„Hört uns noch jemand?“
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Zwei Jahre ist es nun her, dass in einer Nacht von Sonntag auf Montag um 4:17 Uhr ein Erdbeben der Stärke 7,7 mit dem Epizentrum in Kahramanmaraş elf Provinzen im Südosten der Türkei und auch Teile Nordsyriens stark erschütterte. In Kombination mit mehreren schweren Nachbeben wurden dabei nach offiziellen Angaben 53.725 Menschen getötet und 107.213 Personen verletzt. Während zum ersten Jahrestag die mediale Aufmerksamkeit noch vorhanden war, scheint es nun so, als sei das tödlichste Erdbeben in der Geschichte der Republik Türkei bereits mehr oder minder ad acta gelegt. Vielleicht weil die betroffenen Regionen weit entfernt von den Metropolen Istanbul, Izmir oder Ankara liegen. Doch für die Menschen vor Ort geht der alltägliche Kampf um ein menschenwürdiges Leben weiter, ebenso wie ihr Kampf darum, nicht in Vergessenheit zu geraten. [1]
Wiederaufbau
Bereits im Frühjahr 2023 versprach Präsident Erdoğan – mitten im damaligen Wahlkampf -, seine Regierung würde in nur einem Jahr 319.000 neue Wohnungen bauen lassen. Die aktuelle Bilanz zeigt, dass dieses große Versprechen bis heute nicht eingehalten wurde. Aktuell wurden laut Murat Kurum, Minister für Umwelt und Stadtplanung, etwas mehr als 200.000 Wohneinheiten fertig gestellt. Diese Häuser der staatlichen Baubehörde TOKİ (Toplu Konut İdaresi Başkanlığı) werden im Losverfahren vergeben. Die Schlüsselübergaben werden immer wieder medial groß inszeniert, was jedoch die Tatsache verdecken soll, dass bei weitem nicht für alle Geschädigten eine neue Wohnung zeitnah in Aussicht steht. Und selbst wer das Glück hat, eine Wohnung zugelost zu bekommen, der bekommt diese nicht geschenkt, sondern muss sich zum Kauf der Immobilie verschulden, was sich nicht jeder leisten kann. Wegen des übertriebenen Versprechens, das von Beginn an auf einer unrealistischen Einschätzung beruhte, verlief die Plan- und Bauphase völlig unkoordiniert. Bauen ohne Garantierung erdbebenresistenter Konstruktionsweise und ohne Überprüfung der Untergrundbeschaffenheit, aber dafür schnelle Gewinne für die Baufirmen: Es waren genau diese Fehler beim Bau der Häuser, die schon einmal begangen wurden und schließlich zum Einsturz zahlreicher Gebäude am 6. Februar 2023 führten.
Die chaotischen Verhältnisse beim derzeitigen Wiederaufbau spiegeln sich auch in der gesamten Infrastruktur der Stadt wieder. Häufig kommt es zu Unfällen von Baufahrzeugen auf maroden, schlecht beleuchteten Straßen. Für die lokale Bevölkerung stellt dies massive Probleme dar. Viele Schulkinder fahren täglich per Anhalter zur Schule, weil es kaum ausreichende öffentliche Verkehrsmittel gibt. Für Frust sorgt ebenfalls die Beobachtung, dass repräsentative Straßen beispielsweise im Stadtzentrum von Antakya plötzlich asphaltiert werden, nur weil sich zum Jahrestag des Erdbebens hochrangige Politiker für einen kurzen Besuch angekündigt haben. Forderungen der Stadtbewohner*innen werden hingegen seit Monaten überhört.
Containerstädte – (k)eine Übergangslösung
Die als Übergangslösung gedachten Container, in denen die Menschen untergebracht wurden, sind mittlerweile zu einer vermeintlichen Dauerlösung geworden. Über 200.000 Menschen leben allein in Hatay noch in solchen Containern. Auf 20m² Wohnfläche kommen oft ganze Familien, die den beengten Wohnraum noch mit provisorischen Zelten versuchen zu erweitern. Bei starken Regenfällen kommt es dort zu Überschwemmungen und Stromausfällen; einige Straßen sind aufgrund fehlender Kanalisation dann nicht mehr befahrbar. Die linke Organisation Halkevleri bezeichnet diese Containerstädte als „halboffene Gefängnisanlagen“. Fehlende Isolierung und ungeprüfte Stromleitungen haben in den vergangenen Monaten immer wieder zu gefährlichen Bränden in den Containerstädten geführt.
Die beengten Wohnverhältnisse haben sich schnell auf die Gesundheit der Menschen ausgewirkt. Infektions- und Hautkrankheiten häufen sich, meist bedingt durch unhygienische Zustände in den Containern, in denen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben müssen. Eines der größten Probleme ist der extrem hohe Anteil von Giftstoffen wie Asbest, die durch die Massen an Trümmern und Schutt der eingestürzten Gebäude in die Luft geraten sind. Dadurch ist das Krebsrisiko für die Bevölkerung noch für Jahrzehnte sehr stark gestiegen. Die Luftverschmutzung in Hatay beträgt das Vierfache des von der WHO vorgegeben Grenzwertes für gesundheitsschädliche Luftqualität. Auch das Leitungswasser ist mittlerweile nicht mehr trinkbar, da die schädlichen Stoffe aus dem Schutt ins Grundwasser gelangt sind.
Auch in anderen Hinsichten sind die Lebensumstände für vieler prekär. Bei einer gemeinsamen Untersuchung der Ärztekammer Hatay (Hatay Tabip Odası, HTO) und der Gewerkschaft für Gesundheitspersonal Hatay (Sağlık ve Sosyal Hizmet Emekçileri Sendikası Hatay Şubesi, SES) in den Bezirken Samandağ, Antakya-Merkez und Defne unter rund 600 Familien wurde ermittelt, dass Dreiviertel der Befragten keiner gesicherten beziehungsweise regelmäßigen Arbeit nachgehen. Außerdem beobachteten sie Unterernährung von Kindern. Auch die Kindersterblichkeitsrate sei in Hatay doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Türkei. Da ein Großteil der Krankenhäuser während der Erdbeben eingestürzt ist, aber bisher nur wenige neue Gesundheitszentren gebaut wurden, fehlt es an ausreichender Infrastruktur. Das Personal vor Ort verdient im Durchschnitt 30% weniger Lohn als in anderen Provinzen der Türkei, weshalb es starken Personalmangel gibt. Laut dem Türkischen Statistikamt TÜIK besitzt die Provinz Hatay die schlechteste Gesundheitsversorgung des Landes. Auf keinen Fall außer Acht zu lassen ist die psychische Belastung. Gerade junge Menschen scheinen hier besonders betroffen zu sein, was auch die zunehmende Zahl an Schulabbrüchen verdeutlicht. Der Zusammenbruch des gewohnten Umfeldes, sowie die Perspektivlosigkeit vor Ort führen zu Alkohol- und Drogenabhängigkeit; auch die Suizidrate ist angestiegen.
Der Kampf um Gerechtigkeit
Zahlreiche lokale Initiativen haben diverse rechtliche und politische Kämpfe für ihre verstorbenen Angehörigen, für die Umwelt in der Region Hatay und für ihren Grundbesitz aufgenommen. Wie stark die Windmühlen sind, gegen die die Geschädigten auch vor Gericht kämpfen, zeigt eine Übersicht der Nachrichtenagentur Anka Haber Ajansı. In den letzten zwei Jahren wurden zwar eine handvoll Bauherren zu Haftstrafen zwischen acht und 21 Jahren verurteilt, doch es gab auch Freisprüche wegen vermeintlich mangelnder Beweislage und Verantwortliche, die einfach abgetaucht sind. Das größere Probleme ist jedoch, dass es auf politischer Ebene bis heute keine Konsequenzen gegeben hat.
Der Halkevleri-Bericht kommt daher zu dem Schluss, dass die Untätigkeit der Strafgerichte in Hatay die Schuldigen schützt und die Kläger*innen Hoffnung und Vertrauen in die Justizbehörden verlieren. So lassen die Kläger*innen die Klagen schlussendlich auch aus finanziellen Gründen fallen. Eine andere Initiative wiederum kämpft gegen die staatliche Enteignung von Grundbesitz, der nicht selten als Agrarfläche genutzt wurde. Dort sollen neue Gebäude entstehen, während den lokalen Eigentümer*innen die rechtliche Lage bezüglich etwaiger Entschädigungen nicht klar ist. Immer wieder kommt es zu spontanen Protesten der Dorfbewohner*innen, die auch eine Zerstörung ihrer lokalen Strukturen und gemeinschaftlichen Organisierung befürchten. Gerade den arabischen Alawit*innen und auch den christlichen Minderheiten wie der kleinen verbliebenen armenischen Gemeinde machen die staatlichen Enteignungspläne Angst, da sie auf eine lange Geschichte der Unterdrückung und Assimilierung von Seiten des türkischen Staates zurückblicken.
Das nächste Unglück steht vor der Tür
Politische Konsequenzen nach den schweren Erdbeben von 2023 können die verstorbenen Menschen nicht wieder zurückbringen und auch juristische Gerechtigkeit lindert den Schmerz über den Verlust nur wenig. Doch die enge Verstrickung zwischen korrupten Politikern und dem Bausektor, die seit jeher unter der Prämisse „Profite statt Menschenleben“ de facto Särge statt Wohnungen für die Menschen in der Türkei bauen, ist vor zwei Jahren unübersehbar geworden. Umso gefährlicher ist das Wissen, dass auch in Istanbul, der größten Metropole des Landes, ein Erdbeben derselben Stärke jeden Moment passieren kann. Erst kürzlich gab der Minister für Stadtplanung, Murat Kurum, zu, dass Istanbul darauf nicht ausreichend vorbereitet sei. Wohlgemerkt, das ist ein Minister der Partei, die seit den 1990er-Jahren bis 2019 das Bürgermeisteramt in Istanbul innehatte, sowie seit über 20 Jahren das Land alleine regiert. „Bedauerlicherweise“, sagte er, „könnten jederzeit 600.000 marode Gebäude in Istanbul einstürzen.“ Nach einer groben Schätzung würden bei dem zu erwartenden schweren Erdbeben in Istanbul drei Millionen Menschen sterben, was die größte zivile Katastrophe der Türkei bedeuten würde. Wie gefährlich nicht eingehaltene Sicherheitsstandards sind, sah man auch zuletzt bei dem Brand in einem Skihotel in Kartalkaya, bei dem 78 Menschen ums Leben kamen, weil den Betreibern die Kosten für den Brandschutz einfach zu teuer waren. Auch hier gab es keine Konsequenzen auf politischer Ebene, obwohl dem Hotel alle notwendigen Genehmigungen ausgestellt wurden.
Der Forderungskatalog der lokalen Initiativen in Hatay zeigt leider deutlich auf, dass es in den letzten zwei Jahren kaum merkliche Fortschritte beim Wiederaufbau und der Wiederherstellung lebenswürdiger Umstände gab. Die Menschen in diesen Regionen fühlen sich im Stich gelassen von der Zentralregierung in Ankara und fordern umfassendere Unterstützung.
Die Forderungen des „Vereins der Erdbebenopfer Hatay“ sind folgende:
- Anstelle der abgerissenen Familiengesundheitszentren müssen schnell neue gebaut werden. Qualifizierte und zugängliche Gesundheitsdienste müssen in Hatay zur Verfügung gestellt werden.
- Regelmäßige und nachhaltige psychosoziale Unterstützung muss uns, insbesondere benachteiligten Gruppen, zur Verfügung gestellt werden.
- Die Nutzung von Schulgebäuden zu anderen Zwecken als der Bildung muss verhindert werden. Unser Recht auf Bildung darf nicht angetastet werden.
- Die Meinung der Bevölkerung von Hatay muss bei den Umgestaltungsprozessen in Reserve- und Risikogebieten berücksichtigt werden. Wir wollen als die wahren Eigentümer*innen von Hatay beim Wiederaufbau unserer Stadt ein Mitspracherecht haben.
- Ein Sonderbudget aus der Staatskasse sollte für Hatay bereitgestellt werden.
- Während sich die allgemeine Wirtschaftskrise verschärft, muss die Benachteiligung von uns Erdbebenopfern aufhören.
- Die Infrastrukturprobleme der Stadt müssen schnell gelöst werden.
- Unsere Natur, Luft und Böden müssen nach dem Erdbeben geschützt werden; die Umweltzerstörung muss aufhören.
- Das Schicksal unserer Bürger*innen, die seit dem Erdbeben als verschwunden gelten, muss aufgeklärt werden.
- Unsere Rechte auf Unterkunft, Gesundheit, Umwelt und Information müssen geschützt werden; von der Verfassung garantierte Rechte dürfen nicht ausgesetzt werden.
- Die Verantwortlichen für die Versäumnisse nach dem Erdbeben müssen ermittelt und strafrechtlich verfolgt werden.
- Wo und wie die Erdbebensteuern verwendet werden, muss öffentlich gemacht werden.
- Die Menschen dürfen nicht dazu verdammt werden, in provisorischen Containerstädten zu leben, sondern es muss freier Zugang zu dauerhaften und sicheren Unterkünften gewährt werden.
- Unser Lebensstandard muss verbessert werden und unsere Grundrechte müssen garantiert werden.
Trotz all dieser Umstände beweisen die Menschen in Hatay seit zwei Jahren ihren unvergleichlichen Kampfgeist für Gerechtigkeit und ein menschenwürdiges Leben. Ein Slogan, den sie von Anfang an rufen und der auch heute wieder in den Straßen von Hatay erklingen wird, lautet „Ma rıhna nehna hon!” – „Wir gehen nicht fort, wir bleiben hier!“.
Anmerkungen:
[1] Die meisten der in diesem Text verwendeten Daten entstammen dem Bericht „Hatay’ı Gör!“ der linken Organisation Halkevleri, zu dem Vertreter*innen der Türkischen Ärzt*innenkammer, Anwält*innen, Architekt*innen, Umweltaktivist*innen, Gewerkschafter*innen und Journalist*innen beigetragen haben. Die Autor*innen bezeichnen darin die Erdbeben vom 6. Februar als eines der „größten sozialen Massaker in der Geschichte der Türkei“ und warnen davor, die aktuelle Situation zu normalisieren.