Lektionen in katastrophalen Zeiten
Der Sturz des blutigen Diktators Bashar Assad in wenigen Tagen reiht sich ein in eine Ereigniskette, die sich nicht nur mit Pauken und Trompeten angekündigt hat, sondern sich seit über einem Jahr vor unseren Augen Tag um Tag, Monat um Monat vollzieht: Die partielle Demontage der vom Iran geführten „Achse des Widerstands“ im Nahen Osten seitens des entfesselten Terrors von NATO, Israel und ihrer Verbündeten. All dies wurde begünstigt durch die Fehlkalkulationen des Iran und seiner Allies. Weil nationale Widerstands- und Befreiungsbewegungen gegen den transatlantisch-imperialistischen Block in Nahost seit geraumer Zeit und vor allem seit dem 7. Oktober 2023 immer stärker in das vom Iran geführte regionalimperialistische Hegemonieprojekt integriert wurden, geht damit auch partiell eine Schwächung emanzipatorischer Perspektiven in Nahost einher.
Diese können sich zwar mittel- bis langfristig überhaupt nicht im Rahmen des iranischen Regionalimperialismus entfalten. Denn das iranische Hegemonieprojekt stellt als Gesamtpaket nur eine anti-emanzipatorische Alternative zur transatlantisch-zionistischen Vernichtungspolitik dar. Von der klassischen marxistischen Trias der nationalen, demokratischen und sozialen Befreiung kann und will das iranische Hegemonieprojekt im besten Fall nur das erstere bis zu einem gewissen Punkt stützen und stärken, nämlich, insofern es den Iran im Machtkonflikt mit Israel, Saudi Arabien und den USA stärkt. Syrien unter Assad war da um keinen Deut besser. Im Gegenteil. Auch deshalb feiern Araber*innen weltweit ganz zurecht den Sturz der brutalen Diktatorendynastie Assad, selbst wenn die Aussichten im Land sehr prekär sind – schließlich wurde das Land von einer Koalition unter Führung NATO-gestützter jihadistischer Kräfte von Assad befreit.
Aber die instabile militärische Balance, die Iran, Syrien, Hamas, Hizbullah und partiell Russland gegen Israel und den transatlantischen imperialistischen Block in den letzten Jahren und Jahrzehnten in Nahost errichtet haben, hat insgesamt schweren Schaden genommen. Die Syrische Arabische Armee (SAA) ist zerschlagen, die Hamas und Hizbullah haben schwere Schäden genommen, der Iran konnte seinen militaristischen Worten kaum Taten folgen lassen. Und das ist gleichzeitig die Crux: Ohne eine wie auch immer prekäre militärische Balance, die den Terror des transatlantischen Imperialismus und seiner Verbündeten so gut es geht in Grenzen hält, wird es auch keine emanzipatorischen Potenziale in Nahost geben. Und diese Balance wurde (und wird aktuell auch weiterhin) in den letzten Jahren nicht in erster Linie von emanzipatorischen, linken Kräfte errichtet, sondern von bürgerlichen und/oder reaktionären.
Die Bilanz der Katastrophe
Denn was passiert, wenn eine Balance gegen den transatlantischen Machtblock und Israel in Nahost nicht mehr gehalten kann, das sieht man jetzt: Gaza wurde im Rahmen eines dezidiert kalkulierten, begrenzten Genozids seitens eines von rechtsextremistisch-faschistischen Kräften dominierten Israels mit Schützenhilfe durch Deutschland, den USA und so weiter fast vollständig zerstört. In Syrien kommt die ganz offen von der Türkei unterstützte jihadistische Hayat Tahrir al-Sham (HTS) an die Macht. Dessen Führer Jolani hat sich dezidiert von den Taliban in Afghanistan abgeschaut, wie man ein islamistisches Regime so verpackt und verkauft, dass es keine ausländischen Interventionen mehr provoziert und im Inneren potenzielle organisierte Opposition durch vorübergehende Beschwichtigungen demobilisiert. Zwischen den Zeilen entschlüpft ihm aber dennoch, was er den Menschen in Syrien unter der Führung der HTS in Aussicht stellt: nämlich eine korrekt implementierte „Islamic governance“. Die ebenfalls von der Türkei unterstützte jihadistische Syrische Nationalarmee (SNA) greift derzeit massiv mit tatkräftiger Unterstützung der türkischen Armee das von den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) gehaltene Rojava im Nordosten Syriens von mehreren Fronten aus an. Auch Israel bombardiert gerade Syrien flächendeckend und besetzt dort ganze Gebiete. Die „internationale Staaten- und Wertegemeinschaft“ schweigt natürlich dazu, denn nur Putin oder Assad oder die Hamas sind aus der transatlantischen Perspektive Kriegsverbrecher. Israels „legitimes Selbstverteidigungsrecht“ hingegen scheint nun, neben genozidalem Vorgehen in Gaza und Zerstörungsfurie im Libanon, auch landesweites Bombardement und Besatzung in Syrien zu beinhalten. Es gibt derzeit kaum eine militärische Balance mehr, die diesen entfesselten Terror begrenzen könnte.
Es ist im Rahmen dieser Ereigniskette einzig die immense populare Euphorie, die durch den Sturz Assads losgetreten wurde, die darauf hoffen lässt, dass sich eine (von den Jihadisten ungewollte und unkontrollierte) populare Dynamik in und nach Syrien ergibt, die die Hegemonie der Jihadisten beschränkt und den Horizont der sozialen Emanzipation in Nahost erneut öffnet. Das ist allerdings eine sehr vage Hoffnung. Die bisherige historische Erfahrung steht dem entgegen. Man denke nur daran, was passiert ist, nachdem die Diktatoren im Irak und Libyen mithilfe oder aufgrund westlicher Unterstützung/Intervention gestürzt wurden.
Notwendige Selbstreflexion
Spätestens jetzt wäre es deshalb an der Zeit, sich noch einmal grundlegende Gedanken zu Antikolonialismus und Antiimperialismus aus linker, revolutionärer Perspektive in Nahost zu machen, besonders zu der seit dem 7. Oktober 2023. Ich möchte dazu im Folgenden einige wie mir scheint wichtige strategische Punkte debattieren. Ich gehe auf einzelne Fälle, Akteur*innen und Ereignisketten daher auch nur als Beispiele im Rahmen dieser allgemeinen Strategiedebatten ein.
Die Analyse der einzelnen Angelegenheiten und die unterschiedliche Gewichtung von einzelnen Akteur*innen ist daher natürlich auch notwendig, um konkrete Handlungsanleitungen und Vorschläge zur Bündnispolitik herauszudestillieren. Schließlich hat der Artikel aber auch explizit nicht den Anspruch, konkrete Handlungsoptionen zu diskutieren. Er soll vielmehr als Anregung verstanden werden, wie über linke Handlungsoptionen nachgedacht wird, auch über den Umgang linker Solidarität mit dem Kampf der Kolonisierten und Unterdrückten.
In aller Deutlichkeit kondensiert sich die aktuelle Schwierigkeit darin, dass es schlicht nicht genügt, Israels Genozid und die Komplizenschaft des Westens mit Israel anzuprangern und Palästina-Solidarität darauf zu reduzieren. Man muss auch Fehler und politische Alternativen debattieren.
Fakt ist und bleibt, dass die Hamas mit der von ihr angeführten Aktion vom 7. Oktober 2023 Israel den lang ersehnten Vorwand gegeben hat, eine offene Vernichtungspolitik gegen Palästina umzusetzen. Denn der 7. Oktober war nicht nur ein Befreiungsschlag, sondern einer in Form eines unterschiedslosen Massenmords an Menschen in Israel, der Großteil davon Jüd*innen. Das ist zum einen grundlegend abzulehnen aus der Perspektive der Überzeugungen und Inhalte, für die eine revolutionäre Linke steht: Nämlich für ein Zusammenleben der Völker in Frieden und Freundschaft, die durch blinde, fanatische Massaker schlicht nicht hergestellt werden kann. Und er ist zudem auch politisch absolut fehlkalkuliert gewesen, weil durch die spezifische Form der Aktion – nicht durch die Aktion an sich – vorhersehbar die Kräfte enorm gestärkt wurden, die der Befreiung Palästinas mit allen Mitteln entgegenstehen und gewillt sind, ihre Feindschaft gegen Palästina auch mit den brutalsten Mitteln umzusetzen. Vor dem 7. Oktober 2023 war die israelische Gesellschaft gespalten wegen Netanyahus faschistischen Staatsumbauplänen. Der 7. Oktober 2023 einte sie angesichts des Grauens am 7. Oktober wieder, und zwar in der chauvinistischsten Art und Weise, die möglich ist: als blutrünstige Kriegsgemeinschaft. Dies zu benennen und aufs schärfste zu kritisieren ist nicht Verrat an der palästinensischen Sache, im Gegenteil: Gerade sie dient dieser, weil sie die eigentlich unverantwortlichen Kräfte anprangert, die unter Ausschlachtung der legitimen emanzipatorischen Forderungen und Ansprüche der Palästinenser*innen diese in einer totalen Fehlkalkulation der Kräfteverhältnisse und mithilfe moralisch wie politisch falscher Mittel für das eigene Macht- und Hegemoniekalkül aufopferten.
Was für die Hamas gilt, gilt für die Hizbullah und den Iran seit dem 7. Oktober 2023 ebenso wie schließlich auch für das Assad-Regime in Syrien. In einer Auseinandersetzung nach der anderen haben insbesondere die Hizbullah und der Iran schwere Niederlagen einbüßen müssen, wovon der Fall Assads nur der neueste ist. Es waren nicht nur die internationalen Sanktionen oder die Schwäche von Russland und Iran, die zu letzterem führte. Es war auch schlicht die Brutalität des Regimes, die die sowieso nur sehr begrenzte populare Legitimität Assads endgültig untergrub, weshalb das ganze Regime auch bei der erstbesten ernsten militärischen Herausforderung seit Jahren wie ein Kartenhaus zusammenbrach.
Israel indes hat offensichtlich aus früheren taktischen Fehlern und Niederlagen gelernt und konnte den Waffengang viel besser leiten als zuvor. Der Staat geht daher machtpolitisch gesprochen auch mit großen Siegen aus den bisherigen Auseinandersetzungen heraus – mit enorm zerstörerischen Folgen für Palästina und den Libanon, partiell für den Iran und Syrien. Israels reaktionäre Kontrahenten hingegen ruhten sich auf vergangenen (partiellen) Siegen aus und gingen davon aus, Israel erneut schlagen oder im Zaum halten zu können. Genau dasselbe gilt im Verhältnis von jihadistischen Rebellen und Assad-Regime. Während erstere die in der Ukraine entwickelte tagesaktuelle Form des Kampfs der verbundenen Waffensysteme fraglos mit Hilfe des NATO-Partners Türkei (und vielleicht sogar mithilfe der Ukraine) perfektionierten, versank die SAA aufgrund des Glaubens von Assad und der Armeeführung an die eigene Übermacht in Ineffizienz, Korruption und inneren Zerfall. Die Armee hatte schließlich den Drohnenflotten des HTS überhaupt nichts entgegenzusetzen und löste sich auf.
Es lässt sich festhalten: Keiner der wichtigen Akteure im Orbit des iranischen Hegemonialprojekts bietet eine emanzipatorische Perspektive für die Region oder für die jeweiligen Länder an, auch wenn es wichtige Unterschiede zwischen diese Akteuren gibt. Und insgesamt war das Vorgehen der vom Iran geführten „Achse des Widerstands“ nicht in der Lage, den transatlantisch gestützten (zionistischen) Terror einzudämmen, im Gegenteil. Sich explizit oder implizit auf sie zu verlassen, wie manche Antiimperialist*innen es tun, bringt den Menschen und einer linken Perspektive im Nahen Osten in politischer wie moralischer Hinsicht also nichts.
Politik und Moral
Wer den Gegner ständig ganz laut herausfordert und provoziert, der sollte auch in der Lage sein, sich diesem im Kampf zu stellen. Wer das nicht oder nur schlecht kann und trotzdem zum Waffengang ruft, der hat sich nicht nur ganz grundsätzlich verschätzt, sondern begeht schlicht massive politische Fehler, handelt also politisch verantwortungslos. Denn Politik besteht nicht ausschließlich aus Moral. Die Moral und die Moralphilosophie drehen sich um Fragen des Richtigen und Guten. Zum Beispiel ist es richtig und gut, dass Palästina vom Joch des Zionismus befreit und vor Genozid geschützt wird. Politik hingegen beschäftigt sich ganz grundlegend mit Fragen der Macht, Taktik und Strategie, um bestimmte Ziele umsetzen, darunter auch solche, die Gegenstand von Moral und Moralphilosophie sind. Zum Beispiel die Frage, welche Taktiken und Strategien in den gegebenen Kräfteverhältnissen die richtigen sind, um eine Befreiung Palästinas zu erlangen.
Betreibt man Politik ganz ohne Moral, stellt sich die bekannte Zweck-Mittel-Umkehrung ein: Vor lauter Taktiererei gehen die Ziele verloren und werden durch das bestehende kapitalistisch-imperialistische System und den darin dominierenden Kräfteverhältnissen umgekehrt, die schließlich ihre eigenen Inhalte und Ziele aufprägen. Aber auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Betreibt man Politik nur nach Maßstäben des Moralischen, wird man einen schweren Fehler nach dem anderen begehen, weil man seine Taktiken und Strategien nicht auf Grundlage der Kräfteverhältnisse entwirft und entwickelt, sondern ausschließlich auf Grundlage des eigenen Gewissens und der eigenen Überzeugungen.
Linke Solidaritäten nach dem 7. Oktober 2023
Ein wichtiger Teil der antikolonialen, antiimperialistischen Linken, hat, so scheint mir, diese Lektionen nicht gezogen und seit dem 7. Oktober eine ungenügende Politik der Solidarität verfolgt. Natürlich werden die Ereignisse seit dem 7. Oktober 2023 nicht ausschließlich oder gar hauptsächlich von der richtigen oder falschen Politik der linken, revolutionären Solidarität determiniert. Diese ist zu schwach, um einen nennenswerten Einfluss auf die Geschehnisse auszuüben. Zudem spielen natürlich die internationalen und regionalen Kräfteverschiebungen eine viel wichtigere Rolle. Im Fall Assads etwa die stark reduzierten Kapazitäten Russlands, das sukzessive alle Ressourcen auf den Eroberungskrieg in der Ukraine konzentrierte und dem syrischen Regime nicht ausreichend zur Seite stehen konnte. Aber dennoch muss man sich als Linke eben auch Überlegungen zu den eigenen Haltungen und Fehlern machen und richtige Schlussfolgerungen daraus ziehen, um in der Zukunft politisch und moralisch gewappneter zu sein.
Und spätestens jetzt wären dringende Lektionen zu ziehen und die bestehen meines Ermessens in der Restaurierung einiger alter linker Binsenweisheiten:
1. Da ist, erstens, die ganz grundlegende Einsicht, dass revolutionäre Linke in nationalen Befreiungskämpfen politisch wie moralisch einen eigenständigen Pol entwickeln müssen, weil sonst die nationale Befreiung, wenn sie denn dann stattfindet, von ganz anderen Kräfte und Zielen angeleitet wird als das, wofür die revolutionäre Linke einsteht. Der Iran selbst ist da ein Paradebeispiel, weil sich die Islamisten 1979 schließlich im Kampf gegen den illegitimen, diktatorialen Schah durchsetzten, die Linken dezimierten und das bis heute herrschende theokratische Regime installierten. Ein anderes denkwürdiges Beispiel ist Algerien. Die Brutalität, mit der die Nationale Befreiungsfront (FLN) den Befreiungskampf führte, bereitete den Boden für das diktatoriale postkoloniale Algerien. Die opportunistische Ausschlachtung des Islams seitens der marxistisch-säkularen FLN zu Mobilisierungszwecken im und nach dem Befreiungskampf bereitete schließlich den Boden für die Erstarkung des politischen Islams in Algerien. Ähnlich lief es übrigens im Befreiungskrieg der Türkei unter Mustafa Kemal: Die Linken ordneten sich der von den Kemalisten geführten nationalistischen Befreiungsperspektive unter, wurden noch im Zuge des Krieges von den Kemalisten vernichtet, die schließlich den Islam auch in den Staatsapparaten teilweise restaurierten, was den Boden schuf für den zukünftigen Aufstieg des politischen Islams in der Türkei – ganz zu schweigen von der Kolonialisierung Kurdistans und der Normalisierung des Genozids an den Armenier*innen, der durch die kemalistische Führung des Befreiungskrieges zementiert wurde.
Man kann also nicht einfach zuerst eine nationale Befreiung erkämpfen mit der Überzeugung, dass man sich erst später um die demokratischen und sozialen Angelegenheiten kümmert. Nationale Befreiung schließt immer auch eine Bearbeitung aller tragenden gesellschaftlichen Angelegenheiten mit ein. Und wenn die Linke diese nicht explizit demokratisch und sozial bearbeitet, dann besetzen andere, unter Umständen autoritäre Kräfte innerhalb eines Kampfes um nationale Befreiung, diese Themen oder diese Themen werden schlicht nicht demokratisch oder sozial bearbeitet.
2. Unter diese Generallinie untergeordnet sind, zweitens, im Besonderen die Fragen nach den Zielen und Zwecken, die durch eine Befreiungsbewegung hergestellt werden sollen. Also die Moral, wenn man so will. Ich habe an einem anderen Ort ausführlicher erörtert, dass die Umsetzung des 7. Oktobers in dieser Hinsicht richtiges (mobilisierender und ermächtigender Befreiungsschlag aus der israelischen Umklammerung) mit sehr viel falschem (wahllose Massaker an Menschen) vermischte, und dass dies für eine emanzipatorische Perspektive auf Palästina insgesamt negativ wirkt. Diese muss schließlich auf die eine oder andere Art und Weise eine Versöhnung mit der israelischen Bevölkerung mit herbeiführen. Nicht nur wäre die Perspektive einer umgekehrten ethnischen Säuberung Israels aus linker Perspektive ganz grundlegend zu verwerfen: linke, revolutionäre Bewegungen visieren immer nationale, demokratische und soziale Freiheit/Befreiung an. Eine ethnische Säuberung Israels ist aber auch einfach nicht möglich.
3. Denn schließlich ist, drittens und ebenfalls jener Generallinie untergeordnet, die Frage zu stellen, was die abträglichen und zuträglichen Bedingungen für jene Ziele und Zwecke sind und was daraus für Taktiken und Strategien abzuleiten sind. Das algerische Szenario beispielsweise, also die Befreiung einer Kolonie durch einen auch vonseiten der legitimen Aufständischen sehr brutal geführten Befreiungskrieg, ist in Bezug auf Palästina schlicht nicht reproduzierbar. Es gibt proportional gesehen sehr viel mehr Israelis/israelische Jüd*innen im Raum Israel/Palästina als es französische Kolonist*innen in Algerien gab. Zudem war Frankreich damals mehr oder minder isoliert mit seinen Kolonien, nicht wie Israel im Rahmen einer transatlantischen institutionellen Ordnung diplomatisch, ökonomisch und militärisch gedeckt und gestützt. Vermutlich lässt sich nur sehr selten oder nie eine Befreiung und eine Emanzipation durch einen Krieg zwischen Nationen und Gesellschaftsformationen erreichen, die wesentlich räumlich voneinander getrennt (worden) sind, wie eben Israel, Gaza/Westbank, Libanon, Iran. Im Fall Palästinas jedenfalls ist dies mittlerweile, im Unterschied zu 1948 oder vielleicht gar noch 1967, einfach überhaupt nicht mehr realistisch. Im Gegenteil führt die brutale Polarisierung zwischen Nationen und Gesellschaften in diesem Fall mittlerweile eher zu einer Schwächung emanzipatorischer Perspektiven, weil durch diese Polarisierung reaktionäre, imperialistische und/oder massenmordende Kräfte auf allen Seiten gestärkt werden. Und sie führt zu enorm viel Zerstörung.
Der Iran und die mit ihm verbündeten Kräfte halten aber daran fest, Israel ausschließlich von außen mit militärischen Mitteln zu bekämpfen und zu besiegen. Dieser ausschließliche Fokus ist nebst den moralischen-inhaltlichen Fragen aber auch rein politisch-taktisch desaströs nach hinten losgegangen, wie das letzte Jahr zeigt. Die revolutionäre Linke muss hier auch rein politisch-taktisch Alternativen diskutieren und organisieren, sonst droht Fortsetzung oder gar zukünftige Wiederholung der Katastrophe.
Raus aus der Sackgasse Volksfrontpolitik/Kampismus
Seit dem 7. Oktober 2023 nehme ich statt einer kritischen Bearbeitung dieser drei Dimensionen durch die Solidarität der revolutionären Linken mit Palästina, dem Libanon und gegen Israel vermehrt ein identitätspolitisches Lagerdenken wahr. Dieses beschränkt sich darauf, Solidarität mit Palästina zu bekunden und Israel sowie die westliche Schützenhilfe für Israel anzuprangern. Dies ist zweifellos eine notwendige Grundlage linker, antikolonialer Solidarität und angesichts der westlichen, teilweise auch linken Komplizenschaft mit den brutalen Vernichtungsfeldzügen Israels durchaus nachvollziehbar. Aber es ist eben dennoch nicht ausreichend.
Viele revolutionäre Linke, die ich kenne und die so oder so ähnlich vorgehen, tun das gar nicht aus der Überzeugung, die Hamas (oder Assad im aktuellen syrischen Kontext) sei eine aus linker Perspektive gute Option oder biete eine Perspektive an. Im Gegenteil: Den meisten ist mehr oder minder klar, dass mit Hamas, Assad oder Iran keine progressiven Ansätze zu erwarten sind. Allerdings wird der Unterschied zu diesen Organisationen, ihren Zielen und Mitteln nicht explizit gemacht. Der Grund: Um nicht in „Zeiten schwerer Not“ die Einheit der Front im Kampf gegen den zionistischen oder jihadistischen Terror zu gefährden.
In Analogie zu älteren Debatten aus dem 20. Jh. lässt sich dies als eine „rechte Volksfrontpolitik“ bezeichnen: Um einen größeren und schlimmeren Gegner zu besiegen, wird explizit oder implizit ein lagerübergreifendes Bündnis geschlossen, mit unter anderen Umständen mit der revolutionären Linken befeindeten Fraktionen. Wo sogar die grundlegenden Unterschiede in einem solchen Bündnis verschwiegen oder völlig runtergespielt werden, da spricht man heutzutage vor allem im anglosächsischen Raum von campism (Kampismus), also Lagerdenken und -handeln.
Diese Form der Volksfrontpolitik ging eigentlich niemals gut. Sie hat historisch zu einer Stärkung der rechten Kräfte geführt. Auch die gegenwärtigen Entwicklungen deuten in dieselbe Richtung. Das eklatanteste Beispiel dafür ist der Sturz des brutalen Assad-Regimes. Dieser führte zumindest zunächst dazu, dass jetzt genau jene Kräfte an Einfluss gewinnen, die gemäß der Logik linker Unterstützung oder Duldung Assads als schlimmer galten als Assad selbst – allen voran jene jihadistischen Kräfte, die durch ein offenes oder stillschweigendes Paktieren mit Assad eigentlich hätten vernichtet werden sollen. Es war aber die blutrünstige Herrschaft des Assad-Regimes, die neben den transatlantischen Sanktionen, der NATO, israelischen Angriffen und der Schwäche Russlands und Irans intern die sowieso schwache Legitimität des Assad-Regimes noch weiter untergrub und somit den Boden für die populare Legitimität jeglicher Opposition gegen Assad bereitete – darunter auch die Opposition jihadistischer Art. Das sollte man spätestens jetzt begreifen.
Wenn sich die revolutionäre Linke nicht aus dieser „rechten Volksfrontpolitik“ löst – einer Strategie, in die sie sich entweder aus einer spezifischen marxistischen Überzeugung heraus oder wegen eines verkürzten Verständnis von Anti- oder Postkolonialismus hineinmanövriert hat – wird sie weiterhin, gegen ihren eigenen Willen, aktiv daran mitwirken, sich den reaktionären Kräften unterzuordnen, die derzeit den Widerstand und Kampf gegen den transatlantischen Imperialismus und seinen Verbündeten anführen, und diese hegemonial stützen.
Die schwierige Realdialektik linker Positionierungen
Wohlgemerkt ist es nicht unbedingt verkehrt, auch „rechte Volksfrontpolitik“ zu betreiben: Auf Demos und in Kämpfen für Palästina engagieren sich viele Menschen, die im ersten Schritt unmittelbar vom oft fraglos dominierenden transatlantischen/zionistischen Terror mobilisiert werden. Die Massenmobilisierungen bilden, neben den Organisationen und sonstigen politischen Praktiken, die zentrale Säulen linker Politik: Man muss sie fördern und stützen, anstatt sie durch strategische Grundsatzdebatten im Keim zu ersticken. Gleichzeitig ist es eine Realität, dass sich Gaza oder der Libanon gar nicht gegen die zionistische Übermacht verteidigen lassen, wenn nicht alle oder viele bewaffnete Kräfte gemeinsam zusammenarbeiten. Die militärische Balance gegen Israel und die NATO wird gerade von reaktionären und/oder bürgerlichen Kräften getragen – ein Umstand, der sich nicht von heute auf morgen ändern lässt. Dabei kommen einige Akteure des Widerstands für linke Perspektiven und Bündnisse stärker in Frage als andere. Die libanesische Hizbullah beispielsweise, die keinen repressive Staat oder eine autoritäre Regierung stellt und sich der Multikonfessionalität des Libanons mehr oder minder anpasst, weist in dieser Hinsicht also ein demokratisches Moment auf. Darüber hinaus lassen sich Anhänger*innen der einen oder anderen nicht-revolutionären/nicht-linken Organisation für revolutionäre, linke Perspektiven gewinnen, wenn Linke in der Lage sind, überzeugende Alternativen zu entwerfen und umzusetzen. Es ist daher nicht zielführend, stets die richtige Generallinie zum Motto oder zur Bedingung der Mobilisierung und des Handelns machen.
Eine solche Haltung wäre wieder eine andere Form der falschen Moralisierung von Politik wie sie meines Ermessens in trotzkistischen und autonomen Perspektiven öfter durchscheint. Das klingt dann zwar oft schöner und revolutionärer, tendiert aber zu einer ultralinken Abgehobenheit und Isolation von sozialen Realitäten – und daher letzlich zu politischer Bedeutungslosigkeit. Effektive revolutionäre Politik besteht eben genau darin, die ständig kritisch reflektierte Autonomie revolutionärer Organisationen, Praktiken, Strategien und Ziele mit der oft schmutzigen oder mehrdeutigen Realität von (popularen) Mobilisierungen und schwierigen hegemonialen Konstellationen zusammen zu bringen und zu vermitteln.
Im Kern aber sollte revolutionären Linken klar sein, warum und wo genau sie sich aus welchen Gründen zurecht von reaktionären und/oder bürgerlichen Kräften unterscheiden, die derzeit die Kämpfe gegen den transatlantischen Imperialismus und seiner Verbündeten in Nahost anführen. Nur so lässt sich wo nötig „rechte Volksfrontpolitik“ so gestalten, dass sie potenziell linken Perspektiven mehr nützt statt rechten Kräfte in die Hände zu spielen. Diese Differenzierung sollte explizit ausgearbeitet und öffentlich gemacht werden, anstatt beispielsweise – wie etwa die Marxistin Jodi Dean argumentiert – primär eine Unterordnung der Linken unter die Führung der Hamas zu befürworten, nur weil diese nun einmal gerade den palästinensischen Befreiungskampf anführt und sich auch die marxistische PFLP an die Hamas rangehängt hat.
Nach dieser Logik ist es nämlich nie die richtige Zeit, Kritik und Ablehnung an Kämpfen und ihren Führungen zu üben und Alternativen dagegen zu setzen – schließlich herrscht auf der Welt mittlerweile immer eine „Zeit schwerer Not“. Es wird dann niemals eine revolutionäre linke Alternative herausgebildet werden, denn nur was zu Bewusstsein und Organisation kommt, hat auch Realität. Stattdessen dominieren dann die bürgerlichen und/oder reaktionären Kräfte, die ihre eigenen Praktiken, Strategien und Ziele offen artikulieren. Die vom Iran dominierte „Achse des Widerstands“ befindet sich gerade in einer Krise, da sie bei der Erreichung ihrer selbst gesteckten Ziele schwere Niederlagen hinnehmen musste. Diese Krise könnte auch eine Chance sein, bestehende populare Identifikationen mit der „Achse des Widerstands“ partiell zu brechen und durch linke Alternativen zu ersetzen.