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Welche Art der Selbstbestimmung? Zur Rojava-Revolution

YPG in Rojava
Lange Zeit haben viele Linke in Deutschland die PKK und die kurdische Befreiungsbewegung als nationalistisch und stalinistisch abgetan, sie bildete kein Hauptaugenmerk ihres sowieso schon bis zur Auflösung dahinschwindenden Internationalismus. 2014 änderte sich das schlagartig: Mit dem Angriff des IS auf Kobanê sowie dem Widerstand der YPG/J wurden die Kurd*innen zu Held*innen der Menschheit und auch innerhalb der deutschen Linken plötzlich „in“. Die anfängliche Euphorie hat sich zwar nicht aufgelöst, aber doch erheblich an Schwung verloren. Es haben sich einige Kurdistan-Solikomitees mit Öcalan-Lesekursen gebildet und es findet zumindest ein wenig internationalistische Arbeit statt. Ansonsten debattiert die deutsche Linke viel, ob sich die Kurd*innen an den US-Imperialismus verkauft haben oder nicht. Hinzu kommt eine romantische Schwärmerei, die eher der Projektion eigener Wünsche und Sehnsüchte entspricht, als einem genuinen Interesse an dem Revolutionsprozess. Um zentrale Elemente, Fragen und Probleme der Revolution wird kaum (mehr) debattiert. Was also sind die Schlüsselelemente der neuen Gesellschaftsformation in Rojava/Nordsyrien und welche Prozesse der Selbstorganisierung sind dabei zentral?

1. Nationale Selbstbestimmung

Kämpfen um nationale Selbstbestimmung steht die deutschsprachige Linke meist ablehnend gegenüber – genau dieser Kampf ist allerdings zentrales Kernelement und Motivationskraft in der Revolution von Rojava wie auch in den Auseinandersetzungen in den anderen Teilen Kurdistans. Bekanntermaßen existierten relativ autonome kurdische Provinzen in Mesopotamien seit spätestens dem 15. Jahrhundert und wurden auf zeitgenössischen Landkarten auch als „Kurdistan“ benannt. Im Zuge des Ersten Weltkrieges wurde den Kurd*innen allerdings seitens der Imperialisten genau so wie seitens der neu entstehenden Nationalstaaten die Bildung eigener Staaten oder Autonomiegebiete versagt. Das führte in allen vier Staaten (Türkei, Irak, Iran, Syrien), auf die das historische Gebiet Kurdistan aufgeteilt wurde, bis zum heutigen Tag zur Unterdrückung der Kurd*innen – und zum Widerstand und Kampf gegen diese Unterdrückung und für die nationale Befreiung. Der Westen nahm hierbei eine ganz besonders eklige Rolle ein: Er unterstützte zwecks Schwächung jener Nationalstaaten phasenweise den Unabhängigkeitskampf der Kurd*innen gegen die Unterdrückung, die er selbst sanktioniert hatte, nur um die Unterstützung sofort wieder zu entziehen, wo eine erneute Einigung mit den jeweiligen Nationalstaaten erreicht werden konnte. Am brutalsten fand dies im Zuge der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung im Irak statt, die, mittlerweile unter Führung von Barzani Jr., wenig von der eigenen Geschichte gelernt zu haben scheint.

In Syrien lief es nicht wesentlich anders ab. Im Zuge arabischer Aufstände 1925 im damaligen Mandatsgebiet Syrien versuchten dieselben Franzosen, die den Kurd*innen noch vor wenigen Jahren die Autonomie versagt hatten, dieselben auf ihre Seite zu ziehen, indem sie sie für ihre Armee (Les Troupes Spéciales du Levant) rekrutierten. Als dann arabische Nationalisten in Syrien 1946 die Unabhängigkeit erkämpften, erfolgte (zuerst schrittweise und erst ab 1954/57 systematisch) eine massive Repressionswelle gegenüber den syrischen Kurd*innen, die Vertreibung, Zwangsarbeit, Entzug der Staatsbürgerschaft, Verhaftungen, Verbot kurdischer Traditionen, Namensänderung von Dörfern usw. beinhaltete. Assad Sr. fügte dieser Unterdrückung 1973 die Errichtung eines schon lange geplanten „arabischen Gürtels“ (al-hizam al-'arabi) im heutigen Rojava hinzu: Hunderttausende Kurd*innen wurden zwangsumgesiedelt, anstatt ihrer Araber*innen angesiedelt. Wie so oft sollte eine Zersplitterung einer unterdrückten Bevölkerung und Vermischung mit anderen Bevölkerungsteilen zu einer politischen Schwächung und Assimilation der jeweiligen unterdrückten Minderheit führen.

Im Gegensatz zu den anderen Teilen des historischen Kurdistans entwickelte sich der Befreiungskampf in Syrien aber dezidiert anders: 1979-80 seilten sich die PKK-Gründungskader nach Syrien ab und ließen sich von der PLO im Guerilla-Kampf trainieren. Gemeinsam widerstanden sie 1982 der israelischen Invasion des Libanon. Ab dem Punkt wurde die PKK für den syrischen Staat interessant: Als Druckmittel gegenüber der Türkei tolerierte er, dass die PKK ihre militärischen Hauptausbildungslager in Syrien unterhielt, dafür verzichtete die PKK darauf, die kurdische Frage in Syrien zu thematisieren, um ein ungestörtes organisatorisches Hinterland zu haben. Es waren die 1980er und 1990er, in denen die PKK das weitflächige und engmaschige Organisationsnetzwerk in (Nord-)Syrien aufbaute, auf das sie dann 2011-12 erfolgreich zurückgreifen konnte. Letztlich wurde das informelle Bündnis zwischen Assad-Regime und PKK in Syrien gekündigt: Einerseits erlangte der revolutionäre Volkskrieg in Nordkurdistan (Südosttürkei) eine Pattsituation, die die PKK dazu brachte, einen Waffenstillstand zu erklären und für die Öffnung der politischen Sphäre zu kämpfen. Damit allerdings verlor Syrien das Interesse an der Unterstützung der PKK. Andererseits marschierte die 2. Armee der Türkei an der syrischen Grenze auf und ließ ein Ultimatum an Assad durchgeben: Entweder wird die PKK sofort ausgewiesen und alle Lager geschlossen, oder wir marschieren ein. Im Adana-Abkommen von 1998 akzeptierte Syrien die Bedingungen der Türkei, der PKK-Führer Öcalan musste fliehen und fiel letztlich in Gefangenschaft. Aus der Isolationshaft heraus leitete er den Paradigmenwechsel der PKK von marxistisch-leninistischem nationalen Befreiungsprogramm zum demokratischen Konföderalismus ein.

Wichtig für die Perspektive der nationalen Frage war, dass die PKK ab nun in allen Teilen Kurdistans genuine politische (Massen-)Strukturen aufbaute: Mit der PCDK im Irak (2002), der PYD in Syrien (2003) und der PJAK im Iran (2004) wurden PKK-nahe Strukturen erschaffen, die der Politisierung und Mobilisierung der Massen dienen sollten. Entsprechend repressiv reagierte der syrische Staat, als die kurdische Frage nun auch in Syrien wieder thematisiert wurde: Türkischen Medienberichten zufolge wurden im Zeitraum von 2003 bis 2011 etwa 1.400 Mitglieder der PYD in Syrien inhaftiert.

Als sich dann 2012, als es um das syrische Regime äußerst schlecht bestellt war, die syrischen Kräfte weitestgehend aus Nordsyrien zurückzogen, um die Kerngebiete des Regimes zu verteidigen, übernahmen die sehr gut organisierten PKK-nahen Kräfte in Teilen der heutigen Kantone Afrîn, Kobanê und Cizîre die Macht. Sofort hoben sie alle anti-kurdischen Beschränkungen auf, legalisierten die kurdische Sprache, Organisationen und Feste und eröffneten dutzende Schulen, Kulturinstitutionen usw. zur Förderung der kurdischen Sprache und Traditionen. Die nationale Befreiung war somit erfolgreich und strahlte bis in die Türkei aus, in der sie die Kurd*innen massenhaft motivierte.

Interessant jedoch sind die Konflikte, die sich alsbald im kurdischen Lager um den Charakter der nationalen Befreiung einstellten: Sollte die nationale Befreiung demokratisch oder nationalistisch sein? Öcalan lobte vom Gefängnis aus die erfolgreiche nationale Befreiung, insistierte jedoch seit 2013 scharf darauf, dass die Revolution nicht dabei stehenbleiben dürfe. Er drängte die PKK und die PKK-nahen Kräfte dazu, „Rojava“ (auf Kurdisch Westen) in eine Nordsyrische Föderation zu verwandeln, die nicht kurdisch zu definieren sei, sondern als Gebilde, die alle Rechte der in Nordsyrien wohnenden Bevölkerung anerkennt und mehrere Amtssprachen kennt – unter anderem Kurdisch. Den eher traditionalistisch ausgerichteten Kräften, die dem nordirakischen Barzani-Clan nahestehen, hingegen war die Revolution nicht national genug: Sie verlangten eine explizit kurdische Definition des Gebildes und wandten sich von den Vorschlägen der PKK-nahen Kräfte ab, die sie zu kommunistisch und feministisch fanden.

Letztlich setzte sich die demokratische Perspektive durch: Rojava und später die Nordsyrische Föderation wurde als multiethnisches, multilinguales und multireligiöses Gebiet begriffen und institutionalisiert, unterschiedliche Minderheitenquoten auf unterschiedlichen Ebenen eingeführt. Mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) schufen die PKK-nahe Partei der Demokratischen Einheit (PYD) sowie die Volksverteidigungseinheiten (YPG) eine Militärkoalition, die quantitativ betrachtet mittlerweile mindestens zur Hälfte von nicht-kurdischen Elementen gestemmt wird (auch wenn qualitativ betrachtetet die kurdische YPG dominiert), während die Stadträte der befreiten Städte je nach ethnischer Bevölkerungszusammensetzung strukturiert sind: So dominieren z.B. Araber*innen den Stadtrat von Tel Abyad; beim politischen Pendant zum SDF, dem Syrian Democratic Council (SDC), verhält es sich ebenso. Diese Form der demokratischen Perspektive wird seitens PYD und anderen Organisationen letztlich ganz Syrien als Lösungsmodell für die internen Konflikte vorgeschlagen. Dafür spricht nicht zuletzt, dass es in Syrien wie im gesamten Nahostraum die (vom Westen geförderten) sektiererischen Spaltungen waren, die eine Stabilisierung der Region bis heute verunmöglichten.

kurdische YPG und kommunale Sicherheitskräfte kurdishstruggle | flickr

YPG Kämpfer mit Asayiş-J (kommunalen Sicherheitkräften)

2. Rätedemokratische Selbstorganisierung

Es gibt ein Kernstück, für das sich die Linke weltweit interessiert, wenn es um Rojava geht, nämlich die rätedemokratische Selbstorganisierung. Dabei übersehen Linke oft, dass das politische System in Rojava durchaus komplexer und widersprüchlicher ist. PKK-nahe Kräfte führten das Rätesystem mit der Machtübernahme 2011-12 in den Gebieten ein, in denen sie die Führung innehatten. Grenzen fand die Implementierung in der Skepsis nicht-PKK-naher sowie nicht-kurdischer Kräfte als auch in den Gebieten, in denen der IS wütete. Das Rätesystem erwies sich als erstaunlich flexibel und robust und konnte sich z.B. im Kanton Kobanê nach der Vertreibung des IS sofort wieder etablieren. Schritt um Schritt weitete sich das Rätesystem aus.

Das Rätesystem besteht von unten nach oben aus Kommunal-, Stadtteil-/Dorfgemeinschafts- und Gebietsräten sowie einem obersten Volksrat, wobei der Volksrat quasi das politische Hauptorgan für ganz Rojava ist. Der Kern sind die einzelnen Kommunen, die je nachdem aus 40 bis 300 Haushalten eines Straßenzugs konstituiert werden. Ein- bis zweimonatlich tagt das Plenum der Kommune, an der jede*r aus der Kommune teilnehmen und mit entscheiden darf. Die Plena initiieren je nach Bedarf die nötigen Kommissionen, wählen die Koordination sowie die Ko-Vorsitzenden und entscheiden in zentralen Angelegenheiten. In der Koordination, die durchschnittlich wöchentlich tagt, treffen sich die Ko-Sprecher*innen der insgesamt acht Kommissionen (Politik, Frauen, Verteidigung, Freie Gesellschaft, Zivilgesellschaft, Ideologie, Justiz, Wirtschaft) sowie die Ko-Vorsitzenden der Kommune, um über die Koordination der einzelnen Arbeitsfelder zu diskutieren und zu beschließen. Diese Treffen sind öffentlich. Die Kommissionen hingegen arbeiten zu den jeweiligen Teilbereichen innerhalb der betreffenden Kommune: Sie beschließen Infrastrukturmaßnahmen, kümmern sich um Müllentsorgung sowie die Versorgung von Kranken und Mittellosen, organisieren die Sicherheit und wenden sich bei Problemen, die ihre Mittel überschreiten, an die höheren Strukturen. An den Kommissionen kann sich jede*r aus der Kommune beteiligen. Die Kommune ist Kern des Rätesystems und zugleich dasjenige Element, das die größtmögliche direkte Partizipation der Bevölkerung erlaubt.

Auf der nächsthöheren Ebene treffen sich die Koordinationen von sieben bis 30 Kommunen zum Plenum des jeweiligen Stadtteil- bzw. Dorfgemeinschaftsrats. Nach demselben Muster wie in den Kommunen werden die dortigen Gremien gestaltet, kontrolliert und Beschlüsse in die Tat umgesetzt. Die Eigenmächtigkeit der jeweiligen Kommunen wird dadurch gewahrt, dass sie die Stadtteilräte zusammensetzen und zugleich dadurch, dass Entscheidungen der jeweiligen Räte in den sie betreffenden Kommunen abgenickt werden müssen. Diese Kompetenz der jeweils unteren Strukturen, auch von Entscheidungen der oberen Strukturen abweichen zu dürfen oder Einspruch einzulegen, gilt für das gesamte System. Es ist nicht ganz klar, wie weit dieses Recht geht.

Ab der dritten Stufe des Rätesystems, dem Gebietsrat (eine gesamte Stadt plus Umfeld), engagieren sich vermehrt Parteien und NGOs. Während das Plenum erneut aus den dazugehörenden Koordinationen besteht, bekommen nunmehr Parteien, die auf der vierten und obersten Ebene des Rätesystems, dem Volksrat, aktiv sind, zusätzliche Sitze in den Plena der jeweiligen Gebietsräte. An die Gebietsräte sind zum Beispiel auch die ehemals staatlichen Kommunalverwaltungen mit ihren kommunalen Diensten und Infrastrukturen angebunden. Die Koordinationen der Gebietsräte scheinen hingegen viel stärker bei der TEV-DEM, der Koalition PKK-naher Kräfte, zu liegen. Als vierte und höchste Instanz rangiert der Volksrat Westkurdistans, der ebenfalls eng mit der TEV-DEM gekoppelt ist. In ihm werden Angelegenheiten, die ganz Rojava betreffen, koordiniert und beschlossen.

Dies klingt zunächst alles recht übersichtlich strukturiert. Letzten Endes bleibt aber die genaue Struktur und vor allem die Kompetenzverteilung der unterschiedlichen Elemente des politischen Systems von Rojava noch unklar bzw. noch nicht vollständig entwickelt. Zusätzlich bestehen seit 2014 zunehmend parallel zu den Rätestrukturen parlamentarisch-demokratische Strukturen auf Gemeinde- und Stadtebene. Hinzu kommt – seit dem Gesellschaftsvertrag von Rojava – die Gliederung Rojavas in einzelne Kantone, die wiederum eher klassisch föderal-parlamentarisch organisiert sind. In ihnen sind auch Kräfte organisiert, die beim Rätesystem nicht mitmachen. Und die Transformation von Rojava in die Nordsyrische Föderation im März 2016 ging einher mit einer Ausweitung auf Gebiete, die noch nicht einmal kantonal organisiert sind. Außerdem wurde erst vor kurzem (Ende Juli 2017) beschlossen, die Kantonsstruktur wieder umzuändern in sechs Regionen mit drei Kantonen. Alle diese Änderungen stärkten zwar die politische Integration des mittlerweile föderalen Gebietes mittels Ausweitung und Inklusion von bis dato insbesondere nicht-kurdischen Akteuren und nicht-PKK-nahen Kurd*innen, die fast überall mehrheitlich dem Rätesystem fernblieben. Aber die Verteilung von Kompetenzen und Entscheidungsgewalten und damit das politische System ist dadurch noch verwirrender und unklarer geworden. Es scheint der Fall zu sein, dass vieles de facto geregelt wird und die Räte in den Gebieten, in denen sie stark ausgebaut sind und wo die PKK-nahen Kräfte stark sind, viel Bestimmungsmacht haben. An diesen Orten scheinen weitestgehend die Interessen der höheren Entscheidungsebenen mit denen der unteren sowie diejenigen der parlamentarischen Strukturen mit denen der Räte zu harmonieren. Es wird sich aber erst mit Ende des Krieges und der Ausdifferenzierung (klassenförmiger) Interessen zeigen, wohin sich das politische System entwickeln wird.

Fakt ist, dass neben der nationalen Befreiung insbesondere die politische Struktur des Rätesystems eine bisher nicht gesehene Massenpartizipation und Selbstermächtigung in den betreffenden Gebieten insbesondere auf kommunaler Ebene entfesselte. Die Menschen der Viertel und Dörfer sind mittlerweile überall, wo das Rätesystem entwickelt ist, aktiv an allen Belangen der jeweiligen Viertel und Dörfer beteiligt und stellen sogar die erste Stufe der Selbstverteidigungsmilizen dar. Über die an die Kommunen angekoppelten Kooperativen entwickeln sie zugleich erste Ansätze von Wirtschaftsdemokratie in den Betrieben und von gesellschaftlicher Planung. Zudem werden Staatsapparate, die in bürgerlichen Staaten klassisch bürokratisch-autoritär organisiert sind, politisiert: So wählen die Einheiten des kurdisch dominierten Militärs (YPG/J) ihre eigenen Offizier*innen und sind den jeweiligen Räten rechenschaftspflichtig. Dasselbe gilt für die Polizei (Asayish). All dies sorgt für eine demokratische Politisierung und gesellschaftliche Kontrolle von Apparaten, die in bürgerlichen Gesellschaften normalerweise hochprofessionalisiert und bürokratisch sind und damit strukturell wie personell den Interessen der jeweiligen gesellschaftlichen Eliten dienen.

Nicht zuletzt aus der Perspektive der Frauen(selbst)ermächtigung ist die Leistung des Rätesystems beachtlich. An der von Öcalan entwickelten Theorie der Jineologie lässt sich aus westlich-feministischer Perspektive mit Fug und Recht die Naturalisierung von Geschlechterrollen kritisieren. Übersehen sollte man deshalb aber nicht, unter welchen Umständen die Frauenbewegung in Rojava entsteht und was sie zu erreichen im Stande ist: Innerhalb weniger Jahre wurden in einem erzpatriarchalen Gebiet, in dem zudem der IS mit Massenversklavung und -vergewaltigung von Frauen wütete und weiterhin wütet, Gender-Quoten in politischen und militärischen Angelegenheiten normalisiert, eigenständige Frauenräte gebildet und, als Mittel der Frauenbefreiung, eigenständige Frauen-Kampfeinheiten, die YPJ institutionalisiert. Insbesondere sie ist, als originär militärisch-politische Formation, die sich nicht allein auf militärische Handlungen reduziert, in der Lage, Frauen in der Region scharenweise zur politischen Partizipation und Selbstermächtigung zu organisieren. Frauenkooperativen hingegen sollen die Abhängigkeit der jeweiligen Frauen von den Familien und Ehemännern aufheben. Eine eigens eingerichtete Notfallhotline soll Frauen, die z.B. wegen Zwangsverheiratung zu Suizid tendieren, helfen; in Frauenhäusern können sich Frauen ohne zeitliche Einschränkung aufhalten und erhalten kostenlose Bildung. Was strafrechtliche Angelegenheiten in Bezug auf Frauen und Kinder angeht (von Belästigung über Vergewaltigung bis hin zu häuslicher Gewalt), ist eine sonders aus Frauen gebildete Sicherheitsbehörde, die Asayisch-J, sowie aus Frauen gebildete Räte zuständig. Ähnliche Institutionen wären nicht nur in der deutschen Linken bitter nötig. Sie führen ganz offensichtlich zu einer Stärkung, nicht Schwächung des gesamten Revolutionsprozesses.

Alle diese Errungenschaften der Revolution damit zur Seite zu schieben, indem man behauptet, sie seien integrierbar in die imperialistischen Pläne im Nahen Osten, da diese ja auch die „Menschenrechte“ und den „Pluralismus“ hoch hielten, ist auf eine menschenverachtende Art und Weise zynisch. Der Imperialismus mag im Nahen Osten stets mit dem Menschenrechtsbanner einmarschiert sein; Folge waren aber noch mehr Chaos, Massaker und Sektierertum – das Gegenteil von Demokratie und Pluralismus. Jede Befreiung im Nahen Osten muss unabhängig gegen den Imperialismus, aber auch gegen die reaktionären Regime vor Ort erkämpft werden.

3. Keine Rätedemokratie ohne revolutionäre Kader-Kampfpartei

Bei der linken Solidarität und Parteinahme für die Revolution in Rojava wird nicht nur oft diejenige Widersprüchlichkeit, die in der Parallelität unterschiedlicher politischer Strukturen und der mit ihr einhergehenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen liegt, übersehen. Auch die zentrale Rolle der revolutionären Kader-Kampfpartei geht unter. Daran hat nicht zuletzt der von Öcalan eingeleitete Paradigmenwechsel großen Anteil, insofern es in der neueren Theorie des Demokratischen Konföderalismus eigentlich keinen Platz für sie gibt. In der Praxis sieht das ganz anders aus: Ohne die Aktivität von PKK-Kadern und PKK-nahen Kräften wären weder PYD noch YPG entstanden, Rojava und die Rätedemokratie wären undenkbar. An fast allen führenden militärischen und politischen Stellen sind PKK-Kader aktiv: Die TEV-DEM, die im Prinzip in allen höheren Strukturen des Rätesystems dominiert und auch in den föderalen Strukturen stark mitredet, ist im Prinzip eine Koalition aus PYD, Massenorganisationen der PYD sowie kleinen PYD-nahen Parteien. Die PYD selbst hingegen wurde von PKK-Kadern gegründet. Bei der YPG und YPJ sieht das ähnlich aus: (ehemalige) PKK-Kommandant*innen waren führend am Aufbau der YPG beteiligt, noch heute sind die Ausbilderinnen der YPJ-Militärakademien alte Veteraninnen der YJA-Star, der Frauenmilitärformation der PKK. Die Initiierung und Ausweitung der Rätestrukturen wiederum ging wesentlich von der PYD aus.

All das heißt nicht, dass alle Organisationen Tarnorganisationen der PKK sind und von ihr kontrolliert werden oder alles erstickt wird, was nicht passt oder nicht PKK-nah ist (wobei die Auseinandersetzungen zwischen Barzani-nahen und PKK-nahen Fraktionen in Rojava und im Irak teils ziemlich brutal ablaufen). Die Basisaktivität der Bevölkerung und die Räte sind real, auch wenn das Verhältnis von „obersten“ politischen Machtstellen und „untersten“ Räten nicht ganz durchsichtig ist. Die PKK und PKK-nahen Kader besorgen vor allem die militärische Organisation und Führung und die hohe Politik, d.h. Verhandlungen mit Assad und den anderen beteiligten Großmächten, regionenübergreifende Diplomatie mit den unterschiedlichen Gruppierungen und Interessen in Gesamt Rojava/Nordsyrien sowie weitestgehend die Kontrolle über Infrastruktur und Großbetriebe. Im Endeffekt bedingen sich in Rojava Rätedemokratie und revolutionäre Partei gegenseitig: Ohne die revolutionäre Partei hätte es die Machtübernahme und Initiierung von Rätestrukturen sowie ihren Schutz vor dem IS, ohne die aktive Partizipation der Massen keine soziale Verankerung der neuen Macht und der neuen Gesellschaftsvorstellungen gegeben. Ebenso wenig wird es ohne breite Mobilisierung, so lässt sich sicher voraussagen, keine Transformation der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse geben. Dass die Balance eine heikle ist, kennt man aus früheren sozialen Revolutionen. Auch in Rojava wird sich der Erfolg der sozialen Revolution daran bemessen, wie weit die Differenz zwischen Regierenden und Regierten aufgehoben werden wird.

YPJ in Rojava

Noch heute sind Ausbilderinnen der YPJ-Militärakademien alte Veteraninnen der YJA-Star, der Frauenmilitärformation der PKK.

4. Das heikle Thema der Produktionsweise

In Öcalans neueren Schriften lassen sich bekanntermaßen ganz unterschiedliche Dinge zum Thema der Wirtschaft oder der Produktionsweise finden. So nehmen sich einerseits die liberalen Argumentationsmuster, die sich entlang einer Entgegensetzung von natürlicher, demokratischer Gesellschaft und repressivem, autoritären Staat formieren, als eher moralistisch, korporatistisch und versöhnlerisch aus. Andererseits finden sich ebenso viele antikapitalistische Elemente, die auf eine Aufhebung der profitwirtschaftlich und monopolistisch organisierten kapitalistischen Produktionsweise hin zu einer kooperativen und kommunalen Ökonomie mit Fokus auf Bedürfnisbefriedigung zielen. Was Eklektizismus in der Theorie ist, stellt sich in der Praxis als ein Ganzes von teils auseinander strebenden Widersprüchen und Tendenzen dar.

Die von den PKK-nahen Kräften verfolgte Umstrukturierung der Wirtschaft Rojavas entwickelt sich anhand der Achse von Kooperativen und an die Rätestrukturen gebundenen Wirtschaftskommissionen. Zahlen gibt es wenige. Fakt ist, dass die Wirtschaftskommissionen der Räte- und Föderationsstrukturen alles übernahmen, was zuvor verstaatlicht war – die Rede ist von bis zu 70 bis 80 Prozent aller Ländereien. Fakt ist aber auch, dass Privatunternehmen, deren Besitzer nicht geflohen waren, sowie Großgrundbesitz nicht angefasst wurden. Der Volksrat und die föderalen Strukturen monopolisierten nicht nur die wenigen großen ehemaligen Staatsbetriebe (Elektrizität, Benzin, Brotproduktion und öffentlicher Verkehr), sondern auch die Verteilung von Grundnahrungsmitteln und verteilten deren Produkte bedarfsorientiert. Zusätzlich wurden Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel, die über den Markt verhandelt wurden, eingeführt. Mit diesen Maßnahmen konnte eine stabile Infrastruktur und Grundversorgung der Bevölkerung garantiert werden.

Unterhalb dieser Ebene der grundlegenden und umfassenden Versorgung und Infrastruktur wird die Entwicklung einer Kooperativenwirtschaft vorangetrieben und gefördert. So wird Land, das nicht benutzt wird, sowie Gebäude und jeweilige Werkzeuge an Menschen zwecks Gründung von Kooperativen übergeben. Diese zumeist kleinen bis mittleren Einheiten übernehmen in erster Linie Subsistenzproduktion und drücken knapp 30 Prozent des Gewinns an die jeweiligen Wirtschaftskommissionen ab, die damit die Gründung neuer Kooperativen fördern. Zusätzlich kontrollieren die zuständigen regionalen und kommunalen Räte Leitung und Geschäftstätigkeit der jeweiligen Kooperativen, um einen „Betriebsegoismus“, wie er sich zum Teil in der Sowjetunion und in Jugoslawien herausbildete, zu verhindern. Die Kooperativen stellen somit kein Privateigentum dar, können auch nicht privatisiert werden. Die Werktätigen der Kooperativen betreiben sie zusammen mit den jeweiligen Rätestrukturen. Allerdings zeigen die wenigen Zahlen, die vorliegen, dass die Kooperativenstruktur nicht stark ausgebildet ist: Während zum Beispiel Talal Cudi aus der Leitung der Wirtschaftskoordination der Föderation Nordsyrien davon spricht, dass Kooperativen nur fünf Prozent der Landwirtschaft ausmachen, geht eine andere Analyse davon aus, dass bisher nur 100.000 der insgesamt 4,5 Millionen Bewohner*innen von Rojava in Kooperativen organisiert sind.

Während Anhänger*innen der Revolution von Rojava den Aufbau der Kooperativenwirtschaft als Aufbau einer alternativen, nichtkapitalistischen Wirtschaft feiern, reden kritische Stimmen von „notdürftigen Übergangslösungen“, die im besten Fall in einer stabilisierten kapitalistischen Wirtschaft mit korporatistischen Elementen münden werde. Korrekter ließe sich festhalten, dass es unterschiedliche soziale Akteure mit unterschiedlichen Interessen gibt, die im Rahmen einer vom Krieg dominierten Wirtschaft zusammenkommen. Aber während die Neureichen der Kriegsökonomie (Schmuggel, Handel, informelles Finanzwesen) sowie Überreste der Großgrundbesitzer und Unternehmer kein Interesse an einer nichtkapitalistischen Wirtschaftsordnung haben, haben die PKK-nahen Kräfte großes Interesse am Ausbau der Kooperativenwirtschaft und der linke Flügel hat Interesse an der Überwindung des Kapitalismus. So planen die Rätestrukturen, die demokratisch kontrollierte Kooperativenwirtschaft über die nächsten Jahre hinweg massiv auszubauen. Die linken Kräfte beklagen aber auch das Fehlen von starken, unabhängigen Gewerkschaften sowie der stärkeren Verankerung von Arbeiter*innenkontrolle in den großen, bisher von den föderalen Strukturen verwalteten Betrieben – unter anderem auch als notwendiges Instrument dafür, um gemeinsam mit kleineren und mittleren Kooperativen die Entwicklung von Privateigentum zu verhindern.

Der Gesellschaftsvertrag von Rojava aus dem Jahre 2014 garantiert einerseits das Recht auf Privateigentum. Andererseits verbietet er Monopole, erklärt natürliche Ressourcen zum Gemeineigentum, erhebt die Bedürfnisbefriedigung und das würdevolle Leben für alle zum Zweck der Wirtschaft und ermöglicht Enteignungen aus sozialen Gründen bei Entschädigung des Eigentümers. Damit ist er offensichtlich eine Kompromiss-Verfassung für sehr diverse politische Akteure, die sich eben auch in betreffs der Frage nach der Produktionsweise unterscheiden.

5. Widersprüche ausnutzen oder von Widersprüchen ausgenutzt werden? Perspektiven der Revolution in Rojava

Bekanntlich kooperierten die kurdischen Kräfte und anschließend die SDF mit den USA, gleichzeitig jedoch auch mit Russland und zeitweise auch mit dem syrischen Regime, um ein Gleichgewicht zwischen den Mächten zwecks Verfolgung eigener Interessen herzustellen. Auch in der Frage der Zusammenarbeit mit regionalen und internationalen Akteuren kristallisieren sich unterschiedliche Vorstellungen heraus: Während der linke Flügel einerseits klarmacht, dass jede Zusammenarbeit mit kapitalistischen (Groß-)Mächten nur vorübergehend und taktisch sein kann, ist der rechte Flügel daran interessiert, die USA längerfristig in Rojava zu behalten und strategisch mit ihnen zu kooperieren, mutmaßlich um die eigenen kapitalistischen Interessen zu stabilisieren.

Es ist der Krieg, der in Kombination mit den klugen taktischen Schritten der PKK-nahen Kräfte eine Koalition aus ganz unterschiedlichen Kräften in Rojava/Nordsyrien möglich gemacht hat. Hat die erfolgreiche nationale Befreiung dazu geführt, dass bis in den Irak hinein die PKK und PKK-nahe Kräfte immensen Zulauf unter der kurdischen Bevölkerung gewonnen haben, konnte der demokratische Charakter derselben letztlich auch Bevölkerungsteile der anderen Nationen und Ethnien integrieren. Gleichzeitig führen die revolutionär-demokratischen Elemente (das Rätesystem) vor allem zu einer (Selbst-)Ermächtigung der an ihnen partizipierenden Werktätigen. Ob aber der Großgrundbesitzer und Scheich Mehdi Daham-al Hadi, Stammesführer der Shammar und Gründer der in die SDF integrierten al-Sanadid Milizen, sowie die anderen Großgrundbesitzer und -unternehmer ein Interesse an der Ausweitung der demokratischen Revolution über den bürgerlichen Rahmen hinaus oder gar an einer Vertiefung der sozialen Revolution haben – daran darf mit Fug und Recht gezweifelt werden. Es wird sich mit Ende des Krieges – so dies stattfindet – zeigen, welche Interessen sich stärker durchsetzen werden und wie weit die Revolution gehen wird.


Dieser Artikel ist eine erweiterte Version des Essays "Rojava: Welche Art der Selbstbestimmung?", welches am 10.10.2017 auf kritisch-lesen.de erschien.



Weiterführende Literatur:

Anja Flach, Ercan Ayboğa, Michael Knapp: Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, 3. aktualisierte Auflage, Hamburg, 2016.

David McDowall: A Modern History of the Kurds, 3rd ed., London, 2004.

Ismail Küpeli (Hrsg.): Kampf um Kobanê, Kampf um die Zukunft des Nahen Ostens, Münster, 2015.

Strangers Tangled in Wilderness: A Small Key Can Open a Large Door: The Rojava Revolution, 2015.

Thomas Schmidinger: Krieg und Revolution in Syrisch-Kurdistan: Analysen und Stimmen aus Rojava, 4. erweiterte Auflage, Wien, 2017.