Der Frust der Vergessenen
Wie eine Trennlinie verlaufen die Gleise der Schnellbahn RER durch Aulnay-sous-Bois. Sie teilen die Pariser Vorstadt nicht nur in Süden und Norden, sondern zugleich in zwei Welten. Auf der einen Seite Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten und schönen Cafés, auf der anderen Seite heruntergekommene Siedlungen mit grauen Sozialbauten, die sogenannten Cités. Hier, im Norden der Stadt, reiht sich ein grauer Gebäudeklotz an den anderen.
Aulnay-sous-Bois steht in den französischen Medien wie Clichy oder La Courneuve für Perspektivlosigkeit, Kriminalität und Krawalle – gilt als sozialer Brennpunkt, sogenanntes Banlieue, abseits der Flaniermeilen. Traurige Berühmtheit erlangte die 82 000-Einwohner*innenstadt durch die „affaire Théo“.
Erinnerungen an den Oktober 2005
Am 2. Februar 2017 wurde der dunkelhäutige Jugendliche Théo in der Cité Rose-des-Vents, im Herzen des nördlichen Stadtteils, von vier Polizisten brutal misshandelt. Eine Überwachungskamera hielt fest, wie eine routinemäßige Personenkontrolle eskalierte: Die Beamten traktierten den jungen Mann mit Schlagstöcken und Tränengas. Einer der Männer rammte ihm dabei den Schlagstock in den After, die Ärzte diagnostizierten schwerste Verletzungen.
Landesweit reagierte die französische Bevölkerung mit wütenden Demonstrationen. In den Vorstädten lieferten sich Jugendliche Auseinandersetzungen mit der Polizei, es gab 250 Festnahmen und viele Verletzte. Die Bilder weckten Erinnerungen an das Jahr 2005. Damals hatte der Tod zweier Jugendlicher, Zied und Bonua, die auf der Flucht vor der Polizei starben, für Unruhen gesorgt. Die 17 und 15 Jahre alten Jugendlichen waren am 25. Oktober 2005 in Clichy von Polizisten in ein Transformatorenhäuschen gejagt worden und starben an den Stromschlägen. Hilfe von den Einsatzkräften gab es nicht. „Wenn sie in das Transformatorenhäuschen gegangen sind, haben sie Pech gehabt“, lautete die grausame Ansage des damaligen Einsatzleiters. Die Reaktion des Staates? Weitere Gewalt. Sarkozy kündigte an, die Banlieues mit einem „Kärcher [ein starker Staubsauger, Anm. Red.] vom Gesindel zu befreien“. Eine Tränengasbombe der Polizei flog nur zwei Tage nach dem Tod der Jugendlichen während des Ramadans in eine Moschee in Clichy. Genug für die ohnehin schon ausreichend gebeutelten Menschen. Es kam zu wochenlangen Riots im ganzen Land mit tausenden Festnahmen und hunderten Verletzten. Der Ausnahmezustand wurde ausgerufen, etliche Migrant*innen unter rassistischem Vorwand abgeschoben. Zehn Jahre später endete der Gerichtsprozess gegen die beteiligten Polizisten. Einstellung. Sie sind weiterhin im Polizeidienst aktiv.
Im Fall Théo versuchte der Staat zumindest nach außen eine friedliche Reaktion zu zeigen. Polizeiliche Einsatzkräfte wurden suspendiert und sogar Francois Hollande ließ sich zu einem Besuch am Krankenbett breitschlagen. In der Cité Rose-des-Vents sitzt der Frust auch noch ein halbes Jahr nach den Unruhen trotzdem tief. „Dass es nach der Misshandlung von Théo Reaktionen gibt, ist ja schön und gut – es ändert aber nichts an der Situation hier“, erklärt Mustafa. Er sitzt mit seinen Freunden auf einer Parkbank. Einen Job haben sie nicht. Die Jugendarbeitslosigkeit in Aulnay-sous-Bois liegt bei über 40 Prozent. In anderen Vorstädten ist sie noch höher. „Wenn man in seiner Bewerbung diese Adresse angibt, hat man nur sehr geringe Chancen. Die Leute denken, dass hier nur Kriminelle leben. Dazu kommen die täglichen Diskriminierungen, weil man nicht den richtigen Familiennamen hat oder die falsche Hautfarbe“, meint der 19-Jährige. Die Probleme der Jugendlichen in den Banlieues reihen sich ein in eine jahrzehntelange Geschichte voll von Unterdrückung und Segregation.
Banlieues und Einwanderung
Die Banlieues sind seit jeher der Wohnort jener Bewohner*innen, die in den Städten selbst keinen bezahlbaren Wohnraum finden. Besonders während der Amtszeit von Jaques Chirac als Bürgermeister von Paris (1977 bis 1995) wurden ganze Bevölkerungsgruppen systematisch durch Stadterneuerung-, Sanierungs- und Mietpolitik in die Trabantenstadtzonen abgedrängt.
Diese Bevölkerungsgruppen stehen in einer Tradition, die mittlerweile über ein Jahrhundert lang andauert. Zunächst kamen die Lothringer, die aus dem 1871 vom deutschen Reich annektierten Gebiet flohen, sowie Bretonen und Bewohner*innen des französischen Zentralmassivs. Sie wurden zu ihrer Zeit ebenso diskriminiert wie später Einwanderer aus den Kolonien oder der so genannten Dritten Welt: Die Lothringer etwa waren für viele ihrer damaligen Zeitgenossen einfach »boches« (ein Schimpfwort für Deutsche). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgten Menschen aus dem südeuropäischen Raum. Und schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg die Einwanderer aus den afrikanischen Ex-Kolonien und dem arabisch-nordafrikanischen Raum. Sie alle werden vom Staat diskriminiert und als nicht integrierbar behandelt.
Deindustrialisierung statt rauchender Schlote
Heute, wo mit dem Rückgang der Industrie statt rauchender Schlote meist Deindustrialisierung und hohe Arbeitslosigkeit in den Vorstädten dominieren, sind die Banlieues, in denen landesweit knapp fünf Millionen Menschen leben, zum Brennpunkt der sozialen Probleme des Landes geworden. Neben einer defizitären Ausstattung des Wohnumfeldes, einer schlechten Anbindung an die Innenstädte und desolaten Wohnverhältnissen liegen auch viele andere soziale Indikatoren seit Jahren deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Laut dem letzten Bericht der Nationalen Beobachtungsstelle kritischer Stadtteile war die Arbeitslosenquote in den von der Politik als Problemgebiete ausgewiesenen Vierteln mit 20,9 Prozent doppelt so hoch wie im nationalen Durchschnitt. Die durchschnittliche Jugendarbeitslosenquote lag im selben Jahr bei 41,7 Prozent (23,2 Prozent im nationalen Durchschnitt). Ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze und auch das Bildungsniveau liegt deutlich unter dem nationalen Level. 53 Prozent der beschäftigten Jugendlichen besitzen nur den niedrigsten Schulabschluss. All das führt zu einem explosiven Cocktail.
„Sie fühlen sich im Stich gelassen“
Mohammed Khalil kennt die Probleme der Jugendlichen. Er ist in einem Banlieue großgeworden, arbeitet als Sozialarbeiter. „Die Menschen fühlen sich im Stich gelassen. Zwar wurden nach den Unruhen 2005 etliche Milliarden in die Infrastruktur der Vorstädte gepumpt – verändert hat sich dabei aber nur die Optik. Soziale Maßnahmen kamen viel zu kurz.“
Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 lag der Anteil der Nichtwählenden in Aulnay-sous-Bois im ersten Durchgang bei 27,6 Prozent – deutlich über dem Landesdurchschnitt. Im Mai wurde der Wert nochmal getoppt. 13.309 der 44.365 Wahlberechtigten (29,99 Prozent) entschieden sich dazu, keinem der Kandidat*innen ihre Stimme zu geben. „Die Banlieues interessieren in Frankreich sowieso nur dann, wenn Wahlen anstehen. Die Sozialisten kommen alle fünf Jahre und tun so, als würden sie sich für uns interessieren. Und die Rechten nutzen uns, um Angst gegen Einwanderer zu schüren. Kaum jemand legt hier noch seine Hoffnungen in die Hände von Politiker*innen. Nach den dutzenden Initiativen und den leeren Versprechungen ist den Menschen hier klar, dass es für sie in diesem System keine Alternativen gibt. Also tun sie eben, was sie tun müssen um zu überleben“, sagt Mohammed.
Ihm gegenüber sitzt Assa, 31 Jahre, Lehrerin, Mutter von drei Kindern – und ältere Schwester von Adama Traoré. Der 24-Jährige wurde am 29. Juli 2016 in Beaumont, ebenfalls einer armen Vorstadt, festgenommen. Er starb im Polizeigewahrsam. Offizielle Todesursache: Eine Herzattacke. Niemand glaubt das in den Cités, schon gar nicht seine Familie. „Nach Adamas Tod wollte uns die Polizei nicht zu seiner Leiche lassen. Ganz im Gegenteil. Die wollten die Leiche sofort in unser Heimatland Mali bringen, angeblich aus Respekt vor muslimischen Ritualen.“ Seine Familie intervenierte, erreichte eine zweite Autopsie. Die deckte auf, dass Adama erstickt war. Die Untersuchungen laufen.
Offizielle Zahlen, wie viele Menschen in Frankreich durch Polizisten verletzt oder gar getötet wurden, gibt es nicht. Amnesty International hatte der französischen Polizei in der Vergangenheit Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, mehr Kontrolle gefordert.
Die treten die Türen im Viertel nur ein, um uns mundtot zu machen
Ex-Innenminister Bruno Le Roux versprach im März, gegen Gesetzesübertretungen der Polizei „mit größter Entschlossenheit“ vorzugehen. Er wolle dafür sorgen, dass Festnahmen in Zukunft generell gefilmt werden. Dagegen sprach sich Marine le Pen aus. Die Ereignisse seien „die Folge eines Laxismus, der sich in der Gesellschaft verbreitet“, polterte die Vorsitzende des Front National. Zu nachgiebig sei man mit Krawallmacher*innen. Getan hat sich bislang nichts. Ganz im Gegenteil: Seit Beginn des Ausnahmezustands durchsuchte die Polizei über 4000 Wohnungen, erließ rund 170 Erlasse gegen öffentliche Versammlungen und verwehrte hunderten Menschen (Stand Juli 2017: 574) die Teilnahme an Demonstrationen. „Das ist völlig irre. Die haben nach all diesen Aktionen gerade einmal fünf Ermittlungsverfahren eingeleitet, der Rest ist reine Willkür. Die treten die Türen im Viertel nur ein, um uns Mundtot zu machen“, poltert Youssef, 69-Jahre alt, seit fast 30 Jahren im Norden von Aulnay-sous-Bois.
Im Süden von Aulnay-sous-Bois sind die „affaire Théo“ und Polizeigewalt kein großes Thema. Viele haben davon nur durch die Medien gehört. „Mit dem, was in den Cités geschieht, geraten wir kaum in Verbindung“, sagt eine ältere Dame. Zu Fuß verschlage es sie selten in den nördlichen Teil der Stadt „und mit dem Auto fahre ich schnell vorbei“.