Zum Inhalt springen

Über die Ästhetik des globalen Widerstands

Mapping Istanbul Julie Mehretu, Empirical Construction : Istanbul

In seinem kürzlich erschienenen Beitrag „Die schönste aller Utopien“ [1] setzt sich Fabian Namberger mit den Grundzügen marxistischer Kunst- und Kulturproduktion auseinander. Mit Verweis auf Fredric Jameson zeichnet er die Grundrisse einer „Ästhetik des globalen Widerstandes“ nach, die es vermag, „das Weltsystem des Spätkapitalismus wieder in die natürliche Reichweite unserer [...] Sinnesapparate zu rücken“. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der Totalität, argumentiert Namberger. Doch wie wird diese von einer marxistischen Kunst erfasst und wie analysieren Kritiker_innen eigentlich die zeitgenössische Kulturproduktion? Zwei ergänzende Thesen und einige Bemerkungen zu Nambergers lesenswertem Beitrag.

Fredric Jameson und das „Cognitive Mapping“

Die Suche nach einer neuen Ästhetik eröffnete Fredric Jameson vor langer Zeit schon mit dem Konzept des „Cognitive Mapping“. In seinem grundlegenden Aufsatz von 1988 geht er davon aus, dass verschiedene Phasen des Kapitalismus mit unterschiedlichen Raumstrukturen korrespondieren. [2] In einer ersten Etappe ist der Kapitalismus lokal verankert. Disziplinierung und Produktion sind hier noch eng an den lokalisierbaren Raum geknüpft, ganz klassisch etwa an die Fabrikhalle oder an die Kaserne. Das Raumsystem des frühen Kapitalismus gleicht einem Raster mit festen Punkten. Ein solch begrenztes System darzustellen beziehungsweise es als Individuum zu erfassen, scheint möglich. Erst in der nächsten Phase, der Phase des Imperialismus, fällt es zunehmend schwer, den globalisierten Raum des Kapitalismus in seiner neuen Komplexität zu erkennen. Jameson nennt dies einen wachsenden Widerspruch zwischen Erfahrung und Struktur beziehungsweise zwischen phänomenologischer Beschreibung der individuellen Erfahrung und dem Erfassen eines angemessenen Modells der strukturellen Bedingungen dieser Erfahrungen. [3] Auch die revolutionäre Kunst vermag die Totalität nicht mehr abzubilden. Sie kann sich zwar auf eine bestimmte Erfahrung fokussieren, etwa auf einen Stadtteil Londons, wie Jameson als Beispiel erwähnt. Dadurch werden jedoch die strukturellen Hintergründe dieser Erfahrung nicht mehr automatisch mit abgebildet, etwa die koloniale Ausbeutung, die den Londoner Lebensentwurf untrennbar mitbestimmt. Ab dieser Phase globalisierter, das heißt imperialistischer Produktionsbedingungen gibt es globale Verbindungslinien, die das Leben des Einzelnen stets berühren. In der alltäglichen Erfahrung sind diese Verbindungen jedoch fast immer unsichtbar.

Dieses Problem verstärkt sich im Spätkapitalismus nochmals qualitativ. Produktionsketten werden komplexer und globaler. Kapital ist frei fließender denn je. An den Finanzmärkten erscheint dieses vollkommen losgelöst von der geografischen Produktion. [4] Das räumliche System gleicht nun einem dynamischen Netzwerk. In der individuellen Erfahrung gibt es keinen Zugang mehr zur globalen kapitalistischen Struktur. Beispielsweise besitzen etliche Waren, die heute unser Leben bestimmen, eine Produktionskette, an der in irgendeiner Form Zehntausende, wenn nicht Millionen von Menschen beteiligt sind. Dies in der Totalität samt deren vielschichtigen Verkettungen denkbar zu machen, fällt tatsächlich schwer.

Um die unsichtbaren Strukturen wieder sicht- und erlebbar zu machen, denkt Jamesons an das Konzept des „Cognitive Mapping“. Dafür verweist er auf den amerikanischen Städteplaner Kevin Lynch (1918-1984). Dieser beschrieb einst, wie der Mensch in der entfremdeten (Groß-)Stadt nicht in der Lage sei, die städtische Totalität zu erfassen. Die einzige Möglichkeit bestehe in einer gefühlten Rückeroberung, indem sich der Mensch selbst Punkte setzt, anhand derer er die Stadt geistig zu kartografieren vermag. Daraus entsteht eine Art kognitive Karte, die trotz Unmöglichkeit die Stadt in ihrer Totalität zu erfassen, deren geistige Vermessung erlaubt. Entsprechend soll auch die Kunst verfahren, wenn sie die kapitalistische Totalität erfassen will. Ein Kunstwerk liefert Anhaltspunkte zur Vermessung einer Welt, deren globalisierte Vernetzung dem Einzelnen unsichtbar bleibt. So hilft die Kunst dabei, sich unserem komplexen Raumsystem wieder anzunähern.

Wenn auch Jameson oft unscharf bleibt, wenn es darum geht, wie dies zu realisieren wäre, verweist er an einer Stelle zumindest auf die Allegorie als Form. Diese bemüht sich um die „bildliche Veranschaulichung von Vorstellungen, Vorstellungszusammenhängen [und] Begriffen, die an sich unanschaulich sind.“ [5] Filme beispielsweise können durch die Montage verschiedener Schauplätze zum Beispiel dabei helfen Strukturen sichtbar zu machen, ohne jede Wechselwirkung einzeln thematisieren zu müssen.

Totalität und bewegende Widersprüche: Darwin’s Nightmare

Die Sichtbarmachung der Totalität beginnt dort, wo ein Kunstwerk die gesellschaftlichen Verhältnisse entlarvt, wie sie ein Objekt in einer bestimmten Form erscheinen lassen. Oder mit Marx gesprochen: „Eine Baumwollspinnmaschine ist eine Maschine zum Baumwollspinnen. Nur in bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen wird sie zu Kapital. Aus diesen Verhältnissen herausgerissen, ist sie so wenig Kapital, wie Gold an und für sich Geld oder der Zucker der Zuckerpreis ist.“ [6] Der grundlegende Widerspruch unserer Gesellschaft ist „der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen, der im Wesentlichen im Widerspruch zwischen zwei antagonistischen Klassen verkörpert ist.“ [7] Allerdings gilt ebenso, dass sich dieser Widerspruch ganz unterschiedlich realisiert und selten in Reinform vorkommt. Dies gehört wesentlich zum Problem einer komplexen Totalität. Die „Ganzheit vom Standpunkt einer noch umfassenden Totalität eines großen gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses“ [8] zu verstehen heißt also nicht, alles auf die Warenform zu reduzieren, sondern bedingt den Blick auf das dialektische Zusammenspiel verschiedener Prozesse.

Anschaulich zeigt sich die Überlappung verschiedener Widersprüche im Rahmen globaler kapitalistischer Verhältnisse im Dokumentarfilm Darwin’s Nightmare (2004). Dieser handelt von den ökologischen und ökonomischen Katastrophen rund um den Victoriasee. Die Aussetzung von Nilbarschen in den sechziger Jahren sollte die regionale Fischwirtschaft stärken. Stattdessen rotteten die neuen Fische zahlreiche bisherige Fischsorten aus. Dies führte zu einem Kollaps der lokalen Wirtschaft. Doch nicht alle leiden darunter. Ein Teil der auf Exportwirtschaft ausgerichteten Fischwirtschaft profitiert von der Situation, sodass auch die angrenzenden Staaten nichts gegen die Umweltkatastrophe unternahmen. Auch anderweitig ist die lokale Region mit dem globalen System verknüpft. Zur Lösung von Konflikten werden Waffen eingeflogen. Frauen werden in die Prostitution getrieben. Die HIV-Rate steigt. Verschiedene Widersprüche prägen das Leben einzelner Bewohner_innen ganz unterschiedlich. Die Stärke des Dokumentarfilmes liegt darin, dass Widersprüche sichtbar miteinander verknüpft werden, ohne die Verknüpfungen in der komplexen, undurchdringbaren Totalität tatsächlich aufzuschlüsseln. Oder etwas gar theoretisch: Darwin’s Nightmare zeigt die ökonomischen Bewegungsgesetze in ihrer Prozesshaftigkeit und in ihren Folgen als zeitgenössische Allegorie. Der Zwang zur Kapitalakkumulation und Kommodifizierungsprozesse führt zu einer Veränderung lokaler Umwelten und Lebensbedingungen. Das Kapital integriert Menschen an unterschiedlichen Orten in unterschiedlicher Art in eine globale Produktionskette. Dem hinzu kommt eine unüberschaubare Anzahl weiterer Widersprüche, wie etwa das patriarchale Geschlechterverhältnis. Das Ergebnis ist eine lokale Lebensrealität, die überdeterminiert mit globalen Verhältnissen verknüpft ist.

Die Stärke von Darwin’s Nightmare ist seine Form. Als Allegorie will der Film über verschiedene Punkte bei der Kartografierung der Welt helfen. Allerdings liegen darin zugleich seine Schwächen. Darwin’s Nightmare wurde berechtigterweise vorgeworfen, Fakten falsch darzustellen und ein koloniales Bild zu reproduzieren, indem dieser beispielsweise die lokale Wirtschaft unterkomplex darstellt und Personen so porträtiert, wie sie Rezipient_innen in Europa erwarten. [9] Das Problem geht vermutlich tiefer, als dass der Film seinen eigenen Ansprüchen nicht genügt, ein korrektes Bild der Realität zu liefern. Allegorien vereinfachen, indem sie auf bekannte und nachvollziehbare Symbole und Zusammenhänge verweisen. Dadurch reproduzieren sie mitunter Stereotypen, die gerade in (post)kolonialen Situationen besonders problematisch sind. Dem Betrachter Eckdaten einer Kartografierung anzubieten, setzt eine redliche und genaue Analyse der Verhältnisse und Zusammenhänge voraus.

Klassenkampf und Klassenstandpunkt

Die Forderung nach Betrachtung der Bewegungsgesetze als Ausgangslage der Totalitätsbetrachtung klingt so, als bräuchte es wie in Darwin’s Nightmare jeweils die globale Analyse. Allerdings kann man es auch einfacher fassen. Wenn die zwei antagonistischen Klassen tatsächlich den grundlegenden Widerspruch verkörpern, dann ist der Klassenkampf die ideale Ausgangslage der Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Totalität. Der Klassenstandpunkt bildet das erkenntnistheoretische Werkzeug hierfür.

Dies streift auch Namberger, wenn er sagt, dass der „Standpunkt“, je nach Lage der Betrachter*innen, ganz verschiedene Teilaspekte des Ganzen sichtbar werden lässt. Dass man sich über die Summe von Teilaspekten der Totalität annähert, halte ich allerdings für ein Missverständnis. Der Standpunkt, oder genauer gesagt der Klassenstandpunkt [10], ist vielmehr jener Punkt, „von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird“ [11], so Georg Lukács in Geschichte und Klassenbewusstsein. Ob sich dies mit einem historisch nachweisbaren erkenntnistheoretischen Vorteil der Arbeiter_Innenklasse deckt, darf angezweifelt werden – zumindest gibt es zahlreiche Kräfte, die dem entgegenarbeiten. Allerdings geht es an dieser Stelle nicht um den historischen Nachweis, sondern um die Leistung des Klassenstandpunktes auf theoretischer Ebene. Das Proletariat, so Lukács, ist fähig zur Selbsterkenntnis und dadurch zugleich zur Erfassung der Totalität. Dies hat mit seiner speziellen Stellung zu tun:

„Die Einheit von Theorie und Praxis ist also nur die andere Seite der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage des Proletariats, dass von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, dass es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.“ [12]

Aus dem Standpunkt des Proletariats als Klasse werden die Bewegungsgesetze und damit die Totalität des Kapitalismus sichtbar. Und zwar nicht deren Teilaspekte, sondern die bestimmte Totalität, die zu analysieren ist. Das bedeutet nicht, dass das Proletariat alles erkennt, nur weil es Proletariat ist. Auf dieser theoretischen Ebene bedeutet dies erst einmal, dass der proletarische Klassenstandpunkt bei der Erkenntnis der Totalität hilft, weil das Proletariat eine besondere Stellung innehält. Zwei miteinander verknüpfte Grundgedanken liegen dem bei Lukács zugrunde. Erstens ist der Standpunkt des Proletariats für das Erkennen der Totalität theoretisch prädestiniert, weil seine „Klassenlage nur in der Erkenntnis der ganzen Gesellschaft begreifbar wird.“ [13] Oder etwas einfacher gesagt: Sind Klassen Ausdruck kapitalistischer Verhältnisse, dann liefert der Klassenstandpunkt zugleich den Blick auf die Totalität, weil die Klasse nur in Abhängigkeit des gesamten Verhältnisses erkannt werden kann. Zweitens weiß das Proletariat aufgrund seiner Praxis um sein eigenes Handeln, und dadurch als Teil eines gesellschaftlichen Verhältnisses um die Beschaffenheit unserer Gesellschaft, das heißt um den Kapitalismus in seiner historisch gewachsenen und veränderbaren Totalität: „[N]ur die Klasse kann die gesellschaftliche Wirklichkeit handelnd durchdringen und sie in ihrer Totalität verändern.“ [14] Die dialektische Methode erscheint dann als die stets geforderte Einheit von Theorie und Praxis, mit der auch Kunst analysiert werden will.

Rachel Kushners The Mars Room und Heike Geißlers Saisonarbeit

Der Blick auf die kapitalistischen Bewegungsgesetze eröffnet einen Raum, der die revolutionäre Kulturproduktion beziehungsweise deren Kritik möglich macht und der vielleicht auch unsere Erwartungshaltung an die Kultur verändert. So wird man mit größter Wahrscheinlichkeit dasjenige Kunstwerk nicht finden, das die Totalität als Ordnung der globalen Produktionsverhältnisse auch nur annährend sichtbar macht – außer man akzeptiert tatsächlich Karten und wissenschaftliche Beiträge als Kunstform. Allerdings findet man sehr wohl Werke, welche die Realisierung der Bewegungsgesetze und die Strukturen unseres Systems sichtbar machen. Dazu gehören zum Beispiel die Romane von Rachel Kushner oder Heike Geißler.

Kushners The Mars Room (2018) handelt von Romy Hall, einer jungen Frau, die zweimal Lebenslänglich für die Ermordung ihres Stalkers bekommen hat. Mit 29 Jahren tritt sie ihre Haftstrafe an. Getrennt von ihrem Kind kämpft sie sich durch die tägliche Bürokratie und Hoffnungslosigkeit. Im Verlaufe des Romans wird sowohl der Knastalltag als auch rückblendend Halls soziale Herkunft als proletarische Frau thematisiert. Halls Leben ist von klein auf geprägt von Perspektivlosigkeit, (sexualisierter) Gewalt und Drogen. Mars Room, der titelgebende Ort, ist der Namen des Strip-Clubs, in dem sie arbeitete und auf ihren Stalker traf. Halls Leben ist nicht das Amerika, in dem alle alles erreichen können, sondern die triste Realität proletarischer amerikanischer Perspektivlosigkeit. Ein Beispiel hierfür? San Francisco, eine von Halls früheren Stationen, entspricht nicht dem Bild, wie wir es von Postkarten und der Beat-Literatur kennen, sondern so, wie es von ganz unten erlebt wird:

„The sunset was San Francisco, proudly, and yet an alternate one to what you might know: it was not about rainbow flags or Beat poetry or steep crooked streets but fog and Irish bars and liquor stores all the way to the Great Highway, where a sea of broken glass glittered along the endless parking strip of Ocean Beach.“ [15]

Die Verurteilung bildet ein Bruch in Halls Leben und zugleich eine Kontinuität. Der „Freiheit“ entraubt, trifft man im Knast auf bereits bekannte Hierarchien, Suchtprobleme und Hoffnungslosigkeit. Auf sich alleine gestellt ist das System stärker als das Individuum, gerade als Frau* in einer patriarchalen Gesellschaft, die mit Macht in ganz verschiedenen Facetten konfrontiert wird. Diese Erfahrung prägte Hall in ihrer Kindheit, bei ihrem Prozess – der Roman macht die Ermordung ihres Stalkers mehr als nachvollziehbar – und später im Knast. Kleine Hoffnungsschimmer, etwa die Solidarität untereinander, kommen vor. Doch die Perspektive ist exakt so groß wie jene des von Namberger beschriebenen „einsamen Kneipengast am Tresen“: Man weiß, dass es anders sein könnte, ja anders sein müsste. Die Revolution steht allerdings noch lange nicht an.

Heike Geißlers Saisonarbeit (2014) ist ein literarischer Erfahrungsbericht, der sich aus der Erfahrung der Autorin als Temporärarbeiterin bei Amazon speist. Der Arbeitsalltag ist fremdbestimmt. Der Computer gibt den Takt vor, mit dem die Arbeiter_innen ankommende Waren zu scannen und anschließend einzuordnen haben. „Receiven“ wird dieser Vorgang genannt, ein Wort, das wie die Arbeit selbst bis zur absoluten Abstumpfung immer wieder wiederholt wird und dadurch die Entfremdung auch sprachlich erfahrbar werden lässt. Doch Momente der Selbstbestimmung, wie kleine Sabotageaktionen, gehören ebenso zum Arbeitsalltag, wie ein sich bildendes Klassenbewusstsein. Allerdings ist „Saisonarbeit“, wie die Realität auch, alles andere als eine lineare Erfolgsgeschichte des Klassenkampfes. Nicht nur die Technik, auch die Kolleg_innen machen der Protagonistin zu schaffen. Spaltungsmomente sind alltäglich – und erfolgreich. Ob als Neuankömmling, das die Teamleistung mindert, oder als Frau, die sich gegen Bevormundung und sexistische Sprüche wehren muss, ist der Arbeitsalltag ein ständiger Kampf.

Sowohl Kushners als auch Geißlers Roman vermitteln die Prozesse hinter den Protagonistinnen. Beispielsweise, wie es dazu kommt, dass eine Frau lebenslänglich in den Knast gesteckt wird oder eine freischaffende Schriftstellerin bei Amazon arbeiten muss, und wieso es bei einem der beiden Protagonistinnen einen Ausweg gibt und bei der anderen nicht. Beide Romane verstehen gesellschaftliche Strukturen nicht als einfache Determinanten, sondern als überdeterminierende gesellschaftliche Bedingungen. Klassenverhältnisse spielen ebenso eine Rolle wie Geschlechterverhältnisse. Strukturen geben den Rahmen vor, aus dem man nur schwer entkommt. Trotzdem gibt es stets Möglichkeiten zum selbstbestimmten Handeln. Beide Romane verbinden einen Gegenstand – das Leben im Knast beziehungsweise die Arbeit bei Amazon – mit dem dahinterliegenden globalen System: der Stalker als Veteran, Sexarbeit, flexible Lohnarbeit und die Gefängnisindustrie beziehungsweise das Weihnachtsgeschäft und Amazon als Großkonzern. Beide Romane lassen keine Reformen zu und stellen dadurch (ungewollt?) die Systemfrage. Mars Room, indem auf das den Knästen zugrunde liegende politische System verwiesen wird oder indem die Schwierigkeit vielfältiger Geschlechteridentitäten in einem binären Knastsystem thematisiert wird. Saisonarbeit als ein Buch über die Arbeit bei Amazon, bei dem es längst nicht mehr nur um Amazon geht. Sowohl Kushners als auch Geißlers Romane funktionieren mit einem Standpunkt: „Mars Room“ aus der Sicht des eingeknasteten weiblichen* Proletariats, „Saisonarbeit“ aus Sicht der Temporärarbeiter_innen beziehungsweise der freischaffenden Künstler_in. [16] Beide Romane speisen aus dem großen Fundus der Realität. Kushner, indem sie intensiv recherchierte und Gefängnisse besuchte; Geißler, indem sie selbst bei Amazon arbeitete. Beide Romane lassen sich unter all diesen Punkten als eine Art neuen Realismus lesen, der Ansatzpunkte zur Selbstverortung im globalisierten Kapitalismus bietet. Vielleicht ist dies eine neue Form, die revolutionäre Kunst sein kann?

Das Verhältnis von Kunstproduktion und Kunstkritik zu Widerstandsbewegungen

Namberger wie Jameson fordern mit ihrer Ästhetik implizit ein System, das sowohl die Kunstproduktion (Künstler_in) als auch die Reflexion (Kritiker_in) darüber beinhaltet. Das heißt, es braucht jene, die Werke herstellen, und jene, die Werke besprechen, verbreiten und Kategorien der Kritik liefern. Wie findet der Austausch dieser beiden Positionen heute statt?

Nambergers Essay endet mit dem Ruf nach einer „Kulturproduktion, die es einerseits mit den Widersprüchen des Spätkapitalismus aufnimmt, andererseits aber auch den breiten Massen zugänglich ist.“ Eine solche Kultur erscheint zwar möglich, doch sie liegt irgendwo in einem fernen Nebel. Ihre Grundrisse sind dank den Kritiker_innen sichtbar, nicht jedoch die eigentlichen Produkte. Rachel Kushner und Heike Geißler zeigen jedoch, dass es die Kultur und Künstler_innen längst gibt, die anhand der von Jameson oder Namberger geforderten Kategorien besprochen werden wollen. [17] Doch nicht nur das. Linke Kritiker_innen verschließen selbst vor jenen Künstler_innen die Augen, die aus ihrer eigenen Bewegung kommen. Die von Namberger erwähnte Spaltung von Theorie („denjenigen, die meist schreiben“) und Praxis („denjenigen, die meist machen“), so die zweite These, ist im Bereich der Kulturproduktion noch viel größer als angenommen: Die revolutionären Kritiker_innen verweigern sich standhaft den ihnen nahestehenden revolutionären Künstler_innen.

So existiert ein erstaunliches Missverhältnis zwischen den marxistischen Kulturkritiken und der revolutionären Kulturproduktion. Man stößt etwa auf „historisch-materialistische Analysen“ und abendfüllende Veranstaltungen zu Game of Thrones. Die Anzahl von Rezensionen zu Sebastian Lotzers „AutonomenprosaBegrabt mein Herz am Heinrichplatz (2017), dem wohl authentischsten Roman über die jüngste Geschichte der politischen Widerstandsbewegung Berlins, lässt sich hingegen an einer Hand abzählen. Es gibt (lesenswerte) Aufsatzsammlungen zu Buffy im Bann der Dämonen; Tom Schulz‘ Gedicht Abends im Lidl steht die Arbeiterklasse an (2004), eines der faszinierendsten lyrischen Werke zur Debatte über den Zustand der heutigen Arbeiter_innenklasse, wurde einzig von Enno Stahl gewürdigt. Oder etwas überspitzt formuliert: Wenn du nicht Teil der etablierten Popkultur bist (oder zumindest Ken Loach heißt), interessiert sich aufseiten der revolutionären Linken niemand für dich. Eine etwas andere Rolle nimmt die Musik ein: Hier gibt es mit Melodie und Rhythmus nicht nur ein deutschsprachiges Magazin, das die besprochenen Werke ernst nimmt (und vielleicht gerade deshalb immer um Leser_innenschaft kämpfen muss), sondern im Rahmen der Auseinandersetzung mit einer dominanten Jugendkultur auch zahlreiche Interviews und Veranstaltungen revolutionärer Gruppen.

Aufgrund der schier unendlichen Anzahl Literaturprodukte ist das Indiz, dass dieses oder jenes nicht besprochen wurde, für ein Argument nur bedingt tauglich. Ein anderer Bereich revolutionärer Kultur zeigt das Problem jedoch eindrücklicher. Noch immer gehört das Plakat zu den wichtigsten Ausdrucksformen revolutionärer Gruppen und Bündnisse. In keinem anderen Produkt fließen derart viele Inhalte und Überlegungen zusammen. Kein anderes Produkt wird derart kollektiv besprochen, zurückgewiesen, überarbeitet und für jede Kampagne und Demo neu entworfen. Ein fast jedes Plakat beziehungsweise seine Gestalter_innen sehen sich der von Namberger formulierten Problematik ausgesetzt: Wie verbindet man den konkreten Gegenstand, das heißt beispielsweise die kommende Antifa-Demo oder die geplante Veranstaltung zu Kurdistan, mit dem kritisierten kapitalistischen System – und wie ästhetisiert man das dann auch noch, sodass die Verbindung nicht nur über den Text, sondern auch visuell sichtbar, das heißt auf weiteren Ebenen erleb- und spürbar wird. Außer dann, wenn die Totalität mal wieder falsch dargestellt wird, das heißt in der Regel, wenn irgendwo eine Krake erscheint, gibt es im deutschsprachigen Raum – mit Ausnahme vielleicht von Bernd Langer – keine kritische Auseinandersetzung mit Plakaten der Bewegung. [18]

Politische Widerstandsbewegung und revolutionäre Kultur

Fast schon symptomatisch für dieses Problem wählte auch das re:volt magazine ein 1934 entstandenes Fresco (!) von Diego Rivera als Titelbild für Nambergers Essay aus. Es muss also vermutet werden, dass die zeitgenössischen Werke nicht so sind, wie erwartet – Oder aber, dass diese in ihrem begrenzten Rezeptionsraum nicht die Aufmerksamkeit generieren, die man für sein kulturkritisches Essay haben will. Game of Thrones, das ist der Witz global kommodifizierter Popkultur, wird mir auch unter revolutionär gesinnten Menschen mehr Leser_innen bescheren als Sebastian Lotzer. Das ist ein Teufelskreis. Wo es keine_n Rezipient_innen gibt und wo man nicht wertgeschätzt wird (das heißt sowohl gelobt als auch kritisiert wird), verliert sich das Interesse für die Herstellung von Kulturprodukten. Doch das Problem geht vermutlich tiefer. Vielleicht nämlich fällt nicht nur das Wort „Revolution“ auszusprechen so schwer, wie Namberger schreibt, sondern ebenso die Vorstellung, dass die politische Widerstandsbewegung Teil der realen Klassenauseinandersetzung ist und entsprechend ihrer Stellung bereits heute revolutionäre Kultur produziert. Dass die Anzahl solcher Güter und Künstler_innen entsprechend der Stärke und Stellung der Bewegung begrenzt ist, scheint offensichtlich. Nur gibt es nichts anders als das, was da ist – alles andere ist ein voluntaristischer Traum.

Mir geht die etwas böswillige Vermutung nicht aus dem Kopf, dass die von Namberger angesprochene Spaltung von Theorie und Praxis deswegen auch dahingehend zu verstehen ist, dass die Theorie eine Idealvorstellung einer „neuen Klassenpolitik“ hat, wie sie sie in der Realität nie vorfinden wird. Dazu gehört die Hoffnung auf eine Kulturproduktion jenseits ihrer tatsächlichen Realisierung. Vielleicht hilft es deswegen sich nochmals klar zu machen, was die existierende politische Widerstandsbewegung ist – gerade in Fragen ihrer Klassenposition. Sie ist der „nicht betriebsgebundene Ort des Klassenkampfes“ [19]. Was Menschen (immer wieder zu Recht) abschätzig als „Szene“ bezeichnen, ist ein Ort, an dem spezifische Widersprüche unserer Gesellschaft ihren Ausdruck finden. Es ist derjenige Ort, an dem heute die meisten selbstbestimmten politischen Auseinandersetzungen stattfinden – und im Idealfall darüber hinauswachsen. Die politische Widerstandsbewegung ist ein Ort des antikapitalistischen Handelns, wenn auch in einem limitierten Rahmen und in durchmischter Klassenzusammensetzung. Dass die politische Widerstandsbewegung nur einer von mehreren Sektoren sein kann, ist ebenso klar, wie dass ihre gegenwärtige Dominanz mit der allgemeinen Schwäche der revolutionären Linken zu tun hat. Doch entsprechend ihrem Zustand wird in der politischen Widerstandsbewegung bereits heute revolutionäre Kultur und dadurch kulturelle Gegenmacht produziert. Eine solche Kultur kann gelobt und kritisiert werden, jedoch gehört sie wahrgenommen, erhofft man sich irgendwann eine umfassende „Ästhetik des globalen Widerstands“. Denn diese wird nicht im luftleeren Raum entstehen.


Anmerkungen und Literatur:

[1] Der Beitrag von Fabian Nambgerger erschien in einer gekürzten und veränderten Fassung zuerst in der fünfzigsten Ausgabe von kritisch-lesen.de unter dem Titel: „Das Gefühl Kapitalismus“.

[2] Vgl. Jameson, Fredric: Cognitive Mapping. In: Nelson, Cary (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Champaign 1988. S. 347-360.

[3] „The problems of figuration that concern us will only become visible in the next stage, the passage from market to monopoly capital, or what Lenin called the "stage of imperialism"; and they may be conveyed by way of a growing contradiction between lived experience and structure, or between a phenomenological description of the life of an individual and a more properly structural model of the conditions of existence of that experience.“ Jameson, Fredric: Cognitive Mapping. In: Nelson, Cary (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture. Champaign 1988. S. 349.

[4] „Capital itself becomes free-floating. It separates from the concrete context of its productive geography. Money becomes in a second sense and to a second degree abstract (it always was abstract in the first and basic sense): as though somehow in the national moment money still had a content – it was cotton money, or wheat money, textile money, railroad money, and the like. Now, like the butterfly stirring within the chrysalis, it separates itself from that concrete breeding ground and prepares to take flight.“ Jameson, Fredric: The Cultural Turn: Selected Writings on the Postmodern, 1983-1998. London, New York 1998. S. 142.

[5] Jahn, Johannes; Haubenreisser, Wolfgang: Wörterbuch der Kunst, Stuttgart 1983, S. 20.

[6] Marx, Karl und Engels, Friedrich: Das Kapital. Bd. 1. IN MEW 23. S. 794.

[7] Althusser, Louis: Für Marx. Frankfurt am Main 1978. S. 63.

[8] Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Bielefeld 2013. S. 66.

[9] Vgl. Molony, Thomas; Richey, Lisa Ann; Ponte, Stefano: ‘Darwin’s Nightmare’: A Critical Assessment. In: Review of African Political Economy Bd. 34, Heft 113, Sep. 2007. S. 598-608.

[10] Zumindest in einer Fußnote sei betont, dass Klassenstandpunkt im Sinne einer zeitgenössischen Klassenpolitik bereits heißt, die politischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte einzubauen. Die marxistischen feministischen Standpunkttheorien haben dazu einiges geleistet.

[11] Lukács, Georg: Geschichte und Klassenbewusstsein. Bielefeld 2013. S. 193.

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Ebd. S. 212

[15] Kushner, Rachel: The Mars Room. New York. S. 33.

[16] Bei Kushner funktioniert dies unter anderem auch über unterschiedliche Erzählsituationen.

[17] Peer Illner fasst die Kunst des kapitalistischen Realismus beziehungsweise Formen des „Cognitive Mapping“ gar als wichtige Kunstströmung unserer Zeit. Dass der elitäre Kunstmarkt allerdings nicht im Blickfeld revolutionärer Kritik steht, erstaunt nicht, und ist auch nicht schlimm. Ich teile nicht alle von Illners Einwänden. Der Aufsatz ist jedoch äußerst lesenswert, wenn man sich für mögliche Kritiken am Konzept „Cognitive Mapping“ interessiert. Vgl. Illner, Peer: Der Künstler als Whistleblower: Kartografie, Kapitalismus und Cognitive Mapping. In: Busch, Kathrin (Hg.): Anderes Wissen: Kunstformen der Theorie. Paderborn 2016. S. 282-318.

[18] Etwas anders sieht es in den USA aus. Dort gibt es mit Signal: A Journal of International Political Graphics & Culture eine tolle Buchserie, die sich mit revolutionärer Grafikproduktion auseinandersetzt.

[19] Broschüre 20 Jahre Revolutionärer Aufbau Schweiz – Bruch und Kontinuität. S. 28.