Verdichtete Eskalation

Am 18. März erreichte die politische Eskalation in der Türkei eine neue Stufe: Das Dekanat der Istanbul Universität entzog dem Bürgermeister der Stadt, Ekrem Imamoğlu, kurzerhand das Hochschuldiplom, das dieser dort vor über 30 Jahre erworben hatte. Imamoğlu, Politiker der stärksten Oppositionspartei Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP), wird schon seit geraumer Zeit als aussichtsreichster Gegenkandidat zu Erdoğan bei den nächsten Wahlen gehandelt; ein Universitätsdiplom ist allerdings notwendig in der Türkei, um zur Präsidentschaftswahl zugelassen zu werden. Aber das war noch nicht genug, schienen sich Erdoğan und Konsorten gedacht zu haben: Am 19. März 2025 wurde Imamoğlu auf Grundlage von zwei unterschiedlichen Anklagepunkten – Korruption und Terrorunterstützung – gemeinsam mit rund 100 seiner Mitarbeiter*innen und Kolleg*innen in Untersuchungshaft genommen. Vier Tage später wurde er dann per Gerichtsbeschluss in Gefängnishaft überführt.
Das vielleicht überraschendste an dieser Eskalation ist jedoch die Reaktion auf der Straße: Seit dem Entzug von Imamoğlus Diplom hat sich eine landesweite Massenbewegung formiert, die schon am ersten Wochenende vom 22. bis zum 23. März allein in Istanbul 600.000 Menschen täglich mobilisieren konnte. Eine Großkundgebung am letzten Samstag, den 29. März, schaffte es sogar bis zu einer Million Menschen auf der anatolischen Seite Istanbuls zusammen zu bringen. Was steckt hinter dieser Entwicklung? Welche Strategie verfolgt Erdoğan, und wie reagiert die Opposition?
Erdoğans ewiger Staatsstreich
Selbst für langjährige Beobachter*innen der türkischen Politik wie mich bleibt jede neue Eskalationsstufe erstaunlich – obwohl ich selbst noch vor weniger als einem Monat im re:volt magazine schrieb: „Das derzeitige sehr hohe Maß an Repression, auch gegen die wichtigste Oppositionspartei, die CHP, [wird] sicherlich beibehalten werden.“ Jede neue Repressionsfurie verblüfft eben doch immer wieder. Tatsächlich war Erdoğans aktueller Move aber auch im Konkreten keineswegs unerwartet – er hatte sich mit Pauken und Trompeten angekündigt.
Seit Jahren steht der Istanbuler Bürgermeister Imamoğlu im Fadenkreuz der Regierung. Bereits vor den Entwicklungen der letzten Woche wurde aus mindestens fünf Richtungen juristisch gegen ihn vorgegangen; seit Jahren hängt über Imamoğlu das Damoklesschwert des politischen Betätigungsverbots aufgrund eines politischen Verfahrens. Sein „Verbrechen“: Imamoğlu hat sich in wenigen Jahren als ernstzunehmender Gegenkandidat zu Erdoğan herauskristallisiert. Aber auch das ist nur Teil von Erdoğans ewigem Staatsstreich: Die systematische und gewaltvolle Ausschaltung aller autonomen oder oppositionellen Akteur*innen von Rang in Staat und Gesellschaft. Das Muster ist bekannt: Seit Jahren sitzen führende kurdische und linke Politiker*innen wie Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, viele kurdische Bürgermeister*innen oder auch der größte Kulturmäzen des Landes (Osman Kavala) im Gefängnis. Es ist daher unbegreiflich, dass sich jetzt noch Artikel veröffentlichen lassen mit Titeln wie „Turkey’s Authoritarian Turn“. Guten Morgen! Neu ist hingegen, dass sich die autoritäre Eskalation jetzt auch verschärft gegen die republikanische, türkische Opposition und gegen einen ihrer führenden Politiker richtet, der zum ersten Mal seit über 20 Jahren AKP-Herrschaft eine reale Aussicht auf Erfolg hat.
Keine Sekunde lang sollte man ernsthaft in Erwägung ziehen, dass gegen Imamoğlu und die anderen Angeklagten irgendetwas wirklich Justiziables vorliegt. Die Anklagen sind, das zeigen die Vernehmungsprotokolle bei der Polizei und beim Haftrichter, so sehr an den Haaren herbeigezogen und so offensichtlich politisch motiviert, wie es nur geht. Der Entzug des Diploms etwa verstößt nicht nur gegen den Geist, sondern sogar gegen den Buchstaben des Gesetzes: Es wurde ein Gesetz angewendet, das es 1990, als Imamoğlu an die Istanbuler Universität wechselte, noch gar nicht gab. Selbst nach heutigen Maßstäben wäre der Fall eine rein verwaltungsrechtliche Angelegenheit – in einem (bürgerlichen) Rechtsstaat wäre es undenkbar, jemandem nach über 30 Jahren wegen so etwas das Diplom zu entziehen. Die Korruptionsvorwürfe basieren auf den Aussagen von Geheimzeugen, deren Identität und Inhalte nicht überprüft werden können – ein altbewährtes Muster bei politischen Verfahren in der Türkei. Immer wieder stellt sich im Nachhinein heraus, dass jene Geheimzeugen schlicht erfunden sind. Politische Fiktion, nichts weiter. Auch der Terrorvorwurf ist ein alter Hut: politische Zusammenarbeit mit Kurd*innen. Im konkreten Fall: Die Zusammenarbeit der CHP mit der pro-kurdischen, linken Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (Halkların Eşitlik ve Demokrasi Partisi, DEM) im Rahmen der Lokalwahlen 2024, insbesondere in Istanbul. Und: weil Kurd*innen Terrorist*innen sind, gilt das als Unterstützung von Terrorismus. Klar, logisch.
Warum erfolgt der Schlag gegen Imamoğlu also genau jetzt? Erdoğan ist ein politischer Meisterstratege von unvergleichlichem Geschick. Er wartete einfach auf den bestmöglichen Moment, um zuzuschlagen. Die nächsten Wahlen stehen frühestens in zwei Jahren, wahrscheinlich jedoch eher in drei Jahren (2028), an. Schafft er es jetzt, seinen elektoralen Hauptgegner auszuschalten, wird die Opposition es kaum schaffen, kurzfristig eine neue Figur mit vergleichbarer Strahlkraft aufzubauen. Gleichzeitig wird Erdoğan noch genug Zeit haben, auch gegen einen weiteren Konkurrenten vorzugehen: Gegen den zweiten aussichtsreichen Oppositionskandidaten, den Bürgermeister von Ankara Mansur Yavaş (auch CHP), läuft – suprise, suprise! – auch schon ein mehrteiliges Verfahren wegen Korruption. Besonders ironisch daran: Unter dem langjährigen AKP-Bürgermeister Melih Gökçek (von 1994-2017) war Ankara das Sinnbild der Korruption der AKP-Ära, bis die CHP das Bürgermeisteramt 2019 übernahm. Die ökonomischen Folgen der Verhaftung sind für Erdoğan jedenfalls durchaus noch verkraftbar. Jeder mögliche Schaden (Verlust von Devisenreserven der Zentralbank, Entwertung der Lira, wieder zunehmende Inflation) lässt sich bis 2027-28 wieder derart einfangen, dass Erdoğan sogar in altbekannter Manier kurz vor den nächsten Wahlen erneut ökonomischen Populismus betreiben könnte.
Umgekehrt wird es schwieriger werden, die aktuelle Mobilisierung und das Tempo der Opposition bis zu den nächsten Wahlen aufrecht zu erhalten. Gut in Regierungskreise vernetzte Journalist*innen berichten, dass die AKP plant, die Istanbuler Stadtverwaltung mit Verfahren, Repression und Schikanen zu zermürben, ob mit oder ohne Imamoğlu an der Spitze. Hinzu kommen die Friktionen und Spaltungstendenzen innerhalb der Opposition, auf die ich gleich genauer eingehen werde. Nicht zuletzt kommen Erdoğan die internationalen Entwicklungen zugute: Er weiß natürlich, dass er mit Trump in den USA und einer EU, die dringend einsatzbereite Truppen für den Ukrainekrieg und Waffenschmieden für die „Zeitenwende“ benötigt, keinen günstigeren Zeitpunkt für seine aktuelle Offensive finden konnte als jetzt. Die neueste Eskalationsspirale ist also nicht abgekühlt – sie hat gerade erst angefangen.
Die Straßendynamik und ihre Errungenschaften
So weit, so Erdoğan. Nun ist aber auch er nicht unfehlbar und seine Kalküle gehen nicht immer auf. Wirklich überraschend bei den Entwicklungen der letzten Woche waren daher die riesigen landesweiten Massenmobilisierungen, die sich innerhalb weniger Tage entwickelten. Hatte die CHP ursprünglich zu Kundgebungen am Istanbuler Rathaus und dem angrenzenden Saraçhane Park mobilisiert, sprengten die Proteste schnell diesen eng gesteckten Rahmen: Schon direkt am 19. März mobilisierten zehntausende Studierende fast aller öffentlichen Elite-Universitäten des Landes – ODTÜ und Bilkent in Ankara, Boğaziçi, Marmara, Istanbul Universität und Technische Uni in Istanbul – unter Führung linksrevolutionärer Jugendorganisationen auf unabhängige Studierendendemonstrationen, und zwar täglich. Anpolitisierte Jugendliche mit diffus nationalistischen Grundüberzeugungen mobilisierten sich selbst oder unter Führung rechtsextremer nationalistischer Organisationen, ebenfalls zu Zehntausenden, ebenfalls täglich. In fast allen Enden und Ecken des Landes, inklusive in erzkonservativen Hochburgen in Zentralanatolien (wie Konya oder Çorum) und am Schwarzmeer (Rize, Trabzon), kam es zu teils spontanen, teils von den lokalen CHP-Abteilungen angeführten Demonstrationszügen. In Istanbul weiteten sich die Proteste auf einzelne Stadtviertel aus – mit teils Zehntausenden Beteiligten wie in Kadıköy. Und das parallel und unabhängig von der jeweils täglich stattfindenden Hauptkundgebung am Istanbuler Rathaus.
Einmal mehr wurde also die Jugend zur Speerspitze des popularen Aufstandes und trieb diesen über sich selbst hinaus. Die Demonstrationen tragen, wie damals bei Gezi, karnevaleske Züge: Banner mit Slogans wie „Liebe Polizei, bitte kein Tränengas, das macht mein Mascara kaputt“; Banner von IT-Studis, die die Unmöglichkeit Erdoğans per Funktionsgleichungen „beweisen“; mehrere Demonstrant*innen, die verkleidet als Pikachu in der ersten Reihe mitlaufen; ein Demonstrant, der unter Beschuss durch Wasserwerfer auf dem Boden einen Fisch nachahmt; die harten Jungs, die direkt vor der hochgerüsteten Polizeireihe miteinander darum konkurrieren, wer die meisten Liegestützen hinkriegt; die süßen Pärchen, die sich direkt vor der Polizeikette Heiratsanträge machen; hier ein Derwisch mit Gasmaske, der unter Tränengasbeschuss den sufistischen semazen tanzt; dort kollektive Volkstänze, Chöre, Töpfeklopfen, Autohupen – und so weiter, und so fort.
Die CHP hat diese Dynamik nicht selbst entfesselt und konnte sie auch nicht so einfach kontrollieren. Doch diesmal kam es zu einer fundamentalen Errungenschaft der Massenproteste, zu etwas, was meine Generation an Jugendrebell*innen um die Gezi-Aufstände im Sommer 2013 nicht geschafft hatte: Nach anfänglichem Zögern und Zaudern akzeptierte die CHP-Führung die Straßendynamik. Der Chef der CHP, Özgür Özel, rief dazu auf, Polizeibarrikaden zu missachten und drohte mit einem Demonstrationszug auf den symbolträchtigen Taksim-Platz in Istanbul, falls die Polizeigewalt nicht abnehme. Es sei dahingestellt, wie ernst ihm damit ist. Die CHP oszilliert seit dem Wochenende vom 22.-23. März zwischen zwei Polen: Sie versucht zum einen, die Bewegung zu dämpfen und kontrollierbar zu halten, aber auch schwächer zu machen: Schon hat Özel das Ende der Kundgebungen am Istanbuler Rathaus verkündet, weil Erdoğans Putsch zurückgeschlagen worden sei. Erdoğan zurückgeschlagen nach ein, zwei Wochen Protesten? Wohl kaum. Andererseits verteidigt die CHP gleichzeitig weiterhin den Kampf gegen Polizeibarrikaden auf den Straßen und kündigt an, dass die Demonstrationen stärker weitergeführt werden. Am 29. März kam es zu einer Großkundgebung im Bezirk Maltepe, auf der asiatischen Seite Istanbuls, mit bis zu einer Million Beteiligten. In den ganzen Jahren der AKP-Ära hat es so etwas vonseiten der CHP nicht gegeben; allein schon diskursiv stellt dies einen wichtigen Dammbruch dar. In regierungsnahen Kreisen – insbesondere bei der Führung der Exekutive (Polizeipräsidium und Gouverneur) in Istanbul – wächst die Angst, dass sich die Proteste zum 1. Mai mit Unterstützung der CHP tatsächlich auf den Taksim-Platz und den angrenzenden Gezi-Park ausweiten könnten. Und diese Angst ist berechtigt.
Die zweite wichtige Errungenschaft der Mobilisierungen hängt unmittelbar damit zusammen. Erdoğan hat sich, zumindest kurzfristig, schlicht verkalkuliert. Interne Berichte deuten darauf hin, dass Regierungskreise eine solche Massenreaktion nicht erwarteten haben. Sie gingen vielmehr davon aus, dass der Widerstand auf die CHP und ein paar Kundgebungen vor dem Istanbuler Rathaus beschränkt bleiben würde – was eigentlich gar nicht so verkehrt gedacht war, wenn man sich vor Augen hält, wie die CHP bisher Widerstand leistete. Diesmal ging die Rechnung nicht auf. Die Wut, der Oppositionellen und insbesondere der perspektivlosen Jugend, ist sehr hoch – sie gab der Massendynamik eine organisierte Realität, in der sich der Unmut weiter manifestieren konnte. Welcher Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt, das ist eben im Vornherein selten vorherzusehen; die ontologische Unvorhersehbarkeit bleibt eine Grundeigenschaft von spontanen Massen-„Ereignissen“ wie die derzeit stattfindende in der Türkei – auch, wenn im Nachhinein die allgemeinen Ursachen und Dynamiken nachvollziehbarer und klar werden. War nicht auch der Gezi-Aufstand von 2013 so ein „Ereignis“?
Ohne die Massendynamik wären die Wut und der Unmut eine individuelle Angelegenheit geblieben – ausgedrückt als Frust, Depolitisierung, Apathie, wie es bisher oft der Fall war. Die CHP hätte ein bisschen symbolisch protestiert und wäre zum Verfassungsgericht gerannt, das wär’s gewesen. Jetzt hat aber hat die Bewegung (kleine) Berge versetzt: Erdoğan musste schon in der kurzen Zeit Rückzieher machen. Offensichtlich hatte die politische Justiz vor, die gesamte CHP-Führung abzusetzen und einen von der Zentralregierung eingesetzten Zwangsverwalter für die gesamte CHP einzusetzen (klingt unglaublich, aber in der Türkei heute ist alles möglich). Zudem wollte sie offensichtlich einen Zwangsverwalter für das Bürgermeisteramt Istanbuls einsetzen. Beide Pläne musste Erdoğan jetzt zurückziehen.
Es gibt aber auch noch eine dritte unmittelbare Errungenschaft der Massendynamik. Man darf nicht unterschätzen, welch Bedeutung die Wahlurne in der Türkei unter Umständen haben kann. Wenn man das faschismustheoretisch übersieht, dann kann man nicht mehr erklären, was gerade passiert. Die Ergebnisse von Wahlgängen sind in der Türkei sakrosankt. Das ist demokratietheoretisch natürlich problematisch: Denn zu einer bürgerlichen Demokratie gehören ja nicht nur Wahlen dazu, sondern auch sowas wie Gewaltenteilung, Grundrechte und dergleichen. Die gibt es ja in der Türkei nicht mehr oder nur mehr in verkümmerten Überresten; die Wahlen sind nicht fair, und teils auch nicht mehr frei. Ganz zu schweigen von der Problematik der Überbetonung von Wahlen aus der Sicht popular-demokratischer Vorstellungen. Aber die Wahlurne und ihre Ergebnisse bleiben eben in der heutigen Türkei ein zentraler Maßstab in der breiten Wahrnehmung von Legitimität, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Erdoğan macht zwar, was er will – aber nur, wenn er sich irgendwie elektoral absichert. Natürlich arbeiten Erdoğan und seine Schergen dabei aktiv mit illegitimen und unfairen Mitteln daran mit, dass die Wahlen am Ende so aussehen, wie sie Erdoğan passen. Das klappt aber eben trotz der Repression und Unfairness nicht immer so, wie erwünscht. Das muss man einfach in der Analyse mitbedenken.
Hinzufügen muss man, dass die Missachtung von Wahlergebnissen nicht überall im gleichen Maße skandalisiert wird. In den kurdischen Gebieten etwa werden Wahlergebnisse seit langem mit Füßen getreten, was von der restlichen Türkei bestenfalls mit mäßigem Interesse zur Kenntnis genommen wird. Für die Kurd*innen selbst ist es hingegen eine fundamentale Frage. Hier verläuft die „racial line“ der Türkei. Doch es gibt Momente, in denen Wahlbetrug oder die Missachtung von Wahlergebnissen auch über diese Linie hinaus Empörung auslösen. Und zwar vor allem in Istanbul.
Schon einmal, nämlich bei den Lokalwahlen am 31. März 2019, ging daher der Versuch, den Sieg von Imamoğlu mit Mitteln der politischen Justiz zu unterdrücken, nach hinten los: Bei der Wahlwiederholung in Istanbul am 23. Juni 2019 errang Imamoğlu einen überwältigenden Sieg gegenüber seinem AKP-Kontrahenten, mit einem Unterschied von 800.000 Stimmen (etwa 9%). Die Istanbuler Bevölkerung nahm die Missachtung der Wahlurne also als grobe Ungerechtigkeit wahr und quittierte der AKP ihr Vorgehen. Die AKP musste schließlich das Ergebnis zumindest formal betrachtet akzeptieren. Bei den Lokalwahlen 2024 wuchs Imamoğlus Vorsprung auf eine Million Stimmen (etwa 12%) an. Dies vor dem Hintergrund, dass die Lokalwahlen 2024 überhaupt zu einem historischen Ereignis wurden, weil zum ersten Mal die CHP stärkste Partei im Land wurde und sogar in konservativen Hochburgen das Bürgermeisteramt gewann. Das Wahlvolk hatte sich, vielleicht noch vorsichtig und explorativ, dafür entschieden, der CHP auf lokaler Ebene eine Chance zu geben, weil der Unmut insbesondere über die ökonomischen Zustände stark gewachsen war.
Unter diesen Umständen einen derart deutlichen Wahlsieg per Gewalt zu unterdrücken, war von Anfang an riskant. Die Straßendynamik hat den Unmut aber auch über die Protestierenden hinaus getragen und handfest als Massen-Bewusstsein über Unrecht und legitimen Widerstand manifestiert: Laut der erst kürzlich veröffentlichten Umfrage des integren Umfrageinstituts KONDA sind ganze 73% der Befragten der Meinung, dass die Proteste legitim seien (sofern sie gewaltfrei bleiben, sagen an die 50%); laut einer anderen Umfrage finden etwa 60-70% die Verhaftungen falsch. Das zeigt die Tiefe der Legitimationskrise, in der die AKP mit Stand heute steckt.
Von Manövern, Spaltungslinien und Einheitstendenzen
Die Winkel- und Schachzüge der unterschiedlichen Akteur*innen verdienen indes besondere Aufmerksamkeit. Zuerst zur CHP. Sie hat sich schließlich auf die Straßendynamik und alltäglichen Demonstrationen eingelassen, diese motiviert und Kundgebungen gehalten. Gleichzeitig lancierte sie eine Boykottkampagne gegen regierungsnahe Medienunternehmen, die nicht zu den Protesten berichten, sowie überhaupt gegen regierungsnahe Unternehmen wie die „national-islamische“ Café-Kette Espressolab. Auch in Serbien erweist sich derzeit der intermittierende Boykott von allen Supermärkten landesweit, dort hauptsächlich als Protest gegen die Lebensmittelpreise, als ein sehr wirkungsvolles Protestmittel. Die Ernennung von Ekrem Imamoğlu als Präsidentschaftskandidat wurde zu einem landesweiten Massenereignis transformiert. Sie war auf den 23. März anberaumt worden; auch, um dieser Kür zuvorzukommen, schlug Erdoğans Repressionsapparat in der Woche vom 18. März zu. Die ursprünglich parteiinterne Angelegenheit wurde daraufhin von der CHP geöffnet: Im ganzen Land wurden mehrere Tausend „Solidaritäts“-Urnen für nicht-CHP-Mitglieder aufgestellt, die dort ihre Stimme für Imamoğlu als Kandidaten abgeben konnten. Trotz kurzfristiger und rein zivilgesellschaftlicher Organisation kamen an die 15 Millionen Stimmen für Imamoğlu zusammen.
Die Ernennung auf den 23. März anzuberaumen und Erdoğans Schergen dazu zu zwingen, davor zu handeln, schwächte – vermutlich unbeabsichtigt – einen wichtigen Vorteil Erdoğans, den Vorteil des günstigen Zeitpunkts. Denn auf das Wochenende vom 22.-23. März fielen auch die zentralen Newroz-Feiern der pro-kurdischen, linken DEM-Partei. Ich hatte schon im Artikel zu Öcalans Aufruf vor ein paar Wochen darauf hingewiesen, dass es der AKP nun darum gehen werde, kurdische und republikanische Opposition gegeneinander auszuspielen: Den Kurd*innen wird, mit hoher Wahrscheinlichkeit nur zum Schein, der Friedenszweig angeboten. Zugleich wird damit ihre Opposition zur AKP gedämpft, weil sie sich auf Verhandlungen einlassen. Der CHP gegenüber wird hingegen der harte Kurs beibehalten beziehungsweise noch verschärft. Das Kalkül: Die nationalistische Seite der CHP aufzustacheln, indem die Vorurteile und die Ablehnung der Kurd*innen aufgrund einer angeblichen Sonderbehandlung durch die AKP angefeuert werden. So solle sich die Opposition durch Misstrauen, Uneinigkeit und Zwietracht weiter spalten.
Die Inszenierung dieser Strategie war allzu deutlich: Während die Polizeigewalt gegen die Demonstrierenden und insbesondere die Jugendlichen in diesem Zeitraum immer härtere Züge annahm und die Gouverneure vieler Städte, am prominentesten natürlich der Istanbuls, mehrtätige Versammlungs- und Demonstrationsverbote verhängten, lobte Erdoğan nicht nur die Kurd*innen und bot an, Newroz zu einem nationalen Feiertag zu erheben – der Gouverneur Istanbuls nahm die zentralen Newroz-Feierlichkeiten in Istanbul explizit aus vom Versammlungs- und Demonstrationsverbot. Die willkürliche Ungleichbehandlung von unterschiedlichen Personengruppen aufgrund der politischen Kalküle der AKP wurde also sehr offensichtlich vorgeführt. Die DEM-Partei nahm auch prompt gegen die Repression seit dem 18./19. März Stellung, kritisierte sie als einen „Putsch“ und stellte in Frage, wie Frieden bei einer solchen Entdemokratisierung möglich sein solle. Auch rief sie zur großen CHP-Kundgebung am 29. März auf.
Zeitgleich zerfällt der neueste „Friedensprozess“ zwischen dem türkischen Staat und der PKK zusehends: Der Staat artikuliert immer klarer, dass er nichts für den Frieden zu tun gedenke, außer immer forscher die bedingungslose Kapitulation der PKK verlangen. Die PKK hingegen macht immer unmissverständlicher deutlich, dass sie ohne Gegenschritte des Staates weder einen Kongress anberaumen, noch die Waffen niederlegen werden.
Dennoch ging das Kalkül Erdoğans partiell auf. Wichtige Personen der CHP, wie der aus dem nationalistischen Milieu stammende Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavaş, gaben rassistische und antikurdische Statements von sich, was dazu führte, dass die eigentlich solide CHP-Botschaft bei den Newroz-Feierlichkeiten ausgebuht wurde. Führende Regimepersönlichkeiten nutzen jede kleinste Gelegenheit aus, um die Spaltung und den Zwist zwischen dem türkisch-säkularen und dem kurdischen Lager innerhalb der Opposition zu vertiefen. Generell ist heute unter türkischen wie kurdischen Jugendlichen der jeweilige Nationalismus stärker geworden, wenn auch auf diffuse Art und Weise. Die bewährte Tradition der 1990er, der zufolge türkische Republikaner*innen und linke, liberale, säkulare Kurd*innen auf die eine oder andere Art, ob in derselben Partei oder in separaten Strukturen, mehr oder minder widersprüchlich miteinander zusammenarbeiteten, ist für die Jugendlichen heute nicht mehr selbstverständlich. Das auf kurdischer Seite aufgrund des strukturellen Rassismus durchaus nachvollziehbare, auf türkischer Seite mehr identitär artikulierte hochemotionale Nationalgefühl, führt heute viel schneller zu wechselseitiger Abgrenzung und Ablehnung.
Ein kluges politisches Vorgehen darf diese ungleichen Nationalismen derzeit nicht frontal angehen, das kann nichts bringen. Man muss stattdessen diese Themen umschiffen und Einigendes in den Vordergrund rücken: Schließlich profitieren alle in der Türkei lebenden Nationen von Demokratisierung durch Anerkennung und sozialen Frieden. Das gilt generell vor allem für die Problemstellung des türkischen Nationalismus. Die Studierenden sind zwar unter Führung linksrevolutionärer Organisationen organisiert und auf den Demos in der ersten Reihe dabei. Aber der Jugendcharakter der derzeitigen Proteste in der Türkei weist weit über die Studierenden hinaus: Bei den restlichen Jugendlichen dominiert ein diffuser türkischer Nationalismus. Das ist ein wichtiger Unterschied zu Gezi 2013, wo der Nationalismus nicht derart dominiert hatte. Nach jahrelanger Unterdrückung jedweder linken Haltung und der Betonung des türkischen Nationalismus von Regierungs- als auch den meisten Oppositionsparteien, wurde dieser zum prominentesten, gar ausschließlichen Vehikel der Selbstidentifikation für viele Menschen, vor allem für jugendliche Türken. Die radikalisierten Teile dieser Jugendlichen sind offen für die Agitation und den militanten Charakter rechtsextrem-nationalistischer Teile der Opposition wie der Partei des Sieges (Zafer Partisi, ZP). Diese besticht durch rigorosen antikurdischen Rassismus und einer rabiaten Hetze gegen Geflüchtete.
Die Unterwanderung der Demonstrationen durch die Rassisten zu verhindern, ohne den großen Anteil türkeinationalistischer Jugendlicher zu verlieren – das ist eines der drängenden Probleme, die sich die Jugendbewegung heute anzugehen vornimmt. Denn, nur weil sich türkische Jugendliche heute stark nationalistisch identifizieren, heißt das nicht, dass sie zwangsläufig faschistisch sind oder rechtsextrem werden müssen. Laut einer Umfrage haben auch über 70% von ihnen Angst, dass die Freiheiten zu stark eingeschränkt werden, zudem sind viele sehr unglücklich mit dem Leben im Land. Auf die Gezi-Proteste beziehen sie sich positiv und sie beklagen ihre ökonomische Perspektivlosigkeit. Nationalistisch, aber unglücklich und freiheitlich orientiert: Das genau ist das Widersprüchliche und Diffuse des Nationalismus der heutigen türkischen Jugend. Man muss und kann dieser Jugend andere Angebote machen als jene, die von den Rechtsextremen kommen.
Die Opposition ist also weiterhin durchzogen von Spaltungstendenzen, die auf strukturellen Machtverhältnissen und konjunktureller Ungleichbehandlung durch das Regime beruhen, und aber auch Einheitstendenzen, die gestärkt werden müssen. Und auch Erdoğan bleibt weiter handlungsfähig: Er und seine Schergen wurden zwar auf dem falschen Fuß erwischt, geschlagen sind sie aber noch lange nicht. Er verlängerte das eigentlich dreitägige Zuckerfest im Anschluss an den Ramadan auf ganze neun Tage (29. März bis 6. April). Zum Zuckerfest reisen viele zu ihren Familien oder nehmen Urlaub. Die Idee ist daher natürlich, dass die Dynamik über diese Zeit stark abnimmt und die Mobilisierung abflaut. Aber auch, damit die Basis der Regierungsparteien von den Protestierenden isoliert bleibt, damit sich kein Verständnis und keine gemeinsame Anerkennung zwischen diesen Gruppen herstellen.
Der steinige Weg der demokratisierenden Gegeneskalation
Die wirklich schwierige und anspruchsvolle Aufgabe wird es ab jetzt sein, das Mobilisierungsniveau zu erhalten und weiter auszubauen. Ohne kontinuierliche Straßendemonstrationen droht die Aura der Unbesiegbarkeit und Übermacht des Repressionsregimes und seiner Apparate intakt zu bleiben – und umgekehrt, der Mut und das Ungerechtigkeitsgefühl der Menschen zu versanden. Gleichzeitig müssen neue, kreative Protest- und Aktionsformen gefunden werden, die auch handfeste Ergebnisse liefern. Insofern ist der Plan der CHP, eine landesweite Unterschriftenkampagne für vorgezogene Neuwahlen zu starten, mit dem Ziel, mehr Unterschriften zu sammeln, als Erdoğan bei der letzten Präsidentschaftswahl gewonnen hat (also etwa 27 Millionen), eine von vielen guten Ideen. Den ersten Schritt hierzu ist die Bewegung mit den 15 Millionen Solidaritätsstimmen für Imamoğlu schon gegangen; 27 Millionen setzt die Messlatte höher, es ist riskant, aber potenziell wirkungsvoll. Bei Erfolg könnte der Druck auf Erdoğan immens gesteigert werden. Mit 15 Millionen für Imamoğlu und 27 Millionen für Neuwahlen wird es – zumindest Stand heute – auch für Erdoğan und seine Entourage schwierig, die Forderungen und die Straßenmobilisierungen zu unterdrücken.
Vor diesem Hintergrund muss dann allerspätestens zum 1. Mai ein Demonstrationszug nach Taksim stattfinden, während parallel zu Demonstrationen im ganzen Land aufgerufen wird. In der Zwischenzeit könnten periodisch stattfindende Großkundgebungen und/oder auf Stadtviertel verteilte Mobilisierungen stattfinden. Die CHP verfolgt aktuell dieses Konzept, erwarteterweise jedoch auf niedrigem Niveau: Jeden Mittwoch eine Kundgebung in nur einem Viertel Istanbuls, jedes Wochenende eine große Kundgebung in wechselnden Städten der Türkei. Das alleine wird kaum reichen.
Die Mobilisierungen könnten mit verschärften Boykotten ergänzt werden: Warum nicht wie in Serbien ein, zwei Tage in der Woche festlegen, an denen alle Supermärkte boykottiert werden? Auch und vor allem in der Türkei sind schließlich die Lebensmittelpreise durch die Decke gegangen und die Regierung hat schlicht dabei zugeschaut, wie die Breite der Bevölkerung in Armut versinkt. Erste Initiativen gibt es bereits: Angestoßen von der Studierendenbewegung wird derzeit über einen ersten umfassenden Konsumboykott am 2. April diskutiert. Herausforderungen an das Regime, die Debatte und auch das Verfahren gegen Imamoğlu öffentlich zu führen, könnten ebenfalls forciert werden.
Mit diesen Mitteln – ergänzt um weitere, neu zu erprobende Protestformen – kann die Initiative der Opposition gestärkt und das Mobilisierungsniveau hochgehalten werden. Gleichzeitig dürfen die Oppositionsparteien nicht mit dem Ziel der Kontrollierbarkeit der Bewegung durch die Parteien die Spontaneität von Demonstrationen unterdrücken, sondern müssen diese aktiv ermutigen. Alle Kanäle des Kampfes müssen eben entfesselt werden, ob organisiert oder unorganisiert, geplant oder spontan. Es ist dann wirklich nicht abwegig, dass Erdoğan zu Neuwahlen gezwungen und besiegt werden kann – aber eben nur, wenn die politischen Forderungen durch die Breite der Bevölkerung und ihrer Massenaktivität getragen werden. Auch wenn die Bewegung weniger erfolgreich wird, könnten dennoch wichtige Errungenschaften erkämpft werden. Partiell könnten Ergebnisse der Repressionsfurie revidiert werden, etwa der Diplomentzug oder vielleicht sogar die Inhaftierung Imamoğlus. Das alles können realistische Entwicklungen sein.
Katalysator oder Verhandlungsmasse?
Für Linke gilt allgemein das, was der Co-Vorsitzende der DEM, Tuncer Bakırhan, über sich und die Basis seiner Partei gesagt hat: Wir sind keine Aktivist*innen- oder Verhandlungsmasse der CHP; wir kämpfen für den langfristigen gesellschaftlichen Frieden. Denn es geht hier nicht nur um Unrecht gegen einen Kandidaten der CHP, sondern um eine umfassende Welle der Autoritarisierung: Sie trifft Linke, Minderheiten und Geflüchtete, schürt nationalistisch-chauvinistische Hetze und führt zu einem massiven Einbruch des Lebensstandards der werktätigen Mehrheit. Gleichzeitig kann nur eine autonome und selbständige Linke der Garant dafür sein, dass die Dynamik nicht wieder von der CHP erstickt wird und auch minimale Errungenschaften nicht wieder verloren gehen. Die CHP würde natürlich am liebsten ganz ohne potenziell unkontrollierbare gesellschaftliche Dynamik die nächsten Wahlen in drei Jahren abwarten (sogar Imamoğlu selbst klingt aus dem Gefängnis manchmal danach). Die revolutionäre Linke mobilisiert daher eigenständig unter Slogans wie „Dekrete gehören dem Sultan, die Straße gehört uns“ oder der dreifachen Forderung nach „Generalstreik – umfassender Widerstand – Boykott“. Tatsächlich diskutieren mehrere Gewerkschaften derzeit die Möglichkeiten des Generalstreiks. Obwohl die gewerkschaftliche Organisierung schwach ist und eine flächendeckende Perspektive unwahrscheinlich erscheint, zeigt die juristische Repression gegen die Bildungsgewerkschaft Eğitim-Sen, dass die Regierung davor Angst hat. Eğitim-Sen hatte zu einem akademischen Streik aufgerufen. Angefangen mit einem solchen könnten Optionen ausgelotet werden, in welche Sektoren Streik- und Protestbewegungen ausgeweitet werden können – so zum Beispiel in die Metall- und Automobilsektoren, die vergleichsweise stark gewerkschaftlich organisiert und links orientiert sind.
Über die Macht in der Produktionssphäre aber auch in Demonstrationsmobilisierungen kann und muss die Linke ihre eigenständigen Akzente setzen, ohne sich auf eine allgemeine Verteidigung demokratischer Mindeststandards mit der breiten Opposition gegen Erdoğan zu beschränken: Sie muss einen erweiterten Demokratiebegriff akzentuieren, der gesellschaftliche Aktivität von unten abseits einer bloßen Bekämpfung des Autoritarismus stark macht; die Klasseninteressen der werktätigen Mehrheit gegen die post-neoliberale Wirtschaftspolitik der Regierung und die eher orthodox-neoliberale Perspektive der Opposition hervorheben; und schließlich eine Vision für eine alternative Türkei jenseits von Nationalismus, Rassismus, Chauvinismus und Autoritarismus aufzeigen. Dabei gilt es, zwei Sackgassen zu vermeiden: Einerseits eine linksradikale Abgehobenheit, die sich auf das Deklamieren besonders revolutionär klingender Parolen beschränkt und politisch absolut unwirksam ist; andererseits eine reformistische Anpassung an die gemäßigte, neoliberale und eventuell nur sehr beschränkt demokratische Agenda der bürgerlichen Opposition unter Führung der CHP. Gelingt es der Linken, in einer gemeinsam geteilten Minimalperspektive der Verteidigung von freien Wahlen gegen autoritäre Übergriffe ihre eigenen Formen und Punkte hervorzuheben, kann auch sie trotz der relativen Führung der Oppositionsdynamik durch die CHP erstarken und zu einer Alternative innerhalb der Opposition werden.
Einfach wird es nicht: Beim kleinsten Anlass oder beim Abebben der Dynamik wird die Repressionskeule wieder fürchterlich auf die Opposition niedergehen. Alle bisherigen Errungenschaften können genauso gut wieder verloren gehen und Erdoğan seine Repression weiter ausbauen. Zudem weiß Erdoğan, dass er Rückendeckung von der EU und von den USA hat, weil diesen der Kampf gegen Autoritarismus nur dann wichtig ist, wenn es gegen geopolitische Gegner wie Putin geht. Sind es allerdings nützliche Autokrat*innen, wie derzeit die Türkei in rüstungsindustrieller (Stichwort: europäische Aufrüstung), aber auch in militärischer Hinsicht bei eventuellen „Friedenstruppen“ in der Ukraine, dann akzeptiert man diese auch sehr gerne. Selbst Imamoğlu richtet sich mittlerweile in der New York Times an die USA und an Europa und erinnert diese höflich daran, bei aller Geopolitik den Kampf um Demokratisierung nicht zu vergessen. Welch Zeiten, in denen die Peripherie das Zentrum daran erinnert, dass es mal hegemonial agierte in der (westlichen) Welt!
Die kämpfenden Menschen in der Türkei können sich derzeit nur auf sich selbst verlassen – und auf die Solidarität eines non-staatlichen subalternen Internationalismus. Die Verlogenheit von USA und EU kann man dann daher durchaus auch als Chance begreifen: Nämlich zur Festigung der Einsicht, dass nur subalterne Selbstaktivität, Selbstorganisation und schließlich internationale Solidarität einen progressiven und sozialen Weg aus der Hegemoniekrise des Kapitalismus in der Türkei wie weltweit ermöglichen.
Anmerkung:
Großen Dank an Johanna Bröse, Lily Lynch und Svenja Huck für Kommentare, Kritik und Korrekturen.