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Von den sozialen Netzwerken auf die Straße

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Beim Artikel handelt es sich um einen Beitrag zum diesjährigen RC3-Kongress, ausgerichtet vom Chaos Computer Club (CCC). Veröffentlicht wird es in Kooperation mit dem linksradikalen Cyper-Kollektiv Vizak.

Die Massenbewegung der Frauen in Mexiko ist eine Bewegung, die sich aus Arbeiterinnen, Studentinnen, jungen und älteren Frauen, Betroffenen von geschlechtsbezogener Gewalt oder Angehörigen gewaltsam verschleppter oder ermordeter Frauen zusammensetzt. Sie hat trotz der Vielzahl verschiedener Motivationen ein gemeinsames Anliegen. Es handelt sich um eine Bewegung von unten, die sich aufgrund von Marginalisierung und der schieren Überlebensnotwendigkeit herausgebildet hat. Sie entsteht in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem eine der Haupttodesursachen von Frauen die Tatsache ist, dass sie Frauen sind. Sie entsteht in einem Land, in dem sich geschlechtsbezogene Gewalt darin ausdrückt, dass täglich zehn bis zwölf Frauen von zehn bis zwölf Männern ermordet werden. In der Mehrheit der Fälle werden die Frauen von Männern ermordet, zu denen sie zuvor eine persönliche Beziehung pflegten. Die Opfer werden misshandelt und verstümmelt oder verpackt in schwarzen Mülltüten an Straßenrändern aufgefunden – wenn sie überhaupt aufgefunden werden.

Auch wenn diese brutale Form der Gewalt keinen Unterschied zwischen gesellschaftlichen Klassen macht, fällt doch auf, dass die Mehrheit der Ermordeten aus der ArbeiterInnenklasse kommt. Das ist kein Zufall. Diese Klasse ist besonders von einer geringen sozialen Absicherung betroffen sowie von unzureichendem Zugang zu Bildung, zu sexueller und/oder geschlechtlicher Selbstbestimmung, zu sozialer Mobilität, kulturellem Kapital und ökonomischen Möglichkeiten. Diese ökonomische und politische Marginalisierung spielt bei der Normalisierung und Unsichtbarmachung systematischer Gewalt gegen Frauen eine zentrale Rolle.

Die heutige feministische Bewegung in Mexiko, die sich gegen die systematische Ermordung von Frauen wendet, ist eine heterogene Bewegung, die nicht von einzelnen politischen Akteuren (Parteien oder Organisationen) gelenkt wird. Vielmehr handelt es sich um eine spontane, massenhafte Bewegung ohne politische Führerinnen, deren Wut sich an den zahlreichen und immer neuen Mordfällen entzündet. Nachrichten von Mordfällen verbreiten sich inzwischen viral in den sozialen Netzwerken, vor allem aber über Facebook und Twitter.

Die Politisierung ist die Straße

Einerseits kann eine starke Aktivität der Bewegung an den weiterführenden Schulen und Universitäten festgestellt werden. Die Schülerinnen und Studentinnen organisieren sich dort vor allem gegen die institutionalisierte Straffreiheit gegenüber Sexualstraftätern im unmittelbaren sozialen Umfeld, wie zum Beispiel Klassenkameraden, Lehrern und Professoren. Die feministische Schülerinnen- und Studentinnenbewegung spielte eine wichtige Rolle bei größeren Demonstrationen, indem sie Betroffene mit einem Schutz-Netzwerk, aber auch im politischen Kampf unterstützte. Es muss sich vergegenwärtigt werden, dass es ein großer Beitrag ist, unter den erschwerten Bedingungen im Schul- und Universitätsbetrieb gegen sexuelle Gewalt anzukämpfen. Denn die Täter unter den Lehrkräften werden allzu oft unter dem Vorwand der „Wahrung des Rufs“ der Bildungsanstalt geschützt.

Andererseits erleben wir einen Aufschwung bei Gründungen feministischer Kollektive und zwar nicht nur in den Städten, sondern auch in ländlichen Regionen. In diesen kleinen, selbstorganisierten Gruppen aktivistischer Frauen werden vor allem Bildungsprogramme organisiert, in denen Expertinnen zum Beispiel online via Stream über feministische Themen informieren. Sie erfüllen damit die Pflicht zur Information über Staatsbürgerinnenrechte, die der mexikanische Staat nicht zu erfüllen in der Lage ist. Es sind unter anderem diese Orte und Formate der Information, durch die Interessierte Zugang zu feministischer Theorie erhalten.

Trotzdem erfolgt die Politisierung in erster Linie auf der Straße und am Küchentisch, lange bevor Frauen Zugang zu feministischer Theorie erhalten. Es ist mexikanische Realität, dass nur ein kleiner Prozentsatz der weiblichen Bevölkerung Mexikos überhaupt Zugang zu höherer Schulbildung hat – sei es aufgrund ökonomischer Faktoren oder aufgrund patriarchaler Rollenbilder. Eine Mehrheit der Frauen wird damit der Möglichkeit beraubt, sich in den Bildungsinstitutionen theoretisch zu bilden, zu politisieren oder zu organisieren. Die meisten Frauen politisieren sich darum aus persönlicher Betroffenheit heraus und durch die aktive Teilnahme an Demonstrationen auf den Straßen. Diese Frauen eignen sich theoretische Konzepte, wie das des Patriarchats, der systematischen Gewalt an Frauen, sexueller und geschlechtlicher Selbstbestimmung, des Klassenkampfes und der Verbindung von Feminismus mit dem Kampf gegen den Kapitalismus sowohl autodidaktisch als auch in der Praxis an, wenn sie sich in Bewegung setzen.

Das Mordmotiv, eine Feministin zu sein

Es zeigen sich offensichtliche Unterschiede zwischen der deutschen und der mexikanischen feministischen Bewegung, die ihre Ursachen in den verschiedenen nationalen und politischen Kontexten haben. So sind die Universitäten der wichtigste Ausgangspunkt der Organisierung des deutschen Feminismus. Er mobilisiert sich, anders als der Feminismus in Mexiko, erst nachrangig auf den Straßen. Im deutschen gesellschaftlichen Kontext ist es möglich, eine feministische politische Position in der Öffentlichkeit zu beziehen, was in Mexiko nicht der Fall ist. Der Begriff „Feminismus“ ist in der mexikanischen Gesellschaft derart stigmatisiert, dass er oft mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Diese unmögliche Gleichsetzung steht hinter dem in Mexiko häufig zu hörenden, abwertenden Ausdruck „Feminazi“. Es ist leicht vorstellbar, dass es für Feministinnen in Mexiko sehr schwer ist, sich überhaupt öffentlich artikulieren zu können, ohne unmittelbar danach von Todesdrohungen, politischer Verfolgung und Ermordung bedroht zu sein.

Beispielhaft dafür ist der Fall von Leticia Sánchez Méndez, einer indigenen Frau des Volkes der Tzeltal. Méndez demonstrierte vergangenen September mit einem Transparent in ihrem Heimatort Chilón im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas gegen den Frauenmord an einer Minderjährigen. Die Folge war, dass sie Opfer von Cyber-Mobbing wurde: Sie wurde öffentlich gedemütigt und mit dem Tode bedroht; und zwar von lokalen mexikanischen Regierungsinstitutionen, die ihr vorwarfen, der Regierung „Schande zu bereiten“ und der „Rolle als Frau“ zuwiderzuhandeln. Es war das erste Mal, dass sich eine Frau des Volkes der Tzeltal im Landkreis Chilón öffentlich gegen Frauenmorde aussprach. Sie hat damit einen sehr mutigen und wichtigen Schritt gemacht.

Erfolge werden erkämpft

Die jüngere Protestwelle weitete sich nicht nur in Mexiko-Stadt, sondern auch auf hunderten weitere Städten landesweit aus und verbreitete eine Welle der Hoffnung. Angesichts der anhaltenden Straflosigkeit gegenüber Frauenmördern war neben Demonstrationen auch die Besetzung von Regierungsgebäuden eine an verschiedenen Orten wiederkehrende Konstante. Auch wenn die Bewegung derzeit leider noch weit entfernt davon ist, weitreichende juristische Maßnahmen zum Schutz des Lebens von Frauen und Kindern zu erkämpfen, konnten durch den Druck auf den Straßen und den sozialen Netzwerken Initiativen zu Gesetzesentwürfen erkämpft werden.

Ein Beispiel ist der Gesetzesentwurf „Ley Ingrid“. Dieser soll das Verbreiten von Frauenmord-Fotos durch Beamte der staatlichen Polizeikräfte verbieten, um die Würde der Opfer und der Angehörigen von Frauenmorden zu schützen. Ein anderes Beispiel ist das „Ley Olimpia“, das bereits landesweit verabschiedet wurde. Es zielt auf die Bestrafung von Verbreitung oder Vertrieb sexueller Inhalte ohne Erlaubnis durch die beteiligten Personen. Ein weiterer Fortschritt ist die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im südmexikanischen Bundesstaat Oaxaca. Bedenkt man, dass Oaxaca der zweitärmste Bundesstaat Mexikos ist, wo die dritthäufigste Todesursache von Frauen die heimliche Abtreibung ist, wird die Bedeutung dieses Gesetzes deutlich.

Die feministische Bewegung gibt den mexikanischen Frauen die Möglichkeit, für ein Leben ohne Gewalt zu kämpfen. Darum ist es kein Zufall, dass sich immer mehr Frauen der Bewegung anschließen, die selbst von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, die beinahe Opfer eines Mordfalls wurden oder eine Freundin/Angehörige einer Verschwundenen und/oder Ermordeten sind. Der Feminismus auf den Straßen ist eine energische, notwendige und mutige Antwort auf all diese Geschichten.