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Drei Mythen über die Corona-Krise. Teil Eins.

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Die Corona-Pandemie bringt für uns konstant Veränderungen mit sich: Im Tages- oder im Wochentakt werden neue Bedingungen und Regeln aufgestellt. Die meisten von uns verfolgen die Entwicklungen mehr oder weniger regelmäßig und versuchen, die Ereignisse und damit auch mögliche Szenarien der Krisenbearbeitung durch die Herrschenden einzuordnen und zu analysieren. Dabei gibt es auch Annahmen und Mystifizierungen, die es (zum aktuellen Zeitpunkt) zu hinterfragen und zu diskutieren gibt. Dieser Beitrag ist der Auftakt einer Reihe zum Thema. Obwohl sich einige der Aussagen sicher verallgemeinern lassen, beziehen sich die folgenden Überlegungen in erster Linie auf die Bundesrepublik Deutschland.


Mythos 1: Unsere Freiheit wird zunehmend eingeschränkt. Die Politik schlägt einen autoritären oder gar totalitären Kurs ein.


Ob sich die Machtapparate beziehungsweise die Herrschaftsstrukturen im Zuge der Pandemie in eine autoritäre oder totalitäre Richtung bewegen, hängt mit der Art der staatlichen Machtausübung zusammen, mit der wir es zu tun haben. Der französische Machtanalytiker Michel Foucault hat über mehrere Werke hinweg verschiedene Machtmodelle entwickelt und untersucht, die dazu hilfreich sein können. Interessanterweise legte er diese anhand des Umgangs mit verschiedenen Infektionskrankheiten dar. Sie lassen sich also gut auf das politische Handeln in der aktuellen Corona-Pandemie übertragen.Insgesamt finden sich in Foucaults Schriften drei Machtmodelle mit epidemiologischem Bezug, von denen vor allem das disziplinierende Pest-Modell und das liberale Pocken-Modell für die Analyse der heutigen Situation interessant und relevant sind.

Disziplinierung und Kontrolle

Das Pest-Modell der Machtausübung setzt auf umfassende Disziplinierung und Kontrolle der Bevölkerung. Die Peststädte des 17. und 18. Jahrhunderts wurden gerastert und parzelliert, verhängten eine strenge Quarantäne und ließen alle Parzellen-Übergänge kontrollieren. Die Behörden prüften und erfassten permanent den Gesundheitszustand der Bevölkerungsmitglieder: „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. Die Überwachung ist lückenlos“ (Foucault 1994: 251 f.). Das Pest-Modell beschreibt eine totalitäre Machtausübung.

Für die Annahme, dass sich die Corona-Politik in Deutschland in Richtung dieses Modells entwickelt, finden sich nur wenige Anhaltspunkte. Streng genommen kann die Quarantäne, die für Infizierte, enge Kontaktpersonen oder Reisende angeordnet wird, diesem Modell zugeordnet werden. Allerdings wird diese Maßnahme anlassbezogen sowie zeitlich begrenzt angewandt und betrifft entsprechend nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Verstöße gegen die Quarantäne-Anordnungen werden zwar geahndet, aber weitaus weniger drastisch sanktioniert als während der Pest-Epidemien. Einzelne Fälle, wie die infektionsbedingte Abriegelung eines Hochhauskomplexes in Göttingen, sowie die flächendeckende Schließung von Geschäften und öffentlichen Einrichtungen, entsprechen am ehesten diesem disziplinierenden Modell. Darüber hinaus gibt es auch Versuche, Maßnahmen durchzusetzen, die auf eine umfassende Disziplinierung und Kontrolle abzielen. Dazu gehören die Bestrebungen der ersten Pandemie-Wochen, eine verpflichtende Corona-App inklusive Preisgabe zahlreicher sensibler Daten einzuführen und ebenso die jüngsten Äußerungen des RKI-Chefs Lothar Wieler, der von der militärischen Abriegelung von Bezirken oder ganzen Städten fabuliert.

In der Regel haben kapitalistische Demokratien jedoch wenig Interesse an einem autoritären Wandel. Das heißt nicht, dass er ausgeschlossen wäre, wie die genannten Beispiele verdeutlichen. Derlei Maßnahmen sollten denn auch stets Gegenstand unserer Kritik und gegebenenfalls unseres Widerstands sein. Bevor wir aber voreilige Schlüsse über die Corona-Politik ziehen, sollten wir zur Kenntnis nehmen, dass diese Form der Machtausübung für den Kapitalismus, insbesondere in seiner neoliberalen Ausformung, allgemein wenig nutzbringend erscheint. Im Gegenteil, er profitiert sogar von liberal-demokratischen Ordnungen.

Statistische Kontrolle und Eigenverantwortung

Diesen Umstand greift Foucaults liberales Pocken-Modell auf. Die liberale Infektionsbekämpfungsstrategie, deren Modell sich vom administrativen Umgang mit den Pocken gegen Ende des 18. Jahrhunderts herleitet, besteht hauptsächlich in der statistischen Kontrolle ihrer Ausbreitung. Es werden vorbeugende Maßnahmen wie Impfungen und Aufklärungskampagnen angewandt und auf die Eigenverantwortung der Individuen gesetzt, denen entsprechende Freiheitsräume gelassen werden. Ziel dieser Strategie ist die Senkung der Infektionsrate, um die mit der Epidemie einhergehenden Risiken, insbesondere für die Wirtschaft, zu minimieren. Paradebeispiele für dieses Vorgehen in der aktuellen Pandemie sind das im Frühjahr von Regierung und Medien verbreitete „flatten the curve“-Modell, demzufolge die Neuinfektionen in kleineren Raten über einen längeren Zeitraum gestreckt werden müssten, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Darüber hinaus gibt es die Festlegung von Grenzwerten für Regionen, unterhalb derer es nur wenige Einschränkungsmaßnahmen für die Bevölkerung gibt. Selbst die Ausgangbeschränkungen zur Peak-Phase der ersten Welle in der Bundesrepublik entsprechen dem liberalen Modell, da es sich keineswegs um Ausgangssperren handelte und die individuelle Bewegungsfreiheit unter bestimmten Bedingungen erhalten blieb.

Gibt es also überhaupt einen Grund zur Beunruhigung angesichts dieses liberalen Vorgehens? Durchaus. In seinen Vorlesungsunterlagen vom Collège de France schrieb Foucault 1978/79: „Man kann sagen, dass es die Devise des Liberalismus ist, gefährlich zu leben.“ (Foucault 2004: 101). Das heißt, dass das Risiko nicht ausgeschaltet, sondern strategisch integriert wird. Die Frage ist dann aber: Auf wessen Kosten wird gefährlich gelebt? Freiheit bedeutet im Liberalismus vor allem wirtschaftliche Freiheit. Individuelle Freiheit untersteht dabei der Freiheit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen und die kapitalistisch produzierten Waren zu konsumieren.

Neoliberale Pandemiebekämpfung

Die Aufgabe der Politik ist in liberalen Demokratien, die Rahmenbedingungen für einen funktionierenden freien Markt zu schaffen und zu erhalten. Herrschaft wird rationalisiert und folglich – garniert mit den bürgerlichen Werten der Aufklärung – die Reichweite der staatlichen Macht begrenzt. Individuen, denen bestimmte, wohlkalkulierte Freiheitsräume zugestanden werden, lassen sich effizienter verwalten. Dabei ist Effizienz der Leitstern des Neoliberalismus. Zwang wird weniger vertikal von oben, sondern maßgeblich durch die alles durchdringenden Sachzwänge des Kapitalismus ausgeübt. Auch die Bekämpfung der Corona-Pandemie basiert auf einem Risiko-Management, das von einer bestimmten Infektions- und Sterberate ausgeht, sie als vertretbar hinnimmt und erst einschreitet, wenn wirtschaftliche Schäden abzusehen sind. Das heißt also auch, wenn zu vielen der im kapitalistischen Verwertungsprozess benötigten Arbeitskräfte gesundheitliche Risiken drohen.

Das liberale Macht-Modell impliziert eine zynische Abwägung der Gesundheit und des Lebens von Menschen gegen wirtschaftliche Risiken. Um die Rettung und den Schutz jeder Einzelnen, wie zum Beispiel Angela Merkel noch in ihrer Fernsehansprache im März behauptete, geht es dabei nicht. Das Leid der Einzelnen, die Kranken und Toten verschwinden hinter den nackten Zahlen. Allein die Infektionsrate entscheidet, ob ihr Leid politisch zu verschmerzen ist oder politischen Handlungsbedarf auslöst. Alles zum Schutz der Wirtschaft! Die Verlagerung der Corona-Beschränkungen – vor allem auch in der zweiten Welle und selbst im „Lockdown-Light“ – ins Private und die Hervorhebung der Eigenverantwortung im Alltag sind paradigmatisch dafür. Politiker*innen äußern inzwischen ganz unverhohlen, dass „wir“ uns einen zweiten Lockdown wie im Frühjahr nicht leisten können.

„Wir“ meint dabei natürlich die kapitalistische Unternehmerklasse, zu der sich freilich sowohl die Lohnabhängigen als auch die Politik in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Es soll Akzeptanz für die Priorisierung der Wirtschaft in der Bekämpfung der Pandemie-Folgen geschaffen werden. Dahinter steht zum einen die Behauptung, die Krise sei rein pandemie-bedingt: die Verantwortung für sie wird nach außen verlagert, auf eine höhere Gewalt, die da über uns kommt (für ein Virus kann ja keine*r was). Und zum anderen wird so das Narrativ gestärkt, dass eine gut funktionierende kapitalistische Wirtschaft gut für uns alle wäre. Privat sollen wir uns isolieren und zum Wohle der Wirtschaft auf vieles verzichten: Freund*innen, Soziale Kontakte, Kultur, Entspannungsmöglichkeiten – vieles, was dem Leben Freude und Sinn gibt (und zusätzlich oft Funktionen der Reproduktion der Arbeitskraft erfüllt). Und das mag aus gesundheitlicher Sicht notwendig sein; aber im krassen Gegensatz dazu sollen wir uns zugleich an unseren Arbeitsplätzen, auf dem Weg dorthin und zurück, täglich einem Ansteckungsrisiko aussetzen, die Gefahr von Krankheit und Tod hinnehmen, um fürs Kapital weiterhin produktiv zu sein.

Während derzeit wenig auf einen autoritären Umschwung unter dem Deckmantel der Notstandsbekämpfung hindeutet, sollten uns eben dieser Zynismus und die kalte Sachlichkeit des Kapitalismus Sorgen machen, die unser Leben vor, während und nach der Pandemie bedrohen. Die Pandemie ist lediglich ein Vergrößerungsglas des Umgangs mit Leben im Kapitalismus. Diese Einsicht muss insbesondere in Zeiten der Krise, aber auch darüber hinaus, Triebfeder unserer linken und antikapitalistischen Kämpfe sein.


Weiterführende Literatur:

Foucault, Michel (1994): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Foucault, Michel (2004): Die Geburt der Biopolitik. Vorlesung am Collège de France 1978 - 1979. Geschichte der Gouvernementalität 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp.