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„Klassenkampf und Tierbefreiung haben objektiv denselben Gegner: Das Kapital“

das fleischkapital.jpg Bündnis Marxismus und Tierbefreiung

Vor einiger Zeit fiel mir die Broschüre „Das Fleischkapital“ eures Bündnis Marxismus und Tierbefreiung (mutb) in die Hände. Ihr beschreibt darin sehr eindrücklich, wie die Fleischindustrie Arbeiter:innen und Tiere überausbeutet und dabei gleichzeitig enorm zerstörerisch auf das Ökosystem und die natürlichen Ressourcen des Planeten wirkt. Eure Analysen, weshalb dieses Ausbeutungssystem so wirkmächtig ist und welche Möglichkeiten es zur Überwindung desselben gibt, unterscheiden sich dabei von bürgerlichen Publikationen, wie etwa dem jährlichen Fleischatlas des Bunds für Umwelt und Naturschutz. Welches Ziel hat eure Arbeit konkret?

Daniel: Die Zeitung soll zum einen generell kritische, marxistische Analysen der Fleischindustrie und ihrer Politik sowie der Bedingungen des Widerstands gegen sie liefern. Insofern richtete sie sich im Prinzip an alle. Zum anderen wollen wir aber dazu beitragen, die Tierbefreiungsbewegung, andere politische Bewegungen und die klassische Linke in Austausch zu bringen und zur Vernetzung anzuregen. Die Spannweite der Themen richtet sich dementsprechend an die Tierbefreiungs-, Ökologie- und Klima- und andere soziale Bewegungen, ebenso aber an Gewerkschafts- und Betriebsaktive, Kommunist:innen, Sozialist:innen und andere Linke. Wir wollen anregen, sich gegen das Fleischkapital und führende Unternehmen wie Tönnies, Vion, PHW oder Westfleisch und für ein wirklich revolutionäres und zivilisatorisches Projekt zusammenzutun – die Enteignung und Umbau der Fleischindustrie hin zu veganer, ökologisch nachhaltiger und demokratisch kontrollierter Produktion. Das liegt natürlich aktuell in weiter Ferne. Wir meinen aber, dass es so einen Schulterschluss dringend braucht.

Stefanie: Die Zeitung soll also dazu beitragen, die Verständigung derer, die an einem solchen Projekt ein Interesse haben – oder haben sollten –, voranzubringen. In der Fleischindustrie laufen immerhin die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse eines Systems zusammen, in dem Arbeiter:innen, Tiere und Natur bloß Mittel der Profitmaximierung sind. Das war im Prinzip auch vor der Coronakrise schon bekannt, ist durch sie aber ein weiteres Mal unübersehbar worden.

Stichwort Corona: In den letzten Monaten wurden die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie immer dann zum Thema, wenn sich Schlachthofarbeiter:innen zu Hunderten mit dem Corona-Virus infizierten. Die „Schuldigen“, die Politik und Wirtschaft dann immer schnell präsentierten, um die medialen Wogen zu glätten, waren die Arbeits-Rückkehrer:innen aus osteuropäischen Ländern. Rassismus und Sozialchauvinismus, anstatt die desaströsen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie grundlegend anzugreifen. Die Lage der Arbeiter:innen spielt dementsprechend in euren Analysen eine zentrale Rolle…

Stefanie: Ja, die schlechte Lage der Arbeiterklasse ist zum Beispiel gleich im ersten Beitrag der Zeitung Thema: Der gibt einen Überblick über die Beschäftigungs- und Lohnverhältnisse in der Fleischindustrie und diskutiert das „Arbeitsschutzkontrollgesetz“, das letztes Jahr erlassen wurde und Leiharbeit sowie Werkverträge in der Fleischindustrie eindämmen soll. Außerdem konnten wir ein Interview mit zwei ehemaligen Arbeitern aus der Schlachtindustrie führen: Die beiden rumänischen Kollegen erzählen, wie sie als Werkvertragsarbeiter nach Deutschland kamen und wie sie die sklavenähnliche Arbeit hier erlebt haben. Sie schildern unter anderem Schichten, die bis zu 16 Stunden gingen, Hungerlöhne und Wuchermieten, mafiöse Strukturen und Alkoholmissbrauch, um das alles zu ertragen. Von Arbeitsschutz fehlte da selbstverständlich auch jede Spur. Vor diesem Hintergrund ist es gar kein Wunder, dass sich in Schlachtbetrieben letztes Jahr reihenweise Kolleg:innen mit Sars-CoV-2 infiziert haben.

Daniel: Nach allem, was wir wissen, hat die Tier- und Fleischindustrie erheblich dazu beigetragen, dass so etwas wie Corona überhaupt entstehen konnte. Der Epidemiologe Rob Wallace und der Humanökologe Andreas Malm haben beide auf den Anteil des Wildtierhandels, der Massentierhaltung und der Zerstörung des Regenwaldes als entscheidende Treiber von Zoonosen und der Coronapandemie hingewiesen. Wenn der Fleischindustrie also nicht Einhalt geboten wird, ist die nächste Pandemie schon vorprogrammiert. In unserer Broschüre geht es deshalb auch in einem Artikel um den „Superspreader Fleischkapital“, dort werden diverse Forschungsergebnisse dazu zusammengetragen.

Warum ist es wichtig, eine klare, marxistische Analyse der herrschenden Verhältnisse, gegen Ausbeutung und Naturzerstörung zu entwickeln – gegen liberale bis rechte Vereinnahmungen, vom gesundheitsbewussten Trendsetter bis zur seitangrillenden Querdenkerin?

Stefanie: Eine vegane Lebensweise ist ja nicht per se fortschrittlich. Versuche, von rechts an die Bewegung anzudocken, gab es immer wieder – zum Beispiel aus dem Esoterik-Milieu. Sie sind aber zum einen immer klar von den tonangebenden Teilen der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zurückgewiesen worden. Zum anderen delegitimieren solche Vereinnahmungsbestrebungen nicht den Tierbefreiungsgedanken selbst, wie uns zum Beispiel „Antideutsche“, die ja selbst eine rechte Querfront-Strömung sind, regelmäßig weismachen wollen.

Die wesentlich größere Gefahr sind gegenwärtig eher grün-liberale Kräfte, die den Boden für eine Vereinnahmung durch kapitalistische Unternehmen bereiten. Seit dem Vegan-Hype der letzten Jahre gibt es mehr Versuche, das Engagement für Tiere in marktkonforme Bahnen zu lenken – weil das die Absatzmärkte für vegane Produktpaletten vergrößert. Wenn dann Teile der Bewegung meinen, individueller Vegan-Konsum allein sei ausreichend, oder sogar glauben, die Unternehmen stünden jetzt auf ihrer Seite, dann ist das nicht nur falsch – Statistiken zeigen, dass mehr Vegan-Konsum nicht weniger Fleisch-Produktion bedeutet und vom Vegan-Konsum vor allem auch die Fleischindustrie profitiert –, sondern politisch gefährlich. Wir wenden uns darum auch gegen Organisationen wie „Anonymus for the Voiceless“, die teilweise rechtsoffen sind, vor allem aber für einen Aktivismus stehen, der sich von Kapitalisten vereinnahmen lässt. Es geht dort ausschließlich darum, Menschen vom Vegan-Lifestyle zu überzeugen, ohne das mit politischen, klassenkämpferischen Forderungen zu verbinden. Auch in der Diskussion über In-vitro-Fleisch, also „tierisches“ Fleisch aus dem Labor, beziehen sich Stimmen aus der Tierrechtsbewegung positiv auf entsprechende Unternehmen, obwohl diese teilweise mit der Fleischindustrie verbandelt sind.


»Es sind eben nicht „die Menschen“, die industriell organisierte Tiertötungen in Auftrag geben, sondern die Teile der Bourgeoisie, die damit Profite erwirtschaften – das Fleischkapital. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss darum auch aufhören, die Arbeiter:innen der Industrie für die Situation der Tiere verantwortlich zu machen.« (Daniel)


Daniel: Eine marxistische Analyse braucht es allein schon, um klarzumachen, wer aus welchen Gründen eigentlich für die Ausbeutung und Tötung von Tieren verantwortlich ist – und wo man diese Leute am empfindlichsten treffen kann. Es sind eben nicht „die Menschen“, die industriell organisierte Tiertötungen in Auftrag geben, sondern die Teile der Bourgeoisie, die damit Profite erwirtschaften – das Fleischkapital. Die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss darum auch aufhören, die Arbeiter:innen der Industrie für die Situation der Tiere verantwortlich zu machen.

Stefanie: Trotzdem propagieren wir aber übrigens weiterhin Veganismus als Teil einer solidarischen und politischen Alltagskultur und Lebensweise. Aus der richtigen Kritik individueller Konsumkritik folgt ja nicht, dass individuelles Verhalten völlig egal wäre oder dass wir nicht wirklich eine vegane Lebensweise in einer postkapitalistischen Produktions- und Gesellschaftsform benötigen. Selbstverständlich muss man als Linker auch sein alltägliches Handeln nach den politischen Positionen richten, die man vertritt. Das ist ja zum Beispiel bei der Ablehnung des Patriarchats genauso. Und wen man befreien will, den isst man nicht – ganz einfach.

Ihr schreibt an mehreren Stellen, sowohl Arbeiter:innen als auch Tiere würden vom Kapital ausgebeutet. Aber bestehen da nicht große Unterschiede? Inwiefern hängen Klassenkampf und Tierbefreiung für Euch zusammen?

Daniel: Es gibt definitiv große Unterschiede. Auf die weisen wir auch immer wieder hin. Anders als Lohnarbeiter produzieren Tiere zum Beispiel keinen Mehrwert – sie werden getötet oder ihre Körper zur Produktion von Waren benutzt. Für das Kapital sind sie daher keine Arbeitskräfte, also nach Marx variables Kapital, sondern nur Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstand, sprich konstantes Kapital. Das Fleischkapital hat daher auch gar kein prinzipielles Interesse daran, dass die Tiere überhaupt am Leben bleiben. Die Arbeiter:innen werden zwar auch wie Dreck behandelt (und die meisten dürften marxistisch gesehen auch nicht einmal den Wert ihrer Arbeitskraft entlohnt bekommen – es handelt sich dann also nicht einmal wirklich um Äquivalententausch), aber die Unternehmer brauchen sie ja als ausführende Arbeitskräfte für die Fleischproduktion – zumindest für eine Zeit. Von marxistischen Genoss:innen hören wir ab und zu, es sei falsch, von der „Ausbeutung“ der Tiere zu sprechen. Aber erstens ist das nicht überzeugend, denn auch Marx selbst verwendet den Ausbeutungsbegriff nicht nur werttheoretisch, er spricht auch von einer „Exploitation der Natur“. Und zweitens wird das Argument häufig so vorgebracht, als ginge der Status der Ausbeutung mit einer moralischen Wertung einher, so als sei die Situation der Tiere weniger wichtig, weil sie werttheoretisch nicht als Ausbeutung bezeichnet werden kann. Der Hinweis auf qualitative Unterschiede ist also wichtig, weil im Kapitalismus für das Kapital und die betroffenen Arbeiter und Tiere Unterschiede bestehen, aber er beinhaltet nicht zwingend eine moralisch-politische Wertung.


»Es gibt in unseren Augen kaum Argumente für den Klassenkampf zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse, die nicht genauso Argumente für die Befreiung der Tiere sind.« (Stefanie)


Stefanie: Darüber hinaus meinen wir, dass Klassenkampf und Tierbefreiung zusammenhängen, weil die Tierbefreiungsbewegung und die lohnabhängige Klasse objektiv den selben Gegner haben – das Kapital. Man wird also einerseits nichts, zumindest nichts Grundlegendes, am Status der Tiere ändern können, ohne in die kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse einzugreifen. Allein darum muss die Tierbefreiungsbewegung die Klassenfrage stellen und Klassenkämpfe gegen die Industrie unterstützen. Es gibt in unseren Augen kaum Argumente für den Klassenkampf zur Befreiung der lohnabhängigen Klasse, die nicht genauso Argumente für die Befreiung der Tiere sind. Fleischkonsum ist heute für den Großteil der Menschheit nicht nur nicht mehr nötig, sondern allein aufgrund der Ressourcenverschwendung objektiv irrational. Die Produktivkräfte erlauben also nicht nur eine vernünftige, geplante Produktion zum Wohle der Menschen – sondern auch im Sinne der Tiere, die nicht mehr ausgebeutet und von der Profitgier des Kapitals befreit werden können. Wir sollten den Klassenkampf also auch für die Befreiung der Tiere führen – es gibt kein überzeugendes marxistisches Argument gegen ihre Befreiung!

Aber die Realität sieht doch anders aus: Auch Lohnabhängige sind ideologisch und materiell ins System des Fleischkapitals eingebunden. Für viele Arbeiter:innen ist Fleisch ein zentraler Teil der Ernährung – ich erinnere mich an Gerhard Schröders Aussage, die Currywurst sei der „Kraftriegel der Facharbeiterin und des Facharbeiters“, die man nicht abschaffen dürfe. Dazu passt ein Beitrag eurer Zeitung, in dem mit Antonio Gramsci die Schaffung einer „karnivoren“, also fleischbasierten, Lebensweise durch die Fleischkonzerne analysiert wird: als „Fleischhegemonie“. Könnt ihr das noch etwas genauer erklären?

Daniel: Mit dem Begriff „Fleischhegemonie“ bezeichnen wir die Kombination aus reellen materiellen Zugeständnissen des Fleischkapitals an die Arbeiter:innen- und die Mittelklassen und den dazugehörigen politischen und kulturellen Formen, die gemeinsam die Zustimmung der Subalternen zur Überausbeutung der Tiere und der Ausbeutung der Kolleg:innen in der Fleischindustrie sowie den Absatz der produzierten Fleischwaren sicherstellen. Im Falle des Fleischkapitals ist damit gemeint, dass zunächst ein gut ausgebildeter, kleiner Teil von Facharbeitskräften, analog zu anderen Industrien der imperialistischen Staaten, bessere Arbeits- und Lohnverhältnisse hat als woanders. Außerdem hat die Bourgeoisie die Natur inklusive der Tiere weitgehend monopolisiert, sie also als Produktionsmittel zum Privateigentum gemacht.

In dem Sinne, dass Tiere und der Natur zu Sachen gemacht werden, über die ohne Rücksicht verfügt werden kann – bis zur Zerstörung?

Ja, genau. Allerdings beansprucht die herrschende Klasse das Privateigentum an Tiere nicht nur für sich, sondern sie hat es verallgemeinert, so dass alle Menschen gleich welcher Klasse prinzipiell Tiere als Besitz erwerben dürfen, was aber natürlich angesichts der realen ökonomischen und politischen Kräfteverhältnissen in erster Linie dem Kapital zugutekommt. Das Recht auf Eigentum an Tieren ist einer der Gründe, warum die meisten Menschen und auch viele Aktive der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung immer noch denken, die Ausbeutung von und die Herrschaft über Tiere sei eine Speziesfrage, also eine Beziehung zwischen „den“ Menschen und Tieren. Dabei handelt es sich in erster Linie um ein Überausbeutungsverhältnis zwischen dem Tierkapital und den Tieren, auch wenn zusätzlich viele Menschen „ihre“ Tiere tatsächlich im Privaten mit Tieren buchstäblich so umspringen, als wären sie ihr Eigentum. Schließlich hat das Tierkapital im Allgemeinen und das Fleischkapital im Besonderen insofern materielle Zugeständnisse machen müssen, als das bestimmte Ausbeutungs- und Herrschaftspraktiken zumindest formalrechtlich durch Tierschutzgesetze verboten sind.

Wenn wir dies im Kontext der Fleischhegemonie betrachten, werden die materiellen Zugeständnisse des Fleischkapitals außerhalb der unmittelbaren Fleischproduktion durch politisch-kulturelle Formen ergänzt, welche den Widerspruch zwischen Kapital einerseits und ArbeiterInnen, Tieren und Natur andererseits lebbar für die Subalterne machen und gleichzeitig den Absatz der Fleischwaren gewährleisten. Zu diesen kulturellen und politischen Formen gehört die karnivore Lebensweise. Damit ist eine Lebensführung gemeint, die vor allem bei der Ernährung (aber auch der Kleidung) um Fleisch kreist. Diese Lebensweise hat sich über die letzten 150 Jahre, in denen Fleisch überhaupt erst zum Mittelpunkt der Massenernährung in den imperialistischen Metropolen gemacht worden ist, stark ausdifferenziert. Von der obligatorischen Bratwurst im Fußballstadion über Grillsessions im Sommer und Kochshows im Fernsehen bis hin zu „Haute Cuisine“, deren Köche auf erlesenes Fleisch setzen, ist alles dabei. Damit die Leute Tierfleisch konsumieren, wird es als das Nahrungsmittel schlechthin inszeniert und mit allerlei positiven Konnotationen versehen.

Fleisch als identitätsstiftendes Kulturgut also?

Stefanie: Genau. Schau dir mal die Werbeseite „fokus-fleisch.de“ der Fleischindustrie an. Dort heißt es: Fleisch ist gesund, gar nicht klimaschädlich, es symbolisiert Wohlstand und so weiter. Das sind die Märchen, mit denen Fleisch zum Besten aller Nahrungsmittel verklärt wird, hinter dem die Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse der Fleischindustrie verschwinden. Dieser Lebensweise entsprechen besondere Vorstellungen von Identität, die sich stark am Konsum von Fleisch und anderen tierischen Waren orientieren: Männer, die zu Hause wie selbstverständlich den Grillmeister geben, Mitglieder aufsteigender Mittelklassefraktionen, die sich einreden, mit dem Kauf ihres „Bio“-Fleisch würden sie gesund essen und die Welt besser machen und so weiter. Schließlich gehört zum Inventar der Fleischhegemonie eine ganze Reihe an, wie wir sagen würden, speziesistischen Ideologien, also Denkformen und Diskursstrategien, mit denen die Überausbeutung von und die Herrschaft über Tiere direkt oder mittelbar gerechtfertigt und verschleiert wird. Das reicht von Klassikern wie „Menschen haben Tiere immer gegessen“ oder „Ohne den Konsum von Fleisch hätte sich unser Gehirn nicht so entwickelt“ bis hin zur Dämonisierung veganer Ernährung.

Daniel: Die Fleischhegemonie ist also eine Unterform bürgerlicher Hegemonie, wie sie Gramsci ursprünglich verstanden hat. Er versuchte zu erklären, warum die proletarische Revolution im Westen nach der Oktoberrevolution gescheitert ist und fand, vereinfacht gesagt, die Erklärung darin, dass es den herrschenden Klassen im Westen gelungen war, eine Hegemonie zu entwickeln und dadurch Teile der subalternen Klassen in ein Bündnis zu integrieren. Gramsci hat diese Prozesse als gesamtgesellschaftliche begriffen. Wir haben hingegen die Mechanismen mit Blick auf die Fleischindustrie und die Tierausbeutung dort analysiert. Eine Besonderheit der Fleischhegemonie ist, dass sie auf eine doppelte Integration von Organisationen der ArbeiterInnenklasse und neuen sozialen Bewegungen abzielt, die Gramsci so in seiner Zeit aber noch nicht kannte und analysieren konnte.

Bemerkenswert ist ein Artikel, der den globalen Zusammenhang von Fleischindustrie und Imperialismus analysiert. Das Fleischkapital stünde „im Zentrum des imperialistischen Weltsystems“, schreibt Ihr. Warum?

Stefanie: Im Kern, weil das deutsche Fleischkapital von internationalen Ausbeutungs- und Abhängigkeitsverhältnissen profitiert. Der Begriff „Zentren des Weltsystems“ verweist darauf, dass die entsprechenden Staaten – bzw. die dort herrschenden Klassen – die Gewinner der globalen kapitalistischen Profitproduktion und -verteilung sind. Und der Imperialismusbegriff verdeutlicht an dieser Stelle, dass die kapitalistische Produktionsweise solche Verhältnisse nicht zufällig, sondern systematisch hervorbringt.


»Wenn PHW und Co. in Polen investieren, dann findet dort nicht nur die Ausbeutung von Arbeitern und Tieren unter dem Kommando deutscher Kapitalisten statt, sondern die Profite, die damit gemacht werden, landen auch in hiesigen Unternehmenszentralen – bei den Profiteuren in den imperialistischen Zentren.« (Stefanie)


Die deutsche Fleischbranche ist von einer starken Tendenz zur Konzentration und Zentralisation des Kapitals geprägt. Das führt unter anderem dazu, dass auch die Entscheidungsmacht einzelner Konzerne darüber wächst, was, wo und unter welchen Bedingungen produziert wird. Die größten Schlacht- und Fleischverarbeitungsunternehmen konnten ihre Produktion trotz der Sättigung des hiesigen Fleischmarktes seit 2005 immer mehr ausweiten – und das hat auch mit ihren geographischen Expansionsstrategien zu tun, für die wir in dem Artikel verschiedene Beispiele ansprechen. Eins ist, dass analog zum Wirtschaftsmodell des deutschen Imperialismus zunehmend Fleischwaren exportiert werden. Tönnies macht heute 50 Prozent seiner Umsätze mit Exporten. Seit der EU-Osterweiterung wird auch vermehrt nach Osteuropa exportiert. Ein weiteres Beispiel ist der Kapitalexport in Länder, in denen die Löhne und Tierschutzbestimmungen noch schlechter sind als in der BRD. Die billige Produktion etwa in Polen macht es leichter, Teile des dortigen Marktes einzunehmen. Und wenn PHW und Co. in dem osteuropäischen Land investieren, dann findet dort nicht nur die Ausbeutung von Arbeitern und Tieren unter dem Kommando deutscher Kapitalisten statt, sondern die Profite, die damit gemacht werden, landen auch in hiesigen Unternehmenszentralen – bei den Profiteuren in den imperialistischen Zentren.

Dass die Gegner übermächtig scheinen, gegen die es anzukämpfen gilt, macht ihr an vielen Stellen deutlich. Auf welchen Ebenen und mit welchen Mitteln gibt es denn Widerstand?

Daniel: Es gibt auf vielen Ebenen Widerstand, auch wenn man ihn nicht größer machen sollte, als er ist. Zunächst gibt es immer Mal wieder auch im Kleinen Proteste und Widerstandsaktionen der Kolleg:innen in der Produktion, auch von den Wanderarbeiter:innen Osteuropas, die dort das Gros der arbeitenden Armen stellt. Sie streiken wild, bleiben der Arbeit fern oder informieren Teile der interessierten Öffentlichkeit über die anhaltend miesen Arbeits- und Lohnverhältnisse. Gleichwohl ist es schwer, empirisch zu messen, welches Ausmaß diese Proteste haben, weil sie – auch aus Selbstschutz – eher seltener an die Öffentlichkeit gelangen. Dann gibt es natürlich auch die Arbeit der Gewerkschaften. Erfreulicherweise ist die zuständige Gewerkschaft Nahrungs-Genuss-Gaststätten (NGG) in jüngerer Zeit ein wenig in die Offensive gegangen und hat Streiks initiiert, um für einen höheren Mindestlohn zu kämpfen. Allerdings verfolgt auch die NGG-Führung wie die Chefs der anderen großen Gewerkschaften in der Republik immer noch eine sozialpartnerschaftliche Linie und hofft auf eine Rückkehr zum „guten“ fordistischen Sozialkompromiss.

Vereinzelt haben sich auch zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen gebildet, die mit konkreten Hilfsangeboten die Arbeitsmigrant:innen unterstützen und mit Öffentlichkeitsarbeit gegen die Fleischbarone arbeiten. Einer der bekanntesten Vertreter ist Pfarrer Peter Kossen, der eine wichtige Stimme ist, auch wenn sein Engagement in der katholischen Kirche auf nicht so viel Nächstenliebe gestoßen ist. Darüber hinaus gibt es immer mehr NGOs und auch soziale Bewegungen, die meist aufgrund spezifischer Probleme gegen die Fleischindustrie kämpfen. Dazu gehören Umweltorganisationen, die etwa die ökologischen Folgen der Tier- und Fleischproduktion anprangern, oder eben auch Tierrechts- und Tierbefreiungsgruppen, welche gegen die Ausbeutung der Tiere auf die Straße gehen und auch mal eine Fleischfabrik blockieren oder besetzen.

Stefanie: Die Parteien sind leider eher Teil des Problems als der Lösung. Am weitesten gehen noch Ideen der Partei Die Linke und von Teilen der Grünen, die industrielle Massentierhaltung abzubauen. Aber auch sie, ausgenommen einzelner Mitglieder, stellen die Tierausbeutung nicht grundsätzlich infrage, im Gegenteil. Bei den Grünen ist der Umbau der Agrar- und Fleischindustrie zudem integrativer Element einer ökomodernistischen Strategie, den Kapitalismus durch seine Begrünung neues Leben einzuhauchen. Im Bundestagswahlprogramm hieß es zum Beispiel, sie wollten eine „sozial-ökologische Marktwirtschaft in Europa begründen“ und der Umbau der Tier- und Fleischproduktion solle durch einen „Tierschutz-Cent auf tierische Produkte“ finanziert werden. Mit anderen Worten: An die Gewinne der Fleischmagnaten wollen sie gar nicht ran, die breite Bevölkerung soll ihnen vielmehr noch neue Ställe bezahlen.

Wie sieht es auf der kulturellen Ebene als einer zentralen Arena der Hegemoniekämpfe aus?

Daniel: Kulturell sind in den letzten Jahren einzelne Samen des Protests gepflanzt worden. In unserer Zeitung gibt es etwa einen Artikel mit „Anmerkungen zu revolutionärer Kunst, Gegenkultur und Ästhetik“, den die Chefredakteurin des Magazins für Gegenkultur Melodie & Rhythmus (M&R), Susann Witt-Stahl, geschrieben hat. Darin entwickelt sie unter anderem in Anlehnung an den österreichischen Künstler Alfred Hrdlicka dessen Idee „Alle Macht in der Kunst geht vom Fleisch aus“ als Maxime des kulturellen Protests gegen die Schlachthäuser, in denen die Leiber der Arbeiter:innen geschunden und die der Tiere zerstört werden. M&R bietet solchen Ideen immer wieder auch eine Plattform.

Während es auf dem kulturellen Terrain einzelne Leuchtfeuer gibt, muss man allerdings konstatieren, dass die vegane Lebensweise als eine Art oppositioneller Kultur mittlerweile zunehmend zum Mittel der kultur-politischen Integration verkommt. Damit ist keinesfalls gemeint, dass diese Lebensweise per se integrativ wirkt. Aber aktuell wird sie für die profitorientierte Produktion und einen wachsenden Markt veganer Waren von Teilen des Kapitals, inklusive des Fleischkapitals, funktionalisiert und entpolitisiert. Der Veganismus ist also nicht mehr per se ein oppositioneller Lebensstil, sondern selber zum Feld der Klassenauseinandersetzungen geworden.

Wie fallen die Reaktionen bisher aus – sowohl auf eure Zeitung, als auch auf eure Arbeit?

Stefanie: Überraschend gut. Und zwar in letzter Zeit vor allem von Seiten der marxistischen Linken. Die Vorbehalte gegenüber Veganismus und der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung sind zwar nach wie vor – allein aus kulturellen Gründen – oft sehr stark. Aber spätestens seit Corona und den Corona-Ausbrüchen in den Schlachtbetrieben ist auch vielen Genoss:innen klar, dass sie eine Position zur Fleischindustrie entwickeln müssen und man die Fleischkapitalist:innen und -monopole nicht blind verteidigen kann. Das hat auch etwas mit einem Generationenwandel zu tun. Deswegen mehren sich in letzter Zeit die Veranstaltungsanfragen aus dem marxistischen und kommunistischen Lager. Im linken Flügel der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung wiederum hat sich mittlerweile schon ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass das Problem nicht die Schlachthofarbeiter:innen, sondern vielmehr ihre Bosse sind. Das ist natürlich nicht nur unser Verdienst. Aber ich weiß aus Gesprächen und Rückmeldungen, dass unsere Veröffentlichungen auch dazu beigetragen haben.

Daniel: Wir machen uns aber natürlich keine Illusionen, wie gering unsere Reichweite und wie „exotisch“ unser Arbeitsfeld ist. Wir entwickeln Analysen und Inhalte und versuchen, klassische marxistische Theorie auf die Frage der Fleischindustrie und Tierbefreiung anzuwenden. Und wir sind dabei in vielen – nicht allen – Punkten die ersten, die das so machen. Klar stößt das auf Widerstände. Aber die letzten Jahre haben gezeigt, dass es kein Ding der Unmöglichkeit ist, sowohl Gehör bei marxistischen Genoss:innen als auch in der Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung zu finden. Marxist:innen brauchen im Jahr 2021 eine Position zur ökologischen Krise und zur Fleischindustrie, und die Tierrechts- und Tierbefreiungsbewegung muss sich fragen, was eigentlich der gesellschaftliche Rahmen ihrer Politik ist – das ist allerspätestens seit Corona einfach überdeutlich.


Die Zeitung „Das Fleischkapital“ ist ein Projekt des Bündnisses Marxismus und Tierbefreiung, in dem Gruppen und Einzelpersonen der Tierbefreiungsbewegung und Aktive der kommunistischen Linken mitarbeiten. An der Zeitung selber sind aber auch „externe“ Autor:innen beteiligt, etwa der Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann aus Israel. Auf der Webseite des Bündnisses kann die Zeitung "Das Fleischkapital" auch als Printversion bestellt werden.