„Sie greifen an, wenn sie verlieren“
Günaydın, Türkiye! Wieder einmal hat ein Tag in der Türkei mit Nachrichten von massiven Polizeioperationen gegen demokratische und revolutionäre Kräfte begonnen. Schon zwei Wochen zuvor, am 11. September 2020, hatte es großangelegte Razzien gegen die Sozialistische Partei der Unterdrückten (ESP) gegeben. 17 Festgenommene wurden letztlich auch verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Gestern, am 25. September, legte der türkische Staat dann noch einmal nach und führte zwei großangelegte Operationen durch. Insgesamt ist von 82 Personen in sieben Provinzen die Rede, gegen die ein Festnahmebefehl vorliegen soll. Eine erste Welle von Razzien wurde von Ankara aus gesteuert und richtete sich gegen die Kurdische Bewegung. Die Oberstaatsanwaltschaft gab dazu eine Stellungnahme ab, in der er vom „Kobanê Ermittlungsverfahren“ sprach. Wir erinnern uns: Vom 6. bis zum 8. Oktober 2014 gab es in vielen Städten der Türkei, besonders im kurdischen Südosten, Aufstände und Zusammenstöße mit staatlichen Kräften. Über 50 Tote waren zu beklagen. Der Grund dafür war, dass die Banden des selbsterklärten Islamischen Staates (IS) die Stadt Kobanê in Nordsyrien an der Grenze zur Türkei zu attackieren begannen und dabei Schützenhilfe durch den türkischen Staat erhielten.
Einfach mal festnehmen!
Und jetzt, sechs Jahre später werden unter anderem der Ko-Bürgermeister der Stadt Kars, Ayhan Bilgen, der ehemalige Abgeordnete und Filmregisseur Sırrı Süreyya Önder, sowie die Politiker*innen Altan Tan, Emine Ayna und Nazmi Gür – allesamt zu der damaligen Zeit Parlamentsabgeordnete – festgenommen. Weitere führende HDP-Politiker*innen und bekannte Personen des öffentlichen Lebens, etwa die Akademikerin Beyza Üstün, Can Memiş, die Forscherin und Feministin Gülfer Akkaya, der sozialistische Autor Alp Altınörs, Günay Kubilay und Dilek Yağlı wurden ebenfalls inhaftiert. Sechs ganze Jahre später! Eine erneute Glanzleistung der – selbstverständlich völlig unabhängigen – Justiz der Türkei, wie wir sie unter anderem schon in der Causa #FreeMaxZirngast beobachten durften. Einige der nun Festgenommenen wurden noch nie zu ihrer Beteiligung 2014 befragt, andere schon zuvor festgenommen, angeklagt, freigesprochen und wieder auf freien Fuß gesetzt worden und so weiter. Eine scheinbare Willkür, die aber durchaus System hat. Geleitet wurde die Operation der – natürlich vollständig unabhängigen – Justiz von Yüksel Kocaman, dem Oberstaatsanwalt in Ankara. Dieser war erst vor wenigen Tagen mit seiner Frau nach seiner Hochzeit zu Besuch im Palast bei Präsident Erdoğan gewesen, wo sie alle zusammen für ein schönes Hochzeitsfoto posierten. Zum Glück gibt es sie, diese unabhängigste Justiz der Welt, wenn nicht des ganzen Universums!
Die zweite Operation richtete sich vor allem gegen die sogenannte „Bewegung der Namenlosen“ (İsimsizler Hareketi). Das ist eine unabhängige Plattform, die vor allem in den sozialen Medien Kampagnen initiiert, um oppositionelle Stimmen und Haltungen zu stärken. Dementsprechend traf die Festnahmewelle auch sehr unterschiedliche Personen aus verschiedenen politischen und zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen, deren jeweilige Verbindung mit der genannten Plattform nicht immer ganz klar ist. Aber solche Details können die – natürlich vollständig unabhängige – Justiz der Türkei ohnehin nicht stoppen. So wurden etwa der Anwalt Tamer Doğan festgenommen, die Redakteurin der Plattform elyazmaları und Sprecherin der Partei für soziale Freiheit (Toplumsal Özgürlük Partisi, TÖP) Perihan Koca, der Journalist Hakan Gülseven sowie der Intellektuelle und Autor Temel Demirer. Der Vorwurf ist bereits bekannt, auch wenn es derzeit noch keine Einsicht in die Akten gibt: „Putschversuch via soziale Medien“. Da ist man doch direkt versucht, diese wirkmächtigen Sozialen Medien gleich mal auszuprobieren: Hashtag Revolution jetzt, los geht es! Oder die gemäßigten Varianten, wie sie die Unterstützer*innen der Festgenommenen derzeit allerorts verbreiten: #LasstDieGefangenenFrei, #DieHDPWirdSichNichtBeugen bis zu personalisierten Nachrichten, wie #TamerDoğanIstUnserAllerAnwalt. Mögen unsere Hashtags die Welt aus den Angeln heben!
Viraler Kontrollverlust und Widerstand
Die Hintergründe dieser repressiven Politik sind relativ eindeutig. Dem Regime ist es zwar gelungen, die zentralen Staatsapparate mehr oder weniger vollständig unter Kontrolle zu bekommen; gleichzeitig gelingt es aber nicht, die gesellschaftliche Legitimität für das Herrschaftsprojekt herzustellen. Im Gegenteil! Umfragen zeigen seit einiger Zeit, dass die Zustimmung in der Bevölkerung schwindet. Die jüngste Umfrage zeigte AKP und MHP gemeinsam bei 38,8 Prozent. Und es sieht nicht so aus, als wäre das Regime fähig, die Krisendynamiken weiterhin kontrollieren zu können.
Dazu trägt bei, dass der Staat beim Umgang mit der Corona-Pandemie komplett versagt hat. In der Türkei schwanken die täglichen Neuansteckungen fast ausschließlich zwischen 1200 und 1700 Fällen. Erstaunlich für ein Virus, dass sich überall sonst auf der Welt exponentiell ausbreitet. Aber in dem Land, das (wie sich nachträglich herausstellte) seinen ersten Coronatoten schon vor dem offiziellen ersten Fall hatte, sind auch solche Wunder möglich. Kaum jemand in der Türkei glaubt an die offiziellen Zahlen, und außerhalb der Türkei sieht das nicht anders aus. Als unlängst die Vereinigung der Ärzt*innen (TTB) gegen die Zustände protestierte, forderte Erdoğans partner in crime, der MHP-Chef Devlet Bahçeli, die Schließung der TTB. Die zweite entscheidende Krisendynamik ist die ökonomische Krise, die aus unserer Redaktion erst gestern in einem weiteren Artikel zur Türkei (Virus als Katalysator von Alp Kayserilioğlu) ausführlich beleuchtet wird.
Es ist sehr klar, dass das Regime mit diesen Angriffen und den jüngsten Überfällen die aktuelle Verfasstheit der Opposition testet. Sehr wahrscheinlich wird dies nur der Beginn einer Kampagne gegen alle demokratischen und sozialen Kräfte in der Türkei sein, die sich letztendlich sogar auf die bürgerliche Opposition erstrecken kann. Anzeichen dafür sind weitreichende Online-Sperrungen von oppositionellen Medien, wie Halk TV oder Yeni Yaşam.
Es gibt aber auch Widerstand. Obwohl es heutzutage schwierig ist, in Massen auf die Straße zu gehen, wurden in vielen Städten des Landes bereits Solidaritätserklärungen abgegeben – etwa in Kadıköy, Istanbul. Die kämpferische Botschaft: „Sie greifen an, weil sie verlieren!“ Darüber hinaus konnte das Regime die sozialen Medien nicht so gut unter seine Kontrolle bringen, wie es dies wünscht. Ein kürzlich verabschiedetes Internetgesetz, das derzeit durchgesetzt wird, versucht, dies nun mit anderen Mitteln zu erreichen. Das Gesetz schreibt im Wesentlichen vor, dass alle Unternehmen, die in der Türkei vertreten sein wollen, einen in der Türkei ansässigen Vertreter haben müssen, sich alle User*innen mit Namen registrieren müssen und das jeweilige Unternehmen diese Informationen an den türkischen Staat weitergeben muss. Es ist noch abzuwarten, ob Unternehmen wie YouTube und Twitter, die wichtige Plattformen der Opposition darstellen, den Anforderungen des neuen Gesetzes nachkommen. Und was passiert, wenn sie dies nicht tun.
Derzeit ist es von größter Bedeutung, dass wir mit allen revolutionären und demokratischen Kräften in der Türkei solidarisch sind, die heute für ein freies Land kämpfen.