Italien: Repression gegen Arbeitskämpfe
Ein Jahr nach Ausbruch der globalen Corona-Pandemie nehmen die durch die globale Krise ausgelösten sozialen Widersprüche weiter zu. Mit dem Ausruf des ersten italienweiten Lockdowns und der Schließung zahlreicher wirtschaftlichen Aktivitäten im März 2020 erlebte die Arbeitswelt erneut eine tiefgreifende Restrukturierung. Die kürzlich publizierten Statistiken des italienischen Statistikamtes Istat sprechen eine klare Sprache: Innerhalb eines Jahres (März 2020 – Februar 2021) gingen in Italien offiziell 456.000 Arbeitsplätze verloren (-2.0 Prozent); nur dank des zu Beginn der Krise eingeführten und seither anhaltenden Entlassungsverbotes ist diese Zahl nicht mindestens doppelt so hoch.
Dieser Stellenverlust hat in den letzten zwölf Monaten vor allem Arbeiter*innen mit befristeten Verträgen (-391.000 Personen, das entspricht -12.8 Prozent) und selbständig Arbeitende (-154.000 Personen entspricht -2.9 Prozent) getroffen. Einen großen Teil der informellen Arbeiter*innen, die ohne Arbeitsvertrag und unter prekären Bedingungen ihr Brot verdienen, werden aber von diesen Statistiken nicht erfasst.
Die Erosion der Arbeit wurde von einer massiven Zunahme inaktiver Arbeiter*innen begleitet (+403.000, das bedeutet einen Zuwachs von 3.1 Prozent). Als „inaktiv“ bezeichnet man diejenigen Personen, die weder arbeiten noch auf Arbeitssuche sind, da es schlicht keine Arbeit gibt. Die Inaktiven gelten statistisch nicht als Erwerbslose, darum ist dieser Indikator im letzten Jahr paradoxerweise auch massiv zurückgegangen (-10.5 Prozent).
Arbeitskämpfe in der Pandemie
Vor diesem Hintergrund brachen zu Beginn der Corona-Krise 2020 Arbeitskämpfe in verschiedensten Sektoren aus. Arbeiter*innen nicht „systemrelevanter“ Sektoren, wie beispielsweise der Luxuskleiderindustrien legten die Arbeit nieder, um die vorübergehende Schließung ihrer Betriebe und eine totale Lohnfortzahlung zu fordern. In den Großbetrieben wie bei Fiat in Pomigliano d'Arco bei Neapel forderten die Arbeiter*innen die Einhaltung von Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung des Virus im Betrieb. Arbeitskämpfe und Protestaktionen brachen auch in prekären Sektoren aus: Migrantische, meist papierlose Landarbeiter*innen forderten eine sofortige Regularisierung ihrer Arbeits- und Aufenthaltssituation und einen staatlichen Eingriff zur Verbesserung ihrer Unterkunfts- und Wohnsituation.
Besonders hervorzuheben ist der Kampf von Zehntausenden von rider (Arbeiter*innen in der Essenslieferung). Mit dem enormen Anstieg der Nachfrage nach Hauslieferungen während der Pandemie nutzten diese Arbeiter*innen die Gunst der Stunde, um bessere Anstellungs- und Beschäftigungsverhältnisse zu fordern. Nach Monaten der Arbeitsniederlegung, institutionellen Treffen und einem Prozess der Selbstorganisierung in unabhängigen Gewerkschaften sprach die Staatsanwaltschaft von Milano Mitte Februar 2021 ein Urteil aus, nach dem die delivery Plattformen die rider als unselbständige Arbeiter*innen direkt anstellen müssen und daher alle sozialen und gewerkschaftlichen Rechte zu garantieren sind. Es handelt sich um einen wichtigen Schritt im Kampf gegen das ausufernde Phänomen der Scheinselbständigkeit im Sektor.
Für die Kapitalist*innen steht viel auf dem Spiel: Ihre Bereitschaft, den Forderungen der Arbeiter*innen entgegenzukommen, stößt indes äußerst schnell an Grenzen und wird auch staatlich gestützt. Zwei jüngere Beispiele von Arbeitskämpfen zeigen dies deutlich. Es handelt sich dabei in erster Linie nicht um offensive Kämpfe mit selbst gewählten Zielen (Lohnerhöhung, Arbeitszeitverkürzung oder ähnliches), sondern um Mobilisierungen gegen hyper-ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und für die Einhaltung von gesetzlichen und tarifvertraglichen Mindeststandards. Die kämpfenden Arbeiter*innen wendeten dabei radikale Kampfformen an – und die staatliche Repression zum Schutze des Kapitals ließ nicht lange auf sich warten.
Kämpfen gegen kriminelle Organisationen
In Prato, in der Region Toskana, mobilisieren sich seit über einem Monat schon rund 30 pakistanische und bengalische Arbeiter*innen der chinesischen Druckerei Texprint. Sie fordern die Einhaltung der vom nationalen Tarifvertrag vorgesehenen Arbeitszeiten (8-Stunden-Tag, 5-Tage-Woche, Respekt der vorgesehenen Urlaubstage). Die Arbeiter*innen haben eine permanente Blockade des Wareneingangs und -ausgangs aufgebaut, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen: Arbeitstage von über 12 Stunden, keine Wochenenden und fehlende Arbeitsverträge. Am 10. März 2021 intervenierte jedoch die Polizei, um die friedliche Sitzblockade zu durchbrechen. Dabei wurden mindestens zehn Arbeiter*innen verletzt, zwei davon mussten ins Krankenhaus gebracht werden.
Die repressive Antwort des Staates auf die Proteste der Arbeiter*innen geschah just in dem Moment, in dem die Präfektur eine Untersuchung gegen Texprint wegen Verbindungen des Unternehmens zu kriminellen Organisationen einleitete: Es konnte eine direkte Verbindung zwischen einem Manager der Druckerei zur 'ndrangheta, der kalabrischen Mafia, nachgewiesen werden. Das Unternehmen weist diese Vorwürfe zurück. Es behauptet, es handle sich bei der Person um einen einfachen Mitarbeiter, so dass nicht das ganze Unternehmen zu haften hätte. Die Präfektur verordnete trotzdem den Ausschluss des Unternehmens aus dem Wettbewerb um öffentliche Aufträge. Tatsächlich hatte Texprint im letzten Herbst einen Auftrag im Wert von 354.000 Euro für die Produktion von Anti-Corona-Masken an Land gezogen. Gleichzeitig wurde aber für die Arbeiter*innen, die bei der Basisgewerkschaft Si Cobas (Sindacato intercategoriale – Comitati di base, eine alternative, branchenübergreifende Basisgewerkschaft) Mitglieder sind, Kurzarbeit mit der Begründung „Covid-19“ beantragt.
Dass das Unternehmen seine Profite durch unrechtmäßige Geschäfte erzielt, war im letzten Januar auch schon dem regionalen Arbeitsinspektorat aufgefallen. Bei einer Kontrolle im Betrieb hatte es die ausbeuterischen Bedingungen protokolliert und notiert, dass die Arbeiter*innen das Ende des illegitimen Gebrauchs von Lehrverträgen fordern; ein Mechanismus, den die Betriebe nutzen, um weniger Lohn zu zahlen und die prekären Bedingungen beizubehalten.
Anzeigen gegen Gewerkschaftsaktivist*innen
Das Beispiel eines zweiten Arbeitskampfes macht deutlich, dass die repressive Faust des Staates auch in dem seit Jahrzehnten expandierenden Logistiksektor zuschlägt. Die wachsende ökonomische Bedeutung des Sektors wird schon seit Jahren von wichtigen Kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und für die Regularisierung der migrantischen Arbeit begleitet. Besonders in den Lagerhäusern der großen multinationalen Unternehmen in Nord- und Mittelitalien organisierten und mobilisierten sich vornehmlich migrantische Arbeiter*innen. Auch die Pandemie konnte das Wachstum nicht bremsen, im Gegenteil: Die Zunahme des Konsums über den Warenkauf auf den digitalen Plattformen haben die Arbeitsrhythmen in den Lagerhäusern nur intensiviert – und somit auch das Konfliktpotential innerhalb der Betriebe.
Mitte Februar 2021 gewannen die Arbeiter*innen der Lagerhäuser von Tnt in Piacenza einen wichtigen Kampf. Im Fusionsprozess der zwei global players der Logistik – Tnt und FedEx – wurden in ganz Europa Arbeiter*innen entlassen. In Piacenza hatten sich die Lagerarbeiter*innen 13 Tage lang mit radikalen Aktionen gewehrt (unter anderem mit der Blockade der Warenzirkulation) und konnten dadurch die Massenentlassung verhindern. Mit aller Entschlossenheit führten sie den Kampf fort und erhielten sogar vertragliche Verbesserungen – eine Seltenheit angesichts der in diesen Krisenzeiten kaum vorhandenen Bereitschaft der Unternehmen, den Forderungen der Arbeiter*innen gegenüber Zugeständnisse zu machen.
Am 10. März kam aber die Rache in Form einer gewalttätigen staatlichen Repression. Die Staatsanwaltschaft leitete in Anschluss an den 13-tägigen Kampf Untersuchungen gegen insgesamt 29 Arbeiter*innen und Aktivist*innen der Basisgewerkschaft Si Cobas ein. Die Anklage lautet: Widerstand gegen Beamte, schwere Körperverletzung und Gewalt, unrechtmäßige Besetzung von öffentlichem Grund. Zudem wurden Bußgeldstrafen in der Höhe von mehr als 13.000 Euro pro Person wegen „Verstoß gegen Anti-Corona-Regeln“ verteilt. Die Polizei führte insgesamt 21 Hausdurchsuchungen durch; Arafat und Carlo, zwei Aktivisten von Si Cobas, wurden gar unter Hausarrest gestellt.
Das Urteil ist höchst politisch motiviert: Der Staat setzte damit das im Jahr 2019 eingeführte sogenannte Salvini-Gesetz durch. Das auch unter der Bezeichnung „Sicherheitsdekret“ bekannt gewordene Gesetz wurde stets in Verbindung mit dem Angriff auf die grundlegenden Rechte von Geflüchteten diskutiert; oft blieb unbeachtet, dass dieses Dekret auch das fundamentale Streikrecht und die damit einhergehenden Kampfformen wie Straßen- und Betriebsblockaden angreift. Die Staatsanwaltschaft von Piacenza setzte nun in diesem Fall genau dieses Sicherheitsdekret durch, obwohl sie in ihrer öffentlichen Stellungnahme erklärt, dass die Anzeigen in keinem Zusammenhang mit der rechtmäßigen Ausübung der gewerkschaftlichen Rechte stehen, sondern „die Blockade der Lastwagen mit gewalttätigen Methoden, bis zum schlimmen Widerstand gegen Ordnungskräfte“ (sic!) betreffen.
Den Konflikt zuspitzen!
Die beiden Beispiele zeigen, wie sich der krisengeprägte Kapitalismus derzeitig entwickelt und wie Unternehmen sowie staatliche Strukturen darauf reagieren: Angriffe auf die Arbeits- und Lohnbedingungen, Unterdrückung der autonomen Organisierung der Klasse und Kriminalisierung radikaler Kampfformen. Wie kann man diese Entwicklungen einordnen?
Die Kämpfe der Arbeiter*innen brachen in Sektoren aus, in denen die Gewinnmargen fast ausschließlich über gesetzeswidrige Methoden der Arbeitsorganisation erhöht werden. Es gehört mittlerweile jedoch zur Normalität, Arbeiter*innen ohne Verträge anzustellen oder Vertragsformen zu benutzen, mit denen tiefe Löhne bezahlt oder gesetzliche Mindeststandards (Arbeitszeiten, Sozialbeiträge usw.) untergraben werden. Dies geschieht im Dienstleistungs- und im Logistiksektor, aber auch in der Landwirtschaft, im Care-Sektor und vermehrt auch in denjenigen industriellen Branchen, in denen bis vor einigen Jahren noch stabile Normalarbeitsverhältnisse vorherrschten. Der krisengeprägte Kapitalismus kann sich die alte Normalität nicht mehr leisten.
Diese seit Jahren schon vorherrschende Arbeitsorganisation antizipiert gewissermaßen die Ankündigungen des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank und aktuellen Ministerpräsidenten Italiens, Mario Draghi. Bei Amtsantritt Mitte Februar 2021 legte er seine Karten gleich offen. Seine strukturellen Reformen der industriellen Beziehungen verfolgen zwei Ziele: Erstens die Stärkung der betrieblichen Lohnabsprachen zu Ungunsten der Branchen-Tarifverträge. Dies hat zur Folge, dass auch innerhalb einer Branche vermehrt konkurrierende Arbeits- und Lohnverhältnisse vorherrschen. Zudem ist die Kontrolle der gesetzlichen Mindeststandards und ihrer tatsächlichen Durchsetzung auf der betrieblichen Ebene viel schwieriger – vor allem in Italien, wo Klein- und Kleinstbetriebe die Mehrheit der Ökonomie tragen. Zweitens verfolgt Draghi eine Politik der Lohnmäßigung mit dem Argument, den „Standort Italien“ und somit die Exportorientierung der italienischen Wirtschaft zu stärken.
Der Angriff auf die gewerkschaftlichen Rechte reiht sich in diese Bestrebungen der italienischen Bourgeoisie ein, die Position der italienischen Ökonomie im internationalen Wettbewerb neu zu regeln. In diesem Prozess der Restrukturierung ist es unausweichlich, dass Kämpfe ausbrechen müssen – gerade im Kontext der globalen Pandemie, die die sozialen und ökonomischen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft noch einmal stark verschärft hat.
Dass diese Kämpfe in erster Linie von migrantischen Arbeiter*innen und ohne Mitwirkung der großen Gewerkschaftsverbände ausgehen, ist zwar nicht neu, weist aber nochmals darauf hin, dass die Gewerkschaften das Feld des Klassenkampfes aufgegeben haben und sich nur noch um institutionelle Repräsentanz kümmern. Ihre kritiklose Unterstützung für die neue Regierung der „nationalen Einheit“ kam in den Worten des Cgil-Chefs Maurizio Landini (Cgil: Confederazione Generale Italiana del Lavoro, der italienische Gewerkschaftsbund) zum Ausdruck: „Draghi kann Italien aus der Arbeitsprekarität rausbringen.“
Dies eröffnet neue Möglichkeiten für konfliktorientierte Basisgewerkschaften und klassenorientierte politische Organisationen, die es zu nutzen gilt. Konkret heißt das, sich als linke politische Organisation oder Basisgewerkschaft stets auf die Seite der kämpfenden Arbeiter*innen zu stellen, ihnen jegliche Form der Unterstützung zuzusichern (logistisch, medial und so weiter) und ihre Forderungen hinaus aus den engen Mauern des Betriebes, hinein in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Denn der Pandemie-Kapitalismus hat gezeigt, dass jeder ökonomische Kampf zutiefst politisch ist und auch als solcher ausgetragen werden muss.
22. März 2021: Italienweiter Streik bei Amazon
Am Montag, dem 22. März 2021, soll bei Amazon alles still stehen. Der Streik beim grössten Logistikunternehmen weltweit soll alle Arbeitskategorien betreffen, von den Lagerarbeiter*innen bis zu den Paketzusteller*innen.
In Italien arbeiten rund 40.000 Arbeiter*innen für Amazon. 9.000 davon sind direkt bei Amazon Italia Logistica in den Lagerhäusern angestellt. Dazu kommen weitere 9.000 Zeitarbeiter*innen, diese kommen mittlerweile aber nicht mehr nur während den Festtagen wie Weihnachten zum Einsatz, sondern gehören zur Stammbelegschaft, obwohl sie unter schlechteren Bedingugnen angestellt sind. Rund 19.000 Personen arbeiten als Paketzusteller*innen für Amazon, ohne direkt bei Amazon angestellt zu sein, da sich das multinationale Unternehmen auf eine Pluralität von Betrieben stützt, um die Zustellung zu organisieren.
Mit dem italienweiten Streik wird zweierlei gefordert: Erstens ein monitoring der Arbeitsrhythmen und Arbeitsbelastungen, denn mit dem Ausbruch der Pandemie hat sich das Arbeitsvolumen verdoppelt, die Zahl der Arbeiter*innen jedoch nicht; zweitens einen Rahmentarifvertrag, der die Arbeits- und Lohnbedingungen aller für Amazon tätigen Arbeiter*innen harmonisiert.