Rätedemokratie und Sozialismus: Das Beispiel Kuba
Vorbemerkung der Redaktion:
Am 23. Januar 2021 verabschiedete der Parteivorstand der Linken einen Beschluss der Parteiströmung „Emanzipatorische Linke (Ema.Li)“. Unter dem Titel „Solidarität mit Kuba“ wird nicht nur gegen die anhaltende und völkerrechtswidrige, jahrzehntelange Blocke Kubas durch den US-Imperialismus protestiert. Zugleich wird auf antikommunistische Kräfte anerkennend Bezug genommen, die die kubanische Gesellschaft von innen heraus „demokratisieren“ sollen. Dies stellt in der Geschichte der Linkspartei einen Tabubruch dar.
Angesichts der fortwährenden wirtschaftlichen, sozialen sowie politischen Destabilisierungsversuche Kubas durch US-amerikanische Sanktionen und ihre Förderung rechter Terrornetzwerke in Miami und auf Kuba, sind die Bezugnahmen auf die in der Resolution erwähnten „demokratischen Akteure“ gefährlich. Diese bergen die Gefahr, mit und trotz solidarischer Lippenbekenntnisse zu Kuba den US-Kurs der Isolation der sozialistischen Insel sowie den rechten Bemühungen um einen „regime change“ das Wort zu reden.
Dagegen regt sich innerhalb der internationalistischen Teile der Linkspartei Widerstand. Im Zuge der Tendenzen der Entsolidarisierung mit dem sozialistischen Kuba ist ein genauerer Blick auf das politische System notwendig, um nicht auf imperialistische und antikommunistische Lügen hereinzufallen. Die nachfolgende Debatte dient der revolutionären Linken auch hierzulande, fortschrittliche Tendenzen für die Suche nach brauchbaren gesellschaftlichen Gegenmodellen zur bürgerlichen Herrschaft diskutieren und finden zu können.
Wir Autoren teilen eine gemeinsame Geschichte in der autonomen Antifa-Bewegung. Lange Jahre definierten wir uns als „Antiautoritäre“ und „libertäre Sozialisten“. Wir taten dies in Abgrenzung zum Realsozialismus, und folgten damit dem Mainstream der deutschen Linken. Aber: Wir verhielten uns auch in diesen Jahren unserer politischen Biografie bereits solidarisch gegenüber Bewegungen, Organisationen und Ländern, die wir aus unserem damaligen Standpunkt heraus als „autoritär-sozialistisch“ ansahen. So sahen wir in der Revolution Kubas zum Beispiel ein politisch unterstützenswertes Projekt. Für das antiautoritäre Spektrum waren wir damit schon recht aufgeschlossen, wird Kuba in diesem Spektrum doch in eine Reihe mit allen möglichen anderen realsozialistischen Projekten gestellt und für gescheitert erklärt. Dass nicht alles an der antikommunistischen, antikubanischen Propaganda stimmt, konnten wir nicht zuletzt aufgrund mehrfacher Reisen und verbrachter Zeit vor Ort feststellen.
Heute feiert das kubanische Projekt auch 30 Jahre nach dem Zusammenbruch des Ostblocks sein Weiterbestehen. Das Überleben des kubanischen Modells gegen alle Widrigkeiten zeigt, abseits der persönlichen Erfahrung, auch objektiv auf, dass das Modell in einem anderen gesellschaftlichen Kontext entstanden ist und weiterentwickelt wurde, als etwa die ehemalige DDR. Es war damit schlussendlich nicht den gleichen Abwärtsdynamiken wie der sozialistische Ostblock erlegen. Auch von den Präfixen „libertär“ und „autoritär“ haben wir uns heute gelöst. Ebenso, wie uns der mit viel Bücherwissen vorgetragene Dogmatismus vieler marxistisch-leninistischer Deutungen nach wie vor nicht überzeugen vermag. Das kubanische Projekt soll hier dem rein ideologischen Kriterium von „Wissenschaftlichem Sozialismus oder Revisionismus/Utopismus“ unterworfen werden. Gerade anhand des kubanischen Projekts lässt sich aber gut zu erkennen, wie unzureichend solche Ideologie-reduktionistischen Auffassungen in der Realität eines sozialistischen Aufbaus sind, da sie von den konkreten Umständen abstrahieren. Diese lassen in aller Regel keine theoretischen 1:1 Schablonen zu. Wir sind daher der Meinung, dass aus dem Erfahrungsschatz des kubanischen Modells vieles gelernt und aufgearbeitet werden kann.
Die Grenzen eines schematischen marxistischen Schubladen-Denkens
Der Sieg der Kubanischen Revolution über die Batista-Diktatur am 01. Januar 1959 bedeutete ein Befreiungsschlag vom halbkolonialen Joch. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von der landwirtschaftlichen Produktion jedoch blieb. Die UdSSR begann, Kuba den Zucker abzukaufen und versorgte den jungen sozialistischen Staat im Gegenzug mit Maschinen. Die ökonomischen Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus waren aufgrund der zu beseitigenden halbfeudalen Strukturen, unter anderem ausgedrückt durch landlose Bäuer*innen, Wanderarbeiter*innen und einer mafiösen Oligarchie, die Industrie und Boden fest in ihrer Hand hielt, denkbar schlecht. Das Land war stark von Exporten abhängig, produzierende industrielle Sektoren fehlten weitgehend. Eine objektive, ökonomische Basis für eine sozialistische Revolution sieht in einer allzu schematischen und orthodoxen marxistischen Revolutionstheorie also ohnehin anders aus. Entsprechend ökonomistische Strömungen argumentieren daher, trotz aller historischer Gegenbeweise, bis heute gegen das kubanische Modell.
Nach subjektiven Faktoren bemessen war Kuba jedoch reif für diesen Schritt. Mit dem Movimiento 26 de Julio (deutsch: Bewegung des 26. Juli; kurz: M-26-7) um Fidel Castro, seinem Bruder Raúl, Camilo Cienfuegos sowie Ernesto »Che« Guevara, gab es eine in der Bevölkerung verankerte, starke revolutionäre Organisation, die zumindest linksnationalistisch antikolonial, aber eben damals schon auch marxistisch geprägt war. Die Bevölkerung litt zum Einen unter der Tyrannei der Diktatur, zum Anderen war die Schaffung sozialistischen/revolutionären Bewusstseins in der Bevölkerung aufgrund der langen antikolonialen Kämpfe von José Martí bis hin zu den Kämpfen kommunistischer Gruppen ab 1923 vorangeschritten.
Die Frage, ob die Revolution angesichts des Fehlens der objektiven ökonomischen Bedingungen einer entwickelten Industrie für einen sozialistischen Aufbau voluntaristisch gewesen sei, wird in Kuba, wie auch im Mehrheits-Leninismus, an dem Kuba sich nach wie vor orientiert, weitestgehend verneint. Sie ist auch nach allen bisherigen historischen Erfahrungen als zumindest kurzsichtig zu begreifen, auch wenn sie bestimmte real-existente Schwierigkeiten fasst. Wenn die kubanische Erfahrung etwas zeigt, dann dass der Sozialismus eben „als Bruch am schwächsten Glied der imperialistischen Kette“ (Lenin) in einem begrenzten Territorium unter ökonomisch widrigsten Bedingungen aufgebaut werden kann. Er unterliegt dann aber realen politischen und ökonomischen Beschränkungen, solange er einem starken kapitalistischen Gegner gegenübersteht (z.B. im Kalten Krieg). Er muss dann sogar objektive Rückschritte in Kauf nehmen, wenn er alleine und zunehmend ohne Verbündete gegen eine kapitalistische Weltordnung steht.
In Kuba muss er andere Voraussetzungen haben, als zum Beispiel in einer EU – dort wäre der Aufbau schon widrig genug. Die kubanische Erfahrung zeigt, dass ein allzu schematisches marxistisches Schubladendenken als theoretischer Maßstab die politische Realität nur unzureichend zu fassen vermag. Nur weil ein ökonomisch schwach entwickeltes, post-koloniales Land also bestimmte Beschränkungen im sozialistischen Aufbau zwangsläufig aufweist, ist das Eintreten der Kubaner*innen für ihre Revolution noch lange nicht „unmarxistisch“. Das zu behaupten ist allzu euro-chauvinistisch.
Sozialistischer Staat, Poder Popular und die kubanische Rätedemokratie
Nun wird Kuba aber immer wieder unterstellt, eine „Einparteien-Diktatur“ im Zuschnitt entsprechender realsozialistischer Projekte zu sein. Ist es dann nicht eventuell richtig, wenn im deutschen linken Mainstream vom „autoritären Sozialismus“ in Kuba gesprochen wird? Fakt ist, bei Kuba handelt es sich um einen Staat, unter den derzeitigen politischen Verhältnissen der Welt, sogar um einen Nationalstaat. Und Staaten als bürgerliches Konzept sind etwas, dass es im Laufe eines historischen Prozesses im Sinne einer sozialistischen Weltrepublik zu überwinden gilt. Die ultraradikale Ansicht vieler Anarchist*innen und Antiautoritären jedoch, der Staat sei bereits im revolutionären Kampf zu überwinden, lässt sich zumindest in Bezug auf Kuba allerdings durchaus in Frage stellen. Umringt durch imperialistische Staaten wäre das kleine Kuba als unzusammenhängende Konföderation anarchistischer Kommunen, beispielsweise im Sinne eines Michail Bakunin, längst zerfleischt worden.
Schon das staatlich organisierte, militärisch wehrhafte Kuba hatte es in diesem Punkt nicht immer leicht, sich gegen eingeschleuste Contra-Partisanen, wirtschaftliche Blockaden und den Terrorismus durch Alpha 66 und andere faschistisch gesinnte, exilkubanische Organisationen zur Wehr zu setzen. Es ist bekannt, dass letztere politisch, militärisch und finanziell durch den US-Imperialismus unterstützt werden. Zu glauben, die Staatlichkeit könne sofort mit der Revolution überwunden werden, bedeutet die Augen vor den gesellschaftlichen Realitäten eines aggressiven Weltkapitalismus und seiner staatlichen, bis an die Zähne bewaffneten, Exekutor*innen zu verschließen. In einer Welt, deren wirtschaftliche Basis der Kapitalismus ist, verschwindet der nationalstaatliche Überbau nicht nur aus Wunschdenken heraus. Die Theorie der „Diktatur des Proletariats,“ verstanden als Selbstverteidigungsorganisation gegen koloniale, kapitalistische Restauration und externe Aggression, beweist hier ihre Berechtigung gegen utopistische Verklärungen.
Die Existenz dieser Selbstverteidigungsorgane und ihre häufig unpopuläre repressive Funktion ist es, die in Kuba nach wie vor gegen antikommunistische Aktivist*innen geltend gemacht wird, und das kubanische Projekt für viele deutsche Internationalist*innen ohne Wissen über die kubanische Wirklichkeit als rein repressiv erscheinen lässt. Falsch hingegen ist die Behauptung, bei Kuba handele es sich angesichts dieser notwendigen Selbstverteidigungsmechanismen um eine repressive „Einparteien-Diktatur“. Richtig ist es vielmehr, von einer Doppelmacht von demokratisch-zentralistischer Kommunistischer Partei und klassischer Rätedemokratie zu sprechen. So wird sich seitens der kubanischen Kommunist*innen wenig um gesellschaftlichen Ausschluss aus öffentlichen Ämtern bemüht. So gibt es zum Beispiel nicht die Voraussetzung einer Parteizugehörigkeit zur Partido Comunista de Cuba (deutsch: Kommunistische Partei Kubas; kurz: PCC), um in die Asamblea Nacional del Poder Popular (deutsch: Nationalversammlung der Volksmacht), das kubanische Parlament und höchster Rat, gewählt zu werden. Gewählt wird – anders als in der BRD – nicht nach der Zugehörigkeit zu einer Partei, sondern lediglich im Direktmandat. Wahlwerbung ist verboten.
Die kleinsten, lokalen Einheiten der kubanischen Räte, die Barrios (deutsch: Nachbarschaften), wählen ihre Abgeordneten danach, wie sie sich für die Interessen der Menschen in ihrem Wahlkreis einsetzen. Einmal im halben Jahr müssen die Mandatierten Rechenschaft ablegen. Wer einmal Zeuge einer entsprechenden Versammlung geworden ist, wird feststellen, dass die Abgeordneten mitnichten geschont werden. Die Möglichkeit einer Abwahl, also des Entzugs des Mandates, steht jederzeit zur Verfügung. Es handelt sich um ein sogenanntes Imperatives Mandat. Ähnlich wurden auch historisch die Mandate in Rätedemokratien, und heute noch in anarchosyndikalistischen Organisationen, wie zum Beispiel der Freien ArbeiterInnen-Union (kurz: FAU) in Deutschland, erteilt oder entzogen.
Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen werden politische Entscheidungen nicht einfach „autoritär“ von oben herab, sondern „von unten“ durch die gesellschaftliche Basis mit gefällt. Ein Beispiel hierfür ist der verfassungsgebende Prozess von 2018 bis 2019, in dessen Rahmen große Teile der kubanischen Verfassung überarbeitet wurden. Im August 2018 war ein erster Entwurf durch eine imperativ mandatierte Kommission erarbeitet und im Parlament verabschiedet worden. Dieser Entwurf wurde anschließend mit den verschiedenen Tageszeitungen verteilt, das heißt in den Stadtvierteln, Betrieben, Universitäten, Altersheimen und so weiter begannen dann Diskussionen über den Entwurf. Im Rahmen von 133.681 öffentlichen Versammlungen, den sogenannten consultas populares (deutsch: Volksbefragungen), konnten Änderungsanträge eingebracht werden. In den Versammlungen wurde der Entwurf Kapitel für Kapitel durchgegangen und alle Ideen, Bedenken, Streichungen, Modifizierungen, Ergänzungen und so weiter notiert. Insgesamt nahmen mehr als sieben Millionen Kubaner*innen an den Versammlungen teil. Auch Kubaner*innen mit Wohnsitz im Ausland, das heißt selbst jene exilkubanischen Dissident*innen in den USA, konnten digital an dieser Etappe des Verfassungsreformprozesses partizipieren.
Der Entwurf wurde durch die Kommission nun zu 40 Prozent überarbeitet. Das Ergebnis ging noch ein weiteres mal durch das Parlament und wurde, nachdem er erneut in der Bevölkerung verteilt und diskutiert worden war, am 24.02.2019 im Rahmen einer Volksabstimmung angenommen. An dieser nahmen 7.848.343 Personen teil und mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten stimmten für die neue Verfassung. Dass es im Rahmen solcher demokratischer Prozesse in Kuba teilweise auch zu heftigen Diskussionen und sogar zu Rückschlägen für die PCC kommen kann, zeigte nicht zuletzt die Auseinandersetzung um die Aufnahme gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in die Verfassung. Hier stand eine dies befürwortende PCC gegen die Mehrheit der Bevölkerung sowie der Kirche und musste schließlich klein bei geben.
Die Losung lautet: Unidad y Solidaridad – Einheit und Solidarität!
Angesichts der aktuellen objektiven Bedingungen, welche für eine einzelne sozialistische Insel direkt im Vorhof eines der mächtigsten imperialistischen Staaten der Erde nicht unbedingt die besten sind, ist das partizipative System Kubas schon vergleichsweise radikaldemokratisch. Nur von einer staatenlosen Welt zu träumen und vorbei an der kapitalistischen Realität eine abstrakt „antinationale“, statt einer realistisch „internationalen Solidarität“ zu fordern, wird den Kapitalismus genauso wenig überwinden, wie sich gegenseitig zur Abgrenzung zu kategorisieren. Die kubanische Erfahrung lehrt, dass dogmatische und schematische politische und theoretische Verständnisse begrenzt sind und sich an der Praxis eines widrigen Aufbaus beweisen und aktualisieren lassen müssen. Seit mehreren Jahren ist es in Deutschland wieder en vogue über Räteorganisation ins Gespräch zu kommen.
Diesbezüglich weist Kuba nahezu ein archetypisches Beispiel mit Erfahrungen aus mehreren Jahrzehnten der Praxis auf, die reflektiert und zumindest partiell rezipiert werden könnten. Die Kubaner*innen sind sich übrigens auch darüber einig, dass ihr Weg nicht einfach kopiert werden kann. Es ist der Weg, der zu den Bedingungen auf Kuba passt. Wichtig ist nicht, wie wir uns genau definieren, oder dass wir uns zu einem Einheitsbrei vermengen. Unsere Wege können unterschiedliche sein, solange wir sie doch als Einheit gehen, wenn uns der gleiche Klassenfeind gegenüber steht. In diesem Sinne das kubanische Unidad (Einheit) als politische Widerstandsbewegung, aber auch als Aufruf zu einem solidarischen und auch kritischen Austausch zwischen verschiedenen revolutionären Linken mit verschiedenen Strategien im gemeinsamen Kampf zu verstehen, kann jedenfalls als Inspiration bleiben.
Ob der neuerliche Aufbau einer kommunistischen Partei in Deutschland, Graswurzelkommunen, anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderationen oder Gegenmacht im Sinne eines Demokratischen Konföderalismus die erfolgversprechende Strategie sein kann, wird uns – ganz marxistisch gesprochen – die Praxis im revolutionären Kampf und kein abstraktes Bücherwissen zeigen.