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Frieden - oder Friedhofsruhe?

Newroz 2024 Murat Bay

Für viele stellte der Aufruf des inhaftierten PKK-Führers Öcalan am 27. Februar 2025 eine große Überraschung dar. Dabei war der Aufruf Teil eines längeren Verhandlungsprozesses zwischen staatlichen Akteuren und kurdischen Politiker*innen. Der Prozess wurde – zumindest öffentlich wahrnehmbar – Ende 2024 auf Initiative von Devlet Bahçeli, Erdoğans Verbündetem von der rechtsextremen nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), angestoßen. Verblüffend war die Entwicklung daher schon im Herbst 2024: Immerhin lief Bahçeli einst immer mit einem Strick herum, mit dem er Öcalan aufhängen wollte. Ob schon längere Zeit zuvor Gespräche im Hintergrund liefen, ist stark umstritten, jedoch nicht unwahrscheinlich. In seinem Aufruf vom 27. Februar forderte Öcalan nun nicht nur eine Entwaffnung „aller Gruppen“, einschließlich der PKK, und eine Auflösung der PKK. Er rückte auch explizit von früheren Forderungen, etwa einer föderalen Lösung der „Kurdischen Frage“ in der Türkei, ab und scheint nun eine viel engere Perspektive zu vertreten: die einer Demokratisierung innerhalb der gegebenen staatlichen Strukturen der Republik Türkei. Auch an anderer Stelle weist der aktuelle Aufruf Öcalans weit über frühere hinaus: Auf Grundlage durchaus problematischer Interpretationen der Gegenwart konstatiert Öcalan zum ersten Mal explizit, dass die Zeit der PKK vorbei sei – das Ende der Sowjetunion und die Entwicklungen hinsichtlich der Freiheiten habe sie obsolet gemacht. Vor allem der letzte Punkt sorgt zurecht für starke Irritationen. Frühere Spekulationen, dass Öcalan den Aufruf auch an Rojava richtete – er spricht ja von „allen Gruppen“ –, scheinen durch die Tatsache bestätigt zu werden, dass Salih Müslüm von der PYD und Mazlum Abdi von der SDF positiv auf den Aufruf reagierten. Müslüm bot sogar an, sich selbst (also die YPG und YPJ) zu entwaffnen, wenn sie als PYD weiterhin als politische Organisation existieren dürften. Das Regierungslager jedenfalls erwartet Entwaffnung und Demobilisierung explizit auch in Rojava.

Während Intellektuelle, Liberale und die regierungsnahe Presse Öcalans Ankündigung lobten, herrschte unter Linken Uneinigkeit: Was ist geschehen? Hat Öcalan die Kurden verraten? Was, wenn nicht eine totale Kapitulation, könnte eine Selbstauflösung der PKK unter den derzeitigen Bedingungen in der Türkei bedeuten? Ich nahm diesen Artikel hauptsächlich deshalb in Angriff, weil viele meiner Freund*innen und Genoss*innen wegen Öcalans Erklärung überrascht und irritiert mit Fragen dieser Art an mich herantraten.

Die Vektoren eines inkohärenten Prozesses

Es macht Sinn, die Machtverhältnisse und das mögliche strategische Kalkül der Hauptakteure vor einem historischen Hintergrund zu betrachten, bevor man zu einem endgültigen Urteil kommt. Obwohl sich das Erdoğan-Regime seit Jahren in einer tiefen hegemonialen Krise befindet, wird gleichzeitig ein Prozess der autoritären Konsolidierung vorangetrieben. Im Rahmen dieses Prozesses wurde der Staat umstrukturiert und in stark autoritärer Weise um das von Erdoğan geführte Präsidialamt zentriert. Mit Ausnahme der Kommunalwahlen im Jahr 2024 wird dieser Prozess von den Wähler*innen unterstützt, wenn auch nur sehr knapp und unter sehr unfairen und teils auch unfreien Bedingungen des elektoralen Wettbewerbs. Gleichzeitig befindet sich die PKK in der Türkei seit Jahren auf dem Rückzug. In Syrien haben jüngst von der Türkei unterstützte Islamisten Assad gestürzt und die Macht übernommen. Man kann also derzeit festhalten, dass der türkische Staat und die Regierung aus einer Position der relativen Stärke heraus agieren, während die kurdischen Kräfte relativ geschwächt sind. Ich sage relativ geschwächt, denn dass die Kurd*innen in ihrer Existenz überhaupt anerkannt werden und auf eine Art und Weise, wenn auch auf schwacher Basis, mit ihren politischen und militärischen Führer*innen „verhandelt“ wird, das ist natürlich auch Ergebnis eines jahrzehntelang geführten Kampfes.

Aufgrund dieser Kräfteverhältnisse wird der aktuelle Prozess seitens der Regierung auch – ungleich früherer ähnlicher Versuche – nicht „Friedensprozess“ oder „Lösungsprozess“ genannt. Stattdessen heißt er „terrorfreie Türkei“ (terörsüz Türkiye/Terörden Andırılmış Türkiye). Nicht einmal das Wort „Prozess“ wird gebraucht – der würde ja eine Beteiligung mehrerer Partien mehr oder minder auf Augenhöhe und mit offener Perspektive nahelegen. Und dementsprechend läuft es derzeit auch ab: Die Forderungen der Regierung sind stark, die Angebote sind schwach. Es ist prinzipiell unklar, was der Staat als Gegenleistung für die Niederlegung der Waffen und die Auflösung der PKK anzubieten hat. Zumindest ist kaum etwas öffentlich kommuniziert worden, außer, dass Öcalan möglicherweise unter Hausarrest gestellt werden könnte. Derzeit wird jedenfalls tagtäglich posaunt, dass gar keine Deals und gar keine Gegenangebote staatlicherseits gemacht werden. Gerüchte von hinter den Kulissen deuten auf die Möglichkeit eines Ende der weit verbreiteten Praxis hin, gewählte kurdische Bürgermeister*innen durch von der Zentralregierung bestellte Beamte, die sogenannten Zwangsverwalter (kayyum), zu ersetzen; zudem auf ein Ende der Aggressionen gegen das kurdisch dominierte Nordsyrien, besser bekannt als Rojava, und vielleicht auf die Freilassung bestimmter Gefangener. Doch im Gegensatz zu früheren Verhandlungsprozessen ist nichts davon bisher deutlich artikuliert oder schriftlich festgehalten worden. Außerdem ist klar: Dass gewählte Bürgermeister*innen nicht durch Zwangsverwalter ersetzt werden, sollte keine Verhandlungsmasse, sondern nach Wahlen die übliche Praxis sein. Es wäre die Einhaltung von Minimalbedingungen bürgerlicher Demokratie und das auch nur in bestimmten Hinsichten. Eine solche Leistung im Gegenzug für Entwaffnung und Demobilisierung anzubieten, entleert den Begriff der „Demokratisierung“.

Auch direkte Äußerungen von AKP-Führungspersonen seit Öcalans Erklärung laufen darauf hinaus, dass man darauf wartet, dass sich die PKK selbst auflöst (Efkan Ala); verstärkend werden Drohgebärden in Richtung Rojavas und der PKK gemacht, sollte sich die PKK nicht oder nur zum Schein auflösen (Erdoğan). Diese und weitere Umstände, etwa das Fehlen vermittelnder Drittstaaten, das Fehlen von Verhandlungen mit konkreten Verhandlungspunkten oder die nicht vorhandene parlamentarische Beteiligung sind die materiellen Indizien, die darauf hindeuten, dass der Staat aus relativer Stärke heraus viel fordert und wenig bis nichts bietet. Zusammen mit der Fokussierung auf eine „terrorfreie Türkei“ sowie die Tatsache, dass wichtige Sprecher des Regimes wie der Präsidentenberater Mehmet Uçum betonen, die Kurd*innen seien Teil der türkischen Nation, lassen es mehr als fraglich erscheinen, dass der Staat eine wirkliche soziale Versöhnung der Völker oder einen sozialen Frieden anstrebt. Ganz zu schweigen von der politischen Bilanz der AKP und ihrer Verbündeten, die in den letzten Jahren die Reste der Demokratie in Grund und Boden gestampft haben. Warum aber haben sich Öcalan und die (PKK-nahen) kurdischen Kräfte in diesem Machtgefüge dann überhaupt auf diesen Prozess eingelassen?

Manövrieren in einer Zeit der Monster

Einerseits ist es gerade das kurz skizzierte Kräfteverhältnis, das den kurdischen Kräften diesen Prozess prinzipiell aufgedrängt hat. Darauf nicht einzugehen, riskiert beispielsweise eine militärische Eskalation in Rojava mit sehr sicher fatalen Folgen. Jede Partie verfolgt die internationale Politik, das ist keine Blauäugigkeit. Auch Erdoğan macht das deutlich, wenn er in Richtung Rojavas ganz unverblümt droht: Bald steht niemand mehr hinter euch, und dann sind wir, ihr in Rojava und wir, die Türkei, ganz allein miteinander in der Region. Er muss dabei nicht einmal explizit auf Trumps Umgang mit der Ukraine als Beispiel verweisen. Rojava weiß, dass es allein keinen Krieg mit der Türkei gewinnen kann. Andererseits muss die kurdische Seite auch aus hegemonialer Sicht auf das „Angebot“ des Staates reagieren. Die Forderung nach Frieden genießt in der kurdischen Bevölkerung ein hohes Ansehen. Ein Angebot des Staates in diese Richtung nicht anzunehmen, wie fraglich und zweideutig das Angebot auch sein mag, riskiert, Millionen kurdischer Wähler*innen an die AKP zu verlieren. Es sollte nicht vergessen werden, dass die AKP bei nationalen wie lokalen Wahlen in den kurdischen Gebieten der Türkei in den frühen 2000er-Jahren mit Versprechungen von Demokratisierung und Frieden zur stärksten Partei wurde.

Die kurdischen Kräfte müssen daher auf das Angebot von Staat und Regierung auf die eine oder andere Weise eingehen. Die entscheidende Frage ist aber, wie genau. Die PKK-Führung in den Kandil-Bergen hat die Initiative und insbesondere Öcalans Äußerungen und Forderungen zunächst weniger und dann mehr unterstützt. Gleichzeitig blieb sie skeptisch gegenüber dem Verlauf des Prozesses. Die PKK wies auf die offensichtlichen Schwächen hin: die fehlenden Garantien, die ausstehenden Gegenleistungen des Staates und die fortgesetzte Freiheitsberaubung Öcalans. Jetzt steht sie voll und ganz hinter Öcalans Erklärung. Was daraus im Konkreten folgt, das wird aber von der PKK ebenfalls nicht sehr klar ausbuchstabiert. Auch Öcalan betonte in einem, seinem Aufruf beigefügten, aber separat vorgelesenen Vermerk, die Auflösung der PKK und ihre Niederlegung der Waffen könne in praktischer Hinsicht natürlich nur in einem demokratischen Rahmen und bei entsprechender Rechtslage erfolgen. Auch die PKK fordert einen solchen Rahmen, inklusive einer Freilassung von Öcalan, die sie als unabdingbar für die Einberufung eines Kongresses sieht, auf dem eine Entwaffnung und Selbstauflösung beschlossen werden soll.

Aber wird der Staat diese Forderungen erfüllen? Und umgekehrt: Wird die PKK auf einem Kongress tatsächlich ihre Auflösung verkünden – oder eher ankündigen, dass sie es zu tun gedenken, aber nur, wenn der Staat die Bedingungen dafür schafft, etwa durch rechtliche Garantien für Guerillas und andere Zusagen? Und wie wird der Staat dann damit umgehen? Oder, in eine andere Richtung gedacht: Wird sich die PKK offiziell auflösen – aber inoffiziell Schattenstrukturen im Irak und Iran unterhalten oder zumindest Wege zur Re-Organisation schaffen, falls die Gespräche wieder scheitern? Was in Kolumbien nach dem Abkommen mit der FARC geschah, ist sicher vielen Beteiligten in Erinnerung: Die Paramilitärs setzten ihre Gewalt fort und die Garantien wurden nur teilweise eingehalten. Teile der FARC formierten sich daraufhin neu – wohlgemerkt unter weit schlechteren Bedingungen als zuvor. Ein wichtiger Unterschied in diesem Vergleich liegt natürlich darin, dass es in Kolumbien zumindest schriftliche Garantien gab. In der Türkei gibt es bisher noch nicht einmal welche.

Die Kräftematrix der Kalküle

Bei all dem ist Erdoğans Kalkül klar: Er will die Opposition spalten und weitere Unterstützung für eine Verfassungsänderung gewinnen. Diese würde es ihm erlauben, erneut für das Präsidentenamt zu kandidieren, ohne vorgezogene Neuwahlen auszurufen – zu Bedingungen, die es ihm legal wie elektoral leichter machen würden, die erste Runde des Präsidentschaftsrennens zu gewinnen. Daher macht auch der Zeitpunkt des derzeitigen „Prozesses“ total Sinn: Ein bis zwei Jahre dürfte es dauern, bis optimalerweise Ergebnisse des „Prozesses“ vorliegen; 2027 wird frühestens mit Neuwahlen gerechnet. Er hofft, für die Verfassungsänderungen wie auch elektoral die Kurd*innen zu gewinnen, denen er dann möglicherweise eine geringere Repression in den kommenden Monaten und Jahren oder andere kleinere Zugeständnisse in Aussicht stellen könnte. Umgekehrt hofft er darauf, die Zustimmung in seiner Basis stärken und halten zu können. Immerhin könnte er sich dann als den Friedenspräsidenten präsentieren, der den „Terror“ in der Türkei beendet hat.

Gleichzeitig wird das derzeitige sehr hohe Maß an Repression, auch gegen die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), sicherlich beibehalten werden. Ziel ist es nicht nur, ihre organisatorische und hegemoniale Stärke zu brechen, sondern auch Zwietracht unter den oppositionellen Kräften zu säen. Wenn sich Kurd*innen und Staat ohne die CHP einigen und der Staat die Kurd*innen besser oder zumindest nicht mehr ganz so schlecht behandelt wie zuvor, beziehungsweise wie die CHP, dann könnten sich in der CHP und vor allem in der CHP-Wähler*innenschaft alte Überzeugungen wieder verfestigen: nämlich, dass die Kurd*innen jederzeit bereit seien, sich mit Erdoğan für ihre partikularen Vorteile zu einigen und eine demokratische Zukunft des Landes zu verraten. Ganz zu schweigen vom Unmut der rechtsextrem-nationalistischen Teilen der Opposition außerhalb der MHP, die auch noch den für die Türkei vorteilhaftesten Deal mit der PKK aus Prinzip ablehnen, und jetzt schon ihre Opposition zum neuen „Prozess“ lautstark verkünden.

Die offizielle kurdische Politik hingegen könnte in ihrer Opposition zu Erdoğan vorsichtiger werden, um keine Verhandlungsoptionen zu verlieren. So war es letztlich bei Gezi 2013, als zwar die Kurd*innen auch en masse auf die Straße gingen, die „offizielle“ Politik der HDP anfänglich aber eine sehr vorsichtige und distanzierte war. Letztlich hätte es ein Einheitskandidat der Opposition im Präsidentschaftswahlkampf – und das wird nach derzeitiger Lage fast sicher der derzeitige Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu von der CHP werden – dann viel schwerer, als Sieger aus den Wahlen gegen Erdoğan hervorzugehen: Denn ein Einverständnis zwischen CHP und Kurd*innen wird erschwert werden, die rechtsextremen Nationalist*innen werden gespalten sein. Optimalerweise kommt es überhaupt nicht zu einem Einverständnis über einen Einheitskandidaten in der Opposition und Erdoğan gewinnt in der ersten Runde der Wahlen. So weit das Kalkül des Erdoğan-Lagers.

Die kurdischen Kräfte und darin vor allem die derzeit führende legale pro-kurdische Partei für Emanzipation und Demokratie der Völker (DEM) hingegen rechnen damit, dass sie durch Verhandlungen ihren politischen Spielraum erweitern und auch in der kurdischen Bevölkerung noch mehr hegemonialen Rückhalt gewinnen können. Die kurdische Bevölkerung ist und bleibt die wichtigste gesellschaftliche Basis der PKK wie auch der DEM. Es sind nicht Linke oder Säkulare, die die gesellschaftliche Hauptbasis von PKK und DEM bilden. Das darf man nicht vergessen. In zukünftigen Verhandlungen mit dem Staat oder der CHP könnte eine in ihrer Hauptbasis gestärkte DEM sich dann besser durchsetzen. Sie wäre dann, wenn sie zumindest Teile ihrer Forderungen nach Amnestie durchsetzen kann, um entwaffnete aber politisch militante, willensstarke und extrem fähige Kader der (dann wohl ehemaligen) PKK gestärkt. PKK-Führer geben zumindest deutlich die Ansage durch, dass sie weiter den politischen Kampf um Demokratie und Sozialismus in einer anderen Form führen werden, auch wenn sie sich entwaffnen und auflösen.

Aber die DEM ist natürlich auch nur menschlich, allzu menschlich. Vielleicht haben sich ihre Führungspersönlichkeiten ja auch wirklich in die Illusion hineinbegeben, dass hier eine ernstgemeinte Friedensabsicht vonseiten des Staates vorliegt – ganz ohne Kräfteverhältnisse und Machtkalküle. Öcalan ist eine herausragende Persönlichkeit der Geschichte der modernen Türkei und überhaupt der modernen Menschheitsgeschichte, wie es nur sehr wenige gibt. Es ist unmöglich, dass er die Kräfteverhältnisse und Machtkalküle nicht kennt und nicht mitbedenkt. Er versucht daher sicherlich, auf ihrem Hintergrund strategisch zu agieren. Aber auch er ist zugleich menschlich, allzu menschlich. Warum sollte er nicht darauf hoffen, dass er noch zu Lebzeiten zum Nelson Mandela der Türkei beziehungsweise der Kurd*innen (in der Türkei) emporsteigt? Vielleicht ist er ja auch ernsthaft bereit, den Preis zu zahlen, den auch Nelson Mandela zu zahlen bereit war: Aufgabe jedweden Anspruchs auf einen Zustand nach dem Kapitalismus sowie eine von Anfang an sehr riskante und potenziell nur sehr beschränkte Aufhebung rassistischer Gesellschaftsstrukturen. Auch das ist möglich.

Schuld und Sühne

Die politischen Entscheidungen und Kämpfe der kommenden Zeit werden zeigen, welches strategische Kalkül in welchem Ausmaß aufgeht. In jedem Fall sollte klar sein, dass Aussichten auf einen nachhaltigen Frieden und eine umfassende Demokratisierung auf der Grundlage der oben skizzierten Machtverhältnisse und Berechnungen nicht prioritär auf der Tagesordnung stehen. Daran sollte es keinen ernsthaften Zweifel geben: Eine durchgreifende Demokratisierung und ein dauerhafter Frieden werden mit Erdoğan und Bahçeli prinzipiell nicht möglich sein. Sie hätten Zeit genug gehabt, ihren Wunsch nach Demokratie praktisch zu beweisen.

Zugleich sollte man ihre Manövrierfähigkeit nicht unterschätzen: Sie können partiell nachgeben und kleinere Zugeständnisse machen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Erdoğan und Bahçeli auf ein Szenario ähnlich wie in Kolumbien zielen: Auf eine strukturelle Schwächung von bewaffneter Fundamentalopposition, zudem politische Stärkung der Rechten und des autoritären Regimes. Bestenfalls wollen sie allerdings gar keine Zugeständnisse machen. Daher sollte auch die Kakophonie der Stimmen aus dem Regierungs(nahen)lager – einige wollen abwarten, andere drohen exzessiv, Bahçeli dankt ganz lieb kurdischen Politiker*innen – und die weiterhin hohe Repression auch gegen Kurd*innen nicht als das Werk von konspirativen Saboteur*innen gegen den Prozess interpretiert werden, wie es einige DEM-Politiker*innen zumindest in ihrer öffentlichen Kommunikation machen. Es gibt keine Machtgruppen mehr im Staat, die bei so wichtigen Angelegenheiten wie dem derzeitigen Prozess ohne oder gar gegen Erdoğans und Bahçelis Zustimmung agieren könnten. Zuckerbrot und Peitsche, das ist das, was gerade staatlicherseits gemacht wird. Divide et impera, das ist das, was staatlicherseits anvisiert ist.

Dass es derzeit keine Perspektive auf einen nachhaltigen Frieden oder eine umfassende Demokratisierung in der Türkei gibt, ist aber nicht die Schuld der Kurd*innen. Kemalistische Thesen in dieser Richtung sind rigoros abzulehnen. Die Kurd*innen versuchen, aus den gegebenen Machtverhältnissen das Beste aus ihrer Sicht zu machen. Weder Republikaner*innen noch revolutionäre Linke waren seit Jahrzehnten stark genug, mehr zu erkämpfen oder besser mit den Kurd*innen zusammenzuarbeiten. Da kann man sich ruhig zu erst selbst an der Nase fassen, bevor man mit dem Finger auf den Kurden zeigt. Nur eine lagerübergreifende und kompromisslose Demokratisierungsagenda, die keine Zugeständnisse an nationalistische und reaktionäre Kräfte macht, gepaart mit der Einbettung in soziale und politische Kämpfe, könnte mehr aus den Umständen der heutigen Türkei machen. Doch seit Jahren haben die wichtigsten Oppositionsparteien es versäumt, eine solche Agenda ernsthaft in Angriff zu nehmen. Man kann das noch nachholen. Sonst riskiert man eben, mit einem reformierten Erdoğanismus weiterzuleben.