Zum Inhalt springen

Die Krise des politischen Schiitentums und der Kampf für das Recht auf Hoffnung

tahrirplatz irak.jpg Alex MacDonald

Die Massenproteste im Irak, die seit Oktober nicht abebben und bislang über 400 Todesopfer und zehntausende Verletzte forderten, stellen in vielerlei Hinsicht eine Zäsur in der jüngeren Geschichte des Landes dar. Im Hinblick auf ihre Ursachen tun sie dies allerdings nicht: Korruption auf allen Ebenen der Politik, hohe Arbeitslosigkeit und miserable Lebensbedingungen des Großteils der Bevölkerung sind die übergreifenden Quellen der sozialen Spannungen, die sich nun entladen. Die Proteste läuten eine tiefe soziale und politische Krise ein, deren Folgen weit über den Irak hinausreichen. In den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu Protesten, die auf diese oder jene Weise niedergeschlagen und beschwichtigt wurden. Diesmal jedoch scheint beides nicht mehr möglich zu sein.

Am 1. Oktober 2019 explodierten die ersten Demonstrationen gegen die irakische Regierung und insbesondere gegen den 77-jährigen Premierminister Adel Abdel Mahdi, der 2018 sein Amt angetreten hatte. Die Demonstrationen nahmen in der irakischen Hauptstadt Baghdad ihren Anfang und weiteten sich von dort in weitere Provinzen, hauptsächlich in den mehrheitlich schiitischen Süden, aus. Konkret wurde der Rücktritt Abdel Mahdis gefordert, der für die Protestierenden jedoch nicht nur die Regierung repräsentiert. Von Anfang an wurde deutlich, dass er als Teil eines über ihn hinausgehenden politischen Gleichgewichts zwischen staatlichen und nicht-staatlichen politischen Akteuren die „herrschende Ordnung“ als Ganzes symbolisiert. Das passiert nicht zuletzt deshalb, weil dieses Akteure in der „außerirdischen“ Green Zone (einem hochmilitarisierten Stadtteil Baghdads, Anm. Red) lokalisiert werden, in der die wesentlichen Institutionen der Macht ihr Dasein hermetisch abgeschottet und vermeintlich unabhängig vom Rest der Stadt und des Landes fristen.

Die tiefen Risse, die durch die Proteste einerseits sichtbar gemacht wurden und die diese andererseits in die Herrschaftsstruktur geschlagen haben – und das politische System damit in eine umfassende Krise stürzten –, erklären sich zum Großteil aus den verschobenen gesellschaftlichen Konfliktlinien: Die konfessionellen und ethnischen Feindseligkeiten, die insbesondere mit der US-Besatzung im Jahr 2003 institutionalisiert wurden, lösen sich mit den Protesten nach und nach auf und sind nicht durch bislang gewohntes Vorgehen zu übertünchen. Letzteres lässt sich beispielsweise an den Reaktionen der Sicherheitskräfte erkennen. Innerhalb der ersten drei Tage der Proteste zählte man bereits 38 Tote und hunderte Verletzte. Streitkräfte der irakischen Regierung (Polizei und Armee) und Paramilitärs, die auf Befehl der iranischen Milizen intervenieren, schossen mit Tränengaskanistern und scharfer Munition auf die protestierenden Menschenmengen. Ihre gnadenlose Antwort auf die Proteste stellt den unmittelbaren Grund für die Eskalation des Konfliktes dar und ebnete den Weg für einen massenhaften Aufstand gegen die herrschende politische und soziale Lage im Allgemeinen.

Die Gewalt der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden eskalierte noch einmal Ende November. In Nasiriya, im Süden des Landes, wurden 29 Menschen bei der Blockade einer Brücke getötet; in Najaf wurden 45 Menschen getötet, als die Protestierenden das iranische Konsulat stürmten; in Bagdad verloren schließlich vier Menschen das Leben. Die Sicherheitskräfte hatten mit scharfer Munition geschossen.

Verelendung der Massen und Korruption

Die protestierenden Massen befinden sich offensichtlich zwischen dem Hammer der brutalen Unterdrückung und dem Amboss der nicht zu ertragenden Lebensverhältnisse. Wie ist es dazu gekommen?

Große Teile der irakischen Gesellschaft leiden unter akutem Mangel der Befriedigung von Grundbedürfnissen: zumutbarer Wohnraum, Nahrungs-, Elektrizitäts- und Wasserversorgung, Bildung, Gesundheit, Mobilität, Sicherheit und so weiter. Ein Blick auf die ökonomische Struktur und Entwicklung des Irak lässt schnell erkennen, weshalb das der Fall ist. In Folge von Krisen, Kriegen und Sanktionen über einen Zeitraum von 40 Jahren hinweg sind die Kapazitäten der allgemeinen Waren- und Dienstleistungsproduktion im Irak im Grunde komplett zerstört worden. Durch die neoliberale Öffnung der Wirtschaft im Zuge der Besatzung und Teil des Plans seitens der USA, den Irak zu einem neuen Modell des Regime-Changes umzuformen – inklusive Integration in den Weltmarkt, wurden die verbleibenden Reste der Produktion einer globalen Konkurrenz ausgesetzt. Dies beschleunigte den Zerfallsprozess weiter.

Die Kriege und Krisen, wie zuletzt der Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) 2014 bis 2017, sorgten auch dafür, dass derzeit die Entwicklung eines produktiven Sektors unmöglich scheint. Zu den Folgen zählen zum einen fünf Millionen Binnengeflüchtete, die zum großen Teil noch immer unter extrem prekären Verhältnissen in Lagern leben müssen. Andererseits verstärken derartige Konflikte auch die Zerstörung der Produktivkräfte, indem ihre Grundlagen wie elektrische Versorgung, Möglichkeiten des Warentransports und so weiter unterbunden werden.

Mit dem Zerfallsprozess ging auch ein starker Anstieg des Imports von Produkten des alltäglichen Konsums einher. Schien der Wert der importierten Waren vor dem Hintergrund der Sanktionen vor dem Krieg 2003 mit etwa zehn Milliarden US-Dollar bereits beträchtlich, beträgt er mittlerweile knapp 60 Milliarden US-Dollar. Das von Zeit zu Zeit feststellbare Wirtschaftswachstum geht dabei direkt auf den Output der Erdölproduktion zurück. 2018 machte der Erdölsektor 61 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts aus. Der Anteil der Erdölproduktion am gesamten Export belief sich indes auf ungeheure 99.6 Prozent. Zwischen 2003 und 2018 wurden durch den Verkauf von Erdöl 850 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. 2018 deckten die Einnahmen durch Erdölexporte 92 Prozent des budgetierten Haushaltes, während im Hinblick auf die Beschäftigungsverhältnisse nur ein Prozent der arbeitenden Bevölkerung in diesem Sektor ihr Einkommen generierten.

Die ökonomische Struktur des Iraks wird im Wesentlichen durch eine doppelte Abhängigkeit – genauer gesagt von Warenimporten und Erdölexporten – und durch Kriege bestimmt. Die sozialen Folgen sind Vertreibung, Massenarbeitslosigkeit, Armut. Letztere nahm innerhalb von vier Jahren rasant zu, sie stieg von 18 Prozent im Jahr 2014 auf 22 Prozent im Jahr 2017, wobei zu vermuten ist, dass die realen Verhältnisse diese offiziell erhobenen Zahlen weit übersteigen. Innerhalb eines Jahres (2014) gingen zudem die Einkommen der Lohnabhängigen um 14.9 Prozent zurück. Doch die Armut drückt sich nicht nur monetär aus. Sie berührt auch die „qualitativen“ Elemente in Form der Grundbedürfnisse, obwohl die Regierung die Investitionen in derlei Infrastruktur stark ausgeweitet hat. Auch weite Teile der Mittelschicht sind davon betroffen.

Das Regierungsbudget stieg 2019 im Vergleich zum Vorjahr um 45 Prozent, während 90 Prozent davon durch Erdölexporte finanziert wird. Über die Hälfte des erhöhten Budgets fließt in Form von Löhnen an verschiedenste zivile und militärische Organe des Staates. Ein großer Teil geht an die Milizen und die restlichen Sicherheitskräfte, die nun auch an der Niederschlagung der Proteste beteiligt sind. Ein weiterer fließt in die staatlichen Unternehmen, die eigens für die Bereitstellung der Infrastrukturdienstleistungen gegründet wurde. 2017 arbeiteten ca. eine halbe Million Angestellte in diesen Unternehmen. Es wird geschätzt, dass insgesamt etwa fünf Millionen Menschen direkt und indirekt abhängig von diesen Löhnen sind. Insofern verspricht die Kontrolle eines Ministeriums für politische Akteure den lukrativen Zugriff auf Finanzquellen, um Strukturen und Positionen zu festigen und Einfluss geltend zu machen. Schätzungen zufolge sind seit 2003 etwa 450 Milliarden US-Dollar in den Korridoren dieses Apparates versickert. Angesichts dieser Dimensionen und der Verelendung im Lichte dieses enormen Reichtums war es also nur eine Frage der Zeit, bis „die Straße“ Rechenschaft fordern sollte.

Brüche im Machtapparat und globale Einbindungsversuche

Der durch die Proteste entstandene Druck hat die internen Brüche des Machtapparates zutage gefördert und den Konsens über die Verteilung der Macht vor allem innerhalb des Staates durcheinandergebracht. Alle relevanten politischen Akteure wurden dazu gezwungen, sich zu bewegen und Stellung zu beziehen.

Als klar wurde, dass der anfangs kleine Aufstand sich aufgrund der exorbitanten Gewalt und ihr zum Trotz rasch in Massenaufstände verwandelte, war es Muqtada as-Sadr (ein nationalistischer shiitischer Geistlicher, Anm. Red.) der sich als erster öffentlich gegen die Reaktion der Regierung und des Sicherheitsapparates äußerte. Das überrascht nicht, da Sadrs Bewegung die revoltierenden und mehrheitlich schiitischen und verelendeten Massen bis dato vermeintlich repräsentierte und unter Kontrolle zu haben schien. Im Grunde war es seine Basis, die auf die Barrikaden ging.

Für die Regierung, an der seine Bewegung als größte parlamentarische Fraktion beteiligt und mit fünf Ministerien vertreten ist, zeichnete sich eine tiefe Krise ab. Sie wurde Ende Oktober dann auch öffentlich verhandelt, als Sadr den amtierenden Premierminister Mahdi zum Rücktritt aufforderte. Dieser erinnerte Sadr daran, dass man ihm offensichtlich nicht die alleinige Verantwortung für das harsche Vorgehen gegen die Aufstände geben könne – er sprach letztlich ganz im Sinne der Protestierenden, die sich gegen den Machtapparat als Ganzes erhoben haben.

Sadrs Antwort, dass Mahdi das Angebot hätte annehmen und würdevoll abtreten sollen, schien den Bruch innerhalb der Regierung zu besiegeln. Er brachte zudem seine Beziehung zur zweitgrößten parlamentarischen Fraktion, der Haschd al-Shaabi und dessen Anführer Hadi Amiri in Anschlag, der sich bereit erklärte, Folge zu leisten. Am selben Tag nahm Sadr an Protesten in Najaf teil, um sich weiter von der Regierung zu distanzieren und den Verdacht der Mitschuld seiner Bewegung zu verklären. Sadr ist seit jeher dafür bekannt, in der Lage zu sein, seine Positionen prompt zu verändern, ohne größere Konflikte mit Verbündeten oder seiner eigenen Organisation aufkommen zu lassen. Diesmal jedoch erhoben sich auf Seiten der Protestierenden und innerhalb seiner Bewegung viele Stimmen, die Sadrs Glaubwürdigkeit öffentlich anzweifelten. Sie sind wohl der Grund dafür, dass er sich seither nicht mehr wirklich zu den Entwicklungen geäußert hat.

Ein weiterer Grund dafür ist die Reaktion des Iran, die Krise durch die Festigung der Machtverhältnisse mittels Vermittlung zwischen den Konfliktparteien zu lösen. Der Iran macht seinen Einfluss meist auf diese Weise geltend. Der Minimalkonsens, der bei Hintergrundverhandlungen augenscheinlich erreicht wurde und auch Sadr einschließt, ist die erneute Sammlung aller relevanter Kräfte inklusive der Haschd hinter Premierminister Mahdi. Am 9. November wurde ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, den Premierminister Mahdi in seinem Amt zu bestätigen. Die Treffen wurden vom Kommandeur der al-Quds-Einheiten der iranischen Revolutionsgarde Qasem Soleimani geführt. Neben Sadr und Amiri nahm auch Mohammed Ridha Sistani teil, der Sohn des höchsten schiitischen Würdeträgers, Grossayatollah Ali as-Sistani.

Der Irak stellt gleichzeitig den wichtigsten konkreten Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen dem Iran und den USA dar. Abgesehen von Drohnenangriffen seitens Israel auf iranisch-militärische Kräfte im Irak spielt dieser in der Verteidigungsstrategie des Irans eine zentrale Rolle. Im November 2018 erklärten die USA unter Trump das – von der Vorgängerregierung Obama mit dem Iran und weiteren internationalen Akteuren ausgehandelte – „Atomabkommen“ für nichtig und erhöhte die Angriffe auf den Iran, sowohl in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Als Teil ihrer Strategie der „Sanktionskriege“, die unter anderem auch in Venezuela, Kuba und Syrien geführt werden, verhängten sie die bis dato härtesten und umfassendsten kollektiven Sanktionen gegen den Iran. Im Falle eines militärischen Angriffs seitens der USA und dessen Hauptverbündeten Israel und Saudi Arabien muss der Iran in der Lage sein, zurückzuschlagen. Das bedeutet, die Front möglichst weit in die Breite zu ziehen: von Afghanistan und Pakistan im Osten bis ans Mittelmeer im Westen und den Persischen Golf und das Arabische Meer im Süden. So ist es möglich, den Feind zu beschäftigen, seine Kräfte zu binden und ein Minimum an Kontrolle und Zeit zu gewinnen, um diplomatische Lösungen zu finden, da sich die iranische Führung keine Illusionen über einen militärischen Sieg macht.

Die USA betrachten den Auflösungsprozess der Regierung als Chance, die Karten neu zu mischen und den Iran angesichts seiner Vermittlungsinitiative im Irak zurückzudrängen. Sie unterstützen die Initiative der Vereinten Nationen, Neuwahlen unter ihrer Aufsicht abzuhalten und Reformen innerhalb des Staates zu begleiten. In Anbetracht des großen Legitimitätsverlustes der politischen Eliten als Ganzes scheint der Spielraum, der sich den USA vor dem Hintergrund von Neuwahlen bietet, eine Gelegenheit zu sein, die sie nicht verpassen dürfen.

Die Initiative wird im Irak seitens des obersten Klerikers Ali al-Sistani getragen – während der Sohn des Großayatollahs den Auflösungsprozess unterstützt. Daran ist die Tiefe der politischen Krise zu erkennen, die weit über das Parlament hinausreicht, zumal al-Sistani große moralische Autorität innerhalb der schiitischen Massen genießt und sich nur selten politisch äußert. Die Verurteilung der Gewaltakte der irakischen Sicherheitskräfte gegen die Protestierenden drängten Premierminister Mahdi am 30. November dazu, dem Parlament seine Rücktrittbereitschaft vorzulegen welche vom Parlament dann am 1. Dezember auch tatsächlich angenommen wurde. Es handelt sich sicherlich um einen ersten Erfolg für die Bewegung; ein Sieg jedoch, der die Proteste kaum eindämmen wird.

Was in den öffentlichen Institutionen seither diskutiert wird, sind mehr oder weniger umfassende Reformen im Hinblick auf das Wahlrecht, Korruptionsbekämpfung und weitere Verfassungsänderungen. Sie stellen in den Augen der Protestierenden jedoch nichts weiter als Beschwichtigung dar. Aus diesem Grund halten sie ihren Aufstand bis heute am Leben und wissen, dass alle etablierten Akteure Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind.

Eine „Baghdader Kommune“?

Die aktuellen Proteste werden von einigen Kommentator*innen als die größten Proteste seit der Ära Saddam Husseins bezeichnet. Hervorzuheben sind diejenigen Aspekte der Proteste, die Hinweise auf einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel liefern. Sicherlich stellt diesbezüglich der 25. Oktober 2019 eine Zäsur dar: Nach dem Beginn der neuen Protestwelle fanden regelmäßige, fast tägliche Demonstrationen und Straßenblockaden statt. Seit dem 25. Oktober jedoch ist der Tahrir-Platz in Baghdad permanent besetzt und mittlerweile hat er sich zu einem selbstorganisierten Zeltplatz verwandelt. Die gewalttätige Reaktion der Regierung gegenüber den Protesten hat seither zwar erneut hunderte Tote und tausende Verletzte gefordert, doch dies schwächt die Proteste nicht ab; im Gegenteil, sie betreffen einen immer größer werdenden Anteil der Bevölkerung und entwickeln sich selbstorganisiert. Es handelt sich dabei um eine qualitative Veränderung, um einen Ausdruck von Kreativität und von kollektiv entwickelten, neuen sozialen Normen. Es ist eine Organisierung von unten, welche in nur wenigen Wochen an Kraft gewonnen hat.

Für viele Demonstrierende stellt der Tahrir-Platz heute tatsächlich all das zur Verfügung, was der irakische Staat Jahrzehnte lang nicht tat: Gesundheitsversorgung, Verteilung von Essen, Aufnahme von Armen, Bildung und Anerkennung aller gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten – all diejenigen sozialen Dienste also, für welche die Menschen auf die Straße gehen. Von Beginn an nehmen Frauen massenhaft an den Protesten teil. Die wachsende Vorreiter*innenrolle der Frauen ist beeindruckend: In den Protesten der letzten Jahren kamen frauenspezifische Forderungen kaum zum Ausdruck, Frauen wurden schlicht als Anhängsel der Familie betrachtet und sie beteiligten sich auch in dieser Position an den Protesten. Heute agieren sie hingegen also autonome, politische Subjekte, die eine tragende Rollen in der Tahrir-Platz-Besetzung innehaben und konkrete Forderungen äußern, in erster Linie in Bezug auf Rechtsgleichheit und gleiche gesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten.

Unter den Zelten, die das Bild des Tahrir-Platzes zurzeit prägen, bieten Ärzt*innen und Pfleger*innen ihre Dienste an und behandeln sowohl verletzte Demonstrant*innen, als auch diejenigen, die keine Möglichkeiten haben, sich im Gesundheitssystem behandeln zu lassen. Das dafür notwendige medizinische Material wird durch Spenden von Apotheken zur Verfügung gestellt.

Auch die Student*innen beteiligen sich an den Protesten. Sie haben zusammen mit den Lehrer*innen in den Städten des Südens gestreikt. Ihre Präsenz auf dem Tahrir-Platz trägt zur Entwicklung einer Bildung von unten bei. In einem leerstehenden Gebäude am Platz, dem Turkish Restaurant, wurde eine Bibliothek mit Büchern in arabischer und englischer Sprache eröffnet. Es handelt sich dabei nicht nur um eine Antwort auf die realen Probleme des öffentlichen Bildungssystems, denn der Analphabetismus unter den Jugendlichen ist weit verbreitet und die Schulklassen zählen bis zu 50 Schüler*innen; die jungen Aktivist*innen der Bibliothek sind auch von größter Bedeutung für die Logistik der Proteste: Sie kümmern sich um die Sauberkeit auf dem Tahrir-Platz, stellen Duschmöglichkeiten zur Verfügung und garantieren die Sicherheit der Besetzung.

Darüber hinaus wird unter den Zelten kollektiv gekocht und das Essen kostenlos allen Anwesenden verteilt. Aus der Nachbarschaft beteiligen sich zahlreiche Familien an der Verteilung von Lebensmitteln. In den leerstehenden Gebäuden rund um den Tahrir-Platz haben sich Obdachlose einquartiert und somit eine sichere Unterkunft gefunden. Allgemein besteht ein hohes Sicherheitsgefühl in der Platzbesetzung, worauf die Protestierenden besonders bedacht sind. Und mittlerweile gibt es auch schon gedruckte Zeitungen, die als Sprachrohr für die Stimmen des Platzes fungieren.

Für die Proteste von zentraler Bedeutung bleiben weiterhin die Tuk-Tuk Fahrer*innen, die weit verbreiteten Dreirad-Taxis für ärmere Leute, die sich kein Auto-Taxi leisten können. Es handelt sich dabei meist um unter 18-Jährige, die aus den untersten Gesellschaftsschichten kommen, kaum berufliche und soziale Zukunftsperspektiven haben und von der Hand in den Mund leben. Durch die Solidarität mit den Ambulanzen, die während der Proteste nicht in der Lage waren, all die verletzten Demonstrierenden in die Krankenhäuser zu bringen, erlangten sie – wie viele andere marginalisierten Gruppen – eine soziale Anerkennung. Dieser Punkt ist insofern von großer Bedeutung, als sich dadurch Perspektiven und Möglichkeiten auf eine alternative Zukunft beziehungsweise auf eine neue Gesellschaft auftun.

Bei den im August stattgefundenen Protesten im Irak fehlte es noch an Führung, Organisation und klaren Perspektiven. Heute scheinen diese Mängel Dank der Besetzung des Tahrir-Platzes und den sich darin entwickelten Instrumenten der Selbstorganisation zumindest teilweise überwunden zu sein.

Perspektiven der Demokratisierung

Bei den irakischen Protesten handelt es sich also um weitaus mehr als nur um einen neuen „Frühling“; die Protestierenden charakterisieren ihre Bewegung vielmehr als „(Oktober-)Revolution“. Die desillusionierten Menschen im Irak haben durch den sowohl radikalen wie auch offenen Charakter der Proteste an politischer Kraft und Zukunftshoffnung gewinnen können. Wie grundlegend und weitreichend der Wandel des Bewusstseins der Protestierenden ist, erkennt man an der Verschiebung der Konfliktlinien und der Art der Opposition, samt ihren Folgen: Die politischen Akteure als Ganzes stellen für die Protestierenden das Problem dar. Dieser Aspekt ist deshalb von größter Wichtigkeit, weil dadurch die Möglichkeit entsteht, den unglaublich tiefen konfessionellen Charakter der Konflikte zu überwinden, der die Protestdynamiken der vergangenen Jahrzehnte bestimmte. Er wird bereits von den Protestierenden praktisch und täglich überwunden und stellt die Unmöglichkeit der Weiterführung konfessioneller Politik unter Beweis. Kaum jemand hatte eine solche Entwicklung erwartet. Doch plötzlich ist sie Realität und hat insofern den Namen „Revolution“ verdient; denn gestern noch war es ohne größeres Unglück möglich, das Leben zu verlieren, weil man zur falschen Zeit und am falschen Ort der falschen Konfession angehörte. Allerdings: der irakische Machtapparat wird diesbezüglich das „Unmögliche“ versuchen. Um am Leben zu bleiben wird er weiterhin mit gewaltsamer Unterdrückung reagieren – und auch darauf müssen sich die Protestierenden einstellen.

Die aktuelle Protestwelle im Mittleren Osten und in Nordafrika kann Hinweise auf mögliche politische Ausgänge des irakischen Protests geben. Im Sudan und in Algerien haben die sozialen Bewegungen die Proteste und Mobilisierung lange aufrechterhalten, um so zu vermeiden, von Teilen der Regimes instrumentalisiert zu werden. Im Sudan konnte schließlich die Sudanese Professionals Association (SPA), eine Dachorganisation von 17 sudanesischen Gewerkschaften, die Stimmen der Plätze vereinen und so als von den Protesten legitimierter politischer Akteur mit dem Militär Verhandlungen für den demokratischen Übergang führen. In Algerien hingegen wurde bewusst darauf verzichtet, eine breit abgestützte politische Kraft zu gründen, um mit dem Regime einen demokratischen Übergang zu organisieren. Hier werden weiterhin Neuwahlen abgelehnt und die radikale Erneuerung des politischen Systems gefordert, welches mittels einer konstituierende Versammlung organisiert werden soll. In Ägypten schließlich unterdrückte das Regime von al-Sisi die aufkommende Bewegung von Beginn an gewaltsam. Die Festnahme von Tausenden von politischen Aktivist*innen schränkte die Wiederbelebung der sozialen Bewegung noch einmal massiv ein und erstickte sie letztlich relativ schnell im Keim.

Der Ausgang der Proteste im Irak wird ebenfalls im Wesentlichen von einem machtinternen und von einem bewegungsinternen Faktor abhängig sein. Was den ersten betrifft, so haben mit Blick auf den Irak die Parlamentswahlen im Jahr 2018 die Karten neu gemischt: Die populistischen Kräfte um al-Sadr wurden in den institutionellen Machtapparat integriert und diese spielen nun eine zentrale Rolle für die Machtbalance innerhalb des irakischen Schiitentums. Es ist schwer vorstellbar, dass offene Konflikte ausgetragen werden, die zur Stärkung der sozialen Proteste beitragen und so die Möglichkeiten eines radikalen Bruches erhöhen würden. Vielmehr stellt sich die Frage, wie ein neues Machtgleichgewicht zwischen den sich teilweise konkurrierenden, teilweise zusammenarbeitenden Strömungen des politischen Schiitentums gefunden werden kann. Zudem wird sich zeigen müssen, wie groß die ökonomischen Möglichkeiten und der politische Wille der herrschenden Parteien für soziale Zugeständnisse sind.

In Bezug auf die inneren Dynamiken der Bewegung, handelt es sich bei der Tahrir-Platz-Besetzung um einen fundamentalen qualitativen Sprung nach vorn. Einen eigenen, selbst-repräsentativen und organisierten Ausdruck der Plätze gibt es jedoch noch nicht. Es geht hier nicht darum, einen charismatischen Leader oder schlicht die avantgardistische Partei zu finden, welche die Bewegung führen wird. Es wird darum gehen, ein Netzwerk von popularen Organisationen – unabhängige Gewerkschaften, Kollektive von Arbeitslosen, Nachbarschafts-Räte, Student*innenorganisationen, feministische Kollektive und so weiter – von unten aufzubauen, das gleichzeitig radikale und unmittelbar umsetzbare politische Forderungen über die herrschenden Koordinaten hinaus entwickeln und verteidigen kann. Der Aufbau einer solchen organisierten Struktur stellt die größte Herausforderung aufseiten des Aufstands dar.