Weder Chauvinismus, noch Humanismus. Zur linken Migrationsdebatte
Einer der derzeitigen Hauptstreitpunkte der deutschen Linken insgesamt, sowie vor allem der LINKEN als Partei im Besonderen, ist die sogenannte „Flüchtlingsfrage“, die eigentlich eher als Migrationsfrage zu begreifen ist. Die Debatte bewegt sich zwischen den beiden entgegengesetzten Polen einer national-chauvinistischen Perspektive und eines liberalen Humanismus. Gleichzeitig werden Fragen der unmittelbaren Taktik (Abwehrkampf gegen die vorwärtsmarschierende Reaktion) mit denen der Strategie (Handlungsmöglichkeiten und -optionen, falls wir mal in der Offensive wären; längerfristige Ziele und Perspektiven) vermischt. Das Ergebnis ist ein heilloses Durcheinander, das die zentrale Erkenntnis von Klassenkämpfen unter den Tisch fallen lässt, namentlich dass sie heftig geführte soziale Kämpfe um Gesellschaft sind. Die linke Debatte in Deutschland befindet sich auch in dieser Thematik in einer Sackgasse, aus der wir schleunigst rauskommen müssen, wollen wir aktionsfähiger werden, bevor die Rechte endgültig die Hegemonie gewinnt.
Die Migrationsfrage, der Imperialismus und die Weltwirtschaftskrise
Fangen wir an mit dem Hintergrund. Woher überhaupt diese Debatte? Von etwa 68,5 Millionen Geflüchteten weltweit (Stand: Ende 2017) sind etwa 40 Millionen Binnenflüchtlinge, das heißt verbleiben im jeweiligen Krisengebiet. Der Rest verteilt sich zum Großteil auf umliegende Länder – zu 85 Prozent werden Refugees in sogenannten „Entwicklungsländern“ aufgenommen. Nur ein kleiner Teil schafft es in die Festung Europa. Deutschland, das Land, welches in Europa die meisten registrierten (sic!) Geflüchteten aufnimmt, beherbergt derzeit knapp 1,4 Millionen Geflüchtete. Knapp 30 Prozent von ihnen warten noch auf ihren Bescheid, mit dem ihr Status geklärt wird. Um einen frappanten historischen Vergleich zu ziehen: Zwischen 1850 und 1920 emigrierten 70 Millionen Menschen aus Europa, was in etwa 17 Prozent der Bevölkerung Europas im Jahre 1900 entsprach. Damit entledigte sich Europa eines großen Teils seiner kapitalistisch überflüssig gemachten Bevölkerung. Würden heute anteilig so viele Menschen des Globalen Südens nach Europa migrieren wie damals aus Europa, wären das 800 (!) Millionen Menschen. Die derzeitige Emigration aus „Entwicklungsländern“ in „Industrieländer“ entspricht „vernachlässigbaren 0,8 Prozent“ (ILO) der Arbeitsbevölkerung der „Entwicklungsländer“. [1] Die derzeitig so abwertend hochstilisierte „Flüchtlingswelle“ nach Europa ist also im historischen Vergleich wie auch im Vergleich zum hier existierenden Wohlstand keine; wer sie als solche bezeichnet, ist wirr, verblendet – oder verfolgt offensichtlich eigennützige Interessen.
Europa schottet sich seit den Dubliner Abkommen in den 1990ern zunehmend ab und lässt gezielt Geflüchtete an seinen Grenzen sterben; schiebt sie in Kriegsgebiete ab oder überlässt sie dem rassistischen Mob im eigenen Land. Gleichzeitig macht man gute Mine zum bösen Spiel, indem in zahlreichen europäischen Ländern parallel Tausende Töpfe und Förderprojekte aus dem Boden gestampft werden, die irgendwas mit Migration, Flüchtlingen und so weiter, vor allem aber mit viel ehrenamtlicher Arbeit zu tun haben. Das Gesicht bleibt gewahrt, denn Merkel war ja verantwortlich für den „Willkommenssommer 2015“ oder für die „große Umvolkung“, je nach politischer Perspektive.
Der rassistische Diskurs gegen Geflüchtete wird nicht per Zufall in dieser extremen und über alle Lager greifenden Form erneut seit Anbeginn der Großen Weltwirtschaftskrise 2007-08 systematisch von Massenmedien und Parteien bis weit in das politische Establishment hinein gefördert und hat mittlerweile Ausmaße angenommen, die sogar vom Deutschen Kulturrat kritisiert werden. Die erzreaktionäre Bearbeitung der Migrationsfrage ist immanenter Teil der Bearbeitung der Weltwirtschaftskrise seitens der Herrschenden: Fand einerseits eine kaum nachhaltige „Normalisierung“ der führenden kapitalistischen Wirtschaften auf niedrigem Niveau mittels einer immensen Liquiditätsflut statt, wurden andererseits die Kosten der Krisenbewältigung auf die Bevölkerungen abgewälzt mittels „jobless growth“ (Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswachstum), Austerität, Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse und so weiter. Derweil schlägt die imperialistische Konkurrenz um Märkte und Kostenabwälzung in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise Blüten in Form von Brexit, Trump, Elementen von Handelskrieg(en) und realen Kriegen – in Mali, in Libyen, in Syrien, im Irak und so weiter und so fort. Es ist offensichtlich, dass die Migrationsströme erneut wegen diesen Kriegen und Krisen zunehmen. Selbstverständlich flüchtet ein Teil der Menschen auch aus „wirtschaftlichen Gründen“. Aber nur wer von wohlstandschauvinistischen Reflexen oder Interessen schon durchsetzt ist, nimmt nicht wahr, dass die Superausbeutung von Millionen von Arbeiter*innen des Globalen Südens seitens westlicher Großkonzerne für unsere billigen T-Shirts oder iPhones; das fröhlich betriebene Land Grabbing und die damit einhergehende Vertreibung von Millionen vom Land; sowie das erbarmungslose Niederkonkurrieren von schwächeren kapitalistischen Wirtschaften mittels Produktivitätsvorteilen und Subventionen in den imperialistischen Zentren die dem derzeitigen Imperialismus entspringenden „wirtschaftlichen Gründe“ sind, die hauptsächlich zu „Arbeitsmigration“ führen. Die wohlstandschauvinistische Ideologie verkehrt die Verhältnisse: Nicht „Wirtschaftsflüchtlinge“ beuten unsere Sozialsystem aus, sondern wir beuten verarmte Länder aus, aus denen einige wenige es zu uns schaffen.
Aber genau in Bezug zur sich erneut verschärfenden Konkurrenz zwischen den Imperialismen wie auch zur Abwälzung der Kosten der Krise auf die Werktätigen lässt sich die Funktion der erzreaktionären Thematisierung der Migrationsfrage verstehen. Es wurde oft genug aufgezeigt, wie durch diese diskursive Verschiebung Fragen klassenförmiger Verteilung und Teilhabe kulturalisiert und Spaltungslinien inklusive gegenseitiger Aufhetzung innerhalb der Subalternen nicht bloß ideologisch, sondern sehr praktisch und materiell gefördert werden. Eine Thematisierung der wirklichen Krisengewinner und der Entstehung einer Solidarität der Subalternen wird damit vorgebeugt, zugleich lassen sich Wut und Unmut der werktätigen Bevölkerungsteile hübsch nutzen im kapitalistischen Konkurrenzkampf um die enger werdenden Profitaussichten. Die riesige Solidaritätswelle mit Geflüchteten in Deutschland und Österreich in den Jahren 2014 bis 2015 sowie die derzeitige Solidarität mit der Seebrücke zeigen andererseits auf, dass die Rechnung nicht einfach so aufgeht. Es ist ausgemachtes Ziel der Herrschenden, diese Form demokratischer Tiefenreflexe der Gesellschaften zu brechen, wofür dann eine „Kölner Silvesternacht“ nach der anderen und andere „Skandale“ migrationsfeindlich konstruiert werden.
Wohlstandschauvinistische Verschiebung der Migrationsfrage innerhalb der Linken
Nun organisiert sich die hiesige Rechtsverschiebung auch in Teilen der Linken und LINKEN in Form einer national-chauvinistischen oder exklusiven Reorientierung auf das Gemeinwohl, das mal verdeckter mal offener rassistisch und abwertend auftaucht. Bei Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine ist der Wohlstandschauvinismus oft eher latent oder verdeckt: Wird ihnen Rassismus für ihre Ansichten vorgeworfen, verweisen sie entrüstet auf ihre soziale Programmatik. Reden oder schreiben sie jedoch über die Migrationsfrage, taucht nirgends auf, dass sich Solidarität mit Geflüchteten und Fluchtursachenbekämpfung gar nicht ausschließen, sondern sogar immanent zusammenhängen. Denn bei der Aufnahme von Geflüchteten geht es darum, unmittelbare Unterstützung und würdevolles Leben für alle zu ermöglichen in einer Welt, wo wir eben noch nicht erfolgreich darin waren, Fluchtursachen effektiv zu bekämpfen. Letztlich dient die ausschließliche Fokussierung auf die Thematisierung von Fluchtursachen dazu, das aktive Desinteresse an Solidarität mit Geflüchteten hier zu übertünchen und rationalisieren. Ebensowenig taucht auf, dass die ja tatsächlich zunehmende Konkurrenz auf Wohnungs- und Arbeitsmarkt durch Einwanderung von abgewerteten Arbeitskräften nur deshalb eine Konkurrenz sein kann, weil der Wohnungs- und Arbeitsmarkt schon seit Jahren und insbesondere seit der Agenda 2010 im Sinne von Kapital und Eigentümer*innen aktiv umstrukturiert wurde. So wurden (großteils) Unternehmer*innen und Wohlhabenden in den Jahren 2000 bis 2013 Steuergeschenke in Höhe von insgesamt 490,35 Milliarden € (also jährlich durchschnittlich 37,71 Mrd. €) gemacht. Allein die Anhebung der bundesdeutschen Immobiliensteuer auf OECD-Durchschnitt würde jährlich an die 27 Milliarden € in die Kassen spülen. Und dann gibt es natürlich noch die „legale“ Steuerflucht in Steueroasen, wodurch der deutsche Staat allein schon nach öffentlich zugänglichen Daten 17 Milliarden € im Jahr, real aber vermutlich viel mehr verliert. Die aktuellen Ausgaben in Deutschland für alles, was irgendwas mit „Geflüchteten“ zu tun hat (Sicherheitsdienste, Wieder-Aufbau sozialer Infrastruktur, …), sind mit, je nach Berechnungsmethode, 20 bis 30 Milliarden € im Jahr ein Witz dagegen. Und dabei reden wir noch von einem Vergleich mit Exzessen des bundesdeutschen Kapitals und der Wohlhabenden, noch gar nicht von den enormen Profiten und Reichtümern, die „normal“ und ohne Exzesse gemacht und angehäuft werden. In Tiraden gegen „Banken und Konzerne“ reden Lafontaine wie Wagenknecht und ihre Anhänger*innen oft von dieser Art Konsequenzen des „ungezügelten Kapitalismus“, nicht jedoch dann, wenn es um die Migrationsfrage geht. Wer aber bei der Migrationsfrage vom BRD-Kapitalismus, wie er derzeitig konkret verfasst ist, nicht redet, sondern gar noch ernsthaft scheinwissenschaftlich-positivistisch über den Beitrag von Geflüchteten zum Wirtschaftswachstum sinniert, der übt schon längst Anpassungspolitik an das Bestehende und hofft darauf, im bestehenden Klassengefüge doch irgendwie integriert zu werden und Privilegien zu ergattern oder zumindest zu behalten.
So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass insbesondere von dieser Art Linken Argumente und Echauffierungen kommen, die ganz knapp am rechten Lager vorbei schrammen. So vergisst man alle Kritik an „Banken und Konzernen“, wenn es ausgerechnet bei Geflüchteten heißt, „der Staat habe Grenzen der Belastbarkeit“, die linke Form des populären reaktionären Slogans: „Das Boot ist voll“. Teils wird auch von dieser Art Linken ernsthaft behauptet, Geflüchtete seien Schuld an Gewalt gegen Frauen, an allgemeiner Unsicherheit in der Gesellschaft, an steigender Kriminalität. Dass Studien zeigen, dass Gewalt an Frauen in Deutschland über die Jahre hinweg auch ohne „Flüchtlingswelle“ konstant hoch und deshalb ein hausgemachtes Problem ist; dass die Kriminalitätsrate über die Jahre sogar gesunken ist; dass zudem Kriminalitätsstatistiken nicht zuverlässig und ihre Interpretationen insbesondere in Bezug auf Geflüchtete heftig umstritten sind – all das wird von einer Flut pathischer Projektionen überdeckt, die durchaus auch multimedial gefördert werden (siehe die Debatte um „Terrornacht der Nafris“ 2015/16 und 2016/17).
Es bleibt festzuhalten, dass die sozialpsychologischen und gesellschaftlichen Sturmwinde, die die Weltwirtschaftskrise entfesselt hat, nicht nur „die Gesellschaft“ durcheinander wirbeln und alles Feste zum Schwanken bringen, sondern eben auch die Linke, die Teil „der Gesellschaft“ ist. Wir haben uns bisher nicht als fest genug erwiesen, diesen Sturmwinden stand zu halten und gegen sie selbständig und organisiert anzukämpfen mit einer überzeugenden Perspektive ihrer Überwindung. Das permanente multimediale Bombardement, die bewusst herbei inszenierte Panikmache, die Phantasmagorie des „islamistischen Terrors“, der unabhängig und geradezu surreal von jeder realen Relation zum „islamistischen“ und sonstigen Terror existiert, die Aura von Angst, Perspektivlosigkeit und Unsicherheit haben auch Teile von uns zermürbt, beziehungsweise noch mehr zermürbt. Einige von uns haben innerlich, sicherlich oft ohne böse Absicht und vermutlich teils ohne bewusste Absicht, kapituliert und sich dem ergeben, was so erscheint, als ob es Festigkeit inmitten der Sturmwinde gewähren könnte.
Einst hatten wir einen festen Stand in dieser Angelegenheit: Marx, Engels, große Teile der Vorkriegs-SPD und Lenin plädierten durchgehend für die Aufnahme von Arbeitsmigrant*innen und brandmarkten Migrationsbeschränkungen als „spießbürgerlich“ oder „aristokratistisch“, wenn auch zugegebenermaßen in der etwas mechanistisch-deterministischen Vorstellung, dass dadurch die klare Unterscheidung in Kapital und Arbeit und hierüber vermittelt der Klassenkampf im Sinne der Arbeiter*innen gefördert und unser Sieg beschleunigt würde. Der ist zwar nicht eingetreten, aber die Geschichte migrantischer Kämpfe (z.B. im Italien der 1970er, aber auch in der BRD der 1970er Jahre) zeigt: als Deklassierteste waren sie stets diejenigen, die am radikalsten kämpften, und in betreffs Arbeitskämpfen praktisch betrachtet oft zur Avantgarde wurden. So waren es vor allem die türkischen Gastarbeiter*innen im Ford-Streik in Köln 1973, die den illegalen und von der Gewerkschaftsführung nicht unterstützten Kampf gegen die ungleiche Behandlung entfachten und letztlich auch die ansässigen deutschen Arbeiter*innen zum Kampfe motivierten. Es ist vor diesem Hintergrund ebenfalls kein Zufall, dass, um beim deutschen Beispiel zu bleiben, die Grauen Wölfe ihre Organisierung in Deutschland erst mit den 1970ern aufnahmen und staatlich unterstützt wurden, wobei die Gewerkschaften schon damals vor den Konsequenzen warnten, mit denen wir uns heute auseinanderzusetzen haben.
Liberaler Humanismus als Alternative?
Viele von uns haben sich dem national-chauvinistischen backlash aber auch widersetzt und sind von ihren antirassistischen, die Kämpfe der refugees unterstützenden Ansätzen nicht abgerückt. Ihrer unendlichen, teils kleinteiligen Mühe, gekoppelt mit der migrantischen Selbstorganisierung, ist es zu verdanken, wenn eine Abschiebung verhindert werden oder eine Küche zum Selberkochen für ein Geflüchtetenlager erkämpft werden kann. Oder wenn es dann eben doch staatlich geförderte Projekte und Programme für Geflüchtetenarbeit gibt, die zwar die Pflichten des Staates auf die Öffentlichkeit abwälzen, aber genau so gut auch einfach gar nicht hätten stattfinden könnten, gäbe es nicht die Kämpfe darum und nach wie vor vorhandene demokratische Tiefenreflexe in Teilen der deutschen Gesellschaft.
Aus diesen Kreisen mehren sich Stimmen – und sie schlagen sich manchmal in Positionspapieren und dergleichen nieder –, die im Angesicht des Rechtsruckes und der Verbreitung national-chauvinistischen Gedankenguts innerhalb der Linken offensiv weiterhin den alten Slogan „no nations, no borders“ beziehungsweise „offene Grenzen für alle“ verteidigen und zu einer eigenständigen politischen Ideologie des Transnationalismus und Ähnlichem formieren. Es ist ohne Zweifel richtig, dass die Bewegungsfreiheit der Menschen im allgemeinen ein Ziel sein sollte, für das wir streiten müssen. Das Problem liegt bei diesen Positionen an zwei Stellen.
Erstens stehen ihre ideologischen Wortführer*innen zunehmend für eine De-Thematisierung der Geflüchtetenfrage im Zusammenhang mit dem Imperialismus, der ja diese Ströme in dieser Art erst hervorbringt, und dem Neoliberalismus hier im Lande. Trotz dass unterschiedlichste Studien und Modediskurse um „Post-Demokratie“ zeigen konnten, dass wegbrechende Lebens- und Arbeitsstandards oder teils berechtigte Abstiegsängste zu Selbstschutzmechanismen und grassierender Angst sowie Unmut führten, auf denen basierend erst die Rechten bei Abwesenheit einer linken Offensive ihren zumindest massenhaften Aufstieg feiern konnten, wird dies vehement bestritten. Es schleicht sich zunehmend ein identitär-elitäres Element ein, das auf dem moralisch Richtigen (offene Grenzen hier und überall, transnationale Rechte jetzt sofort) beharrt und sich über alles andere erhebt. Wer Kämpfe zusammenführen will, gilt als doktrinär, AfD-Wähler*innen sind sowieso alle per se „Faschisten“ oder zumindest „Erzrassist*innen“, die offensiv bekämpft werden müssen. Als ob Rassist*innen nicht gemacht, sondern geboren werden; als ob die rassistischen Ressentiments des widersprüchlichen Alltagsbewusstseins, der auch ganz andere Elemente enthält, nicht erst aktiv organisiert werden müssten, bevor der Wohlstandschauvinismus und Rassismus zu zentralen Elementen eines geglätteten erzreaktionären politischen Programm erhoben werden und die Geflüchtetenheime als Konsequenz brennen.
Dabei ist nicht zwangsläufig das separate oder teils autonome Führen von Kämpfen das Problem – Menschen fangen oft dort an zu kämpfen, wo es für sie am brenzligsten ist oder wo sie die größte Empörung und Wut fühlen. Das Problem beginnt dort, wo diese Separation aktiv und ideologisch unterfüttert betrieben sowie andere Deklassierte oder Subalterne abgewertet werden. Wagenknechts Popularität speist sich nicht allein aus ihren teils reaktionären Positionen in der Geflüchtetenfrage, sondern auch daraus, dass sie ihre Positionen stets im Zusammenhang mit einem Angriff auf Konzerne und Banken zugunsten der Subalternen hier vorbringt. Solange die Kämpfe der hier am heftigsten Deklassierten, Prekarisierten und unter Druck geratenen Arbeiter*innen nicht mit aufgenommen und perspektivisch als gemeinsamer Kampf mit den Geflüchteten zusammengeführt werden, so lange wird uns einerseits die Kraft, weil Masse der werktätigen Bevölkerung, fehlen, tatsächlich Veränderungen umzusetzen. Andererseits wird sich bei unserer Abkehr von den Subalternen schlicht die Rechte ihres Unmutes noch erfolgreicher annehmen und ihn für ihre Zwecke funktionalisieren.
Das zweite, eng mit dem ersteren verbundene Problem dieser Positionen liegt darin, dass sie ein strategisches Ziel als unmittelbares Ziel ausgeben und kein Programm für deren Umsetzung zu geben imstande sind. Und zwar deshalb, weil sie auf der bloßen humanen und ethischen Richtigkeit der Position beharren, ohne die sozialen Konsequenzen der Umsetzung aus der Perspektive von sozialen Kämpfen mitzubedenken. Damit meine ich auch nicht, dass nicht mitbedacht wird, dass man technisch betrachtet nicht sofort alle Grenzen aufmachen kann und es deshalb Übergänge in der Regulation von Migration geben muss. Diesbezüglich gibt es Vorschläge, die, im Übrigen, ebenfalls dafür kritisiert werden, nicht konsequent genug „offene Grenzen für alle“ zu verteidigen. Was ich meine, ist etwas anderes. Wenn es genug Reichtum für alle gibt, dieser aber nur ungleich verteilt ist und man bei einer gerechten Verteilung in der BRD problemlos alle Geflüchteten vermutlich der ganzen Welt versorgen könnte – dann heißt das eben nichts anderes, als dass die sozialen Kräfteverhältnisse derzeit das nicht ermöglichen und dass man eine Veränderung gegen die bestehenden Herrschaftsverhältnisse und ihre Profiteure erzwingen muss im permanenten Klassenkampf. Das heißt, dass die Migrationsfrage nicht eine Teilfrage der menschlichen Ethik oder Moral und parallel hierzu im Bereich des Politischen eine Frage der konkreten Technik von Finanzierung, Aufnahme, Unterbringung, Integration und so weiter ist – sondern Kernelement eines von unterschiedlichen Interessen intensiv geführten Kampfes um die Struktur und Zukunft von Gesellschaften.
Und die Profiteure der hiesigen Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sind nicht einfach nur die paar Eigentümer*innen und Manager*innen von Siemens und Bosch. Die gesamte kapitalistische Wirtschaft der BRD hängt am bestehenden imperialistischen Weltsystem, das dem deutschen Kapital durch das „Exportwunder“ immense Profite beschert, gleichzeitig jedoch auch ein, im weltweiten Vergleich, weiterhin ordentliches Sozialsystem, ordentliche Löhne für Stammbelegschaften, noch akzeptable Prekarität – man vergleiche allein die Prekarität hier im Unterschied zur Prekarität in der Türkei – und dergleichen ermöglicht. Zusätzlich gibt es so etwas – vor allem von „antinationalen“ Linken unterschätztes – wie den deutschen Pass, der eine Bewegungsfreiheit ermöglicht, von dem der Großteil der Welt derzeit nur träumen kann. Versucht man nun diese teils imperialistischen Extraprofite des deutschen Großkapitals auch nur mit relativ milden Methoden wie beispielsweise der Veränderung des Steuersystems oder der staatlichen Ausgaben zwecks Ermöglichung eines würdevollen Lebens für alle Geflüchteten anzugreifen, dann schlägt die Bourgeoisie zurück, weil sie um ihre Profite und Hegemonie im Allgemeinen fürchtet. Gleichzeitig mobilisiert sie – wie derzeit – diejenigen Teile der Mittelklassen, der privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse und der nicht-privilegierten Teile der Arbeiter*innenklasse, die relativ oder auch nur scheinbar vom deutschen Imperialismus profitieren. Und zwar dadurch, dass sie auch deren Positionen als gefährdet darstellt, weil es ja – so die bürgerliche Ideologie – konkurrenzfähige und profitable Unternehmen sind, die Arbeitsplätze schaffen, und Schmarotzer jeder Art („Hartzer“, Geflüchtete, usw.) unseren Wohlstand, den Wohlstand der rechtschaffenen, fleißigen Deutschen gefährden. Schaffen wir es nicht, bei den Werktätigen hier praktisch zu verankern und erkämpfen, dass sie ihre selbständigen Interessen mittel- und langfristig besser dadurch wahren können, dass sie gemeinsam auch mit den zugezogenen und hierher geflüchteten Werktätigen gegen die selbständigen Interessen des Kapitals kämpfen, wird es schlicht nicht möglich sein, mehr für Werktätige hier wie auch für Geflüchtete herauszuholen, als das Kapital aufgrund seiner Akkumulationsmöglichkeiten und seinem Spielraum im Kräfteverhältnis mit anderen Kapitalen erlaubt.
Falls wir die Realität und die Konsequenzen des Klassenkampfes und seine Verknüpfung mit anderen Kämpfen, die nicht nur und derzeit nicht mal hauptsächlich von uns geführt werden, nicht begreifen und in diesem Bezug die nächsten taktischen Schritte erörtern, werden beide Richtungen einknicken: Der chauvinistische Flügel wird sich immer mehr an die deutsche Staatsräson anpassen, der linksliberal-humanistische, beständig herausgefordert dazu „mal einen konkret umsetzbaren und realistischen Plan vorzulegen“ und aufgrund der Mobilisierungsunfähigkeit wegen fehlender Verknüpfung der Kämpfe, pragmatisch werden; humanere Möglichkeiten der Aufnahme und Unterbringung von Geflüchteten vorschlagen und das strategische Fernziel als ein Fernziel, das mit dem Heute keine Verbindung hat, belassen. Die hardcore Idealist*innen werden sich am moralisch absolut Richtigen festklammern und Sektiererei betreiben. Beide Flügel werden sich tendenziell, ob aktiv oder aus der Defensive heraus dazu gedrängt, aneinander annähern.
Perspektiven der Offensive
Demgegenüber gilt es die Migrationsfrage auch schon im Abwehrkampf offensiv als eines der Kernelemente der sozialen Frage im derzeitigen Kontext von Kapitalismus und Imperialismus zu thematisieren. Nur so auch können perspektivisch die Spaltungslinien zwischen den „einheimischen“ Werktätigen und „zugezogenen“ Werktätigen überwunden und bürgerliche Hegemonien gebrochen werden. Es ist dabei klar, dass die Ziele und Methoden unterschiedlich gelagert sind: Geflüchtete kommen hier her, weil sie vor Krieg, Krisen und Perspektivlosigkeit flüchten, nicht um Klassenkampf zu betreiben. Es gilt, gegen den rechten Vormarsch für ein gutes Leben für sie und mit ihnen zu streiten und klar zu machen, dass es nur die derzeitigen sozialen und politischen Kräfteverhältnisse und nicht etwa irgendwelche neutralen, von menschlicher Praxis unabhängigen wirtschaftlichen oder kulturellen Parameter sind, die dem im Wege stehen. Das ist ideologisch betrachtet auch der Punkt, der die Brücke zu den Kämpfen der „einheimischen“ Werktätigen schlägt, da sie genau so von Kosteneinsparungen, Klassismus, Rationalisierungen, Spaltungen und dergleichen kapitalistischen Offensiven betroffen sind, auch wenn sie gegenüber Geflüchteten relativ privilegiert dastehen. Das wichtige ist, dass die unterschiedlichen Schritte richtig miteinander und in richtiger Perspektive kombiniert werden, um Erfolg zu zeitigen.
Es ist zudem offensichtlich, dass – strategisch betrachtet – der internationale Kampf organisiert und ausgeweitet werden muss, um Kapitalismus und Imperialismus auf Weltebene und damit die hauptsächlichen Fluchtursachen bekämpfen zu können. Gleichzeitig verschiebt die Utopie eines Transnationalismus der Kämpfe das Kämpfen auf einen Sanktnimmerleinstag, was sich schlagend im linksliberalen Dogma „es gab keine Alternative“ in Bezug auf die Niederlage von Syriza in Griechenland zeigte. In betreffs der Migrationsfrage zeigt sich dies im Dilemma des Transnationalismus, offene Grenzen und globale Rechte für alle erreichen zu wollen, gleichzeitig jedoch Politik machen zu müssen in einer Welt der Grenzen und Unterschiede. Nicht nur gibt es eine Ungleichzeitigkeit der Kämpfe. Es gibt auch nach wie vor eine ungleiche Organisation der Kämpfe. Es gibt derzeit keine Subjekte oder Organisationsformen, die im wirklichen Wortsinne international oder gar transnational wären. Alle paar Monate mal zu einem „transnationalen“ Treffen oder zu einer „transnationalen“ Demo zu fahren ist kein Transnationalismus. International wären die Kämpfe dann, wenn sie miteinander koordiniert wären, damit sich die Ungleichzeitigkeit der Kämpfe nicht negativ auf die an unterschiedlichen Orten unterschiedlich intensiv stattfindenden sozialen/antikapitalistischen Kämpfe auswirkt, sondern dass sich im Gegenteil die Kämpfe wechselseitig stärken. Eine Aufhebung der Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten, also Transnationalismus im starken Wortsinn steht aber kurz- bis mittelfristig nicht an. Praktische Solidarität hinsichtlich der Migrationsfrage beinhaltet zwecks „Fluchtursachenbekämpfung“ dann in strategischer Perspektive auch, die Kämpfe im Globalen Süden um Emanzipation und sozialen Fortschritt mit aller Kraft zu unterstützen. Diese können durchaus auch die Einführung von Kapitalverkehrskontrollen – eine Form von Grenzen –, Beschlagnahmung von Eigentum (Nationalisierungen/Vergesellschaftungen) und Aufbau alternativer internationaler Währungs- und sonstiger Institutionen beinhalten, um potenzielle populare und wehrhafte Gegenhegemonien gegen die derzeit dominanten Machtverhältnisse im imperialistischen Weltsystem zu errichten. Insofern sind Grenzen selbstverständlich nicht per se abzulehnen. Es hängt auch bei Grenzen davon ab, wer welche zu welchem Zweck errichtet. Und Grenzen gegen das Kapital werden wir genau so wie die Länder, die große Fluchtbewegungen erleiden, ziehen müssen, um unsere eigenen antikapitalistischen Interessen durchdrücken zu können.
Anmerkungen:
[1] John Smith, Imperialism in the Twenty-First Century. Globalization, Super-Exploitation, and Capitalism’s Final Crisis, New York, 2016, S. 108–09.