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„Kartoffeln, Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan“? Hegemoniekämpfe in der Türkei

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Nach dem Inferno des vergangenen Sommers, als die größten Waldbrände der Geschichte der modernen Türkei ganze Landstriche verwüsteten, folgte ein langer Winter im Land. Im Januar 2022 legte ein heftiger Schneesturm das gesamte Leben Istanbuls lahm. Hunderte Autos und Busse blieben im hohen Schnee auf den Hauptverkehrsachsen stecken, keine Fähren fuhren mehr, die Menschen übernachteten improvisiert in den Vierteln, in denen sie der Schneesturm erwischt hatte. Zwei Monate später waren Stadt, Gouverneursamt und Bevölkerung besser vorbereitet. Erneut zogen an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im März heftige Schneestürme über Istanbul hinweg und bedeckten die Stadt mit eisigem Frost.

In diesem langen Winter fegte jedoch nicht nur der Schnee über Istanbul, sondern mit fast 70 Prozent auf seinem bisherigen Gipfel (April 2022) auch die höchste Inflationsrate seit 20 Jahren über die Türkei hinweg. Lebensmittel, Strom, Gas zum Heizen und Kochen – viele Grundgüter des modernen Lebens wurden zu fast unbezahlbaren Luxusgütern. Die Preise steigen teils wöchentlich. Menschen kaufen wenige und schlechtere Lebensmittel ein und beginnen, alles mögliche auf Vorrat im Sonderangebot zu kaufen. Ladenbesitzer*innen sitzen in dicken Mänteln, Schals und Polarhandschuhen in ihren Läden, weil die Heizkosten explodieren. Der Winter kann als eine lange, niederschmetternde Depression für den Großteil der Bevölkerung bezeichnet werden. Aber ganz oben wird weiterhin das altbekannte makabre Theater der Hybris gespielt: Die Türkei erringe „einen [wirtschaftlichen] Erfolg nach dem anderen“ (Wirtschafts- und Finanzminister Nureddin Nebati), sie werde zu „einem der mächtigsten Länder der Welt“ (ebenfalls Nebati); „wir gehören zu denen, die am besten wissen, wie man Inflation bekämpft“ (wieder Nebati); „die Türkei ist so stark wie noch nie in den letzten 300 Jahren“ (Innenminister Süleyman Soylu).

Wer auf Regimeseite die beinharten Realitäten nicht mehr ignorieren konnte, versuchte diese verschwörungsideologischzu prozessieren. Das heißt zum Beispiel, Wirtschaftskrise und politische Instabilität als großes Spiel böser Mächte gegen „die Türkei“ darzustellen (Abdurrahman Dilipak, Ibrahim Karagül), die – selbstredend von der AKP betriebene – Polarisierung der Gesellschaft als Ergebnis früherer Verwestlichung zu beklagen (Yusuf Kaplan), oder Existenzängste vor einem bevorstehenden Generalzusammenbruch der Türkei zu schüren, sollten Regierung und Opposition nicht zusammenarbeiten (Nagehan Alçı). Ihr verschwörungstheoretisches Vorbild haben sie in Recep Tayyip Erdoğan höchstpersönlich: „Hinter allen Ereignissen der letzten acht Jahre in unserem Land […] steht ein Plan, ein Szenario, eine Falle“. Wie seit geraumer Zeit so funktionieren auch heute regimetreue Verschwörungsideologien in dem Sinne, dass sie die Objektivität der Hegemoniekrise dethematisieren und die Menschen der rationalen Erkenntnis gesellschaftlicher Verhältnisse berauben, damit sie, in Angst und Panik versetzt, handlungsunfähig werden.

Aber mit dem langen Winter der Depression kommt auch der Frühling des Widerstands: Eine Welle an Streiks fand in den beiden ersten Monaten des Jahres 2022 über über die gesamte Türkei verteilt statt – noch größer als die bisher größte Streikwelle der AKP-Ära, dem „Metallsturm“ von 2015. In der gesamten Türkei inklusive der AKP-Hochburg der östlichen Schwarzmeerregion protestierten Menschen gegen die exorbitanten (Strom-)Preise (unter dem Slogan geçinemiyoruz! - Wir kommen nicht mehr über die Runden!), Studierende gegen den Mangel an Wohnheimen (barınamıyoruz! – Wir kommen nicht mehr unter!); Werktätige des Gesundheitssektors gingen in zahlreichen Weißen Märschen (beyaz yürüyüş) in vielen Städten der Türkei gegen die schlechten Arbeitsbedingungen auf die Straßen. Trotz einer tiefgreifenden Änderung im Wahlprozedere der Anwaltskammern zugunsten des Regimes gewann der kämpferische Oppositionskandidat Erinç Sağkan die Wahl und kündigte ein Ende der Appeasementpolitik seitens der Spitze der Anwaltskammern gegenüber dem Regime an. Der 8. März und Newroz, das kurdische Frühjahresfest, wurden gegen alle Verbote auf den Straßen und den Plätzen mit Hunderttausenden Beteiligten gefeiert. Und tatsächlich, es kam wieder so etwas wie ein Geist von Gezi und die darin ausgedrückte kreative Lebensfreude auf: Patates, soğan, güle güle Erdoğan – „Kartoffeln und Zwiebeln, auf Wiedersehen Erdoğan!“, wurde zu einem gängigen Slogan gegen die Preisexplosion und deren politischen (Mit-)Verursacher. Wie immer in den letzten Jahren wurden auch diesmal alle diese legitimen sozialen Kämpfe und ihre Forderungen seitens der Regierung mit „Terrorismusin Zusammenhang gebracht; oder in kontrafaktischer Hybris davon fabuliert, die Regierung löse alle Probleme – oder diese gäbe es eigentlich gar nicht erst: „Wir haben nicht zugelassen, dass unsere Bürger von der Inflation erschlagen werden, und werden dies auch weiterhin nicht tun“, so Erdoğan; fast wortgleich der Wirtschafts- und Finanzminister Nebati.

Während das Regime mit altbekannten und neuen Tricks versucht, aus seiner bis dato tiefsten Hegemoniekrise mittels eines wiederaufgenommenen Prozesses der autoritären Konsolidierung herauszukommen, versammeln sich die Hauptoppositionsparteien des bürgerlichen Blocks, um den wachsenden Unmut für einen restaurierten Neoliberalismus zu vereinnahmen. Der Ausgang der tiefen Hegemoniekrise bleibt bislang offen und umkämpft zwischen den Kräften der autoritären Konsolidierung, der neoliberalen Restaurationsperspektive und den popularen Kräften. [1]

Mit Vollgas in die Sackgasse: Die Verschärfung der Wirtschaftskrise

Leser*innen früherer Artikel von mir wissen um die wirtschaftspolitische Taktik der permanenten Kehrtwenden beziehungsweise „Erdoğans Zickzackkurs“, der seit geraumer Zeit die politische Ökonomie des Landes bestimmt: Um sich eine politische Basis unter den kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs) und ihrer Arbeiter*innen zu erschaffen, beziehungsweise zu konsolidieren, schlägt das Regime um Erdoğan regelmäßig eine nicht der neoliberalen Orthodoxie entsprechende Wirtschaftspolitik der Niedrigzinsen und der Kreditexpansion ein. Dies führt jedes Mal zu einem weiteren Fall des Wertes der Lira und wegen der hohen Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft damit zu einer sehr hohen Inflationsrate. Um diese Folgen dann wieder abzudämpfen, reagiert das Regime um Erdoğan daher immer wieder mit einer Kehrtwende in Richtung orthodoxer Wirtschaftspolitik: Eine Hochzinspolitik gegen die Inflation – einerseits, um ausländisches Kapital anzuziehen (weil Zinsen höher als die Inflation Gewinne garantieren), andererseits, um die Kreditexpansion und damit die durch erhöhten Konsum bedingte Inflation zu drosseln. Damit im Zusammenhang stehen dann regelmäßig auch andere kontraktive Maßnahmen.

Ein Ausweg aus diesem Zickzackkurs schien unmöglich, solange der semi-periphere Neoliberalismus in der Türkei fest in die transatlantische neoliberale Weltordnung integriert blieb. Denn dies macht die türkische Wirtschaft abhängig von Kapital- und Produktionsgüterimporten und volatil angesichts der Situation der Weltwirtschaft insgesamt, in der nach den Krisenzeiten um 2008/09 und insbesondere nach 2013 die Kapitalzuflüsse in (semi-)periphere Länder abnahmen oder stark schwankten. Die aus dieser Volatilität hervorgehende wirtschaftliche Instabilität sowie die Erschöpfung des semi-peripheren Akkumulationsmodells in der Türkei (unter Anderem wegen dem Erreichen der Grenzen der Lohndrückerei im internationalen Vergleich sowie wegen dem fehlenden technologischen Upgrade der türkischen Wirtschaft) sorgten schon ganz von selbst ohne Erdoğans Autoritarismus und der zunehmend heterodoxen Wirtschaftspolitik für eine Verlangsamung des türkischen Wirtschaftswachstums. Letztgenannte wirken nur – zugegebenermaßen immer stärker – verschärfend auf diese Krise des semi-peripheren Neoliberalismus in der Türkei.

Dieser Zickzackkurs scheint mittlerweile aber verlassen worden zu sein zugunsten eines einseitigen Fokus auf die heterodoxe Seite. Wie schon im Artikel „Türkisches Inferno“ erwähnt, wurde im März 2021 erneut ein heterodox agierender, Erdoğan-treuer Zentralbankchef, Şahap Kavcıoğlu, von Erdoğans Gnadentum eingesetzt. Dieser konnte aber über Monate hinweg wegen der drastischen Reaktion der Märkte die Zinsen nicht senken. So blieb der Zentralbankzins bei 19 Prozent – nur ganz leicht über der damaligen Inflationsrate. Eine Inflationsrate von etwas weniger als 19 Prozent, zwischenzeitlich undenkbar. Die Schockstarre hielt selbstredend nicht lange an: Von Ende September bis Anfang Dezember 2021 wurde der Leitzins unter dem neuen Zentralbankchef auf 14 Prozent gesenkt, während die (offizielle) (Verbraucherpreis-)Inflationsrate sukzessive von fast 20 Prozent im September und Oktober auf 36 Prozent im Dezember 2021, über 48 Prozent im Januar 2022, über 54 Prozent im Februar, 61 Prozent im März und zuletzt auf fast 70 Prozent im April (im Vergleich zum Vorjahreszeitraum) stieg. Mitarbeitende der Zentralbank (Türkiye Cumhuriyet Merkez Bankası, TCMB), die sich gegen diesen Kurs stellten, wurden gefeuert, de facto strafversetzt und durch regime-treue Personen ersetzt. Zudem wurde der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Lütfi Elvan, der ebenfalls eher für eine orthodoxere Gangart stand und die Wirtschaftspolitik immer offener kritisierte, noch handlungsunfähiger gemacht, als er es sowieso schon war. Schon im November 2021 sickerte durch, dass Elvan seinen Rücktritt eingereicht hatte, weil er anderer Meinung war als der (damals noch) stellvertretende Minister Nebati, der noch zu Zeiten des Wirtschaftsministeriums unter Erdoğans Schwiegersohn Albayrak 2018ff. eingesetzt wurde und die heute verfolgte heterodoxe Negativzinspolitik verteidigte. Elvan hatte versucht, diesen aus dem Amt zu entfernen, was ihm misslang; zugleich sank sein Einfluss in der Ministerialbürokratie immer weiter. Im November wurde Elvans Rücktrittsgesuch, so die Gerüchte, noch abgelehnt von Erdoğan. Am 2. Dezember hingegen war es soweit: Sein „Gesuch auf Entbindung von Aufgaben/Verantwortung“ (görevinden af dileği), wie es im euphemistischen Jargon des Regimes neuerdings bei ordinären Ministerentlassungen durch Erdoğans Hand teils ohne vorherige Kenntnis der jeweiligen Minister heißt, wurde stattgegeben, anstatt seiner der schon bekannte Nebati eingesetzt.

Die Krisendynamik

Entsprechend dieser Geldpolitik wuchs der Negativrealzins, also der Leitzins der Zentralbank minus die Inflationsrate. Vor allem in Banken gehaltene Lira (Türk Lirası, TL)-Guthaben wurden damit de facto sukzessive entwertet, Devisen und Gold wurden zu Vehikeln der Vermögensabsicherung und -steigerung, was nebst dem Negativrealzins den Druck auf die Lira erhöhte. Über das Jahr 2021 gerechnet verloren so laut dem Statistischen Institut (Türkiye İstatistik Kurumu, TÜIK) Lira-Einlagenbesitzer*innen 22,75 Prozent (real, also gegen die Inflation gerechnet) an Wert, Investor*innen in türkische Staatsanleihen dagegen 32,69 Prozent, während Investor*innen in US-Dollar, Euro und Gold jeweils 23,08 Prozent, 14,45 Prozent und 19,70 Prozent an Wert gewannen. Gekoppelt mit der Unvorhersehbarkeit, die diese aus Sicht neoliberaler Orthodoxie heterodoxe und irrationale Geldpolitik repräsentierte, führte diese unmittelbar zur massiven Entwertung der Lira, damit zur Erhöhung der Importkosten und wegen der Importabhängigkeit der türkischen Wirtschaft zur erwähnten rasenden Erhöhung der Inflation. Die Schere zwischen (inländischer) Erzeugerpreis- und Verbraucherpreisinflationsrate mit im April 2022 über 50 Prozent nimmt mittlerweile historische Ausmaße an – die Erzeugerpreisinflationsrate liegt derzeit bei über 120 Prozent. Wegen der hohen Inflationsrate werfen mittlerweile alle vom TÜIK erfassten regulären finanziellen Anlagen real Verluste ab (Januar-März 2022).

Der wegen der Billigkreditschwemme angekurbelte Binnenkonsum trug zum einen zwar wesentlich zum 11 Prozent BIP-Wachstum 2021 bei (fast die Hälfte der Bevölkerung der Türkei ist verschuldet mit individuellen Bedarfskrediten; in Istanbul sogar etwa 80 Prozent der Bevölkerung; das Kreditvolumen wuchs um etwa 44 Prozent aufs Jahr gerechnet). Aber gleichzeitig stiegen die staatlichen Ausgaben für die Staatsbanken im Jahr 2021 exorbitant an: Deren politisch bestimmte Niedrigzinspolitik führte wegen der galoppierenden Inflation zu hohen Verlusten, die dann vom zentralstaatlichen Budget beglichen werden mussten. Aber all diese und andere Maßnahmen – wie beispielsweise die klassisch neoliberal-populistische vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuern auf Grundnahrungsgüter und Strom auf 1 Prozent, die (mittlerweile von der Inflation längst überholte) Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent auf 4250 Lira Netto (weniger als 300 Euro) im Dezember 2021 seitens Erdoğans, die Durchführung von Preiskontrollen und heftige Strafen für Supermärkte mit „Wucherpreisen“ und die Einführung staatlich subventionierter Märkte (wie schon 2019) [2] – konnten die mit 70 Prozent galoppierende Inflation und ihre Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse nicht oder nur sehr schwach bremsen. Hinter der durchschnittlichen Inflationsrate von 70 Prozent – unabhängige Berechnungen gehen sogar von über 155 Prozent aus – verstecken sich exorbitante Preiserhöhungen von Gütern des alltäglichen Bedarfs. Die Preise für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke stiegen um fast 90 Prozent (April 2022 gegenüber Vorjahreszeitraum) beziehungsweise sogar vermutlich noch mehr, der Preis von Benzin stieg um 166 Prozent und der von Diesel um sagenhafte 235 Prozent (Anfang März 2022 gegenüber dem Vorjahr), Energiepreise im Allgemeinen (also inklusive Erdgas und Strom) um fast 100 Prozent (Februar 2022 gegenüber dem Vorjahr) und somit etwa drei mal so viel wie im EU-Durchschnitt. Die Mietpreise explodierten um durchschnittlich 123,5 Prozent türkeiweit (März 2022 im Vergleich zum Vorjahresmonat); unter anderem deshalb, weil einige gutbetuchte Menschen ihre Geldvermögen in Immobilien stecken, um weiterhin hohe Gewinne zu garantieren, während gleichzeitig das Wohnungsangebot wegen der – teils ebenfalls durch die hohe Inflation hervorgebrachte – Krise des Immobiliensektors in Städten wie Istanbul kaum mehr steigt.

Die reale, weit gefasste Arbeitslosigkeitsrate bleibt immer noch bei über 20 Prozent, die eng gefasste weiterhin bei über 10 Prozent. Die Folgen der Corona-Pandemie sowie des Ukrainekrieges (vor allem erhebliche Lieferstörungen sowie Preisschocks in Grundgütern) kamen noch weiter verschärfend hinzu, insbesondere was die Energiepreise angeht. Sie können aber genau so wie die abhängige Integration der Türkei in die Weltwirtschaft nicht (allein) erklären, warum die Inflation in Grundgütern in der Türkei und die Geldentwertung im internationalen Vergleich so sehr hervorsticht. Es ist die heterodoxe Wirtschaftspolitik unter Erdoğan bei der gegebenen Art der Integration der Türkei in die Weltwirtschaft, die dafür verantwortlich ist, dass die durch die Struktur und Krise des Akkumulationsregimes sowieso schon schwierige Situation so dermaßen außer Rand und Band gerät.

Auf der Spitze der Zinssenkungsspirale im November-Dezember 2021 stürzte die Türkei daher erneut in eine tiefe Wirtschaftskrise: Terminverkäufe oder Verkäufe überhaupt in mehreren Wirtschaftssektoren wurden ausgesetzt, da die Entwertungs- und Inflationsspirale belastbare Preiskalkulationen verunmöglichte; der Verkauf von Kaffee, Zucker und Fett in Supermärkten wurde aus denselben Gründen quotiert. Im Textilsektor pochten Rohstoffproduzent*innen auf Vorauszahlung in Devisen, die Istanbuler Börse musste an einem Tag zwei mal schließen wegen zu hohen Kursverlusten. Vom 1. bis zum 17. Dezember intervenierte die TCMB – dieses mal offen und nicht unter der Hand wie 2020-21 (s. „Türkisches Inferno“) – insgesamt fünf mal in den Geldmarkt und verkaufte 7,3 Milliarden US-Dollar, um den Wert der Lira zu stützen, was zu aller Überraschung zum x-ten mal scheiterte. Sukzessive entwertete die Lira bis zum historischen Tiefpunkt von zeitweise über 18 Lira auf den Dollar und über 20 Lira auf den Dollar am 20. Dezember 2021 (zum Vergleich: Anfang 2021 lag der Wert des Dollar bei etwa 7,5 Lira, der des Euro bei etwa 9,10 Lira). Die Börse mussteerneut zwei mal im Laufe des Tages schließen wegen zu hohen Kursverlusten, die von der Devisenklemme des verarbeitenden Gewerbes verursacht wurde, das Großkapital war in heller Panik: Die Wirtschaft stand vor dem unmittelbaren Kollaps.

Kaninchen aus dem Zauberhut?

Am selben Tag verkündete Erdoğan ein großes Maßnahmenpaket, dessen wichtigstes Element das sogenannte Kur Korumalı TL Mevduatı (KKM, devisenabgesicherte TL-Einlagen) darstellte. Das Paket beinhaltete allerdings (unter bestimmten Umständen und Laufzeiten) auch Wechselkursgarantien für kleine und mittlere Exporteure, was teils die begeisterte Aufnahme des Pakets bei Teilen des Kapitals zu erklären helfen vermag (siehe Abschnitt „Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise“).

Zuerst aber noch einige Worte zum KKM: Nutzt ein Kunde diese von allen Großbanken zur Verfügung gestellte Einlagenform, dann erhält er eine staatliche Garantie gegen die Lira-Entwertung, insofern ihm bei einer Entwertung der Lira gegenüber dem Dollar in einem bestimmten Zeitraum die Differenz zum Zins, den ihm eine normale Bankeinlage in diesem Zeitraum abwerfen würde (grob 17 Prozent aufs Jahr gerechnet), zusätzlich zu eben jenem von der jeweiligen Bank zu zahlenden Zins vom Staat auf die KKM-Einlage überwiesen wird. Prompt wertete die Lira innerhalb von 24 Stunden wieder auf auf grob 12 Lira auf den Dollar und 13 Lira auf den Euro. Wohlgemerkt: Das beste Ergebnis betreffs des Lira-Kurses, das mit dem KKM bisher und das auch nur für sehr kurze Zeit (um den 24. Dezember 2021 herum) erreicht wurde, bewegte sich mit 10 bis 11 Lira auf den Dollar beziehungsweise 12 Lira auf den Euro auf dem Niveau von Mitte November 2021 – dem Monat also, als sich schon Quotierungen im Einzelhandel, Probleme in der Produktion wegen Verunmöglichung der Preiskalkulation und massenweise Beschwerden vom Kapital eingestellt hatten.

Freilich kam im Nachhinein heraus, dass vermutlich sechs bis sieben Milliarden Dollar von der TCMB selbst am 20. und 21. Dezember in Lira umgewechselt wurden; sowie vermutlich insgesamt 20 Milliarden Dollar von den öffentlichen Banken vom 20. bis zum 22. Dezember (natürlich wird dies von offizieller Seite bestritten und zwecks Herstellung eines ideologischen Mythos behauptet, das Volk habe quasi von selbst in Scharen Devisen eingetauscht). Mittlerweile ist es Pflicht für Banken geworden, 10 bis 20 Prozent ihrer Deviseneinlagen in KKM umzuwandeln und ansonsten eine Strafe an die TCMB zu zahlen.

Da der Staat die Differenz zwischen Einlagenzins und Lira-Entwertung zahlt, ist das eine de facto Erhöhung der Zinslastauf das Staatsbudget. Das Staatsdefizit wird daher wegen der erneut in Gang gesetzten Lira-Entwertung in die Höhe schießen, was zusätzlich zur de facto Erhöhung der Zinslast auf das Staatsbudget durch das KKM die sowieso schon steigenden unmittelbaren Zinsen auf die Verschuldung des Staates schon jetzt weiter erhöht und damit auch den Druck auf die Lira, und somit – gekoppelt mit den anderen weiter fortwirkenden Ursachen für die Lira-Entwertung wie die Negativrealzinspolitik und die generelle nicht-orthodoxe Wirtschaftspolitik – den Wechselkurs erneut in die Höhe treibt: Ende März 2022 lag der Wechselkurs wieder bei grob 14,80 Lira auf den Dollar und 16,30 Lira auf den Euro; bis Anfang Mai ist der Euro dann wieder auf 15,60 Lira gefallen, allerdings hauptsächlich wegen den Auswirkungen des Ukrainekrieges und der Aufwertung des Dollars wegen den Zinssteigerungen der us-amerikanischen Zentralbank. Deshalb wird freilich – entgegen den offiziellen Verlautbarungen – ebenfalls die Inflation in die Höhe getrieben. Wegen der absehbaren Folgen wurde dieser – wie später herauskam schon 2018 entworfene – Plan früher und auch noch unter dem ehemaligen Finazminister Elvan unter Verweis auf sehr hohe Risiken und Belastung des Staatsbudgets verworfen. Dennoch erklärten Erdoğan wie Nebati innerhalb von nur ein bis zwei (!) Tagen den vollen Erfolg ihres Programms. Ähnliches erlebte die Türkei in den 1970ern mit den von den Rechtsregierungen populistisch ausufernd ausgeweitetenDövize Çevirilebilir Mevduat (DÇM, devisenkonvertible Einlagen), die unter anderem zum Staatsbankrott Ende der 1970er führten und deren Zahlungslast noch bis in die 1990er-Jahre hinein schwer auf dem Staatsbudget lastete. Das ist ein monetärer Neokolonialismus sowie eine epische Zinserhöhung aus den Händen eines Regimes, das im Namen von Nation und Vaterland Gift und Galle spuckt gegen die gesamte Opposition im Land und geradezu einen Jihad gegen die „Zinslobby“ ausgerufen hat. Die Flexibilität und Halsverrenkungen des autoritären Populismus sind bemerkenswert.

Jedenfalls bringt die Devisen-Indexierung von Lira-Konten dem Großteil der Bevölkerung beziehungsweise der Kleinanleger*innen nicht viel. Für den Fall der Fälle, dass Ersparnisse vorliegen, werden diese vermutlich weiterhin in Devisen gehalten werden, da das neue Instrument nicht mehr als das bietet – oder sogar weniger, da das KKM nicht gegen Inflation absichert. Zudem beinhaltet es bestimmte Mindestlaufzeiten (à drei, sechs, neun oder 12 Monate), bei deren Unterschreitung die Einlegerin ihr Anrecht auf (den zusätzlichen) Zins verliert und potenziell sogar Verluste auf die Stammeinlagensumme machen kann, falls der Wechselkurs bei nicht laufzeitgerechter Auflösung des Instrumentes niedriger liegt als bei der Beanspruchung des Instruments. Dagegen können Devisen zu jeder Zeit problemlos flüssig gemacht werden. Die Lira-Einlagen, die für die laufenden Ausgaben von kleinen Bankeinlagenbesitzer*innen gebraucht werden, das heißt alltägliche Konsumausgaben und ähnliches, die bei Menschen mit kleinen Einkommen und/oder Vermögen immer den allergrößten Großteil der Ausgaben ausmachen, werden durch die Mindestlaufzeit von drei Monaten gar nicht abgesichert. Etwa 90 Prozent der bisherigen Devisen- wie Lira-Einlagen im türkischen Bankensystem haben eine verbindliche Laufzeit, die kürzer ist als drei Monate (also beispielsweise Tagesgeldkonten, wie es für uns Normalsterbliche üblich ist, auf die täglich zugegriffen und die täglich aufgelöst werden können). So blieb denn der Erfolg des neuen Instruments anfangs auch recht beschränkt, wurde daher ausgeweitet auf Unternehmer*innen sowie im Ausland lebende oder registrierte (türkische und nicht-türkische) Personen und Unternehmer*innen. Zusätzlich wurde eine Steuerbefreiung für KKM-Einlagen verkündet. Letzteres macht das KKM besonders attraktiv für Vermögende, die nicht auf tägliche Verfügbarkeit ihres Vermögens angewiesen sind. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass bis Mitte April 2022 vor allem Devisen-Konten mit verbindlichen Laufzeiten in das KKM-Format konvertiert wurden und kaum Devisen-Konten ohne Laufzeiten.

Obwohl die Datenlage wegen der notorischen Intransparenz der Regierung und der eigentlich zur Transparenz strikt verpflichteten staatlichen Institutionen schlecht ist, lässt sich Ende März 2022 grob folgende vorläufige Bilanz des KKM-Instruments ziehen: Nur grob 9 Prozent aller Bankeinlagen in der Türkei (591 Milliarden Lira oder etwa 40 Milliarden Dollar) wurden in KKM angelegt und nur etwa 57 Prozent dieser Einlagen durch Eintauschen von Devisen gegen Lira. Der Rest besteht aus normalen Lira-Einlagen, die zu KKM-Einlagen konvertiert wurden. Es wurden eine Million KKM-Einleger registriert, davon 30.000 Unternehmenskonten. Zwar konnte die Dollarisierung der Privateinlagen (Anteil von Devisen/Dollar-Einlagen an allen Privateinlagen) etwas gesenkt werden, allerdings von einem sehr hohen Niveau von 71 Prozent kurz vor Deklarierung des KKM auf immer noch sehr hohe 64 Prozent. Da die Lira seit Einführung des Instruments erneut grob 30 Prozent ihres Wertes auf den Dollar verloren hat, muss der Staat etwa 25 Prozent Zinsen an KKM-Einleger der ersten Stunde einzahlen (gerechnet auf eine Drei-Monats-Einlagendauer bei einem Jahreszins auf normale Bankeinlagen von 17 Prozent, so dass der anteilige Zins, den die Bank auf die drei Monate auszuzahlen hat, um die 4,25 Prozent beträgt). Entgegen den Verlautbarungen des Regimes bleibt also die Beteiligung beim KKM überschaubar, die Kosten hingegen recht hoch. Zudem konnten weder Lira-Entwertung noch die Inflation gebremst werden, ganz im Gegenteil.

Der Chef der rechtsnationalistisch-faschistoiden Partei der Nationalistischen Bewegung (Milliyetçi Hareket Partisi, MHP) und derzeitiger Hauptverbündeter von Erdoğan, Devlet Bahçeli kann sich daher noch so sehr in seinen Tiraden gegen „ökonomische Putschisten“ und „Wechselkursbombenattentäter“ überschlagen, Erdoğan kann so viel gegen den ihm loyalen Zentralbankchef oder den Wirtschafts- und Finanzminister poltern; ihnen drohen und verlangen, dass diese ihre Versprechungen bezüglich eines Wirtschaftsaufschwungs gekoppelt mit einer Stabilisierung des Wertes der Lira auf niedrigem Niveau und der Senkung der Inflationsrate aber mit heterodoxen/expansiven Mitteln bei gegebener Integration in die Weltwirtschaft einhalten: Dieser versprochenen und eingeforderten Quadratur des Kreises sind schlicht objektive Grenzen gesetzt. Auch die dahinter stehende ideologische Konstruktion zur Abwehr der Verantwortung für die Malaise – es sind ja die „geldgierigen Wucherer“ (Erdoğan), die uns das Problem der Inflation einbringen; wir bekämpfen diese mit Strafen und helfen dem Volk mit Steuersenkungen – mag kaum mehr jemanden überzeugen (siehe Abschnitt „Restauration oder populare Demokratie?“). Allen realitätsfernen und verzweifelt übersteigerten Verlautbarungen und Beschwichtigungen zum Trotz ist die politökonomische Situation festgefahren.

Wozu dann also das Ganze?

Neoliberale ISI oder Rekonsolidierungsversuch des Krisenmanagements?

Ob der wirtschaftspolitische Zickzackkurs nun endgültig verlassen wurde zugunsten einer vereindeutigten heterodoxen Wirtschaftspolitik und wenn ja, zu welchen Zwecken; das ist eine große Streitfrage unter kritischen Theoretiker*innen in Fortsetzung der zuvor und auch weiterhin geführten Debatten um den (Klassen-)Charakter der heterodoxen Wirtschaftspolitik.

Schaut man sich die Verlautbarungen des Regimes und seiner wichtigen Wortführer an, dann wurde tatsächlich ein neuer politökonomischer Weg eingeschlagen. Erdoğan selbst legte mit seinen expliziten Verweisen auf Chinas wirtschaftlichen Aufschwung nahe, vom „chinesischen Modell“ zu sprechen. Das war offensichtlich nicht „national“ genug. Daher wurde wenig später vom damals neuen Wirtschafts- und Finanzminister Nebati das „Türkische Wirtschaftsmodell“ deklariert. Der Grundgedanke ist recht simpel und lässt sich als neoliberale importsubstituierende Industrialisierung(sstrategie) (ISI) begreifen: Teure Devisen (bzw. eine abgewertete Lira) sollen wegen hoher Preise Importe hemmen und zur Ersetzung von Importen durch einheimische Produktion anhalten, Exporte hingegen (wegen niedrigen Preisen durch die entwertete Lira) fördern und somit auch die Investition in (Export-)Sektoren, da diese höhere Profite versprechen. Die Niedrigzinspolitik soll parallel hierzu die kostengünstige Investition in die importsubstituierenden Sektoren anregen. Die reduzierte Importabhängigkeit solle sodann das Leistungsbilanzdefizit und damit die Auslandsschulden senken, durch erhöhte Exporte sogar einen Leistungsbilanzüberschuss erzeugen. Damit würde sich der durch die Importabhängigkeit ergebende Druck auf die TL und somit auf die Inflation senken und zugleich die Notwendigkeit einer Hochzinspolitik zur Stabilisierung des Wechselkurses und Attraktion von Kapitalimporten entfallen, sodass sich das Modell selbst tragen würde. Der Teufelskreislauf aus hohen Zinsen und hohen Leistungsbilanzdefiziten würde ersetzt werden durch niedrige Zinsen, hohe Beschäftigung und Produktion – so der TCMB-Chef Kavcıoğlu. Ähnlich Erdoğan. Sein Finanzbüroleiter Göksel Aşan benennt das Modell daher auch explizit als eine ISI. Und Nebati meint, es sei eine Unabhängigkeit der Türkei in Energie und Landwirtschaft anvisiert. Das Türkische Wirtschaftsmodell, eine eierlegende Wollmilchsau.

Das ganz große Problem ist: Das Modell wird nicht im entferntesten in dieser Form realisiert. Das liegt daran, dass ganz wesentliche Elemente einer klassischen ISI fehlen, was gemeinsam mit der Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse den genuin neoliberalen Charakter des „Türkischen Wirtschaftsmodells“ ausmacht: In der historischen ISI war die staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsgeschehens zentral, genauso die staatliche Kontrolle über den Kapitalmarkt und die Führungsfunktion von Staatsbetrieben durch Investition in für Privatkapital unprofitable, aber für die ISI wesentliche Sektoren und/oder durch Bereitstellung von billigen Zwischengütern für die privatwirtschaftlichen ISI-Betriebe. Ohne aktive staatliche Intervention wird sich die investitions- und exportfördernde Geldpolitik, zumal in einem sehr schwierigen ökonomischen Umfeld der Krise, nicht in importsubstituierende Investitionen umsetzen, sondern vielmehr in der Aufrechterhaltung des laufenden Geschäfts oder Investitionen in Immobilien und nicht-produktive Anlagen zwecks Vermögenswahrung/-mehrung angesichts der Inflation niederschlagen. Dies wird auch von einigen Industrie- und Handelskapitalisten (etwa der Industrie- und Handelskammer Mersin) und den führenden Fraktionen des Kapitals kritisch festgehalten. Denn auch die Ersetzung von Importen durch den Aufbau von importsubstituierenden Produktionskapazitäten geht ja nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern bedarf mehrerer Jahre, unter Umständen sogar Dekaden. Zudem beinhaltet sie – unter kapitalistischen Bedingungen – ein gewisses Risikos seitens der jeweiligen individuellen Investoren, da die Erfolgsaussichten der neuen Produktionskapazitäten unter anderem wegen noch fehlender Konkurrenzfähigkeit fraglich sind. Kein individueller Privatkapitalist wird ein solches Risiko eingehen, ohne mehr staatliche Unterstützung als bloß billige Kredite zu bekommen. Diese müsste auch Elemente einer protektionistischen Zollpolitik beinhalten, die die importsubstituierenden Produktionssektoren gegenüber der in der Aufbauphase wettbewerbsfähigeren ausländischen Konkurrenz schützt. Ganz zu schweigen von dem Hauptproblem der ISI: Jeder bisherige Versuch eines Aufbaus importsubstituierender Kapazitäten bedurfte teils erheblicher Importe, nämlich Importe von Kapitalgütern (Produktionsmittel, Technologien) zumindest bis zu dem Punkt, an dem eine Volkswirtschaft die Grundlagen für eine selbständige Hochtechnologiegüter- und Wissensproduktion errichtete. In der Türkei wurde letzteres – im Unterschied zu beispielsweise Südkorea – bis zum heutigen Tag nicht erreicht, weswegen ihr Status innerhalb der Weltwirtschaft immer noch semi-peripher ist. Daher würde die Türkei auch bei einem erneuten, diesmal neoliberalen Anlauf zu einer (vertieften?) ISI zumindest noch eine Weile lang von wichtigen Importen abhängig bleiben. Es ist daher mehr als fraglich, ob die Vorteile einer massiv entwerteten Lira aus Perspektive einer solchen neoliberalen ISI die Nachteile derselben aufwiegen würden (Vorteile: billigere und daher mehr Exporte; Nachteile: massiv verteuerte und für die Produktion notwendige Importe).

Der quasi-Cheftheoretiker des neuen Kurses, Şefik Çalışkan, verteidigt mit ganz viel populistischem Pseudo-Antiimperialismus gewürzt nicht nur eine neoliberale ISI durch die Kombination aus Negativzins- und Liraentwertungspolitik. Er ist zudem der Überzeugung, dass der daraus entstehende enorme Druck auf die Lira, den Binnenmarkt und -konsum sowie die massive Dollarisierung gut sei, weil der Zwang zum Export die Deviseneinkommen der Unternehmen, damit die Einkommen der in diesen Unternehmen Beschäftigten und des Staates sowie wegen der hohen Dollarisierung allgemein das Einkommen aller Bevölkerungsteile steigern würde. Damit wäre im Namen des Anti-Imperialismus de facto eine vollständige Kopplung der Lira an den Dollar vollzogen, ohne die Lira formell abzuschaffen. Wie die türkische Wirtschaft, die jetzt schon mit den Problemen der Entwertungs- und Inflationswelle kämpft (Unmöglichkeit der kurzfristigen Preis- und Zahlungs- und damit der Investitionsplanung und der wirtschaftlichen Tätigkeit überhaupt), ein solches Programm tragen soll, das bei Implementierung eine bisher noch nie gesehene rasende Entwertungs- und Inflationsspirale lostreten würde, taucht im Phantasiekonstrukt des Şefik Çalışkan nicht als Problem auf. Dem Narren erscheint die Welt als ein einfaches Spiel.

Das große Durchwurschteln

Letztlich zeigt ja die Einführung des KKM-Instruments, dass auch dem Regime klar ist, dass es ein Limit gibt, ab dem die Lira-Entwertung(sspirale) für die türkische Wirtschaft untragbar wird. Weitere im Verlauf der letzten Monate implementierte Maßnahmen unter dem Schlagwort der „Liraisierungsstrategie“ (liralaşma stratejisi) dienen ebenfalls dem Ziel, den Wert der Lira durch Reduzierung der Dollarisierung beziehungsweise durch Erhöhung der Devisenreserven der TCMB (oder Verkauf derselben gegen Lira) zu stabilisieren (40 Prozent der Devisenerlöse von Exporteuren müssen an die Zentralbank verkauft werden; Devisennutzung bei kommerziellen Transaktionen im Inland wird immer stärker beschränkt/verboten; zusätzliche Anreize für Unternehmen und Banken, das KKM-Format zu nutzen, werden geschaffen).

Wahrscheinlicher ist es daher davon auszugehen, dass der derzeit eingeschlagene wirtschaftspolitische Kurs der x-te erneute Versuch des Krisenmanagements und der autoritären Konsoliderung darstellt anstatt des Übergangs zu einem neuen Akkumulationsregime. Die expansive Wirtschaftspolitik und insbesondere das KKM zielen offensichtlich darauf ab, die negativen Effekte der Wirtschaftskrise auf die Breite der Bevölkerung und der kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) abzufedern und damit Zeit zu gewinnen, vermutlich bis zu den nächsten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen (regulär im Sommer 2023). Derzeit sind weitere Maßnahmen und Finanzinstrumente angedacht, die ebenfalls darauf abzielen die Effekte der Inflation auf die Breite der Bevölkerung abzudämpfen (Preiskontrollen bei Grundgütern, inflationsindexierte Finanzinstrumente). Zudem wurde wieder ein Kreditpaket für importsubstituierende Unternehmen (Produktionsmittelproduktion) und Exporteure zu sehr günstigen Konditionen (neun Prozent Zinsen) deklariert. Freilich geht all dies massiv zulasten des Staatsbudgets und ist wegen der symptomatischen Herangehensweise notwendig transitorischer Art. Sowieso ist es fragwürdig, ob die Rechnung des Regimes aufgeht – siehe Inflation. Die Probleme akkumulieren sich so immer mehr und ihre im kapitalistischen Sinne produktive Lösung wird weiter vertagt.

Dieser Versuch der Rekonsolidierung des Krisenmanagements bringt auch einen Kampf um hegemoniale Strategien mit sich, der nicht so einseitig ist, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist daher genauer zu analysieren.

Kämpfe um hegemoniale Strategien inmitten der Krise

Es wurde zur Genüge und detailreich festgehalten, dass die heterodoxe/expansive Wirtschaftspolitik die Stabilisierung der Akkumulation binnenmarktorientierter oder weniger importabhängiger aber exportorientierter KMUs und des Binnenmarktkonsums, das heißt des Konsums der breiten Bevölkerungsmasse anvisiert. Betrachtet man die Reaktionen auf das „Türkische Wirtschaftsmodell“ und das KKM, kann man sehen, dass es tendenziell die führenden Fraktionen des Kapitals (TÜSIAD) und die Industriellen (Istanbuler Industriekammer, ISO) sind, die diese Maßnahmen scharf kritisieren. Umgekehrt sind es tendenziell binnenmarktorientierte und/oder exportorientierte KMUs, die die Maßnahmen teils mit glühendem Eifer begrüßen.

Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich die Sache aber als etwas komplizierter: Einerseits beschweren sich die mit dieser Wirtschaftspolitik vom Regime anvisierten Kapitalfraktionen öfter, als auf den ersten Blick erscheint, über die Folgen der Wirtschaftskrise und des Krisenmanagements, andererseits profitiert das Großkapital mehr vom derzeitigen Regime, als die These vom „Kampf zwischen international orientiertem Großkapital und binnenmarktorientierten/importschwachen aber exportorientierten KMUs“ nahelegt.

Der Reihe nach. All die als Hauptprofiteure der heterodoxen/expansiven Wirtschaftspolitik analysierten Kapitalfraktionen beziehungsweise Verbände haben sich im vergangenen halben Jahr eben so oft über die Wirtschaftspolitik und ihre Folgen beschwert, wie sie diese hochgelobt haben. So kritisierten die Union der Kammern und Börsen der Türkei (Türkiye Odalar ve Barolar Birliği, TOBB) und die Istanbuler Handelskammer (ITO) die Zinssenkungsentscheidungen, die massive Entwertung der Lira über die dadurch gewährten kompetitiven Vorteile hinaus, die dadurch entstehendewirtschaftliche Unvorhersehbarkeit und die Verunmöglichung der Preiskalkulation. Sie verlangten dringende Maßnahmen, um die wirtschaftliche Stabilität wieder herzustellen. Der als Flaggschiff der AKP-nahen Kapitalfraktionen geltende Verband Unabhängiger Unternehmer (Müstakil Sanayici ve İş Adamları Derneği, MÜSIAD) benannte noch Ende November und Anfang Dezember 2021 ebenfalls alle diese Probleme als gewichtig. Der MÜSIAD-Vorsitzende Mahmuat Asmalı hielt einen Dollar-Kurs von 8 bis 9 Lira für vernünftig und kompetitiv, nicht jedoch darüber. Noch Anfang des Jahres beschwerte sich der MÜSIAD darüber, dass sich der niedrige Leitzins nicht auf die Zinsen für kommerzielle Kredite niederschlage. Eines der wichtigsten Ziele der heterodoxen Wirtschaftspolitik ist es ja gerade, Kredite zu niedrigen Zinsen für binnenmarktorientierte Unternehmen bereitzustellen. Die Inflation, die ökonomische Unsicherheit und freilich die Macht der Banken erschwert diese Absicht allerdings.

Dass sich auch die binnenmarkt- und/oder exportorientierte KMUs beschweren, hat gute Gründe. Zu stark steigende Preise importierter Inputs sind ein riesiges Problem, wie auch die Vereinigung Istanbuler Konfektionskleidungsexporteure (İstanbul Hazır Giyim ve Konfeksiyon İhracatçıları Birliği, IHKIB) oder der Verband der Kleidungsunternehmer (Türkiye Giyim Sanayicileri Derneği, TGSD) betonen, da sie die durch eine Lira-Entwertung entstehenden preislichen Wettbewerbsvorteile hinsichtlich des Exports gleich wieder revidieren beziehungsweise die inländischen Verkaufspreise stark erhöhen. So ist es dann auch der Fall, dass der Auslandserzeugerpreisindex (die Preise, die Hersteller für Güter verlangen, die für den Export bestimmt sind) mit knapp über 105 Prozent im März 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum fast genau so exorbitant stieg wie der Inlandserzeugerpreisindex (fast 115 Prozent). Die wellenförmige Steigerung der Inflationsrate und die Entwertung der Lira in sehr kurzen Zeiträumen erschwert bis verhindert durch die Unvorhersehbarkeit und die Unmöglichkeit der robusten Preiskalkulation auch das Geschäft der KMUs, wie diese ja selbst festhalten. So autark und unabhängig von Importen ist kein Betrieb, dass er von diesen Entwicklungen nicht betroffen wäre. Umgekehrt würde eine von der neoliberalen Orthodoxie vorgesehene Kreditkontraktion und eine immense Erhöhung der Zinsen zwecks Stabilisierung des Lira-Kurses und der erneuten Attraktion von ausländischem Kapital ziemlich sicher zum Bankrott vieler KMUs führen. Sie befinden sich daher objektiv in einer Zwickmühle, aus der es derzeit keinen gemütlichen Weg raus gibt. Daher sind auch objektiv unterschiedliche Strategien mit unterschiedlichen Risiken als Lösungsversuch der Krise und Fortsetzung der Akkumulation möglich.

Wirtschaftspolitik als Teil des Kampfes um hegemoniale Strategien

Die Wirtschaftspolitik des Regimes muss daher konzeptionell klarer gefasst werden als Teil eines allgemeineren Hegemoniekampfes, der Kämpfe um die dominante ökonomische Strategie und ihre politische Führung inkludiert, und nicht als eine eins-zu-eins Repräsentation prä-strategisch gegebener ökonomischer Interessen in der politischen Sphäre. In der Kalkulation des Regimes ist eine Rückkehr zu orthodoxer neoliberaler Wirtschaftspolitik – wegen der dann zu erwartenden Bankrottwelle und des (zumindest vorübergehend) noch massiveren Einbruchs des Haushaltskonsums als derzeit – mit viel höheren politischen Kosten verbunden als eine Wirtschaftspolitik, die versucht, sich inmitten der Wirtschaftskrise durchzuwurschteln und die Kriseneffekte auf KMUs und Binnenkonsum so weit wie möglich abzufedern. Dabei versucht das Regime an die Existenzängste vieler KMUs anzuknüpfen und durchzusetzen, dass diese ihr unmittelbares Überleben oder ihre unmittelbare Akkumulation als strategisches Primat ansehen – und das Regime als jene politische Führung, die dieses strategische Primat einzig umzusetzen in der Lage ist. Es ist aber objektiv überhaupt nicht absehbar, ob die vom Regime verfolgte Strategie allein noch das Überleben vieler KMUs garantieren kann, oder ob sie nicht viel eher die Krisendynamik und damit auch den Druck auf jene KMUs verschärft, was derzeit als objektiv wahrscheinlich erscheint.

Es sind aber auch andere strategische Perspektiven möglich. So könnten leistungsstarke KMUs, die den kompetitiven Druck einer orthodoxen Geldpolitik aushalten können, dafür optieren, gemeinsam mit den führenden Fraktionen des Kapitals für eine Re-Integration der Türkei in die globale Weltwirtschaft auf erweiterter Stufenleiter zu streiten und Länder wie China dadurch in den Lieferketten abzulösen. Wie Hakkı Özdal in Bezug auf die Wahl des neuen TÜSİAD-Präsidenten Orhan Turan, ehemals Präsident der TÜSIAD-nahen Vereinigung von kleinen und mittleren Kapitalisten (TÜRKONFED), im März 2022 ganz richtig festhielt, gibt es derzeit in der Türkei kein Monopol (mehr?) auf die politische Repräsentation der kleinen und mittleren Kapitalisten. Es wird vielmehr um diese Repräsentation gerungen, was auch bedeutet, um unterschiedliche ökonomische Strategien zu kämpfen. Wir werden in nächster Zeit vermutlich sehen, wie der oppositionelle Restaurationsblock versuchen wird, eine alternative ökonomische Strategie auch für KMUs zu entwerfen. Es ist nicht allein die objektive Stellung im Produktionsprozess im Allgemeinen wie im Besonderen (in einem bestimmten Akkumulationsregime zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung desselben), die die Interessen unterschiedlicher Kapitalfraktionen determiniert, denn aus deren Stellungen im Produktionsprozess heraus sind objektiv unterschiedliche Perspektiven möglich. Diese und damit die Interessen der Kapitalfraktionen werden daher co-determiniert von politischen Kämpfen um ökonomische und gesamtgesellschaftliche Strategien.

Den ökonomisch führenden Fraktionen des Kapitals geht es indes viel besser, als ihre für kapitalistische Verhältnisse lautstarke Kritik an der Politik des Regimes glauben lassen würde. Die führenden Großunternehmen der Türkei erzielten teils exorbitante Profite (Metall, Automobil, Getränke, Kommunikation, bis Ende 2021; Bankensektor: +57 Prozent, 2021 im Vergleich zum Vorjahr, +323 Prozent, Januar-Februar 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum). Die Negativzinspolitik der Zentralbank hebt die Zinseinkommen der (Privat-)Banken, anstatt sie zu senken, da diese die niedrigen Zinsen nicht so an Kreditnehmer*innen weitergeben und die wachsende Differenz als steigende Profite einkassieren (der Zins auf Kredite lag Ende März 2022 je nach Art des Kredits bei 20 bis 30 Prozent gegenüber 14 Prozent Zentralbankleitzins und 16 bis 17 Prozent Einlagenzins; dazu kommen noch die steigenden Zinsen auf Staatsanleihen). Das ist es letztlich, worüber sich der MÜSIAD noch Anfang des Jahres beschwerte. Zudem sorgt die hohe Verschuldung des Staates an türkische Banken in Devisen oder inflationsindexierten Staatsanleihen für die exorbitant steigenden Bankenprofite. Die größte Unternehmensgruppe der Türkei, Koç, die politisch klar oppositionell zum Regime eingestellt ist, tätigt derzeit mit Unterstützung von Präsident Erdoğan große Investitionen in die E-Fahrzeug- und -Batterien-Produktion. Eines der Flaggschiffe der Koç-Gruppe, Ford Otosan, erhöhte seine Profite 2021 um fast 100 Prozent; die gesamte Unternehmensgruppe berichtet von einer Zunahme der konsolidierten Gewinne von 89 Prozent.

So sehr die derzeitige Wirtschaftspolitik und politische Ökonomie der Türkei auch von konkurrierenden (bzw. sich in Krise befindenden) Strategien und Hegemonieprojekten gekennzeichnet ist, behält sie bei allen Differenzen und Widersprüchen doch ein grundlegendes Element der Einheit bei, namentlich, dass sie hinsichtlich der Distributionsverhältnisse eindeutig zulasten des Großteils der Werktätigen und zugunsten des Kapitals im Allgemeinen geht: So sank die Lohnquote sukzessive von 35,1 Prozent im Jahre 2019 auf 33,1 Prozent im Jahr 2020 und letztlich 30,2 Prozent im Jahr 2021, während die Gewinnquote in der selben Zeit von 47 Prozent auf 52,6 Prozent zulegte. Die realen durchschnittlichen Bruttolöhne gingen zwischen 2016 und 2020 um sagenhafte 42,2 Prozent zurück (Inflation!); auch der Haushaltskonsum ging, trotz Kreditstützen in den letzten Jahren, zurück von 65 Prozent im Jahr 2012 auf 56 Prozent im Jahr 2021 (im Verhältnis zum BIP). Dabei verdeckt die permanente Erhöhung des Mindestlohns einerseits, dass dieser dennoch sehr niedrig bleibt (wieder: Inflation!), andererseits, dass sich die Durchschnittslöhne seit 1980 zunehmend dem Mindestlohn anpassen, dass also eine Abwärtsspirale und nicht eine Aufwärtsspirale der Löhne stattfindet, und zwar auch im öffentlichen Sektor und damit in der Beamtenschaft. Zugleich wird derzeit eine weitere Erhöhung des Mindestlohns wegen des davon ausgehenden „inflationären Drucks“ abgelehnt, was natürlich reichlich grotesk ist angesichts einer Wirtschaftspolitik, die auch schon ohne Lohnerhöhungen zu einer historisch hohen Inflationsrate führt, und zugleich Abermilliarden für Unternehmen und Vermögende bereitstellt. Aber das Argument des „inflationären Drucks“, das gegen die Mindestlohnerhöhung genutzt wird, ist natürlich nur Ideologie zwecks Rationalisierung einer klar pro-kapitalistischen Politik. Insofern ist nichts „groteskes“ dran, denn es ist knallharte Interessenpolitik. Einen grundlegenden Bruch mit wichtigen Prinzipien des Neoliberalismus in der Türkei (Unterdrückung der Arbeiter*innenklasse, kein produktiver Staatssektor), seinen ökonomisch dominanten Akteuren und der Integration desselben in die Weltwirtschaft hat das Regime bei allen Abweichungen von bestimmten Prinzipien (bspw. von der neoliberal-orthodoxen Geldpolitik) – noch? – nicht vollzogen. Während sich also der politische Autoritarismus nicht einfach aus dem Neoliberalismus (und seiner Krise) ableiten lässt, ist es allerdings umgekehrt auch nicht der Fall, dass der politische Autoritarismus den Neoliberalismus einfach vollständig destruiert. Das Verhältnis beider ist also dialektisch als ein inneres, aber widersprüchliches zu verstehen, egal, ob man die Situation nun als „autoritärer Neoliberalismus“, „autoritärer Etatismus im Neoliberalismus“ oder „neoliberaler Etatismus“ verbegrifflicht.

Die alternative Perspektive der führenden Fraktionen des Kapitals

Aus all diesen Gründen ist es auch unter den heutigen Bedingungen schlicht nicht richtig, davon zu sprechen, dass es zu einem großen Bruch zwischen Großbourgeoisie und der AKP gekommen ist. Richtiger ist es, festzustellen, dass es große Konflikte und daher Hegemoniekämpfe um die zu befolgenden Strategien gibt, die umfassenderer Natur sind als jährliche Profitmargen, wobei diese Hegemoniekämpfe aber keinen „großen Bruch“ darstellen.

Der TÜSIAD beschwert sich dabei schon seit Jahren über die heterodoxe Wirtschaftspolitik und ihre Folgen und verlangt eine orthodoxe Rejustierung derselben. So auch in den letzten Monaten. Dabei geht es nicht nur um die unmittelbaren Interessen der führenden Fraktionen des Kapitals wie beispielsweise die mittels orthodoxer Geldpolitik und Institutionen prognostizierte erneut einsetzende Attraktion von großen Summen an ausländischem Kapital für große Investitionen und die von fast allen Kapitalfraktionen geteilte Forderung nach Stabilisierung von Wechselkurs und Inflation zwecks Vorhersehbarkeit und robuster Preiskalkulation. Der TÜSIAD visiert offensichtlich auch eine spezifische hegemoniale und ökonomische Strategie an: Hegemonial betrachtet herrscht aufseiten des TÜSIAD die Sorge vor, dass die massive ökonomische Ungleichheit und die Krise des politischen Autoritarismus starke sozial destabilisierende Effekte haben könnte. (Die ITO ist dieser Problematik gegenüber übrigens auch nicht vollständig blind.) Daher die wiederholte Forderung von „pluraler Demokratie, Gewaltenteilung, Freiheiten“ einerseits, einer anti-inflationären Wirtschaftspolitik andererseits. Freilich findet sich in den Aussagen und Publikationen des TÜSIAD wenig Konkretes zur Veränderung des Arbeitsmarktes oder zur Institutionalisierung sozialer Rechte. Die Hoffnung liegt klar auf einem sich selbst tragenden neoliberalen Wachstumsmodell mit Produktivitätsfortschritten, aus dem ohne große Verrechtlichung der Marktbeziehungen im Sinne der Werktätigen und ohne allzu großen Veränderungen der Distributionsverhältnisse genug für die Werktätigen abspringt, damit diese befriedet sind.

Gleichzeitig ist der TÜSIAD der Meinung, dass die kurzfristige Orientierung der Wirtschaftspolitik die kapitalistische Entwicklung der Türkei blockiere, insofern es mit ihr nicht möglich sei, einen Aufstieg der türkischen Wirtschaftsstruktur im System der internationalen Arbeitsteilung zu erlangen. Das heißt, der TÜSIAD visiert mittel- bis langfristig eine ganz andere hegemoniale ökonomische Strategie an, als in der derzeitigen vom Krisenmanagement dominierten Wirtschaftspolitik des Regime enthalten ist. Letztere ist notgedrungen kurzfristig angelegt und enthält derzeit wenig Potenziale für eine kapitalistische Akkumulation auf qualitativ erweiterter Stufenleiter. Diese ökonomische wie auch politisch-regulative hegemoniale Strategie hat der TÜSIAD nun Ende letztes Jahres zu einem Bericht mit dem unmissverständlichen Titel Yeni Bir Anlayışla Geleceği İnşa, übersetzt in etwa „Mit einer neuen Vision die Zukunft gestalten“ synthetisiert und der Öffentlichkeit präsentiert. Murat Sabuncu hält ganz richtig fest, dass sich dieser Bericht nicht allein an Unternehmer*innen, sondern an die Breite der Gesellschaft wendet, sprich einen hegemonialen Anspruch hat. Der Kampf um die Krise des Neoliberalismus geht also in eine neue Runde.

Altbekannte und (scheinbar) neue Taktiken der autoritären Konsolidierung

In diesem Kampf um die Krise des Neoliberalismus, in dem das Regime um seinen politischen Machterhalt kämpft, sind die Kampfmethoden natürlich nicht bloß ökonomischer Art. Die altbekannten und scheinbar neue Taktiken der autoritären Konsolidierung werden ebenfalls fortgesetzt. Diese visieren, wie ehedem, Unterdrückung, Zermürbung, Spaltung und Integration der Opposition aber auch die Etablierung einer popularen Legitimationsbasis für den Autoritarismus an. Weiterhin werden Hunderttausende Webseiten blockiert, weitflächig Druck und Repression gegen Medien und Oppositionelle ausgeübt sowie an einem Gesetz zur weiteren Kriminalisierung von Meinungsäußerungen auf Social Media-Plattformen unter dem Vorwand der Bekämpfung von „fake news“ gearbeitet. Erdoğan selbst deklarierte jüngstsocial media als „einer der größten Gefährdungsquellen für die heutige Demokratie“. Über 200 Kundgebungen und Demonstrationen wurden unter vorgeschobenen Gründen des Infektionsschutzes während der Pandemie verboten (während vom Regime wohlwollend betrachtete Massenereignisse natürlich erlaubt und sogar gefeiert wurden). Auch sonst geht die mehr oder minder verdeckte (Androhung von) Gewalt gegen (führende) Oppositionelle und Kulturschaffende ungebrochen weiter. Die Türkei bleibt das nach Russland dasjenige europäische Land, in dem sich proportional zur Bevölkerung die meisten Menschen im Gefängnis befinden. Den protestierenden und streikenden Ärzt*innen wurde von Erdoğan vorgeworfen, sie hätten Luxusprobleme und sollten das Land verlassen, wenn es ihnen nicht passt (nur um ein Tag danach die selben Ärzt*innen in den Himmel zu loben und einer Reihe ihrer Forderungen nachzugeben).

Offensichtlich als Teil des de facto schon begonnenen Wahlkampfs wurde die Repression kürzlich noch einmal besonders verschärft: Zum Abschluss eines jahrelangen Schauprozesses gegen einige in den Gezi-Protesten 2013 involvierte wichtige zivilgesellschaftliche Akteur*innen wurden Ende April 2022 drakonische Strafen verhängt, darunter auch gegen den großbürgerlich-liberalen Mäzen Osman Kavala, der zu lebenslanger Haft unter erschwerten Bedingungen (ağırlaştırılmış müebbet) verurteilt wurde. Gleichzeitig lancierte der türkische Staat eine großangelegte Militäroffensive gegen Teile der als PKK-Stützpunkte genutzten Kandilberge im Irak, wobei diese parallel – und vermutlich zuvor mit der Türkei abgestimmt – begleitet wurde von einer Offensive der Truppen der irakischen Regierung gegen das PKK-nahe ezidisch dominierte Schengal.

Islamisierung und autoritäre heteronormativ-familiale Geschlechterpolitik bilden weiterhin eine wichtige Grundlage für den Versuch, einen autoritären Konsens herzustellen als Legitimationsbasis für das autoritäre Regime. Die Kriminalisierung und Repression von LGBTQI+-Identitäten wird weiterhin konstant betrieben. Der Chef der Religionsbehörde Diyanet, Ali Erbaş, kann eine umfassende Kritik am Laizismus lancieren und die Forderung aufstellen, Korankurse für 4-6jährige Kinder nicht mehr als Wahl-, sondern als Pflichtfach einzuführen. Die Forderung nach einem „religiösen“ Grundgesetz (ehemaliger Parlamentssprecher Ibrahim Kahraman, AKP) wird wieder en vogue. Der Freitod eines jungen Studierenden, Enes Kara, der die unerträglichen Verhältnisse in einem religiösen Wohnheim nicht mehr aushielt, befeuerte erneut die Debatte um die Schließung religiöser Heime.

Auch die scheinliberalen Versuche und Reförmchen zur Einbindung der Hauptoppositionsparteien gehen weiter: So wurde hinter den Kulissen darüber diskutiert, das Präsidialsystem dahingehend zu modifizieren, dass die Minister nicht mehr wie bisher von Präsidenten ernannt, sondern vom Parlament gewählt werden und das Parlament wieder das Recht auf Anfragen und ähnliches eingeräumt bekomme. Natürlich wäre das nur eine Scheinliberalisierung gewesen, da derzeit ja auch das Parlament noch von AKP-MHP dominiert wird. Zudem war die „Konzession“ verbunden mit dem Vorschlag, die Auflage einer absoluten Mehrheit (über 50 Prozent der gültigen Wahlstimmen) für den erfolgreichen Sieg in der ersten Runde einer Präsidentschaftswahl abzuschaffen. Offensichtlich halten es auch AKP-MHP für wahrscheinlich, dass Erdoğan nicht mehr in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. Denn konträr zur nach außen kommunizierten Hybris ist den AKP-Entscheidungsträgern intern natürlich klar, dass die wirtschaftliche Krise und „Mängel im Präsidialsystem“ (aka Willkür, Repression insbesondere gegenüber Kurd*innen, politisierte Justiz) die Gründe für den (prognostizierten) Stimmenverlust sind und dass die Opposition gewonnen werden muss für eine (leichte) Modifikation des Präsidialsystems (wobei klar ist, dass am Prinzip des Präsidialsystems nichts geändert werden soll). Später, im März 2022, als die Novellierung des Wahlgesetzes eigentlich schon als sicher galt (siehe ein paar Absätze weiter unten), sickerte durch, dass AKP und MHP zu einer weiteren Senkung der Wahlhürde auf drei Prozent bereit seien. Sie verlangten dafür aber ein Ende der von der Opposition geführten Diskussion, ob Erdoğan laut geltendem Gesetz überhaupt erneut zu einer Kandidatur antreten dürfe. [3]

Mittlerweile wurden auch zahlreiche „Menschenrechtsaktionspläne“ oder „Justizreformpakete“ – angeblich zur Verbesserung der menschenrechtlichen Situation – verkündet. Freilich bleiben Selahattin Demirtaş, Figen Yüksedağ oder Osman Kavala weiterhin teils lebenslänglich inhaftiert und werden als „Terroristen“ oder „Soros-Anhänger“ verschrien. Angesichts der weiter oben ausgeführten ununterbrochen fortgesetzten Repression gegen fast alle oppositionellen Teile der Gesellschaft ist klar, dass diese „liberalen Reförmchen“ eh schon kaum das Papier wert waren, auf dem sie geschrieben wurden. Aber sogar das war und ist zu viel für die Hardliner innerhalb des Regimes, wie die von Bahçeli wiederholt vorgebrachte Forderung nach der Schließung des Verfassungsgerichtes (AYM) und der Rücktritt des Justizministers Gül (siehe unten) zeigen.

Es wird auch weiterhin die Handlungsfähigkeit der oppositionsgeführten Städte untergraben, um die – auf erfolgreiche Bereitstellung städtischer Dienstleistungen als materieller Grundlage basierende – Hegemoniepolitik der Opposition zu torpedieren: Beispielsweise bleiben weiterhin zentrale Metrolinien oder Bezirke Istanbuls in der Hand zentralstaatlicher Ministerien oder werden in diese überführt; es werden weitere Metroprojekte durch die Stadt oder eine grundlegende Änderung des maroden Taxi-Systems auf die lange Bank geschoben oder zahlreiche andere kommunale Projekte in oppositionsgeführten Städten durch AKP-MHP oder zentralstaatliche Apparate gebremst oder gestoppt. Gegen mehr als 500 Mitarbeitende der Istanbuler Stadtverwaltung lancierte das Innenministerium zudem eine „Terrorismus“-Untersuchung, Bahçeli kündigte daraufhin eine mögliche Amtsenthebung des oppositionellen Istanbuler Bürgermeisters Imamoğlu an. Sogar die Schneestürme in Istanbul wurden instrumentalisiert im Hegemoniekampf zwischen Regimekräften und Hauptoppositionparteien, indem sich beide Seiten wechselseitig Unfähigkeit vorwarfen und jeweils ihre eigenen Leistungen hervorhoben.

Die neuesten Manöver

Nicht zuletzt sind zwei wichtige Entwicklungen zu nennen, die der Spaltung und Schwächung der Opposition dienen: Zum einen die Änderung des Wahlgesetzes, zum anderen die politische Rückkehr einer Mitterechts-Hardlinerin der 1990er-Jahre, Tansu Çiller.

Das Wahlgesetz war zuletzt 2018 grundlegend geändert worden, um die Bildung von Wahl-Koalitionen zu erlauben. Es bildeten sich die bis heute bestehenden zwei Koalitionen: Das Bündnis des Volkes (Cumhur İttifakı) des Regimes und das Bündnis der Nation (Millet İttifakı), der bürgerliche Hauptoppositionsblock. Für Parteien, die Teil einer solchen Wahl-Koalition waren, galt die 10 Prozent-Hürde nicht; sie galt nur für die Koalition als Ganze. Der Stimmanteil der Koalition war maßgeblich für den Anteil der Parlamentssitze, die die Koalition als Ganze erhielt; erst in einem zweiten Schritt wurden diese dann entsprechend des Stimmanteils der Koalitionsparteien unter diesen aufgeteilt wurden. Die Wahlgesetzänderung von 2018 war ganz offensichtlich eine Maßnahme, um der AKP-Partnerin MHP den Einzug ins Parlament zu garantieren, da damalige Umfragen die MHP unter der 10 Prozent-Wahlhürde sahen (am Ende bekam sie allerdings doch 11 Prozent).

Auch die jetzt im Frühjahr 2022 erfolgte grundlegende Änderung des Wahlgesetzes dient unmittelbar politischen Kalkülen des Regimes. Zwar wurde die Wahlhürde jetzt auf 7 Prozent abgesenkt, um das Ganze als „Demokratisierung“ verkaufen zu können. Aber einerseits ist wegen der Möglichkeit der Koalitionsbildung die Wahlhürde derzeit de facto nicht mehr wirklich ein Hindernis, da alle relevanten Parteien entweder in Koalitionen organisiert sind oder, wie die linke und pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP), auch ohne Koalition über die 10 Prozent-Wahlhürde kommen. Zum anderen wurde vor allem die Parlamentssitzverteilung grundlegend geändert. Es entscheidet bei koalierten Parteien zwar immer noch der Stimmenanteil der gesamten Koalition, ob die Wahlhürde überwunden und prinzipiell der Einzug ins Parlament geschafft wird oder nicht; bei der Sitzverteilung wird allerdings nicht mehr dem Stimmanteil der jeweiligen Koalitionen entsprechend aufgeteilt. Stattdessen wird von Anfang an der Stimmenanteil der einzelnen Parteien in den jeweiligen Wahlbezirken genommen und ausschließlich daran die Sitzverteilung der einzelnen Parteien ausgemacht. Einer wahlarithmetischen Berechnung zufolge hätte eine solche Form der Sitzverteilung bei den Wahlen 2018 zu knapp 36 mehr Sitzen für die Regime-Koalition und 44 weniger Sitzen für die Hauptoppositionskoalition geführt. Jetzt bedroht es zudem vor allem die Kleinstparteien, die mit dem Szenario konfrontiert sind, im Rahmen einer Oppositionskoalition zwar über die Wahlhürde zu kommen, aber wegen jeweils sehr kleinen Stimmanteilen gar keine Parlamentarier*innen stellen zu können – außer sie stellen ihre Kandidat*innen auf den Listen der beiden großen mitte-rechts Hauptoppositionsparteien (die Republikanische Volkspartei CHP und die Gute Partei IYI) auf. Aber auch die IYI hätte nach dem jetzt gültigen Wahlsystem, so die erwähnte Berechnung, trotz mehr als 10 Prozent der gültigen Wahlstimmen 2018 keine einzige (!) Parlamentarier*in gestellt.

Gegen die Möglichkeit gemeinsamer Listen ist das Kalkül von AKP-MHP, dass einerseits der Parteienegoismus der Kleinstparteien dieses Vorgehen verhindern könnte. Und – für den Fall der Fälle, dass dies nicht passiert – dass dann die Wähler*innenklientel der betreffenden Kleinstparteien, die ideologisch-kulturell hauptsächlich aus dem konservativ-islamischen Spektrum kommt, insbesondere die CHP nicht wählt. Diese wurde und wird im Zuge des Kulturkampfes des politischen Islams als repressiv antiislamisch und verwestlicht dämonisiert. AKP-MHP bauen also darauf, dass das Machtstreben der einzelnen Parteien sowie die polarisierte Identitätsbildung mit dieser Veränderung des Wahlgesetzes zum entscheidenden Nachteil für die Opposition und Vorteil für das Regime wird, auch wenn ein potenzielles Wahlklientel des Regimes von vier bis sieben Prozent aller gültigen Stimmen (Summe der Stimmen der Kleinstparteien laut aktuellen Umfragen) von AKP-MHP wegbricht. Eine weitere Alternative für die Opposition wäre die Bildung einer rechtskonservativen Koalition um IYI und die Kleinstparteien und somit die Bildung einer genuin rechtskonservativen Blockalternative unabhängig von der CHP. Es ist wahrscheinlicher, dass die Wähler*innen der Kleinstparteien deren Kandidat*innen auf Listen der IYI wählen statt auf Listen der CHP. Die Rechnung des Regimes geht bezüglich dieser Alternative dahingehend, dass die Aufspaltung des Hauptoppositionsblocks in zwei Koalitionen die Friktionen zwischen den jeweiligen Blöcken und Parteien insbesondere entlang der „kurdischen Frage“ stärkt und ihr einheitliches Vorgehen erschwert. Zudem gibt es, wie erwähnt, das Problem, in einer solchen Konstellation überhaupt Parlamentarier*innen entsenden zu können. Oder aber der Hauptoppositionsblock hält im Rahmen der Millet İttifakı zusammen und gleichzeitig werden die Kandidat*innen der Kleinstparteien auf den Listen von IYI platziert (aber auch da bleibt das Problem bestehen, ob die IYI überhaupt Parlamentarier*innen entsenden kann). Wie man es dreht und wendet, macht es diese Wahlgesetzesänderung prima facie den Hauptoppositionsparteien die Rechnung schwerer als sie sonst wäre und das ist auch der hauptsächliche Grund für die jetzt erfolgte Wahlgesetzänderung.

Zudem spielen vermutlich auch Friktionen zwischen AKP und MHP für die Gesetzesänderung eine Rolle: Nicht nur können sich so beide Parteien für den eventuellen Niedergang des jeweils anderen die Option offen halten, in Zukunft in anderen Konstellationen weiterhin eine wichtige politische Rolle zu spielen oder bei geschwächtem Partner mehr Macht innerhalb des Regimes einzufordern. Die Senkung der Wahlhürde auf sieben Prozent ist insofern ein Sieg der MHP, insofern sie bei einer erfolgreichen Überwindung der Hürde – und dies erscheint derzeit als wahrscheinlich, wenn auch knapp – im Regime-internen Kampf um Macht mehr Gewicht bekommt, da sie es dann erneut ohne Garantie der Koalitionsform ins Parlament geschafft haben wird. Neben den unmittelbaren Machtansprüchen der beiden Parteien gab es immer wieder auch inhaltliche Konflikte, vor allem in der sogenannten „kurdischen Frage“ und angesichts der (vor allem syrischen) Geflüchteten im Land. Während die MHP eine bedeutend härtere Gangart gegen die Kurd*innen vertritt, versucht die AKP immer wieder, auch die militarisierte Politik oberflächlich mit integrativen Balanceakten zu versehen. Ein Grund dafür ist, dass die AKP immer noch Wahlpotenzial unter konservativen Kurd*innen besitzt, während die türkistische MHP nie kurdisches Wahlpotenzial besaß. Gegenüber Geflüchteten vertritt die MHP – wie ein Großteil der Bevölkerung auch – eine stark ablehnende Haltung, während die AKP (neben der HDP als einzige Partei im Parlament und aus anderen Gründen als die HDP) eine positive Haltung dazu einnimmt.

Das erneute Auftauchen von Tansu Çiller auf der politischen Arena ist Teil des Versuchs, die mitte-rechts Opposition zu spalten. Çiller ist die wichtigste Persönlichkeit aus der Tradition des rechten Liberalkonservatismus in der Türkei, die seit 2018 ihre Unterstützung für die AKP ausgesprochen hat. Unter ihrer Ministerpräsidentschaft fand die Ausweitung des extralegalen Kriegsführung (paramilitärisch, mafiös und mittels offizieller staatlicher Sicherheitsapparate) gegen die Kurd*innen in den 1990ern statt. Meral Akşener, die derzeitige Chefin der IYI und ehemals Innenministerin unter Çiller, ist derzeit die einzige wichtige Persönlichkeit aus dieser Traditionslinie, die sich in der Opposition befindet. Alle anderen öffentlich auftretenden wichtigen Persönlichkeiten dieser Tradition sind entweder direkt an der Regierung beteiligt wie der Innenminister Soylu oder unterstützen das Regime offen wie der ehemalige Innenminister Mehmet Ağar (dazu ausführlicher im Artikel „Türkisches Inferno“). Çiller hat erst kürzlich die Perspektive der Rückkehr zum parlamentarischen System als „Verrat an der Nation“ gebrandmarkt, in der Verteidigung des Präsidialsystems Koalitionsregierungen absurderweise als schlimmer als Militärputsche bezeichnet (absurd auch deshalb, weil ja fast alle Parteien in Koalitionen zur Wahl antreten, inklusive AKP-MHP) und eine Rückkehr zur Politik angekündigt. In welcher Form diese erfolgt, ist noch nicht ganz fix: Vermutlich wird sie an die Spitze einer wiederbelebten alten Partei treten. Jedenfalls geht es ihr explizit darum, das potenzielle Wähler*innenpotenzial der IYI abzugraben und wieder für das Regime zu gewinnen.

Die dezisionistisch-polykratische Struktur

Ich hatte schon in „Türkisches Inferno“ analysiert, dass die politische Struktur in der Türkei zunehmend dezisionistisch und polykratisch ist. Dezisionistisch, insofern Entscheidungen von potenten Machtakteur*innen Regeln und Gesetze bestimmen, anstatt dass diese im Rahmen konstitutioneller und institutioneller Schranken ausgehandelt werden; polykratisch, insofern sich unter der Spitze der Macht, dem Präsidenten, eine Reihe an ebenfalls dezisionistisch agierenden Machtakteur*innen hervortun, die miteinander um Macht und Einfluss ringen, wobei Erdoğan als Schiedsrichter letzter Instanz über dem Kampfplatz thront. Diese Struktur ist eine Herrschaftsform sui generis und sollte als eine solche analysiert, nicht jedoch auf dem normativem Hintergrund eines konstitutionell-liberalen Regimes als defizitär abgetan werden. Eruptive und nicht objektiv-institutionell vermittelte Austragungen von Differenzen und Konflikten sind nur unter bestimmten Bedingungen dysfunktional für ein solches System, ansonsten aber Formen der Reproduktion desselben. Sich daher darauf zu verlassen, dass ein solches System per se instabil ist und zum Zusammenbruch neigt, ist eine gefährliche objektivistische Fehleinschätzung.

Wie zuvor gab Erdoğan in der dezisionistisch-polykratischen Struktur nicht nur durch seine Praxis, sondern auch durch öffentliche Ermunterung zu dezisionistischem Handeln den Ton an: „Wir sind vorangeschritten indem wir die Bürokratie Schritt um Schritt zerstört haben. Wenn nötig, müsst ihr das auch tun“, so Erdoğan jüngst zu AKP-Parlamentarier*innen, die sich über Hindernisse in der Verwaltungsbürokratie beschwerten. Ganz ähnlich tönte sein Wirtschafts- und Finanzminister Nebati im März 2022 zu Investoren: „Wenn ihr ein Problem habt, könnt ihr uns sofort kontaktieren. Das Thema, das mir am leidigsten ist: Regularien oder Bürokratie, die den Investoren Probleme bereiten. Lasst uns gemeinsam kämpfen, wir werden die Bürokratie zertrümmern. Seid beruhigt, der Präsident steht hinter uns. Die Regularien verändern wir auch, im Rahmen des Präsidialsystems schreiten wir schnell voran.“

Vor allem im Kampf um die Justiz hat es in der dezisionistisch-polykratischen Struktur in den letzten Monaten wichtige Veränderungen gegeben. Wie in den Jahren zuvor pochte auch jüngst der Vorsitzende des Verfassungsgerichtshofes, Zühtü Arslan, auf liberal-konstitutionelle Elemente im Staat, wie beispielsweise auf eine aufklärerische und unter allen Umständen freie Universität. Dies ist natürlich angesichts des Kampfes um den von Erdoğan eingesetzten, aber von der gesamten Universität abgelehnten Rektors an der Boğaziçi-Universität sehr brisant. Zugleich benannte Arslan, ebenfalls wie schon in den Jahren zuvor, die hohe Anzahl an Verletzungen des Rechts auf faires Gerichtsverfahren als großes Problem. Seit der Beförderung des glühenden Erdoğan-Anhängers Irfan Fidan zum Verfassungsrichter – ein ehemaliger Istanbuler Generalstaatsanwalt, der sehr offen zu politischen Zwecken und daher mittels eines sehr durchschaubar politischen Verfahrens eingesetzt wurde –, kippte das Kräfteverhältnis innerhalb des AYM aber zunehmend zugunsten des politischen Blocks, der in Grundsatzfragen über Menschen- und Freiheitsrechte ablehnend und im Sinne der (Staats-)Sicherheit entscheidet. Es wird gemunkelt, dass Erdoğan Fidan als AYM-Chef haben möchte und bloß mehr das Ende der Amtszeit von Arslan abwartet.

Auch zeichnete sich schon gegen Oktober letzten Jahres ab, dass der Justizminister Abdülhamit Gül im Machtkampf mit dem Innenminister Suleyman Soylu unterliegt. Gül wurde vom nationalistisch-autoritären Block im Staat als Blockade für die beabsichtigte zunehmende Repression sowie ihrer Kaderpolitik angesehen. Einer der Streitpunkte der letzten Monate war das von Soylu offen von Ortsvorsteher*innen eingeforderte dezisionistische Handeln, ohne auf Gerichtsprozesse und -entscheidungen zu warten (es ging um das Abreißen von angeblich rechtswidrig errichteten Gebäuden). Gül betonte hier den Vorrang der Rechtsstaatlichkeit. Ebenfalls stellte sich Gül gegen die erwähnten „Terrorismus“-Untersuchungen von Soylu gegenüber der Istanbuler Stadtverwaltung und andere rechtswidrige Vorgehensweisen. Ende Januar 2022 wurde letztlich seinem angeblichen „Gesuch auf Enthebung von Verantwortung“ statt gegeben, das heißt er wurde seitens Erdoğans von seinem Amt enthoben. Dem war ein Machtverlust des Blocks um Gül in der Hohen Justiz gegen den nationalistisch-autoritären Block vorausgegangen. Akteure wie Abdülhamit Gül oder Zühtü Arslan repräsentieren weniger eine bürgerlich-demokratische Opposition gegen die dezisionistisch-polykratische Struktur denn eine Nuancierung innerhalb derselben. Sie befürchten einen zu starken Hegemonieverlust, wenn der Dezisionismus außer Rand und Band gerät und visieren daher eine partielle Rücknahme oder Schwächung der allerextremsten Formen des Dezisionismus an. Offensichtlich hat der gemäßigte Flügel innerhalb der dezisionistisch-polykratischen Struktur mit der Amtsenthebung von Gül eine empfindliche Niederlage erlitten. Dem neu eingesetzten Bekir Bozdağ, der schon zwei Mal Justizminister in der AKP-Ära war, gab Erdoğan angeblich die Anweisung, die unter Abdülhamit Gül eingesetzten religiösen Kader zu säubern und eine Einheit der Justiz unter Führung der Konservativen und Nationalisten, aber auch einiger Sozialdemokraten herzustellen. Letzteres soll vermutlich dem Eindruck entgegenwirken, die Justiz würde von der AKP kontrolliert und dient damit der Beschwichtigung und Integration der bürgerlichen Opposition.

Mit der Amtsenthebung von Gül verbunden war auch die Amtsenthebung des Vorsitzenden des Statistikinstituts TÜIK, Sait Erdal Dinçer. Anfang 2022 wurde bekannt, dass Erdoğan wütend auf ihn sei, weil das von ihm geführte Institut zu hohe Inflationszahlen veröffentlichte. Erdoğan monierte, das TÜIK hebe in seinen Publikationen nicht klar genug hervor, dass die Inflation „künstlich“ und „von außen verursacht“ sei. Dabei steht das TÜIK seit langem von allen seriösen und unabhängigen Beobachter*innen in der Kritik; Grund dafür sind laut Kritiker*innen gezielt zu niedrige Zahlen. Der Amtsenthebungsentscheidung waren eine Reihe kleinerer Entscheidungen vorhergegangen, die alle eine politisch motivierte Manipulation mit makroökonomischen Zahlen beinhalteten: Neben den ständigen Ersetzungen der jeweiligen Finanz- und Wirtschaftsminister sowie Zentralbankgouverneure sickerten zum einen seit geraumer Zeit Informationen durch, wonach sich angeblich einige Mitarbeitende des TÜIK gegen die Zahlenmanipulationen des TÜIK stellten und dafür gefeuert wurden. Zum anderen wurde, ähnlich wie bei den Inflationszahlen vor einigen Jahren, die Berechnung der Auslandsschulden kosmetisch geschönt, wobei die betreffenden Eckdaten dennoch schlecht blieben. Aber trotz aller Bemühungen um eine autoritäre Konsolidierung bleibt die populare Unterstützung für das Regime mangelhaft.

Restauration oder populare Demokratie?

Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und seinen Auswirkungen auf die breite Bevölkerungsmasse sowie dem Erfolg der Opposition in den neu gewonnenen Stadtverwaltungen spitzt sich der Hegemoniekampf zwischen Regime und Opposition zu. Der arithmetische Durchschnitt aller Wahlumfragen der letzten Monate zeigt, dass die Wahlstimmung eindeutig zuungunsten der AKP-MHP-Koalition gekippt ist (obzwar weniger verlässlich, kippen auch die Umfragen zur anstehenden Präsidentschaftswahl gegen einen Sieg Erdoğans). Selbst AKP-interne bzw. -nahe Umfragen zeigen, dass der AKP-MHP-Block, beziehungsweise Erdoğan als Präsidentschaftskandidat, bei den anstehenden Wahlen nur sehr knapp gewinnen könnten. Die Opposition ist daraufhin mutiger geworden: Der Chef der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, tritt zwischenzeitlich offensiver auf als gewohnt. Er besuchte mehrere staatliche Institutionen und wichtige Machtakteur*innen wie die Zentralbank, das TÜIK, das Bildungsministerium (Millî Eğitim Bakanlığı, MEB), die staatliche Fleisch- und Milchinstitution (Et ve Süt Kurumu) oder den TOBB, um Rechenschaft oder menschenwürdige Preise einzufordern und Hegemoniepolitik zu betreiben. Der Besuch bei TOBB war ein erster ernsthafter Versuch, die historisch AKP-nahen KMUs jetzt auf die Seite der Opposition zu ziehen. Gleichzeitig kündigte er zum ersten Mal an, rechtswidrig oder parteiisch vorgehende Bürokrat*innen bei Machtantritt zu bestrafen. AKP’ler*innen berichten davon, dass ihnen seit dieser Erklärung mehr Widerstand seitens der Bürokratie geleistet wird. Kılıçdaroğlu selbst berichtet davon, dass der Opposition seitdem immer mehr interne Unterlagen zu staatlich betriebener Korruption und klientelistischer Ressourcenverschwendung zugeschickt würden. Eine Serie an türkeiweiten Kundgebungen unter dem Titel „Stimme der Nation“ (Milletin Sesi) wurde, nach einem Auftakt in der südtürkischen Hafenstadt Mersin im Dezember 2021, bis auf weiteres verschoben, soll aber nach Ramadan (April-Mai 2022) mit der Forderung nach vorgezogenen Neuwahlen fortgesetzt werden. Auch in sonstiger Hinsicht gibt es Neuerungen: Zum ersten Mal seit Jahren hat die CHP die parlamentarische Unterstützung für die Verlängerung des Mandats für militärische Auslandseinsätze in Syrien und Irak über zwei Jahre verweigert, weil sie befürchtet, dass es im Vorlauf zu den anstehenden Wahlen (Sommer 2023) zu einem erneuten Kriegsszenario für die innenpolitische Mobilisierung kommen könnte. Zudem haben CHP und teils auch IYI nun öffentlich die HDP als legitime kurdische Repräsentation im Parlament zur Lösung der „Kurdischen Frage“ anerkannt.

Angepasster Hauptoppositionsblock

Dennoch: Die Taktik des bürgerlichen Hauptoppositionsblockes bleibt seiner Grundausrichtung nach paternalistisch und teilweise angepasst an den Autoritarismus und das autoritäre Erbe der Türkischen Republik. Eine Perspektive, die über die Restauration des Neoliberalismus hinausgeht, ist nicht anvisiert.

Inhaltlich betrachtet werden weiterhin Elemente des türkischen Nationalismus und Chauvinismus bedient: Hetze gegen syrische Geflüchtete und die oft geäußerte Absicht, diese (alle!) „mit Pauken und Trompeten“ oder „auf demokratischen Wegen“ in ihre Heimatländer zurückzusenden, sollte der Oppositionsblock an die Macht kommen, gehören zum politischen Alltag des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks. Dies trifft problematischerweise auf sehr hohe Zustimmung (mehr als 80 Prozent der Bevölkerung laut einer Umfrage). Mit dem Chef der faschistoiden MHP, Bahçeli, streitet Kılıçdaroğlu darüber, wer der echtere Nationalist ist. Auch in der Wirtschaftspolitik wird die Regierung wegen der abhängigen Finanzialisierung der Türkei dafür kritisiert, „anti-national und anti-autochton“ zu sein – dabei visiert der Hauptoppositionsblock die Restauration des Neoliberalismus und damit eben dieselbe abhängige Finanzialisierung an. Eine Stärkung von sozialen und Arbeiter*innenrechten inklusive der grundlegenden Revision der repressiven arbeitsrechtlichen und -organistorischen Bestimmungen (bzgl. Gewerkschaften oder des Streikrechts) findet sich bei diesen Parteien so selten wie im oben erwähnten Bericht des TÜSIAD. Noch bei einer der banalsten und simpelsten Protestformen, die Kılıçdaroğlu lancierte, namentlich über einige Tage hinweg seine Stromrechnung nicht zu bezahlen in Solidarität mit all jenen, die unter der massiven Erhöhung des Strompreises litten, machten die anderen mitte-rechten Oppositionsparteien nicht mit, weil sie den Protest angeblich zu „linkspopulistisch“ fanden. Ein erst vor eineinhalb Monaten deklariertes Manifest des Hauptoppositionsblocks für die Perspektive eines sogenannten „verstärkten parlamentarischen Systems“ bekundet zwar die Absicht der Zerschlagung des dezisionistischen Präsidialsystems, beinhaltet dafür aber weder einen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, noch auf die Probleme der Kurd*innen oder Alevit*innen, geschweige denn ein zum Neoliberalismus der 2000er-Jahre alternatives ökonomisches Programm.

Die Anerkennung der „Kurdischen Frage“ und der HDP bleibt auf sehr problematische Art und Weise inkonsequent (was Mesut Yeğen in seiner Auflistung der wohlwollenden Bezüge der Hauptopposition zur HDP nicht hinreichend berücksichtigt): Einerseits dient diese „Anerkennung“ dazu, Abdullah Öcalan und die PKK als Verhandlungspartner*innen grundlegend abzulehnen. „Nennt mich nicht Kılıçdaroğlu, wenn ich dieses Nest Kandil [Kandilgebirge im Grenzgebiet Türkei-Irak-Iran, mutmaßliches Hauptquartier der PKK; Anm. d. Aut.] nicht dem Erdboden gleich mache“, so Kılıçdaroğlu. Er verteidigt daher auch die derzeit laufende großangelegte Militäroffensive gegen das Kandilgebirge. Dabei ist es unwahrscheinlich, dass die PKK militärisch besiegt werden kann. Zudem genießen sie und Öcalan eine sehr hohe Zustimmung unter der kurdischen Bevölkerung. Auf die Kriegsoption zu setzen – wie es derzeit ja auch das Regime tut – wird daher nur den ewigen Krieg blutig fortsetzen und sicherlich nicht zu einem gesellschaftlichen Frieden beitragen. Andererseits ist aber auch die Anerkennung der HDP selbst nur halbherzig: IYI-Chefin Akşener betont, dass sie die HDP an der Seite der PKK sehen und die Nutzung des Worts „Kurdistan“ auf die „Terrororganisation“ (also die PKK) zurückgehe (was natürlich Humbug ist). CHP wie IYI unterstützten erneut die Aufhebung der Parlamentsimmunität einer HDP-Parlamentarierin wegen angeblicher „Terrorpropaganda“; die Kleinstpartei Gelecek Partisi (Zukunftspartei, GP) verteidigt bis heute aktiv die früher getätigten Aufhebungen der Parlamentsimmunitäten von HDP-Abgeordneten. Einer eventuellen Schließung der HDP wegen terroristischer Aktivität macht Akşener die Forderung zur Kondition, dass dann auch der Partei der Prozess gemacht werden müsse, die mit ihr den „Friedensprozess“ geführt habe – also die AKP –, anstatt den Verbotsprozess grundlegend abzulehnen. Und auch der TÜSIAD ist der Meinung, dass Türkisch weiterhin Amts- und Schulsprache bleiben, das heißt, Kurdisch nicht offiziell als gleichwertig zu Türkisch gelten solle. Da war sogar der TÜSIAD-Demokratiebericht 1997 weiter, da er die „Kurdische Frage“ als solche benannte und auch das Recht auf muttersprachlichen Unterricht anerkannte. Wie sich die Akteur*innen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mit solchen Haltungen vorstellen, die „Kurdische Frage“ gelöst zu bekommen, bleibt fraglich. Da ist dann auch die „Anerkennung“ der HDP nicht viel wert und mehr oder minder nur ein Feigenblatt für die Fortsetzung des türkischen Nationalismus. Letzterer ist nicht gottgegeben, sondern veränderbar: Eine Metastudie des Meinungsforschungsinstituts KONDA konnte aufzeigen, dass die Zustimmung zum „Friedensprozess“ in der Bevölkerung der Türkei innerhalb des letzten Jahrzehnts großen Schwankungen unterlag mit zeitweisen Spitzenwerten von bis zu 60 Prozent Zustimmung für denselben. Die AKP war einst mutiger als die heutige Opposition: Sie begann den „Friedensprozess“ in einer Zeit, als die Zustimmung zu diesem laut KONDA bei 30 Prozent lag. Sich stattdessen an den historisch und politisch erneut bewusst geförderten türkischen Nationalismus und Chauvinismus anzubiedern wie es die heutige Opposition teilweise tut, ist daher eine bewusste politische Entscheidung und ein bewusstes politisches Kalkül, aber keine objektive Notwendigkeit.

Formal betrachtet wird weiterhin Appeasement geübt an die ominöse „Einheit des Staates“ im Allgemeinen, an das Präsidialsystem im Besonderen:

Absurderweise stellten sich CHP wie IYI direkt auf Regierungsseite, als im Herbst letzten Jahres zehn Botschafter*innen die Türkei dazu ermahnten, sich bezüglich des Gerichtsverfahrens gegen den liberalen Mäzen Osman Kavala an die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu halten. Dieser forderte nämlich eine sofortige Haftentlassung. Dabei hatte doch die Türkei aus eigener Entscheidung heraus die Entscheidungen des EGMR als oberstes Gericht vertraglich akzeptiert. Osman Kavala blieb weiterhin aus purer autoritärer Willkür – nämlich zwecks Abschreckung großbürgerlich-liberaler Opposition – inhaftiert und die eigentlich recht zahnlose Erklärung der Botschafter*innen wurde gezielt zu einem riesigen Theater seitens des Regimes aufgeblasen, um mal wieder chauvinistisch-pseudoantiimperialistisch Stärke zu demonstrieren. Mittlerweile ist Kavala zu lebenslänglicher Haft unter erschwerten Bedingungen verurteilt worden. Gewollt oder ungewollt hat die Opposition mit solchen Verhaltensweisen diesem politischen Urteil zugespielt.

Dabei eiern die Hauptoppositionsparteien teils immer noch sogar beim ganz banalen Minimalpunkt der Bekämpfung des Regimes herum, gemeint ist die Abschaffung des Präsidialsystems. Der Chef der Saadet Partisi (Glückseligkeitspartei, SP), die aus derselben politischen Tradition kommt wie einst die AKP, hielt es unter bestimmten Umständen nicht für absolut ausgeschlossen, dass sie das Präsidialsystem unterstützen könnten; GP-Chef Davutoğlu bekundet, dass sie sich natürlich mit der AKP an einen Tisch setzen würden, wenn diese „ihre Meinung ändert“. Derselbe Kılıçdaroğlu, der rechtswidrig/parteiisch agierende Bürokrat*innen mit Verfolgung bei Machtübernahme bedrohte, sprach zugleich davon, dass er sich ganz allgemein und umfassend „aussöhnen“ (helalleşmek) möchte. Dass sich diese Aussöhnung nicht, wie von führenden CHP-Kadern behauptet, ausschließlich auf eine Versöhnung der polarisierten Massen der Bevölkerung ausrichtete, sondern durchaus auch die Entschärfung des popularen Antagonismus zu Staat und Erdoğan beinhaltete, wurde kurz darauf deutlich. Als die CHP ausnahmsweise mal eine Massenkundgebung veranstaltete, namentlich in Mersin im Rahmen der Milletin Sesi-Kundgebungen mit zehntausenden Beteiligten, da warnte Kılıçdaroğlu die kämpferische Menge davor, gegen das Statistische Amt zu wettern und einen Rücktritt Erdoğans zu fordern. Er hielt fest, dass jetzt nicht die Zeit des Kämpfens und des Konflikts sei, sondern die der Einheit und der Vereinigung. Aber wann sonst, wenn nicht in einer autoritär-faschistoiden Spirale und einer tiefen Wirtschafts- und Hegemoniekrise wäre denn die Zeit des Kämpfens?

Generell bleibt die Herangehensweise der beiden (mitte-)rechten Hauptoppositionsparteien weiterhin so, dass sie explizit Mobilisierungen auf die Straßen ablehnen. Hierzu äußerte sich CHP-Chef Kılıçdaroğlu erst kürzlich erneut ganz unmissverständlich: „Effektive Opposition ist das eine, ins Feld gehen etwas anderes. […] Ich möchte nur das eine: unser Volk soll entspannt bleiben, zumindest bis zu den Wahlen. Wir werden sowieso alle schwerwiegenden Probleme lösen, sobald wir an der Macht sind. […] Jetzt, kurz vor den Wahlen, dürfen wir uns nicht vom Palast [Erdoğans Präsidentenpalast; A. K.] provozieren lassen.“ Es war daher auch eine – freilich bisher einmalige – Überraschung, als die Diyarbakır-Sektion der oppositionellen Kleinstpartei Demokrasi ve Atılım Partisi (Partei für Demokratie und Fortschritt, DEVA) im Oktober 2021 eine Kundgebung organisierte – mit dem Verweis, dass nur der Protest auf der Straße etwas bringe, nicht der in den eigenen vier Wänden.

Das strategische Kalkül hinter der angezogenen Handbremse

Alle diese Dinge stellen nicht Schwächen oder Mängel der Hauptopposition dar, sondern ein klar durchdachtes politisches Kalkül. Es ist offensichtlich, dass Massenmobilisierungen für die Opposition nur in Frage kommen, wenn sie paternalistisch gegängelt und kontrolliert werden können, damit sie den hegemoniepolitischen Rahmen, der vom Hauptoppositionsblock eng abgesteckt wird, nicht verlassen. Der Hauptoppositionsblock visiert die Restauration des neoliberalen Regimes auf ökonomisch erhöhter Stufenleiter minus seiner derzeitigen dezisionistischen Struktur an, wobei aber autoritäre und nationalistische Ideologieelemente sowie eine die Bevölkerung nicht als aktives Subjekt anrufende politische Praxis beibehalten werden sollen. Diese sollen deshalb beibehalten werden, damit die Subalternen nicht selbständig und als aktive, gesellschaftsverändernde Subjekte gegenüber den Herrschenden auftreten können. Wo sich Nationalismus und Autoritarismus etabliert haben, erweisen sie sich neben ihrer repressiven Funktion gegen gegen-hegemoniale Akteur*innen als nützliche Formen, subalternen Konsens für ansonsten intern extrem ungleiche und entrechtende Regime herzustellen. Die ominöse und allseits beschworene Einheit des Staates, die nichts anderes als die Verewigung der Gängelung relativ selbständiger Politik und sozialer Kämpfe ist, gereicht zwar dem jeweils dominanten politischen Regime am meisten zum Vorteil, da es auch das Terrain bürgerlich-oppositioneller Politik enger absteckt. Die Opposition kann aber immer darauf hoffen, selbst eines Tages diese Ressource anzapfen zu können. Von selbst auf die hegemonialen Ressourcen von Nationalismus, Autoritarismus und Staatsfetischismus zu verzichten, das mag derzeit offensichtlich niemand im bürgerlichen Hauptoppositionsblock der Türkei.

(Links-)Liberale Analytiker*innen sind daher oft allzu vorschnell in ihrer Begeisterung für das Demokratisierungspotenzial des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks und seiner Erfolgsaussichten. Die kürzlich erfolgte vernichtende Niederlage des restaurativ-neoliberalen ungarischen Hauptoppositionsblocks, der als Vorbild des Blocks in der Türkei diskutiert wurde, hätte ein Weckruf sein können. Aber CHP-Chef Kılıçdaroğlu ist der Meinung, dass es keine Ähnlichkeiten mit der Situation in Ungarn gäbe, weil dort die Opposition hauptsächlich aus linken Parteien bestünde und die Wirtschaft in einem guten Zustand sei. Was sonst folgt daraus als dass die Hauptoppositionspartei eben auf eine rechte Politik und die Tiefe der Wirtschaftskrise vertraut als Garanten für einen Wahlsieg? Die Beschränkung der Kritik durch den Hauptoppositionsblock in der Türkei auf eine „Regierungs-/Verwaltungsunfähigkeit“ des Regimes und das Klientelkapital bei Übernahme nationalistischer und autoritärer Muster dient exakt der Dethematisierung der neoliberal-autoritären Grundlage der derzeitigen Gesellschaftsformation in der Türkei. Es bleibt sehr fraglich, ob eine solche Perspektive, die kaum einen positiven Entwurf für die Türkei – außer der Behebung der als Mängel wahrgenommenen autoritären Züge des Präsidialsystems – beinhaltet, die Menschen tatsächlich positiv begeistern und damit die Identifikation mit den Regimeparteien zugunsten eines neuen Konsens brechen kann.

Denn auch wenn die „negative Identitätsbildung“ bei AKP-MHP-Wähler*innen abnimmt (also Identifizierung mit AKP und/oder MHP aufgrund der Abgrenzung gegenüber den Oppositionsparteien), bleibt der Anteil der unter anderem trotz Abwendung oder Infragestellung von AKP/MHP unsicher oder schwankend verbleibenden Wähler*innen mit um die 20 bis 25 Prozent Anteil an allen Wahlberechtigten hoch. Eine Wähler*innenbewegung setzt, wenn überhaupt, dann zur rechtsnationalistischen IYI ein. Dabei ist die Unzufriedenheit bei AKP- bzw. Erdoğanwähler*innen insbesondere angesichts der vertieften Wirtschaftskrise – so wie im Rest der Bevölkerung auch – vergleichsweise hoch, das Wirtschaftsmanagement wird von (über) 80 Prozent als schlecht bewertet. Auch wird weiterhin über das marode Justizsystem und die Nutzung der Religion zu politischen Zwecken Unzufriedenheit geäußert. Eine pessimistische Sicht auf die Zukunft, insbesondere unter Jugendlichen, nimmt stark zu. Dennoch ist insbesondere unter AKP-Wähler*innen weiterhin der Glaube stark, dass es die Opposition nicht besser nne, beziehungsweise bei einem potenziellen Machtantritt „erneut“ massive Repression betreiben würde (in der Ideologie der AKP ist die Opposition Schuld an der Unterdrückung muslimischer Identitäten in der Vergangenheit). Fast die Hälfte der Bevölkerung weiß gar nicht, dass sich die bürgerlichen Oppositionsparteien auf einer gemeinsamen Konferenz zum Beschluss einer gemeinsamen politischen Strategie getroffen haben. Die teils auf Polarisierung, Chauvinismus, Angst und Panikmache basierende und von der AKP und Erdoğan aktiv hergestellte Identität unter ihren Wähler*innen hält, zumindest angesichts der Tiefe der Wirtschafts- und allgemeinen Hegemoniekrise, weiterhin erstaunlich gut. Sie ist daher weiterhin ein Beleg für die relative Autonomie des Politischen und der dem Politischen immanenten Vergegenständlichungen (Identitäten, Polarisierungen, Subjektivierungsformen etc.). Nur das Erkämpfen realer Handlungsmacht auf Grundlage einer positiven, inklusiven Perspektive und einer alternativen politischen Ökonomie für die Zukunft der Türkei kann jene Identität vollumfänglich aufbrechen und sie grundlegend durch neue ersetzen.

Sanfter Übergang oder radikaler Bruch?

Aber angenommen, die an das Bestehende angepassten Taktiken des Hauptoppositionsblocks würden aufgehen und die Wahlen von diesem Block gewonnen werden: Mit der geplanten Restauration des Neoliberalismus und der Fortsetzung autoritärer und chauvinistischer Elemente, ja vielleicht sogar mit einer nur halbgaren Abrechnung mit dem alten System werden all die hinreichenden Bedingungen der Möglichkeit eines erneuten autoritären backlashs reproduziert.

Es ist ein bekannter oppositioneller Akademiker, der ohne Scham offen ausspricht und einfordert, was unausgesprochen als reale Möglichkeit im derzeitigen Vorgehen des bürgerlichen Hauptoppositionsblocks mitschwingt: Namentlich bei einem (Wahl-)Sieg über Erdoğan diesem und seiner Familie Amnestie zu gewähren, um einen „sanften Übergang“ zu gewährleisten. Ein paar Linke seien bestimmt gegen diese besonders gewiefte Taktik, aber sie sei schon die wirklich vernünftige. Das Militär könne ja diesen Übergang überwachen. Die ungeheuerlichen Folgen, die eine solche Absegnung autoritärer Willkürherrschaft und des Klientelismus durch eine siegreiche Opposition dazu noch unter erneuter Gängelung des Militärs mit sich bringen würde, ist jenem Akademiker augenscheinlich nicht einen Gedanken wert. Man fragt sich: Ist es denn keine Lektion gewesen, dass die Straflosigkeit der Akteur*innen des „Tiefen Staates“ der 1990er jetzt dazu führt, dass derselbe brutalisierte Chauvinismus wieder um sich greift und zentrale Akteur*innen jenes „Tiefen Staates“ – Sedat Peker, Mehmet Ağar, Süleyman Soylu, Tansu Çiller und andere – heute wieder fröhliche Urstände feiern? Ganz zu schweigen davon, was die Jahrzehnte der Dominanz des Militärapparats innerhalb des Staates an Schaden angerichtet hat. Müsste man nicht gerade als Liberaler weit über das Präsidialsystem Erdoğans hinaus die konsequenteste und umfassendste Abrechnung mit dem nicht-liberalen Erbe der Türkei fordern, „Gerichtstag halten über uns selbst, Gerichtstag über die gefährlichen Faktoren in unserer Geschichte, nicht zuletzt über alles, was hier inhuman war“ (Fritz Bauer in Anlehnung an Henrik Ibsen), damit sich das Inhumane nie wieder wiederhole? Aber hier scheinen eben die Grenzen dieses angepassten Liberalismus auf.

In der Türkei gibt es indes genug Kämpfe und soziale Dynamiken, die das Potenzial haben, weit über die Dialektik zwischen autoritärer Konsolidierung und neoliberaler Restauration hinauszuweisen. Gerade der Zermürbung, Atomisierung und Zerschlagung dieses Potenzials dienen solche Entwicklungen wie die drakonischen Strafen im Zuge des Gezi-Prozesses. Eben deshalb ist die Massenmobilisierung und der aktive politische Kampf wichtig, um der Zermürbung und der Demoralisierung Einhalt zu gebieten. Denn das Potenzial jener sozialen Dynamiken und Kämpfe kann sich, auf Grundlage gemeinsamer Handlungsmacht und zu erkämpfenden Errungenschaften, durchaus mit den progressiven und demokratischen Elementen/Tendenzen in der AKP-MHP-Wähler*innenbasis verbinden und deren widersprüchliches Alltagsbewusstsein klarer von seinen reaktionären und chauvinistischen Elementen befreien. Damit können die Grundlagen für eine popular-demokratische Perspektive geschaffen werden. Das wird aber nicht klappen, wenn man sich opportunistisch oder gar aus Überzeugung an die rückständigsten und reaktionärsten Tendenzen innerhalb der Bevölkerung anpasst, statt in erster Linie das schon vorhandene und sich in jahrelangen Kämpfen bildende Oppositions- und Demokratisierungspotenzial zu schützen und aufzubauen. Dafür und für eine Ausstrahlung jenes Potenzials auch auf die Regimebasis bedarf es einer starken, koordiniert kämpfenden revolutionären Linken im Bündnis mit der kurdischen Bewegung. Die Stärkung dieses Bündnisses und seiner Beteiligten ist die einzige Garantie für die Demokratisierung der Türkei. Alles andere beherbergt die Gefahr der Fortsetzung oder Wiederholung der Tragödie.


Anmerkungen:

[1] Ich danke Axel Gehring und Johanna Bröse für viele, viele Rückmeldungen, Korrekturvorschläge und Kritiken.

[2] Im übrigen zeigen die klassisch neoliberal-populistischen „Gegenmaßnahmen“ der Regierung gegen die Auswirkungen der Inflation, dass die Regierung gegen alle ideologische Hybris sowie „Terrorismus“-Gedröhn angesichts sozialer Proteste sehr wohl weiß, wie drängend die sozialen und ökonomischen Probleme, die ja erst zu jenen Protesten führen, für einen Großteil der Bevölkerung geworden sind. Die Maßnahmen sind klassisch neoliberal-populistisch, weil sie nur sehr milde Elemente von Fiskalpolitik zwecks überschaubarer Umverteilung beinhalten, die zudem die Kapitalseite nicht berühren, anstatt auf kollektive Rechte oder gar Veränderungen in der Arbeitswelt zu setzen oder die Menschen selbst als aktive, gestaltende Subjekte anzurufen.

[3] Laut geltendem Gesetz darf ein Präsidentschaftskandidat nur zwei mal das Präsidentschaftsamt innehaben, außer er selbst löst das Parlament während einer seiner Amtszeiten auf und forciert vorgezogene Neuwahlen des Parlaments, wobei dann parallel dazu auch der Präsident neu gewählt wird. Erdoğan wurde 2014 zum Präsidenten gewählt und 2018 nochmal, aber zwischen beiden Wahlen fand die das Präsidialsystem einführende Verfassungsänderung statt. Daher wurde Erdoğan laut seinen Verteidiger*innen bisher nur ein mal gewählt nach derjenigen Verfassung, die die Auflage der zwei Amtsperioden beinhaltet, und kann daher noch einmal antreten. Die Kritiker*innen hingegen sind der Meinung, dass die Verfassungsänderung nichts am Tatbestand ändert, dass Erdoğan schon zwei mal Präsident war/ist und daher nicht erneut zur Wahl antreten kann.