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Die schönste aller Utopien

man-at-the-crossroads.jpg DiegoRivera.org

Fangen wir dort an, wo’s wehtut. Die Chancen für eine linke Revolution stehen schlecht. Schon allein das Wort „Revolution“ auszusprechen, fällt schwer und fühlt sich – nach Jahrzehnten des neoliberalen Triumph- und linken Rückzugs – hohl und irgendwie pathetisch an: wie ein einsamer Kneipengast am Tresen, der an seiner Bierflasche nippt und nicht mehr merkt, dass diese schon seit Stunden leer ist. Es ist wahr: Die Linke, sie hat bessere Zeiten gesehen. Die guten alten Zeiten aber, von denen so gerne die Rede ist, auch sie hat es nie gegeben. Vielmehr leben wir in einer Epoche, in der die eklatantesten Widersprüche auf engstem Raum zusammenfallen. „In unseren Tagen“, so brachte Karl Marx die Erfahrung der Moderne auf den Punkt, „scheint jedes Ding mit seinem Gegenteil schwanger zu gehen“.

Dialektik gegen Rechts

Marx’ Sprache mag uns veraltet vorkommen, das dialektische Versprechen, das sie birgt, ist es nicht. Es taugt bestens als Motto für das Hier und Heute. Und sollte – bei aller Vor- und Umsicht, die der Wiederaufstieg rechter und faschistischer Kräfte verlangt – der Linken auch ein wenig Mut machen. Marx’ Dialektik lehrt uns, dass Ideologie (in diesem Fall: rechte und nationalistische Hetze) und Utopie (der Ausblick auf eine linke, klassenlose Gesellschaft) in gewisser Weise näher beisammen liegen als es an der Oberfläche der Gesellschaft oft den Anschein hat. Das klingt paradox und riecht verdächtig streng nach „Hufeisen-Theorie“ (dem liberalen Mythos, dass sich Rechtsextremismus und Linksradikalismus wie die Enden eines Hufeisens politisch annähern). Aus analytischer Sicht aber ist es wichtig, selbst so unliebsame Themen wie Nationalismus in ihrer ganzen historischen Tiefe zu durchdringen, anstatt sie als ideologische Oberflächenphänomene („die dummen AfD-Wähler halt“) abzutun.

Für die Linke geht es vielmehr darum, zu verstehen, dass der Aufstieg der Rechten Ausdruck tiefer liegender Kräfte ist, die keineswegs zwangsweise in rechte Bahnen fließen müssen. Das kann und darf natürlich nicht heißen, die Verwundbarkeit, aber auch Handlungsmacht, derjenigen, die unter rechter Gewalt am meisten leiden, als „zweitrangig“ abzutun. Ganz im Gegenteil: Genau darin – im Bestehen auf eine dezidiert gegen (Wohlstands-)Chauvinismus ausgerichtete feministische, antirassistische, LGBTQI-positive Gegenbewegung – besteht der Gradmesser für den Erfolg einer Neuen Klassenpolitik. Ihre Aufgabe ist es, die dialektischen Vorzeichen vor der derzeitigen historischen Lage umzukehren: von einem rechts-reaktionären Minus hin zu einem links-revolutionären Plus. Von der Defensive in die Offensive.

Zwischen Theorie und Praxis

Das ist, wie so oft, leichter gesagt als getan. In Bezug auf die Praxis sind erste Schritte bereits erkennbar. Debatten über die politische und organisatorische Ausrichtung der (radikalen) Linken werden im Moment an vielen Orten mit Eifer und – begrüßenswerter und hoffentlich andauernder – Offenheit geführt. Prominent waren und sind Diskussionen über eine Neue Klassenpolitik (etwa in der Monatszeitschrift analyse & kritik oder in Ausgabe 47 von kritisch-lesen.de), über Transformation, Revolution und radikale Reformpolitik (auf dem Debattenblog der Interventionistischen Linken) oder über den anstehenden Frauen*streik und einen „offensiven Feminismus“. Nicht weniger aktuell sind die derzeit stattfindenden Debatten über das Erbe der Novemberrevolution und seiner Bedeutung für linke Politik heute. Bei alledem Nina Scholz zu Recht das fragile Verhältnis zwischen Theorie (denjenigen, die meist schreiben) und Praxis (denjenigen, die meist machen) in den Mittelpunkt. [1] Hier muss es zu mehr Überschneidungen, Austausch und gegenseitigem Verständnis kommen. Das ist das eine.

Das andere – und hier kommt dann doch wieder etwas Theorie ins Spiel – ist die Frage, welche tieferen strukturellen und historischen Bedingungen der Umsetzung einer „linken Politik der Offensive“ im Wege stehen. In der Vergangenheit stand – nicht immer, aber doch zumeist – eine lokale „Mikropolitik des Moments“ im Vordergrund, der es auf lange Sicht an Durchschlagskraft fehlte und deren Kräfteverschleiß auf Dauer nicht durchzuhalten war. In Scholz’ Worten: „Einzelne Events standen im Fokus, Hoffnungen waren oft an Spontanität von Massen, Riots, Mobs geknüpft. Die erhofften Erfolge blieben aus“.

Warum ist es der Linken in Westeuropa und Nordamerika in den vergangenen Jahren und vielleicht sogar Jahrzehnten leichter gefallen, sich auf eine Mikropolitik des Moments zu verlegen als auf eine Politik, die – was auch immer das genau heißt – aufs Ganze zielt? Oder, um zu unserem traurigen Kneipengast von oben zurückzukehren: Warum fällt es uns selbst als Linke so schwer, von Revolution zu sprechen, ohne dabei entweder in einen verklärend-nostalgischen oder aber in einen bitter-zynischen Zungenschlag zu verfallen?

Die Totalität des Kapitalismus

Ein erster Antwortversuch könnte darin bestehen, zu den Basics zurückzukehren, allen voran der Frage: Was ist eine Revolution eigentlich? Schlicht gesagt: Eine Revolution ist die Veränderung nicht nur einzelner oder gar mehrerer Teile der Gesellschaft, eine Revolution ist die Umwälzung der gesamten Gesellschaft und ihrer grundlegenden Funktionsweise selbst. Eine solche Umwälzung ist mehr als graue Theorie, sie ist fühl- und erlebbar und hinterlässt tiefe Spuren im Bewusstsein derer, die an ihr beteiligt sind. Elisée Reclus, Zeitzeuge und Beteiligter der Pariser Kommune von 1871, schilderte seine Eindrücke folgendermaßen:

„Überall wurde das Wort ‚Kommune’ im weitesten Sinne verstanden, als Hinweis auf eine neue Menschheit, die aus freien und gleichen Gefährtinnen besteht, ungeachtet der Existenz alter Grenzen, in Hilfe und Frieden miteinander verbunden von einem Ende der Welt bis zum anderen“ (Ross 2016: S. 5; Übers. FN). [2]

Reclus’ Worte entfalten noch heute ihre Wirkung und erinnern uns daran, dass das Verlangen nach einer anderen Welt, einer Welt der Solidarität und Verbundenheit anstatt des Egoismus und der Isolation, nicht verflogen ist. Ganz im Gegenteil: Dieses tiefste aller menschlichen Begehren ist noch immer da. Es drängt danach, zu Wirklichkeit zu werden. Zu einer Revolution, die nicht nur gedacht, sondern auch gemacht wurde. Zur schönsten aller Utopien.

Um in die Jetztzeit zurückkehren und zugleich einen Begriff zu rehabilitieren, der in der Linken mitunter auf heftige Abneigung stößt: Eine Revolution zielt auf die Veränderung der gesellschaftlichen Totalität. Wichtig dabei: Diese hat nichts Fixiertes, Starres und Unveränderliches an sich. Vielmehr formt der Kapitalismus ein dynamisches und offenes Ganzes, das stets im Wandel begriffen und von tiefen Ungleichheiten, Differenzen und Widersprüchen durchzogen ist: eine Totalität, die sich niemals in einer allumfassenden Vogelperspektive einfangen lässt, sondern der wir uns nur immer wieder und aus möglichst verschiedenen Blickwinkeln annähern können. In der marxistischen Theorietradition bezeichnet man einen solchen (notwendigerweise begrenzten) Blickwinkel als „Standpunkt“, der je nach Lage der Betrachter*innen ganz verschiedene Teilaspekte des Ganzen sichtbar werden lässt. Die Kulturwissenschaftlerin bell hooks etwa bezeichnet ihre Perspektive auf das große Ganze als ein Denken, Schreiben und Handeln von den „Rändern“ her. Ihre Worte erinnern uns daran, dass sich der Wille zu einer „ganzheitlichen“ Perspektive und das wichtige Feingefühl für Differenzen und Unterschiede keineswegs ausschließen:

„Am Rand zu stehen, bedeutet Teil des Ganzen zu sein, aber außerhalb des Machtzentrums. Die Eisenbahnschienen waren für uns schwarze Amerikanerinnen in einer Kleinstadt in Kentucky eine tägliche Erinnerung an unsere Marginalität. [...] Jenseits dieser Schienen lag eine Welt, in der wir als Dienstmädchen, als Hausmeisterinnen, als Prostituierte arbeiten konnten. [...] Unser Überleben hing davon ab, uns im Öffentlichen beständig über die Trennung von Rand und Zentrum bewusst zu sein und privat fortwährend die Bestätigung zu erfahren, dass wir ein unerlässlicher, ja lebensnotwendiger Teil des Ganzen waren“ (Übers. FN). [3]

Ebenso wenig funktioniert der Kapitalismus heute noch national (falls er das jemals tat), sondern längst global. Eines der deutlichsten Anzeichen dafür sind nicht zuletzt die Netzwerke der weltweiten Logistik, die Produkte wie von Geisterhand an unserer Türschwelle abliefern. Doch hinter jeder noch so banalen Bestellung, die wir bei Amazon, Ebay und Co. tätigen, tut sich ein komplexes, mehr oder weniger global koordiniertes Netzwerk aus menschlicher und maschineller Arbeit auf, von dem die allseits bekannte Paketübergabe an der Haustür nur den sichtbarsten aller Schritte darstellt. Der „Rest“ – die koordinierte Ausbeutung von Paketzusteller*innen oder Hafenarbeiter*innen, die meist schlimmen Arbeitsverhältnisse in weltweiten Distributionszentren, die rassialisierte und vergeschlechtlichte Arbeitsteilung globaler Lieferketten – bleibt weitgehend verborgen.

Wenn es sich also irgendwie komisch, ja fast falsch anfühlt, von Revolution zu sprechen, dann besteht der Grund dafür keineswegs darin, dass mit dem Begriff der Revolution etwas nicht stimmt. Tatsächlich wird er dringender gebraucht denn je. Was dieses Wort so schal schmecken lässt, ist vielmehr die Tatsache, dass das, worauf es sich notwendigerweise bezieht – die Totalität des gegenwärtig existierenden Kapitalismus – erstens niemals in seiner Gesamtheit sichtbar wird und, zweitens, in den vergangenen Jahrzehnten noch viel komplexer, vielschichtiger und unüberschaubarer geworden ist als etwa noch zu Marx’ Zeiten. Kurz gesagt: Wir können uns keine Revolution vorstellen, weil wir uns den Kapitalismus nicht vorstellen können. Das ist das grundlegende historische Dilemma, dem sich eine offensive Linke stellen muss.

Eine Ästhetik des globalen Widerstands

In diesem Dilemma, so der marxistische Literaturwissenschaftler Fredric Jameson, liegt eine der wichtigsten Aufgaben marxistischer Kunst- und Kulturproduktion. Sie besteht darin, das Weltsystem des Spätkapitalismus wieder in die natürliche Reichweite unserer (körperlich-biologisch begrenzten) Sinnesapparate zu rücken. Die Wortwahl ist kein Zufall. Jameson geht es nicht darum, dieses kapitalistische System intellektuell begreifbar zu machen. Das ist Aufgabe der Wissenschaft, allen voran „des“ Marxismus. Vielmehr geht es ihm darum, dieses kapitalistische Gesamtsystem unseren Sinnesorganen wieder zugänglich zu machen – und damit zugleich den Glauben an seine politische Umgestaltung und letztendliche Überwindung ein Stück weit zurückzugewinnen. Genau das ist der Auftrag an eine (zum Großteil noch zu entwickelnde) marxistische Ästhetik des Spätkapitalismus.

Diese Ästhetik – seien es Romane, Zeitschriften, Bilder, Poster, Filme, TV-Shows, Musikstücke oder Performances – müsste, entgegen aller Schwierigkeiten und Widersprüche, die ein solches Unterfangen zwangsweise mit sich bringt, versuchen, die individuellen Erfahrungswelten der Subjekte des Spätkapitalismus wieder mit der Totalität des Kapitalismus in Verbindung zu setzen. Wichtig ist dabei nicht zuletzt die Vielfalt, die eine solche Kulturproduktion auszeichnen würde. Eine 50-jährige Hausfrau aus Wuppertal erlebt den Spätkapitalismus (und seine Klassenherrschaft) aller Wahrscheinlichkeit nach anders als ein 15-jähriger Geflüchteter aus Eritrea. Die Kulturproduktionen, die ihre gelebten Alltagswelten je aufschlüsseln und sogleich in Verbindung mit breiteren kapitalistischen Prozessen setzen könnten, müssten folglich unterschiedlich konstruiert sein.

Will die Linke eine vermittelbare Zukunftsvision entwickeln und damit den Kampf gegen den Aufstieg der Rechten auch auf kulturellem Terrain aufnehmen, dann brauchen wir vielleicht nicht nur eine engere Verbindung zwischen Theorie und Praxis, nicht nur, wie Sebastian Friedrich sie etwa fordert, eine neue „Erzählung“ für die Gegenwart der Klassengesellschaft. Was wir ebenso brauchen, ist eine fühl- und erlebbare Kulturproduktion, die es einerseits mit den Widersprüchen des Spätkapitalismus aufnimmt, andererseits aber auch den breiten Massen zugänglich ist. Eine befreiende und beflügelnde Massenkultur im besten Sinne, die nicht nur den Kapitalismus, sondern auch das, was derzeit noch hinter ihm verborgen liegt, ein Stück weit sichtbarer macht.

Anmerkungen und Literatur

[1]: Scholz, Nina (2018): Neue Klassenpolitiken. Die Debatte und die realen Kämpfe gehören zusammen. In: Friedrich Sebastian/Redaktion analyse & kritik (Hg.): Neue Klassenpolitik. Linke Strategien gegen Rechtsruck und Neoliberalismus. Berlin, Bertz+Fischer.

[2] Ross, Kristin (2016): Communal Luxury. The political Imaginary of the Paris Commune. London, Verso.

[3] bell hooks (2004): Choosing the Margin as a Space of Radical Openess. In: Harding, Sandra (Hg.): The Feminist Standpoint Theory Reader. Routledge, London.

Titelbild: „Man at the Crossroads“ von Diego Rivera.

Eine etwas andere Version des Essays erschien in der aktuellen 50. Jubiläumsausgabe von kritisch-lesen.de am 15. Januar 2018. Die re:volt Redaktion schickt den Genoss_innen an dieser Stelle revolutionäre und solidarische Grüße!

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