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Doikayt: Jüdische Selbstbestimmung ohne Nationalismus

photo_2023-10-23_07-50-58.jpg Judeobolschewiener*innen

Euer Name provoziert, warum nennt ihr euch Judeobolschewiener*innen?

Beryl: Wir haben diesen Namen bewusst mit einem Augenzwinkern auf den antisemitischen und antikommunistischen Verschwörungs-Mythos des Judeo-Bolschewismus gewählt.

Ruth Moshkovitz: Letztlich steckt da alles drin, was uns als Gruppe ausmacht: Wir sind jüdisch, wir sind links und wir sind in Wien.

Die Wiener Linke ist geprägt von Menschen, die aus dem Holocaust die Lehre gezogen haben, bedingungslos solidarisch mit Israel zu sein. Wie ist es, in einer solchen Stadt Israel zu kritisieren, noch dazu als Jüd*innen?

Ruth Moshkovitz: Es ist einsam, wenn man eine anti-hegemoniale Position einnimmt. Als antizionistische Juden und Jüdinnen sind wir sowohl im österreichischen und Wiener Spektrum als auch in jüdischen und in vielen linken Räumen eine Anomalität, vor allem in weißen linken Räumen.

Welche Erfahrungen habt ihr in den letzten Jahren innerhalb der jüdischen Gemeinde in Wien gemacht?

Ruth Moshkovitz: Die jüdische Gemeinde in Wien ist durchaus divers. Was die Hintergründe angeht, kommt die Gemeinde aus ganz vielen verschiedenen Ländern und spricht viele verschiedene Sprachen. Doch die politische Diversität hört oft beim Zionismus auf. Es gibt dann vielleicht linke, liberale und rechte Zionist*innen und die strammen Fascho-Zionist*innen, aber den Zionismus als Teil der jüdischen Identität infrage zu stellen, das passiert sehr selten und das zieht sich leider oft durch jüdische Institutionen und Räume. Deswegen war für uns die Notwendigkeit da, unsere eigenen nicht-zionistischen Räume zu schaffen.

Was ist euer Verständnis von Zionismus und wie sieht eure Kritik an diesem aus?

Beryl: Zionismus ist jüdischer Nationalismus und in seiner dominantesten Ausprägung ein europäisches und siedlerkoloniales Projekt. Es geht darum, einen jüdischen Nationalstaat, also einen Staat, in dem Juden und Jüdinnen zwingend die Mehrheitsbevölkerung sein müssen, auf dem Gebiet des historischen Palästinas zu etablieren und mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten.

Ruth Moshkovitz: Palästina war zudem kein leeres Land. Der Staat Israel wurde errichtet durch die Nakba, also die Vertreibung, Ermordung und Enteignung von Palästinenser*innen. Bis heute sind das Mittel, mit denen dieser Staat aufrechterhalten wird. Und das ist für mich, für uns nicht akzeptierbar, unsere Sicherheit als Jüd*innen durch Unterdrückung anderer zu gewährleisten.

Auch nach dem Holocaust und dem politischen Ende des Faschismus gab es Pogrome an Jüd*innen. Weil zudem die Gefahr eines globalen Antisemitismus besteht, gibt es die Position, dass ein Staat Israel als Schutzraum für Jüd*innen notwendig sei.

Ruth Moshkovitz: Ich würde gerne unterscheiden zwischen dem legitimen und nachvollziehbaren Bedürfnis nach jüdischer Selbstbestimmung und Schutz, sowohl direkt nach 1945 als auch jetzt – und dem Zionismus. In meiner Familie gibt es eine Verfolgungsgeschichte. Emotional kann ich das sehr gut nachvollziehen, dass Juden und Jüdinnen nicht mehr der Umgebung einer nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft ausgeliefert sein wollen. Aber es ist ein Fehler zu glauben, dass der Staat Israel ein Garant für jüdische Sicherheit sei.

Beryl: Es ist nicht nur ein Fehler, sondern es ist antisemitisch und rassistisch. Diese Position beinhaltet einerseits oft die Annahmen einer grundsätzlichen jüdischen Fremdartigkeit. Und gleichzeitig wird davon ausgegangen, dass Mehrheitsgesellschaften den eigenen (potenziell genozidalen) Rassismus nicht überwinden können oder wollen.

Ruth Moshkovitz: Es ist besonders verstörend, wenn Nachkommen von NS-Täter*innen uns in Österreich sagen, wir sind als Jüd*innen nur sicher, wenn wir woanders hingehen. Politiker*innen von Parteien wie der ÖVP, SPÖ und den Grünen sagen nicht-zionistischen und anti-zionistischen Jüd*innen, dass sie sich schämen sollen. Das ist empörend und heuchlerisch. Denn es sind genau ihre Parteien, die seit Jahren Rechte und Faschist*innen hofieren und rassistisches Gedankengut verbreiten. Statt Israel politisch und militärisch zu unterstützen, sollten all jene, die um die Sicherheit von uns Jüd*innen besorgt sind, sich zuallererst um die braunen Flecken in unserer Gesellschaft kümmern und Rechtsextremismus bekämpfen.

jewsagainstgenocide_JBW.jpg Judeobolschewiener*innen

Judeobolschewiener*innen auf einer Demonstration in Wien.

Beryl: An dieser Stelle möchte ich eine intersektionale Perspektive betonen, also beispielsweise die Schnittpunkte des Kampfes gegen Antisemitismus und des Kampfes der Arbeiterbewegung zu erkennen und dass das eine nicht selbstverständlich mit dem anderen einhergeht. Ich habe einmal eine alte Zeitung einer anarcho-syndikalistischen Taxifahrer-Gewerkschaft aus Österreich aus der Zeit der Ersten Republik gefunden und da waren reichlich antisemitische Artikel drin. Das zeigt mir, dass wir unsere Wirklichkeit von Situation zu Situation neu bewerten und dazulernen müssen.

Ihr sprecht in Israel von Unterdrückung. Könnt ihr die unterschiedlichen Rechte ausführen, die Palästinenser*innen und die Jüd*innen dort haben?

Beryl: Es gibt Organisationen wie zum Beispiel „Adalah“, bei denen man sehr detailliert nachlesen kann, inwiefern palästinensische Staatsbürger*innen in Israel strukturell benachteiligt sind. Man muss nur palästinensischen Israelis zuhören, wenn sie darüber sprechen, wie sie Bürger*innen zweiter Klasse sind. Nicht zu sprechen von den Millionen Palästinenser*innen in der Westbank, die unter israelischer Militärbesatzung leben und denen, die jetzt in Gaza bombardiert und ermordet werden.

Ruth Moshkovitz: In der Westbank gibt es zwei verschiedene Rechtssysteme für zwei verschiedene Bevölkerungsgruppen. Für Palästinenser*innen gilt das israelische Militärrecht. Für jüdische Siedler*innen in der Westbank gilt das israelische Zivilrecht. Es gibt Straßen nur für jüdische Siedler*innen.

Beryl: Palästina ist kein Staat, kein eigenes Land. Die israelischen Soldat*innen dringen überall in der Westbank ein, es gibt illegale Siedlungen überall. Sie versuchen gerade, das armenische Viertel in Jerusalem niederzuschmettern. Wenn man die fünf Millionen Palästinenser*innen miteinbezieht, die in Israel keine gleichen Rechte haben und die in Gaza jetzt einen Genozid erleben, wie kann man da Israel als eine Demokratie beschreiben?! Es ist ganz klar ein Apartheidstaat, NGOs wie Amnesty International und B’Tselem bezeugen das.

Wie kann jüdische Sicherheit jenseits von Unterdrückung und Nationalstaatlichkeit gedacht werden?

Ruth Moshkovitz: Statt über einen jüdischen Staat zu sprechen, finde ich es wichtiger, darüber zu sprechen, wie wir uns als Minderheiten in den jeweiligen Ländern, in denen wir heute leben, organisieren können. Ich rede nicht von der Zeit direkt nach 1945, sondern ich möchte mich auf das Heute konzentrieren. Für unsere Gruppe ist das Prinzip der Doikayt sehr wichtig: dass wir uns in der Gegenwart überlegen, wie sieht jüdische Selbstbestimmung aus an Orten, in denen wir nicht die Mehrheit sind und auch nicht sein werden. Doikayt ist ein Gegenentwurf zum Zionismus. Wir wollen Selbstbestimmung, die nicht auf Assimilation oder Nationalismus beruht.

Beryl: Dieses Konzept ist für uns deshalb so wichtig, weil es bezeugt, dass antizionistische Jüd*innen, oder auch zumindest nicht-zionistische Jüd*innen, dass wir keine Ausnahme waren und auch heute keine Ausnahme sind. Doikayt ist zudem ein linker Begriff. Er kommt aus dem Jüdischen Bund, das war eine sozialistische Gruppe, Teil der jüdischen Arbeiter*innenbewegung. Es geht um die Frage, wie wir politisch aktiv sein wollen und es geht auch ganz klar um materielle Verteilungskämpfe. Das ist auch noch mal so ein Grund, warum wir uns da gerne auf diese Tradition beziehen und versuchen, immer wieder zu schauen, wie können wir heute unsere Doikayt leben und umsetzen? Das ist nichts, was fix feststeht, sondern das müssen wir uns immer wieder von Situation zu Situation anschauen. Es ist etwas, das nicht nur für uns Jüd*innen wichtig ist. Denn viele Leute denken, dass sie, um ihr Leben zu verbessern, irgendwo hingehen müssten, zum Beispiel auch andere Minderheiten, die sich in einem Land bedroht fühlen und woanders hinwollen. Ich finde, du musst dort, wo du bist, für eine bessere Welt kämpfen – für den Kommunismus, den Anarchismus. Gleichzeitig: Ja klar, manchmal geht es auch nicht anders und man muss gehen, man muss flüchten. Und anderswo weiterkämpfen.

Wie könnte eine solche bessere Welt in Israel-Palästina aussehen?

Ruth Moshkovitz: Alle Personen, die dort leben, müssen die gleichen Rechte und die gleichen Mittel haben. Wir wollen Palästinenser*innen nicht vorschreiben, wie sie sich zu organisieren haben. Ich finde, alle Personen, die dort leben, müssen ihr Zusammenleben letztlich selbst miteinander aushandeln. Aber gegenwärtig können sie das nicht, weil einfach ein extremes Machtgefälle herrscht: Politisch, militärisch, rechtlich und auch sozioökonomisch.

Beryl: Wenn wir von Entschädigung sprechen, dann geht es auch um Gerechtigkeit. Das heißt für uns, dass es für die vertriebenen Palästinenser*innen genauso ein Rückkehrrecht geben muss. Ich denke diese Menschen haben ein größeres Rückkehrrecht als ich. Ja, ich bin Jude, aber wenn ich meine Wurzeln zurückverfolge, dann lande ich irgendwo in der Ukraine, weiter reicht mein Familienstammbaum nicht. Vielleicht habe ich ja gar keine Wurzeln im historischen Palästina. Bevor man wirklich miteinander Friedensverhandlungen führen kann, die zu einem langfristigen Frieden führen können, müssen unbedingt der Genozid, die Besatzung und die Apartheid beendet werden.


Das Gespräch wurde von Alieren Renkliöz geführt und bearbeitet.


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