässig handeln. Die Stimmung im Lager selber ist niedergeschlagen, berichtet Mamado. Er sagt: „Jetzt brauchen sie niemanden mehr zu verlegen, wir sind sowieso schon alle infiziert. Jetzt zu verlegen bedeutet den Virus weiter zu verbreiten.“


ROTA ist ein 2019 in der Schweiz gegründetes Kollektiv, das ausschließlich aus Migrant*innen besteht. Es kämpft in eigenem Namen für die politischen, sozialen und kulturellen Rechte der Migrant*innen, die vor allem im Asylbereich oft inexistent sind. Das aktuelle Ziel von ROTA ist die Gründung einer Plattform, auf der sich Migrant*innen kollektiv über ihre spezifischen Probleme verständigen und eigene Lösungen formulieren und verfolgen. In Bezug auf die Situation in den Abschiebelagern hat ROTA eine klare Haltung: Die politischen und zivilen Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden. ROTA ist auch auf Facebook und Twitter erreichbar.