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Türkische Kriegsverbrechen gestern und heute

Das Tribunal gegen Kriegsverbrechen der Türkei in Paris, März 2018 Lukas Theune

Die Mühlen der Justiz mahlen langsam – das gilt auch für nichtstaatliche Gerichte. Mitte März fand in Paris ein Tribunal du Peuple statt, das den Kriegsverbrechen der Republik Türkei an den Kurdinnen und Kurden seit Anfang der 1990er Jahre gewidmet war. Es warf einen Blick zurück in die Geschichte – zu einem Zeitpunkt, an dem die Öffentlichkeit in den Sozialen Medien live den Angriff der türkischen Armee samt islamistischer Gruppen auf Afrin verfolgte.

Die Türkei selbst ermittelt – wie andere Länder auch – nicht gegen ihre eigenen Söldner, Soldaten, Polizisten und Geheimdienstler. Der Euphemismus der „Morde unbekannter Täter“ zeigt von vornherein, dass durch die staatliche Justiz der Türkei keine Aufklärung stattfindet: Die meisten Fälle, die mit diesem Begriff gelabelt werden, sind de facto staatlich begangene Morde. Der türkische Menschenrechtsverband IHD berichtet von über 5.000 derartigen Morden neben weiteren 5.000 extralegalen Hinrichtungen in den Jahren von 1989 bis 2009, fast alle von ihnen auf kurdischen Gebieten an kurdischen Bürger*innen begangen.

Eine wesentliche Forderung der PKK und insbesondere Öcalans während des Friedensprozesses ab 2013 war die Einrichtung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission, wie sie etwa auch in Südafrika nach dem Ende der Apartheid geschaffen worden war. Die Forderung blieb ein ständiger Streitpunkt in den Verhandlungen, weil sich die türkische Seite diesem Ansinnen strikt verweigerte.

Schließlich fand auch in internationalem Rahmen bislang keine juristische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen der Türkei statt. Der Internationale Strafgerichtshof leitete keine Ermittlungen ein, was zum einen daran liegt, dass die Türkei das Statut von Rom erst gar nicht unterzeichnet hat. Zum anderen liegt es aber wohl auch daran, dass die Türkei international und den Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofes gegenüber einen zu wichtigen Stellenwert hat, um sie derart zu brüskieren. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) wiederum hat zwar die Türkei etliche Male verurteilt, jedoch seinerseits keine grundlegende Aufarbeitung der Kriegsverbrechen geleistet. Vielmehr wurden in Einzelfällen insbesondere Parteiverbote und unfaire Strafverfahren kritisiert. Seine Urteile zum Recht auf Leben blieben vereinzelt. Da der EGMR über keine eigenen Ermittlungsbehörden verfügt, konnte eine Verletzung des Rechts auf Leben zudem meist nicht nachgewiesen werden. Die türkischen Behörden, die stattdessen die Ermittlungen führen sollten, ermitteln nicht gegen eigene Angehörige und so konnte der EGMR nur eine Verletzung des Rechts auf „wirksame Untersuchung eines Vorfalls“ feststellen. (vgl. z.B. Yaşa gg. Türkei, Urteil vom 2.9.98).

All dies führt dazu, dass kaum publiziertes Wissen über die Kriegsverbrechen der Türkei besteht. Möglicherweise war dies der Grund, weshalb das Permanent Peoples Tribunal (PPT) den Vorschlag akzeptierte, hierüber eine Sitzung zu halten. Das PPT wurde in Anlehnung an die Russell-Tribunale 1979 gegründet und untersucht seitdem eine Vielzahl staatlicher (und teilweise nichtstaatlicher) Verbrechen, beginnend mit der West-Sahara und Argentinien bis zuletzt zu Sri Lanka 2010 und Mexiko 2012. Die Anklage gegen die Türkei wurde von den Rechtsanwält*innen Sara Montinaro und Jan Fermon erarbeitet.

Von staatlich orchestrierten Hinrichtungen in Paris…

Fermon bedauerte gleich zu Beginn seiner Rede, dass die Dauer des Tribunals über nur zwei Tage eine starke Auswahl der zu untersuchenden Vorfälle bedingte. Vieles konnte gar nicht thematisiert werden. So tauchten etwa die „Morde unbekannter Täter“ oder auch die Verbrennungen hunderter Dörfer Anfang der neunziger Jahre nur am Rande auf. Die beiden Rechtsanwält*innen widmeten sich schwerpunktmäßig den Verbrechen im Zusammenhang mit den Ausgangssperren nach dem Ende des Friedensprozesses 2015 und 2016. Ein weiterer Schwerpunkt bestand in dem Vorwurf des Mordes an den drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız (Sara), Fidan Doğan (Rojbîn) und Leyla Şaylemez (Ronahî) im Januar 2013 im kurdischen Kulturzentrum in Paris.

Der mutmaßliche Täter, Ömer Güney, starb im Dezember 2016 im Gefängniskrankenhaus an einem Gehirntumor –  wenige Wochen vor Beginn des Verfahrens gegen ihn. Damit war der Prozess geplatzt, es hatte, auch in Frankreich, keine Aufklärung der Exekution stattgefunden. Der Fall ist brisant: Bereits wenige Wochen nach der Verhaftung Ömer Güneys waren im Internet Mitschnitte von Telefonaten zwischen Güney und Mitarbeitern des türkischen Geheimdienstes MIT aufgetaucht.

Zuletzt kam Bewegung in den Fall durch einen Coup der Leitung der KCK (Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans). Im August 2017 hatten Agenten des türkischen Geheimdienstes MIT im Nordirak versucht, über einen Trick in die Nähe des KCK-Ko-Vorsitzenden und PKK-Mitbegründers Cemil Bayık zu gelangen, um diesen zu liquidieren. Allerdings hatten die Sicherheitsmitarbeiter der kurdischen Befreiungsbewegung wohl selbst ein doppeltes Spiel gespielt und die Agenten in der Autonomiezone der KCK im Kandilgebirge zunächst festgesetzt und dann verhört. Die umfangreichen Aussagen der Agenten wurden auf Video aufgenommen und veröffentlicht und legen eine Einbindung der Führungsebene des MIT in die Ermordung der drei Aktivistinnen sehr nahe.

Neben besagten Videos wurden dem Gericht – das leider nur aus Weißen, größtenteils zudem aus Männern bestand – auch Zeugenaussagen zweier Mitarbeiter des kurdischen Kulturzentrums, des Nebenklagevertreters in dem Strafverfahren gegen Güney und andere Belege für die Einbindung des MIT vorgelegt. Vor allem der Anwalt Antoine Comté legte minutiös dar, wie der MIT Flugtickets, Mobiltelefone und SIM-Karten für Güney erworben und zudem mit Güney in ständigem Kontakt gestanden hatte. Er mutmaßte, dass Güney von vornherein für die Aufgabe ausgesucht worden war, da sein Gehirntumor und die damit zusammenhängende begrenzte Lebenserwartung bereits damals festgestanden hatten. Die Morde könnten eine Strategie des sogenannten Tiefen Staates (türkisch: derin devlet) gewesen sein, um den beginnenden Friedensprozess zwischen der AKP und der kurdischen Befreiungsbewegung zu unterminieren.

Der Strafverteidiger in mir hätte sich wohl gewünscht, dass die Verhörmethoden, mit denen die Videoaussagen der MIT-Agenten zustanden gekommen waren, thematisiert worden wären. So ist schwer vorstellbar, wie die Geheimdienstmitarbeiter, obwohl sie dies in die Kameras versicherten, freiwillig ihre Aussagen machten. Jedenfalls: Das Puzzle der drei Exekutionen in Paris kann mittlerweile einige Schritte weiter zusammengesetzt werden.

…bis in die Keller von Çizre

Am Vortag lag der Schwerpunkt der Beweisaufnahme auf den Ausgangssperren, die der türkische Staat in den kurdischen Gebieten in der zweiten Jahreshälfte 2015 und der ersten Hälfte 2016 verhängt hatte. Nachdem der Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat von Staatspräsident Erdoğan im Frühling 2015 (kurz vor den Wahlen im Juni 2015) für beendet erklärt wurde, hatte wohl wiederum der MIT zunächst den Anschlag von Suruç im August 2015 ermöglicht und dann die Tötung zweiter Soldaten in Ceylanpınar als PKK-Aktion unter false flag inszeniert. Unmittelbar danach stiegen wieder türkische Kampfflugzeuge auf und bombardierten nicht nur im Nordirak, sondern auch auf „eigenem“ Territorium kurdische Gebiete. Die Guerilla reagierte, in dem sie erstmals in den kurdischen Städten Jugendliche unterstützte und organisierte, die als YDG-H, später als YPS den einrückenden Militärs selbstgebaute Barrikaden und Gräben entgegensetzten. Letztlich war dies militärisch eine Fehleinschätzung. Das türkische Militär und insbesondere die Spezialeinheiten der Gendarmerie (JÖH) und der Polizei (PÖH) gingen erbarmungslos vor und schossen auf alle, die sich in den Gebieten bewegten. Der türkische Staat verhängte Ausgangssperren in vielen Städten, die längste davon in der historischen Altstadt Ameds (türkisch: Diyarbakır), Sur. Das Tribunal in Paris konzentrierte sich indes auf die 100.000-Einwohner-Stadt Cizre, in der es zu den größten Massakern an der Bevölkerung gekommen war. Insbesondere von drei Kellern berichteten mehrere Zeugen dem Tribunal: In diese waren über 200 Menschen geflüchtet und dort von der türkischen Armee verbrannt worden. Die Bürgermeisterin von Cizre, Leyla Imret, der Abgeordnete der HDP für den Wahlkreis Şırnak, Faysal Sarıyıldız, und mehrere andere Augenzeug*innen berichteten von Kindern, die später beim Spielen am Tigris Menschenknochen fanden und von Müllsäcken, in denen die wenigen Kilos menschliche Überreste aus den Kellern entsorgt wurden.

Juristisch ging es den beiden „Ankläger*innen“ insbesondere darum, darzulegen und zu beweisen, dass es sich bei dem Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat um einen – bloße „Scharmützel“ überschreitenden – anhaltenden bewaffneten Konflikt handele, für den damit das Kriegsrecht anwendbar sei. Daher verzichteten sie darauf, wie Fermon auf Nachfrage einer der sieben Richter*innen erläuterte, neben den Kriegsverbrechen gemäß Artikel 8 des römischen Statutes auch die ebenfalls naheliegenden Verbrechen gegen die Menschlichkeit gemäß Artikel 7 anzuklagen. Sie konzentrierten sich vielmehr auf die Voraussetzungen für einen bewaffneten Konflikt sowie darauf, darzulegen, dass es sich um ein rassistisches Vorgehen gegen die kurdische Bevölkerung handele.

Dies zeigt zugleich auch das Paradox auf, in dem sich die kurdische Befreiungsbewegung befindet. Während sie die Idee eines eigenen kurdischen Nationalstaates schon seit langem nicht mehr verfolgt und Öcalan das Konzept des Demokratischen Konföderalismus als dem Staatsprinzip entgegengesetzt entwickelte, wird sie nur dann ernst genommen, wenn sie territoriale Gebietsansprüche darlegen kann. Ein bewaffneter Konflikt, auf den die Regeln des humanitären Völkerrechts Anwendung finden, liegt nach der Rechtssprechung des Internationalen Strafgerichtshofs erst dann vor, wenn eine organisierte bewaffnete Gruppe in der Lage ist, eine länger anhaltende, intensive Auseinandersetzung mit den staatlichen Streitkräften zu führen. Eine der dafür maßgeblichen Fragen ist, ob der Konflikt auf einem größeren Territorium geführt wird. Erst dann findet das Statut von Rom, finden die Vorschriften über Kriegsverbrechen, Anwendung. Das bedeutet aktuell: Nur dann, wenn die kurdische Bewegung wie in Rojava ein Territorium mit Waffengewalt kontrolliert und verteidigt, wird sie als Akteurin wahrgenommen, während das fortschrittliche Konzept des Demokratischen Konföderalismus nicht nur von staatlichen Akteuren nicht ernst genommen wird, sondern zudem auch von internationalen Statuten benachteiligt wird. Die Abschaffung von Staatlichkeit wird wohl nicht in einem einzelnen Gebiet, losgelöst von globalen Kontexten, sondern nur insgesamt stattfinden können.


Das Tribunal war insgesamt ein wertvoller Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte der Massaker der Türkei an der kurdischen Bevölkerung Anatoliens. Viele gesammelte Berichte von Zeitzeug*innen wurden der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht. Das Urteil des Tribunals unter Vorsitz des Richters des französischen Kassationshofes, Philippe Texier, wird im April in Brüssel vor Abgeordneten des europäischen Parlaments verkündet.

 


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