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Die „Corona-Krise“ als Care-Krise

markus-spiske-C0koz3G1I4I-unsplash.jpg M. Spiske

Lange hat man von der ehemaligen revolt-Redakteurin Anja Klein nichts mehr gehört. Das hat einen nachvollziehbaren und nervigen Grund: Vor knapp zwei Jahren ist Anja Mama geworden – und scheitert seitdem, ebenso wie Millionen weitere Mütter in Deutschland, an der strukturellen Unvereinbarkeit von Familie und Beruf (oder in ihrem Fall: dem Studium und politischer Arbeit). Nun steht sie seit dieser Woche, ebenso wie alle anderen (berufstätigen) Erziehungsberechtigten in diesem Land vor einem massiven Problem. Denn: Die Kindertageseinrichtungen und Schulen sind geschlossen – und das für mindestens fünf Wochen!

Alles fällt aus: Das Kinderturnen, die Musikschule und der Besuch bei Oma und Opa am besten auch. Millionen von Kindern müssen ab spätestens Mitte der Woche privat betreut werden – Ausnahmen gibt es nur für Angehörige bestimmter „systemrelevanter“ Berufsgruppen. Diese Maßnahme sollen die Ansteckungsketten verzögern und die Wirtschaft möglichst wenig kosten. Das bedeutet für den absoluten Großteil der Mütter (Mütter, auch berufstätige, verbringen statistisch gesehen mehr Zeit mit Kindererziehung und werden gerade jetzt mehr damit verbringen), einen Arsch voll Arbeit damit zu haben, einen komplexen Not-Betreuungsmix zu organisieren – ohne Hilfe älterer Familienmitglieder, auf die sonst oft zurückgegriffen werden kann. Die Alternativen: nervtötende, anstrengende und unproduktive Tage im Home-Office (schon mal versucht, mit Kleinkind auf dem Schoß zu arbeiten?) oder eben unbezahlter Zwangs-Urlaub und existenzielle Nöte. Im allerbesten Fall findet sich eine halbwegs egalitäre Lösung innerhalb der Partnerschaft. Letzteres bleibt wohl Ausnahmefall. Aus feministischer Perspektive lässt sich sagen: Wir steuern einmal mehr auf eine Care-Krise zu. Und die Frauen* und Mütter werden am meisten darunter leiden. Aber es kann ihnen zumindest ansatzweise solidarisch geholfen werden.

All we care about

Zuerst ein bisschen Theorie dazu. Vor einigen Jahren hat vor allem die linke Bewegung hierzulande mehr oder weniger flächendeckend das Thema Care-Arbeit für sich entdeckt. Spätestens die Frauen*Streiks zum 8. März im vergangenen Jahr zeigten dann, dass Care-Arbeit auch im breiteren linken und öffentlichen Diskurs als Thema angekommen ist. Mit Care-Arbeit sind alle Arbeiten gemeint, die Hausarbeit, Betreuung, Pflege und Erziehung von Menschen (eben Fürsorge) umfassen. Care-Arbeit findet bezahlt statt (in den Dienstleistungsberufen, zum Beispiel als Erzieher*innen, Pflegekräfte) und unbezahlt (zu Hause oder ehrenamtlich). Care-Arbeit ist „weiblich“. Der absolute Großteil der im Care-Bereich Beschäftigten sind Frauen*. Diese Berufe sind schlechter bezahlt und abgesichert. Sie erfahren gesellschaftlich deutlich weniger Wertschätzung als Arbeiten, die mehrheitlich von Männern ausgeübt werden. Die Geschlechterforschung spricht hier auch von einer vergeschlechtlichten Segregation des Arbeitsmarktes. Der absolute Großteil der unbezahlt geleisteten und unsichtbar gemachten Care-Arbeit wird von Frauen* erbracht. Spätestens nach der Geburt des ersten Kindes tritt selbst in vorher mehr oder weniger egalitär geführten Partnerschaften das Phänomen der „Retraditionalisierung“ auf. Mit anderen Worten: Zugunsten des männlichen Familienernährers und seiner Karriere (und damit auch einer stabilen Familienfinanzierung) bezieht Mama Elterngeld. Sie bleibt zu Hause, wischt Baby-Popos sauber, kocht Brei und Papas Abendessen, putzt Klos und manchmal auch die Fenster. Alternativ lassen besserverdienende Frauen* diese Arbeiten von prekär beschäftigten Frauen* aus dem globalen Süden erledigen. Trotz dieser schon beträchtlichen Arbeitsbelastung lassen es sich immer weniger Frauen* nehmen, auch sehr früh nach der Geburt wieder in den Beruf einzusteigen. In Deutschland ist das Teilzeit-Modell nach kurzer Erwerbsunterbrechung das im Moment gängigste, um eine individuelle „Lösung“ für die Vereinbarkeit zu finden. Denn auch Teilzeitarbeit und Erwerbsunterbrechung sind „weiblich“ und gehen einher mit Nachteilen auf dem neoliberalen Arbeitsmarkt, ökonomischer und sozialer Abhängigkeit von dem Partner oder dem Jobcenter, der Rolle einer Zuverdienerin und Altersarmut.

Obgleich diese sozialen und ökonomischen Auswirkungen gerade sehr zugespitzt beobachtbar sind und diskutiert werden, sind sie im Grunde nichts wirklich Neues. Vorangestellt werden muss, dass sich die Situation von Frauen* und Müttern insgesamt durch Neoliberalismus und „aktivierenden Sozialstaat“ in den vergangenen Jahren massiv verschärft hat. Spätestens seit den 1980er Jahren untersucht die Frauen- beziehungsweise Geschlechterforschung die Phänomene des sozialen Wandels der Frauen* durch die Bildungsexpansion der 1960er und 1970er Jahre sowie den Einbezug in den Arbeitsmarkt bei gleichzeitiger Beibehaltung der traditionellen geschlechtlichen innerfamiliären Arbeitsteilung. Regina Becker-Schmidt und andere sprechen deshalb – angelehnt an marxistische Gesellschaftsanalysen – von der „doppelten Vergesellschaftung der Frau“. Im Fokus steht dabei der Einbezug der Frauen* in Familie und Beruf gleichzeitig. Die Frauenforschung stellt einen grundlegenden Wandel der subjektiven Haltung der Ehefrauen und Mütter zugunsten einer durchgängigen biografischen „Doppelorientierung“ auf Beruf und Familie fest. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Arbeitskraft von Frauen* wird im Kapitalismus doppelt ausgebeutet. Das kapitalistische System beruht darauf, dass die Frauen* den absoluten Großteil der gesamten Reproduktionsarbeit unterbezahlt oder gleich unbezahlt übernehmen. Männer mit Familie oder Freundin profitieren also auch strukturell davon, dass ihnen diese Arbeit abgenommen wird. Das kapitalistische Wirtschaftssystem braucht die weibliche Arbeitskraft als Fachkraft und für unbezahlte Care-Arbeit. Und der Staat beruht darauf, dass Familien unbezahlt Kinder produzieren, die dann später die Rente sichern. Das bürgerliche Ideal einer glücklichen, heilen Familie aus männlichem Familienernährer, fürsorgender Hausfrau und zwei wohlerzogenen Kindern ist nicht real und war es für einen großen Teil der Bevölkerung auch eigentlich nie. Und trotzdem lebt dieses Bild in der Vorstellung vieler Menschen, die damit einhergehende Ungleichstellung der Geschlechter wird – auch von einigen Frauen* selbst – als Normalität wahrgenommen.

Back to Corona-Business

Und was hat das jetzt mit Corona zu tun? Die aktuelle Krise wird zu einem großen Teil davon gekennzeichnet sein, dass weibliche Arbeitskraft – insbesondere in Form von Care-Arbeit – noch heftiger als zuvor ausgebeutet wird. Pflegekräfte litten schon vor Corona unter massiver Dauer-Überlastung, hervorgerufen durch das Kaputtsparen des Gesundheits- und Pflegesystems. Jetzt kann die Situation komplett eskalieren. Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Arbeits- und Tarifrechte von Pflegekräften in Deutschland im aktuellen Ausnahmezustand „zurechtgestutzt“ werden. Sie sind jetzt schon, mit einigen anderen „systemrelevanten“ Berufsgruppen, die Einzigen mit einem Recht (beziehungsweise einer Pflicht) auf Notkinderbetreuung. Viele pädagogische Fachkräfte sind auch in ihrem normalen Arbeitsalltag ständig umgeben von „Virenschleudern“ (zumeist Kindern) und haben dadurch generell hohe gesundheitliche Belastungen durch ihre Arbeit. Jetzt durften sie sich zunächst einige Wochen lang ohne Risikozuschlag dem Risiko einer unbemerkten Ansteckung ausliefern, nur um jetzt plötzlich vor vollendeten Tatsachen und Unsicherheiten zu stehen. Infizierte Kinder zeigen häufig wenig bis gar keine Symptome und sind dennoch hochansteckend. Unklar ist zum Beispiel aktuell noch vielen Erzieher*innen, ob sie früher oder später unbezahlten Urlaub nehmen müssen.

Kommen wir schlussendlich zu den vielen Millionen Kindern, die nun zu Hause betreut werden müssen; oder den Kranken und unter Quarantäne gesetzten, die zur „üblichen“ Tätigkeit pflegender Angehöriger dazu kommen. Wer wird das wohl alles leisten, und dafür die beruflichen Nachteile oder nächtliches Home-Office in Kauf nehmen? Ja, genau, Menschen wie Anja Klein werden das zum Beispiel tun. Die Mütter, die sie heute (zum letzten Mal) in der Kinderturn-Gruppe getroffen hat, werden es größtenteils tun. Und die Mütter aus den Krabbelgruppen-/Kita-/Grundschulklassen-/Spielplatz-Whatsapp-und-Facebook-Gruppen. Dort wird sich bereits informell über mögliche gegenseitige Betreuungshilfe ausgetauscht – aber auch diese werden nur sehr eingeschränkt möglich sein, zumal es kaum Freizeit- und Bewegungsmöglichkeiten gibt und die Wohnungen als Spielplätze nur bedingt herhalten. Und die alleinerziehende Mama wird es sowieso tun müssen. Die kommenden fünf Wochen werden zeigen, wie belastbar dieses Care-System noch ist. Eine Vermutung: Es wird kollabieren, an irgendeiner Stelle. Darauf müssen wir vorbereitet sein.

Feministische Nachbarschaftshilfe

Zum Schluss: Was könnte „man“ jetzt tun? Über linke Perspektiven insgesamt müssen wir uns dringend unterhalten, und unseren künftigen Kampf um eine andere Gesellschaft so gut wie möglich vorbereiten. Das wird in den nächsten Monaten sehr entscheidend sein. Aber auch da benötigt es alle Kräfte – eben auch diejenigen, die besonders von der Corona-Krise betroffen sind. Daher meine ich hiermit das Konkrete, Alltägliche: Zuerst einmal solche Initiativen verbreiten, die Risikogruppen oder „Unter-Quarantäne-Sitzenden“ Hilfe anbieten, wie es zwischenzeitlich schon sehr umfangreich passiert. Die kursierenden, selbstorganisierten Angebote nehmen derzeit meistens die Form von alltäglicher Hilfestellung an (zum Beispiel Einkäufe erledigen, Post einwerfen und so weiter). Aber es bleibt doch eine Lücke: Es wäre wünschenswert, wenn sich mehr politisch Aktive und Interessierte – abseits der sowieso schon am Limit laufenden Mütter mit ihren privaten Netzwerken – für Care-Arbeit interessieren würden, auch wenn der Frauen*Streik zum 8. März vorbei ist. Sich also für die Lage dieser Millionen Menschen, die in Deutschland mit Kindern oder Pflegebedürftigen leben, mal unabhängig vom politischen Kalender zu interessieren und konkrete Hilfe anzubieten. Was sich Anja Klein konkret wünschen würde? Dass wenigstens ein einziger (!) politisch linker Mensch (besser noch: ein männlicher linker Mensch) ihr wenigstens in dieser Situation einmal anbieten würde, die Kinderbetreuung zu übernehmen und sei es nur für einen Nachmittag oder eine Stunde. Das würde ihr ermöglichen, auch in solchen Krisenzeiten etwas Luft für politisches Engagement zu haben, statt wie zum Beispiel zum Verfassen dieses Texts, nachts am Computer sitzen zu müssen, zwischen „Kind ins Bett bringen“, „Abendessen!“, „Schnell noch Wäsche aufhängen“ und „Oh, Kind weint schon wieder“. Oder ihrer Arbeit, oder ihrem Studium, oder oder oder. Es wird den Müttern in eurer Umgebung vermutlich ziemlich schlecht gehen in den kommenden Wochen. Und zwar nicht, weil sie ihre Kinder nicht lieben und gerne mit ihnen Zeit verbringen. Sondern, weil sie viel zu wenige Rahmenbedingungen und strukturelle Sicherheiten an die Hand kriegen, um diese Krise zu lösen. Sie müssen die sich täglich zuspitzende Situation, soweit ist der Stand seitens der staatlichen Agenda, komplett alleine meistern. Und das wird gehörig schiefgehen. Es hilft also nichts, wir müssen uns auch auf uns selbst besinnen: Schaut euch um und werdet aktiv. Bietet einer Mutter in eurer Nachbarschaft Hilfe an [1]. Nutzt eure Kinderbetreuungs- oder Pflegeskills oder baut sie aus. Macht fantastische Online-Angebote für Kinder und Jugendliche. Integriert auch feministische Solidarität in euren Alltag!

Anmerkung:

[1] Um Infektionsketten zu verringern, solltet auch ihr mit möglichst wenig verschiedenen Kindern und Familien Kontakt haben. Es wird empfohlen, lieber regelmäßig der gleichen Familie in der Nachbarschaft Hilfe bei der Kinderbetreuung anzubieten, als öfters wechselnden.