Zum Inhalt springen

Die Besetzung Afrîns

Fuck AKP-ISIS Jan Maximilian Gerlach

Am 20. Januar begann die türkische Militärinvasion des syrisch-kurdischen Kantons Afrîn im Nordwesten Syriens. Nach intensiven Kämpfen, in denen die schwer bewaffnete türkische Armee permanent von der Luftwaffe und jihadistischen Kräften unterstützt wurde, konnten die Invasionsstreitkräfte schließlich am 18. März die Kontrolle über Afrîn-Stadt übernehmen.

Lange Zeit schon war es Richtlinie der Politik des türkischen Staates, Afrîn einzukreisen und von den anderen zwei Kantonen Rojavas – Kobanê and Jazira –, in denen die Kurd*innen eine weitestgehende politische Autonomie aufgebaut hatten, zu trennen. Die türkische Operation ,,Schild des Euphrat‘‘, die im August 2016 begann, zielte auf die Räumung des Gebiets zwischen Kobanê und Afrîn, um eine Vereinigung und logistische Nachschublinien zu blockieren, was auch zum Großteil gelang. Dass die Türkei schließlich die zynischerweise ,,Operation Olivenzweig‘‘ genannte Militärinvasion von Afrin initiierte, war also keine große Überraschung.

Den Krieg nach Afrîn tragen

Der Hauptgrund dafür, dass Afrîn im Fadenkreuz steht, ist, dass Rojava anschaulich bewiesen hat, dass die Ziele der kurdischen Befreiungsbewegung gangbar und realistisch sind – dass es möglich ist, eine demokratische Föderation aufzubauen, die die nationale Frage basierend auf Elementen von Rätedemokratie und kooperativer Ökonomie löst. Rojava setzte sowohl politisch-moralische, als auch militärische Impulse für die kurdische Bewegung in der Türkei. Die pro-kurdische, linke Partei HDP entstand, und nachdem der türkische Staat zu einer offeneren Form der Unterdrückung überging, erklärten kurdische Kräfte die Autonomie in über einem Dutzend Städte in der Türkei. Der türkische Staat antwortete mit einem lang geplanten militärischen Feldzug gegen die autonomen Strukturen in den Jahren 2015 bis 2016, um die militärische Seite des Aufstands niederzuschlagen. Ganze Städte wurden zu Trümmerfeldern gebombt, hunderte Zivilist*innen starben. Der Fokus verschob sich dann schließlich auf Rojava selbst.

In den vergangenen Jahren ging die Türkei durch einen Prozess des zunehmendem Autoritarismus und schließlich eines Prozesses der Faschisierung, der nicht nur auf die Unterdrückung jedweder Opposition, sondern auch auf die Neubegründung eines nationalen Narrativs zielte, das in der Lage sein sollte, die desillusionierten Teile der Gesellschaft und das organisierte rechte Lager unter Führung von Erdoğans Partei, der AKP, zu vereinigen. In diesem Zusammenhang war die Zerschlagung der kurdischen Befreiungsbewegung in Rojava gleich in zweierlei Hinsicht notwendig: Zum einen handelt es sich bei der Kolonisierung und der erzwungenen Assimilierung der kurdischen Regionen und Völker um ein Prinzip der türkischen Republik seit ihrer Gründung und wurde, in diesem Sinne, zu einem zentralen Eckstein des türkischen Nationalismus. Derjenige, der den Kampf gegen die kurdische Befreiungsbewegung in der unversöhnlichsten und effektivsten Art und Weise führt, wird als fähig angesehen, das rechtsnationalistische Lager zu führen. Das erklärt, warum die MHP, eine nationalistisch-faschistische Partei und traditionell Erzfeindin der AKP, eine der engsten Verbündeten von Erdoğans Partei wurde. Zum anderen muss alles aus dem Weg geräumt werden, sobald pure Machtpolitik und gewaltsame Diktatur zur dominanten Politikform werden – so wie es derzeit in Erdoğans Türkei geschehen ist. Ein Faschist, der Staat und Gesellschaft nicht kontrollieren kann, wäre eben nur ein Möchtegern-Faschist und würde selbst schnell von anderen Faschisten herausgefordert werden, die sich selbst als fähiger ansehen, die Geschicke des Landes zu lenken.

Das ist die Situation, in der sich Erdoğan und die AKP wiederfinden: Sie müssen den Krieg gegen Rojava und die PKK erfolgreich vorantreiben, damit die Krisentendenzen in ihrer fragilen Koalition nicht aufbrechen und die bestehende Ordnung gefährden.

Dann wäre da noch die Rolle der Türkei im Syrienkrieg. Während der türkische Staat nach wie vor einer der Hauptakteur im Konflikt ist, geht der Krieg langsam seinem Ende entgegen. Und die Türkei hat abseits der Gebiete der „Schild des Euphrat-Operation“ und eines schwachen Einflusses in der Idlib-Region wenig erreichen können. Die Eroberung von Afrîn inklusive der Hauptstadt hat nun die Einflusssphäre ausgeweitet. Erdoğan erklärte bereits mehrmals, dass die Operation auf den gesamten Norden Syriens ausgedehnt würde, das heißt auf die anderen Kantone Rojavas – mit der Perspektive, sogar in den Irak einzumarschieren.

Geostrategische Erzählungen, unberechenbare Realitäten

In den ersten Tagen des Angriffs auf Afrîn gingen viele Analyst*innen von folgendem aus: Russland und die USA würden der Türkei den Vormarsch in Afrîn bis zu einem gewissen Grad erlauben – die USA um einen wichtigen NATO-Bündnispartner zu beschwichtigen, Russland um den Kurden mit dem Stock zu drohen: entweder ihr geht in eine Front mit Assad, oder die Türkei wird euch zerschlagen. Hinsichtlich der Kurden wurde prognostiziert, dass sie alles in ihrer Macht stehende für die Autonomie mobilisieren würden. Irgendwann würde es dann eine Vereinbarung geben, und die Syrisch Arabische Armee (SAA) würde einmarschieren.

Es kam anders. Nach einer massiven Offensive rückten die türkische Armee und ihre Verbündeten schnell von mehreren Seiten und unterstützt von Luftschlägen zum Stadtzentrum Afrîns vor. Die zivilen Opfer nahmen Stunde für Stunde zu. Verbunden mit türkischen Plänen zur Neu-Ansiedlung nicht-kurdischer, derzeit in der Türkei befindlicher syrischer Flüchtlinge bei gleichzeitiger Vertreibung kurdischer Zivilist*innen, drohte ethnische Säuberung. Menschenrechtsorganisationen warnten vor einer Katastrophe und riefen die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf.

All das hielt die Türkei und ihre jihadistischen Verbündeten nicht auf. Am 18. März erlangten die Invasionsstreitkräfte die Kontrolle über das Stadtzentrum. Eine der ersten symbolischen Aktionen bestand im Hissen der türkischen Fahne (Seite an Seite mit der Fahne der „FSA“) am Gouverneurssitz als klarer Ausdruck der Besatzungsmentalität. Währenddessen rissen Jihadisten die Statue von Kawa (Kaveh) dem Schmied um, einer persischen und kurdischen mythologischen Figur, die den Aufstand gegen den rücksichtslosen Tyrannen Zahhak anführte. Diese Taten, obwohl lediglich symbolischer Art, zeigen die unterschwelligen Ziele der türkischen Invasion auf: eine sub-imperialistische Expansionspolitik mit dem Ziel, einen größeren Stück vom Kuchen in Syrien abzubekommen und die kurdische Selbstbestimmung zu zerschlagen.

Nachdem die YPG/J 60 Tage gegen den tödlichen Druck standhielten, entschieden sie sich dazu, sich aus der Stadt zurückzuziehen, um größere zivile Opfer zu vermeiden. Sie erklärten dabei jedoch, dass der Krieg lediglich in eine neue Phase übergegangen sei, in der die kurdischen Kräfte auf Hit-and-Run-Taktiken statt direktem Stellungskrieg setzen würden. Die ersten Anzeichen dieser neuen Taktiken zeigten sich bereits am Montag: Als Jihadisten zivile Gebäude und Geschäfte in Afrîn-Stadt plünderten, explodierte eine Bombe, die viele von ihnen tötete. Entsprechend twitterte der ehemalige Co-Vorsitzende der Partei der demokratischen Union (PYD) Salih Müslim, dass der Rückzug aus einer Schlacht nicht die Niederlage im Krieg bedeutet.

Imperialistisch gedecktes Vorgehen

Die Türkei hätte in Afrîn nicht einmarschieren können ohne direkte oder indirekte Unterstützung der großen imperialistischen Mächte. Die Rolle von Russland und der USA stechen hierbei hervor.

Russland hat öffentlich die türkische Kampagne verteidigt, indem sie die USA für die Kooperation mit der YPG/J anprangerten, was die Türkei provoziert habe. Darüber hinaus wird der nordsyrische Luftraum von Russland kontrolliert, das heißt ohne Erlaubnis Russlands hätten türkische Flugzeuge nicht über Afrin fliegen können, die Kampagne wäre nicht durchführbar gewesen. Russland möchte den Riss zwischen der Türkei und den USA vertiefen und dabei die NATO schwächen.

Andererseits hat die USA bislang nicht viel unternommen, um ihre „Verbündeten“ in Syrien zu verteidigen und betont, dass die Kooperation mit YPG/J auf den Kampf gegen den IS beschränkt bleibt. Diese Indifferenz hat natürlich was damit zu tun, dass es sich bei der Türkei um ein wichtiges NATO-Mitglied handelt. Es ist daher wenig überraschend, dass die USA der Türkei den Einmarsch in Afrîn gestatteten, um die angeschlagenen Beziehungen wiederherzustellen.

Die Intentionen der USA und Russlands sind vielschichtig, aber eines ist klar: Keiner von beiden hat ein Interesse an einer Vertiefung der demokratischen und sozialen Dynamiken der Rojava-Revolution, da selbständig von den Massen erkämpfte Demokratie und Sozialismus pures Gift für Kapitalismus und Imperialismus darstellen. Schon bei der Schlacht um Kobanê war die Sachlage klar: 2014 erklärte eine Vertreterin des US State Department offen, dass Kobanê – damals unter Belagerung des IS – keine Priorität für die USA habe.

Wenn überhaupt, dann streben Russland und die USA Demokratie und soziale Entwicklung im Sinne ihrer eigenen Interessen und in einer abhängigen, einfach zu kontrollierenden Art und Weise an – sie haben keinerlei strategisches oder ideologisches Interesse an der Rojava Revolution.

Ihr direktes oder indirektes Einverständnis mit der brutalen militärischen Kampagne in Afrîn kann daher nicht Verrat genannt werden, sondern ist lediglich imperialistische Politik. Beide wollen von ihnen abhängige Kurden – autonome demokratische Bestrebungen sind ihnen egal.

Die Kosten des Kolonialismus

Begleitet wurde die Türkei von Einheiten der „FSA“, die laut Erdoğans Aussagen aufgestellt wurde „um ihr Heimatland zu verteidigen“, vor allem gegen „die wahren Besatzer“ – also die SAA und die YPG/J. Diese „FSA“, die auf Grund ihrer Komposition und ihrer Funktion auch als TFSA (Türkische Freie Syrische Armee) bezeichnet wird, stellt ein Militärbündnis dar, das aus ex-al-Qaıda-Kräften, salafistischen Jihadisten, moderateren Islamisten und anderen besteht – kaum zu vergleichen mit den progressiven Elementen, die es zu Beginn der syrischen Revolution auch gab.

Die TFSA-Einheiten werden vom türkischen Staat hauptsächlich als Kanonenfutter genutzt und ähnlich wie die syrischen Geflüchteten instrumentalisiert. Erdoğan nutzte beide als Vorwand, um die Operation als eine von Syrern für Syrer unternommene Operation zu präsentieren; namentlich „damit 3,5 Millionen in der Türkei untergekommene Syrer in ihr Heimat zurückkehren können“ und nicht weil die Türkei „auf syrisches Territorium schielt“.

Diese Euphemismen konnten aber kaum die Brutalität des Angriffs und die wahren Absichten Erdoğans verschleiern. Zu viele Bilder und Videos zirkulieren, die die extreme Brutalität des Angriffs dokumentierten (oftmals von den TFSA-Militanten selbst aufgenommen). Unverhohlene Aggression gegen Zivilist*innen gehören zur Normalität.

Die Türkei ist bereits mehr oder weniger Kolonialmacht in den Gebieten der ,,Schild des Euphrat-Operation“ geworden: Ankara hat Provinz- und RegionalgouverneurInnen ernannt, die mit Hilfe von von ihr kontrollierten Gendarmerien und Polizei die Zügel der Staatsgewalt in den Händen haben, und die Türkei baut bereits Universitäten und Wirtschaftszonen unter ihrer Ägide auf. Die Herrschaft der Türkei wird in Afrîn kaum weniger kolonial sein. Tatsächlich nahm kürzlich der Führer der MHP, Devlet Bahçeli die Vereinbarung zwischen YPG/J und Assad zum Anlass zu verkünden, dass ,,wir das Recht haben, die Länder, die wir vor 100 Jahren abgegeben haben, zu behalten – zumindest solange bis Stabilität, Frieden und Ruhe einkehrt.“ Der Präsidentensprecher Ibrahim Kalın folgte mit ähnlich klaren Worten: „Wir haben nicht die Absicht es [Afrin] an das Assad Regime zurückzugeben.“

Erdoğans Regierung zeigt derweil keine strategische Orientierung auf, wie diese Form des Kolonialismus ihre Position mittel- und langfristig stärken wird. Wie wird ein offenes Kolonialregime die Herzen und Köpfe gewinnen abseits von beschränkten Cliquen, die von der Kolonisierung profitieren? Wie glaubt der türkische Staat die Unterstützung von Arabern und Kurden gewinnen zu können, nachdem er deren Ländereien erneut offen brutal kolonisierte?

Es gibt hier ein enormes Potential von „blowback“. [1] Die Kurden könnten den Krieg ausweiten, indem sie neue Fronten in und außerhalb der Türkei eröffnen. Duran Kalkan, ein Mitglied des PKK-Exekutivkomitees gab an, dass der beginnende Guerillakrieg in Afrîn von neuen Angriffen der PKK begleitet werden würde. Auf der anderen Seite werden die bewaffneten jihadistische Gruppen die Sachlage verkomplizieren, sollte die SAA nach Norden mobilisieren, um die landesweite Souveränität wiederherzustellen. Mit dem Rückzug der YPG/J sind die Voraussetzungen für einen Zusammenstoß zwischen syrischer Armee, der Türkei und jihadistischen Kräften gelegt. Und wohin werden die Jihadisten dann gehen, wenn nicht in die Türkei?

Keine Stabilität in Sicht

Es gibt einen dritten Grund für die türkische Invasion von Afrîn: Angesichts alarmierender ökonomischer und sozialer Schieflagen muss Erdoğan für eine breite Unterstützung im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen, die für das kommende Jahr anberaumt wurden, sorgen.

Dieses Mal trifft die Regierung Vorkehrungen, um Überraschungsergebnisse zu vermeiden. Stimmzettel ohne den offiziellen Stempel des Hohen Wahlkomitees (YSK) galten bisher als ungültig (eine gesetzliche Bestimmung, die vergangenes Jahr klar verletzt wurde, als zwei bis zweieinhalb Millionen nichtgestempelte Stimmzettel für gültig befunden wurden und für einen Skandal sorgten). Mit dem neu verabschiedeten Wahlgesetz werden diese Stimmzettel von Anfang an gültig sein. Dem YSK wurde nun auch die Autorität übertragen, Wahlbezirke zusammenzulegen und Stimmzettelkisten zu verschieben. Schließlich führte die engere Beziehung zwischen Erdoğans AKP und der MHP zur Aufstellung einer gemeinsamen Wahlliste mit dem Namen Volksbündnis (Cumhur İttifakı). Die Aufstellung eines solchen Wahlbündnisses war zuvor illegal. Das Abkommen wird die MHP davor bewahren, unter die 10% Hürde zu fallen – sonst eine Unvermeidbarkeit, da viele die Partei verließen, um die MHP-Abspaltung İYİ-Partei zu gründen. Das Ziel dieses „Volksbündnisses“ ist es schlussendlich das gesamte rechte Lager unter Führung der AKP zu vereinen.

Just zum Start der Militärinvasion setzte eine beispiellose Manipulationskampagne und ideologische Mobilisierung ein. Es ist faktisch illegal, die Invasion zu hinterfragen (geschweige denn dagegen Widerstand zu leisten). Hunderte Menschen wurden auf Basis von kritischen Posts in den sozialen Netzwerken verhaftet, während Regierungsmitglieder – inklusive Erdoğan – Oppositionelle wiederholt als Terrorist*innen (oder Terrorunterstützer*innen) bezeichneten. Die Mainstream-Medien konzentrierten sich auf Nachrichten bezüglich „des Säuberns der Region vom Terrorismus“ und auf Agitation für den Erfolg der Operation. Kulturschaffende und Prominente, die nicht explizit die Invasion unterstützt haben, wurden bloßgestellt und in Fernsehshows angegriffen. Fußballteams und Schulklassen nehmen Fotos in Militäruniformen auf, um ihre Unterstützung für die Invasion zu vermitteln. Und Teilnehmer*innen von AKP-Veranstaltungen skandierten Slogans à la „Nehmt uns mit nach Afrîn“.

Allerdings ist die Herrschaft der AKP immer noch instabil. Während die Invasion von Afrîn die Unterstützung aller größeren Parteien genießt außer der HDP, haben sich dennoch nicht alle rechten Parteien dem „Volksbündnis“ angeschlossen. Die Saadet-Partei – eine rechte Partei, von der sich die AKP ursprünglich abgespalten hatte – und Akşeners İYİ Parti verzichteten darauf. Und während Umfragen von 70 bis 80 Prozent Unterstützung für die Invasion in Afrîn sprechen, zeigen sie gleichzeitig öffentliche Unzufriedenheit in anderen wichtigen Angelegenheiten an. Einer dieser Umfragen zufolge unterstützen lediglich 39 Prozent das türkische Engagement in Syrien im Allgemeinen, 66 Prozent denken, dass der von Erdoğan ausgerufene Ausnahmezustand der Wirtschaft schadet, nur 20 Prozent vertrauen der Gerichtsbarkeit, und nur 17 Prozent vertrauen den Medien.

Der Generaldirektor der eher links-orientierten Umfragefirma KONDA meint, dass zwar 60 Prozent der türkischen Wählerschaft weiterhin anhand von Partei-Gefolgschaft polarisiert sind (namentlich entlang der pro- und anti-AKP-Achse), 40 Prozent jedoch indifferent gegenüber der Unterstützung einer bestimmten Partei sind und eher darauf schauen, ob und wie sie tagtäglich über die Runden kommen. Dieser Anteil der Wählerschaft glaubt zusehends, dass keine der bestehenden Parteien die Probleme des Landes lösen kann. Eine weitere Umfragefirma, MAK, berichtet, dass pro-AKP Jungunternehmer und Kulturschaffende „Anzeichen von Unmut“ zeigen, „aber schweigen“. Sie sind anscheinend besonders irritiert davon, dass es eine Koalition geben wird, obwohl das Präsidialsystem ja genau eingeführt wurde, um diese Bündnisse überflüssig zu machen, und sie bleiben weiterhin skeptisch gegenüber dem „Ein-Mann-Regime“.

Trotz Erdoğans Bemühungen, sich als allmächtige Figur zu etablieren, herrscht in mindestens der Hälfte der Gesellschaft weiter Unmut vor. Die Invasion von Afrîn hat das Potential, seine Zukunftsaussichten bis zu einem bestimmten Punkt zu steigern – oder eben, was derzeit wahrscheinlicher ist, die Instabilität zu verstärken.

Wie weiter?

Einige Tage vor der Invasion traf der HDP-Parlamentarier Ayhan Bilgen eine Vorhersage: ,,Wenn es einen Angriff auf Afrîn geben sollte […], dann wird er einen Bürgerkrieg initiieren, wenn er erfolgreich ist und einen Putsch, wenn er fehlschlägt.“

Die Vorhersage ist offensichtlich (noch?) nicht eingetreten. Es scheint, die Türkei hat die erste Runde gewonnen und dabei die Moral, sowie die politisch-militärische Position der Kurden geschwächt. Aber wir sind noch weit entfernt vom Ende der Geschichte. Die Invasion Afrîns hat das Potential, ernstzunehmende politische Folgen zu zeitigen. Die Kurden werden sicherlich vorbereiteter und zielbewusster in ihrem Kampf zur Verteidigung der übrigen Kantone Kobanê und Jazira sein. Andererseits kann sich das, was auf den ersten Blick als glänzender Sieg Erdoğans erscheint, zu einem Motor der Destabilisierung entwickeln, sollte er die Front in den Osten Syriens und den Irak ausweiten. Regionale und internationale Reaktionen könnten anders ausfallen. Und dann gibt es da noch die mittel- und langfristigen Kosten der Kolonisierung, die die Türkei zahlen müssen wird.


Fußnote:

[1] Der Terminus „blowback“ entstammt dem CIA-Jargon und bezeichnet eine politische Strategie, die sich im Laufe ihrer Anwendung gegen die Erfinder der Strategie richtet.


Anmerkung:

Der Text erschien ursprünglich am 22. März auf Englisch in einer leicht veränderten Form im Jacobin Magazine. Aus dem Englischen übersetzt von re:volt-Redakteur Jan Schwab.