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Ein Brief aus Italien

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Die Verbreitung des Coronavirus konfrontiert uns mit einem bisher noch nie dagewesenen Szenario. Obwohl einige Regierungen, insbesondere die USA, die Ernsthaftigkeit der Bedrohung immer noch unterschätzen, hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das Covid-19 vor einigen Tagen offiziell zur Pandemie erklärt; immer mehr Regierungen beginnen, das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen.

Italien ist, was Ansteckung und Tote angeht, das am zweitschlimmsten betroffene Land nach China, mit knapp 27.980 bestätigten Fällen und über 2.158 Todesfällen (Stand 17.3.2020) – Tendenz steigend. Italien kann somit als Testfall dafür angesehen werden, wie das Virus andere Länder im Norden der Welt treffen könnte. Die Situation entwickelt sich sehr schnell und sorgt für viel Verwirrung. Wir denken deshalb, es macht Sinn, ein paar kurze Überlegungen zu einigen Aspekten dieser Krise zu teilen: die staatliche Antwort auf die Verbreitung des Virus; die Maßnahmen der Regierung; die sich daraus ergebenden sozialen Kämpfe; unsere Organisierung unter den sich veränderten und stets verändernden Umständen.

Covid-19 ist ein neuer Virus – die Expert*innen haben sich daher Zeit genommen, über die Art und Weise zu entscheiden, an ihn heranzutreten. Die dadurch verursachte Verwirrung, gepaart mit der Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der ungeprüfte Informationen in der heutigen Welt verbreitet werden, führt dazu, dass eine Fülle unterschiedlicher und oft widersprüchlicher Ratschläge und Analysen angeboten werden. Bis vor einer Woche definierten einige prominente Persönlichkeiten, darunter auch Politiker*innen, die Erkrankung schlicht als eine schwere Grippe, die nur alte Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten betrifft. Inzwischen ist jedoch die Ernsthaftigkeit von Covid-19 für jede*n in Italien klar geworden. Covid-19 hat das italienische Gesundheitssystem in die Knie gezwungen.

Dafür gibt es drei Hauptgründe: Erstens, das Virus breitet sich tatsächlich effektiv und schnell aus; Zweitens, wenn Menschen ernsthaft erkranken, müssen sie wochenlang in Intensivstationen gepflegt werden; Drittens, die Kürzungen und Sparmaßnahmen der letzten Jahrzehnte haben die Kapazität des öffentlichen Gesundheitssystems ausgehöhlt, das sonst weitaus besser hätte auf die Krise antworten können. Obwohl das Gesundheitssystem in einigen Regionen des Nordens in vielerlei Hinsicht für europäische Verhältnisse gut ist, hat die Tatsache, dass das System auf regionaler Ebene verwaltet wird, große landesinterne Unterschiede produziert. Bisher wurde erkannt, dass das einzige wirksame Mittel zur Eindämmung der Ansteckung darin besteht, den Kontakt zwischen den Menschen zu begrenzen. Aus diesem Grund haben die betroffenen Länder beschlossen, bestimmte Gebiete oder, im Falle Italiens, das ganze Land vorübergehend zur Sperrzone zu deklarieren.

Die unterschiedlichen Reaktionen der Regierungen auf das Virus spiegeln das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der jeweiligen Länder wider. Im Falle Italiens hat die Regierung einige drastische Maßnahmen ergriffen; obwohl schon früher viel mehr hätte getan werden können und sollen. Insbesondere hat die italienische Regierung versucht, eine Balance zu finden zwischen der wachsenden Bedrohung für die öffentliche Gesundheit auf der einen Seite und den Interessen des Kapitals auf der anderen Seite. Dies hat allzu oft zu Regierungsentscheidungen geführt, die zweiterem Vorrang einräumen und somit Menschen in Gefahr bringen.

Italiens Umgang mit der Krise

Am 4. März erklärte Italien die Schließung der am stärksten betroffenen Gebiete im Norden und verbot unnötige Reisen. Die Einzelheiten der Verordnung wurden den Medien zugespielt, bevor die Regierung die Möglichkeit hatte, sie offizielle anzukündigen. Die führte dazu, dass Hunderte von Menschen in die Bahnhöfe der Städte des Nordens strömten, in der Hoffnung, einen Zug zu erwischen, der sie aus den roten Zonen brachte. Viele Menschen reisten in dieser Nacht durch das Land und schmälerten somit die Wirkung der Sicherheitsmaßnahmen, da das Virus dadurch möglicherweise in neue Regionen gebracht wurde.

Am 9. März wurde die Verordnung dann auf das ganze Land ausgedehnt. Alle öffentlichen Versammlungen und unnötige Reisen sind verboten, Bars müssen um 18 Uhr schließen und jede*r, die*der sein Haus verlässt, musste ein Formular mit detaillierten Angaben über Wohnort, Arbeitsort und weiteren Erklärungen mit sich tragen. Die Schließung von Schulen und Universitäten wurde bis zum 3. April verlängert.

In der Nacht vom 11. März kündigte die Regierung die Schließung aller nicht wesentlichen Geschäfte an. Lebensmittelgeschäfte, Apotheken, Postämter, Zeitungshändler*innen und Tankstellen bleiben jedoch offen. Auf Druck der Confindustria, dem italienischen Unternehmensverband, wurden zudem viele produktive Tätigkeiten nicht in diese neue Verordnung integriert. Das bedeutet, dass Arbeiter*innen der Industrie, von Call Center, Logistikarbeiter*innen und viele Arbeiter*innen weiterer Sektoren weiterhin täglich zur Arbeit fahren müssen.

Diese letzte Verordnung hat zu einer Situation geführt, in der es den Menschen verboten ist, sich auf öffentlichen Plätzen zu versammeln und auf den Straßen zu spazieren (außer in Notfällen). Die Menschen werden gezwungen, zu Hause zu bleiben – gleichzeitig ist aber weiterhin ein beträchtlicher Teil der Arbeiter*innen noch in Fabriken zusammengepfercht; Menschen, die keine lebensnotwendigen Güter herstellen oder keine lebensnotwendigen Dienstleistungen anbieten.

Seit der Einführung dieser Verordnung gab es in vielen Lagerhäusern und Fabriken zahlreiche Meldungen von Verstößen gegen den gesundheitlichen Schutz der Arbeiter*innen. Am 9. März traten die Beschäftigten der FIAT-Fabrik im süditalienischen Pomigliano d'Arco bei Neapel in einen wilden Streik, um gegen die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen zu protestieren. Die Logistikarbeiter*innen eines Lagers des Unternehmens Bartolini in Caorso bei Piacenza im Norden und diejenigen eines TNT-Lagerhaus in Caserta (Süden) taten dasselbe. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Briefes gehen stündlich Berichte über Streiks ein, die große Produktionsstätten im ganzen Land betreffen (weitere Einzelheiten sind hier auf italienisch und hier auf deutsch zu finden). Die größte Basisgewerkschaft USB hat zu einem 32-stündigen Streik in allen nicht wesentlichen Sektoren aufgerufen, die großen Gewerkschaftsbünde hingegen haben mit der Regierung und der Vertreter*innen der Unternehmen ein gemeinsames Protokoll unterzeichnet, welches jedoch in keiner Weise den Forderungen nach gesundheitlichem und sozialem Schutz der kämpfenden Belegschaften entspricht.

In diesen letzten Wochen wurden auch die italienischen Gefängnisse zum Brennpunkt sozialer Proteste. Das italienische Gefängnissystem befindet sich seit langem in eine Krise: Veraltete Einrichtungen und eine massive Überbelegung bedeuten, dass Italiens Gefängnisse ständig gegen die geltenden Gesetze, Vorschriften und oft auch fundamentalen Menschenrechten verstoßen. Unter diesen Bedingungen lösten die staatlichen Restriktionen (unter anderem Besuchsverbot, Begrenzung der Anrufe an Familien und der Arbeitserlaubnis bis zum 31. Mai) landesweit Aufstände in den Gefängnissen aus. Vierzehn Menschen sind während dieser Revolten unter noch unklaren Umständen gestorben. Es wurde berichtet, dass ein Wärter in Vicenza positiv auf Covid-19 getestet wurde, und Familien berichteten von der Angst der Häftlinge, die nur begrenzten Zugang zu Informationen und Beratung haben. Wenn „der Grad der Zivilisation in einer Gesellschaft durch das Betreten ihrer Gefängnisse beurteilt werden kann“ (Dostojewski), dann geht es Italien nicht gut.

Die Regierung hat nun ein weiteres Paket von wirtschaftlichen Maßnahmen ankündigt. Es heißt, dies sieht die Unterbrechung der Zahlung von Hypotheken und die Ausweitung der Zahlung von Erwerbslosengelder vor. Es bleibt aber noch unklar, ob Maßnahmen für Selbständige, Arbeiter*innen mit Null-Stunden-Verträgen oder für diejenigen im informellen Sektor darin Platz finden. Die Regierung hat als Reaktion auf das Covid-19 25 Milliarden Euro für außerordentliche ökonomische Maßnahmen gesprochen, doch angesichts der Tatsache, dass Italiens Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs steht, ist es schwer vorstellbar, dass eine solche Summe eine signifikante Wirkung zeigen wird. Die EU hatte in ihrem Vorgehen Flexibilität gezeigt, doch schon am 12. März zog sich die Europäische Zentralbank von einer weiteren Unterstützung zurück und ließ die italienischen Anleiherenditen in die Höhe schnellen. Die Weltwirtschaft steuert auf eine schwere Rezession zu, Italien wird es wohl stärker als die meisten anderen Länder treffen.

Coronavirus und Mutualismus: Wie können wir uns gegenseitig unterstützen?

Wenn eine Krise eine von Ungleichheit geprägten Gesellschaft trifft, sind es immer die Schwachen, die am meisten darunter leiden: ältere Menschen, Arbeiter*innen, Migrant*innen, Frauen, Menschen mit bereits bestehenden Krankheiten. Als Potere al Popolo versuchen wir, die Isolation jeder und jedes einzelnen zu durchbrechen und Beziehungen der gegenseitigen Unterstützung und Solidarität zwischen den Menschen und Communities aufzubauen. In vielen Städten haben wir ein System gegenseitiger Hilfe für Menschen eingerichtet, die Unterstützung bei der täglichen Arbeit benötigen, etwa beim Einkaufen von Produkten des täglichen Bedarfs (unter sicheren Bedingungen).

Wir haben auch ein rotes Telefon eingerichtet, eine nationale Hotline also, um den von der Krise betroffenen Arbeiter*innen Beratungen unterschiedlichster Art zu bieten. Das rote Telefon wurde vor einigen Tagen aufgeschaltet, aber bereits am ersten Tag haben wir rund 70 Anrufe von Arbeiter*innen erhalten; von Arbeiter*innen, die gezwungen sind, unter unsicheren Bedingungen zu arbeiten, entlassen wurden oder im informellen Sektor arbeiten und daher riskieren, von den angekündigten Krisenmaßnahmen der Regierung ausgeschlossen zu werden. Mit den aus diesen Anrufen gesammelten Informationen können wir planen, welche Maßnahmen wir als Organisation ergreifen müssen und Forderungen an die Unternehmen und die Regierung formulieren. Alle Anrufe an das rote Telefon werden zunächst von einer kleinen Gruppe aktivistischer Jurist*innen entgegengenommen; anschließend werden die Arbeiter*innen mit den Aktivist*innen vor Ort zur weiteren Unterstützung in Kontakt gesetzt.

Bislang haben wir drei Schlüsselbereiche für die Intervention der gegenseitigen Hilfe identifiziert. Der erste Bereich ist der Logistiksektor: Wir sind mit Lagerarbeiter*innen von Amazon in Kontakt gekommen, die uns erklärt haben, dass sie aufgrund der gestiegenen Nachfrage mehr (dies ist der Tatsache geschuldet, dass die Menschen gezwungen sind, zu Hause zu bleiben und daher mehr Zeit für den Konsum haben) und unter Bedingungen arbeiten müssen, die nicht den vorgeschriebenen Sicherheitsmaßnahmen entsprechen. Der zweite Bereich sind die Call Center: diese Unternehmen haben sich geweigert, den Arbeiter*innen Heimarbeit zu gestatten, da die Kosten für die Anschaffung der notwendigen Technologie zu hoch seien; und so bleiben die Arbeiter*innen weiterhin in engen Büros zusammengepfercht. In beiden Fällen haben Anwält*innen eine formelle Meldung an die betreffenden Unternehmen geschickt und gefordert, dass die Sicherheitsmaßnahmen umgesetzt werden und alle Arbeiter*innen vom Zwang zu Überstunden befreit werden.

Der dritte Bereich betrifft die Saisonarbeiter*innen. In Italien gibt es eine große Zahl von Saisonarbeiter*innen, insbesondere in der Landwirtschaft und im Tourismus, aber auch in den Fabriken. Saisonarbeit ist eine Form der unsicheren und prekären Arbeit, weil die Unternehmen nicht verpflichtet sind, am Ende einer Saison und bei Vertragsende wieder die gleichen Arbeiter*innen anzustellen. Ihnen ist jedoch der Zugang zu Arbeitslosengeld garantiert (nicht alle Arbeiter*innen haben das Recht auf Arbeitslosengeld in Italien). Wir haben die Regierung und das Ministerium für soziale Sicherheit mit der Forderung angeschrieben, dass Saisonarbeiter*innen, die aufgrund der Krise in diesem Jahr nicht wieder eingestellt werden, für die gesamte Dauer dieser verlängerten Arbeitslosigkeit Leistungen gewährt werden.

Abgesehen von diesen drei konkreten Fällen, die Beispiele für die mögliche Umsetzung unmittelbarer Maßnahmen sind, fordern wir die Regierung auf, die Gehälter aller betroffenen Arbeiter*innen zu garantieren, einschließlich der selbständig Arbeitenden, derjenigen, die ohne gültigen Vertrag arbeiten und Arbeiter*innen der Gig-Economy. Wir fordern, dass jede*r, die*der seine Arbeit verloren hat, Arbeitslosenunterstützung erhält und dass jede*r, die*der nicht in der Lage ist, die Miete, die Hypothek oder Rechnungen zu bezahlen, ein Zahlungserlass gewährt wird.

Wir fordern zudem, dass die Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern eingestellt werden und den Arbeiter*innen die Lohnfortzahlung garantiert wird.

Schließlich fordern wir, dass der Staat massiv in das Gesundheitssystem investiert, mehr Gesundheitsarbeiter*innen mit unbefristeten Verträgen einstellt und die Produktion von Medikamenten und Gesundheitsgeräten unter öffentliche Kontrolle bringt. Wir fordern, dass die Regierung den Sparkurs umkehrt und den Europäischen Fiskalpakt aufhebt. Italien steht nun vor einer schweren Wirtschaftskrise; nur ein vollständiger Paradigmenwechsel mit enormen staatlichen Investitionen in die Wirtschaft und in öffentliche Dienste und die Schaffung von Arbeitsplätzen wird uns vor den schlimmsten Konsequenzen dieser Katastrophe bewahren.


Der Brief der Genoss*innen erschien zuerst auf der Webseite von von Potere Al Popolo. Er wurde auch in weitere Sprachen übersetzt. Wir haben den Text endredaktionell bearbeitet und aktualisiert.

Übersetzung: Mauricio Coppola und Evrim Muştu.