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Auszüge einer Chronik aus Mailand in Zeiten von Corona

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[Editorial:] Während sich auch in Deutschland die politischen Maßnahmen nahezu täglich überschlagen und die Fallzahlen der an Covid-19 Erkrankten multiplizieren, ist Italien dem deutschen Szenario bereits neun Tage voraus. Die Genoss*innen vom malaboca Kollektiv legen hier die Übersetzung einer eindrücklichen Schilderung Mailänder Genoss*innen vor, die den Verlauf der Pandemie in Norditalien aus linker, aktivistischer Sicht zusammenfasst. In den kommenden Wochen und Monaten werden es Zehntausende in Italien und Hunderttausende weltweit mehr sein, welche die gesundheitlichen Folgen des Virus unmittelbar zu spüren bekommen - und Millionen, welche die Auswirkungen ökonomisch und sozial zu tragen haben.


11. Januar:

Erster Todesfall in China.


23. Januar:

Zwei chinesische Touristen werden in Rom positiv auf das Virus getestet und werden unter Quarantäne gestellt. Die Stadt Wuhan wird unter Quarantäne gestellt. Am nächsten Tag die angrenzende Stadt.


30. Januar:

Die Weltgesundheitsorganisation WHO deklariert den globalen Notstand (bei 7000 Infizierten und 170 Toten).


01. Februar:

Chinesische Tourist*innen werden in Florenz rassistisch beleidigt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt werden die ersten Auswirkungen der Pandemie spürbar - bevor diese sich verwirklicht hat, hat sie sich bereits in Angst verwandelt. Die Suche nach den Schuldigen lässt nicht lange auf sich warten. Dieses Mal sind es weder die Juden und Jüdinnen, noch die Ketzer*innen, sondern die Chines*innen. Es kommt vermehrt zu Übergriffen, Menschen werden bespuckt, geschlagen und mit Flaschen beworfen – einfach, weil sie in den Augen der Angreifer „asiatisch aussehen“. Wo die Menschen letztlich herkommen spielt dabei eigentlich keine Rolle. Allmählich melden sich verschiedene rechte Politiker*innen zu Wort, die versuchen, „die Chines*innen“ und „die Ausländer“ für die Ausbreitung der Epidemie verantwortlich zu machen - natürlich ohne jegliche faktische Grundlage.

Diese Momente der direkten und latenten rassistischen Aggression waren begrenzt, jedoch ausreichend vorhanden, um uns einen Vorgeschmack auf die rassistische Dimension, die eine solche Situation mit sich bringen kann, zu geben. In einer anderen Ausgangssituation, das heißt in einer Situation, in der Geflüchtete oder „Armuts-Migrant*innen“ direkt beschuldigt worden wären, den Virus nach Italien gebracht zu haben, hätte es eine noch stärkere Welle der rassistischen Gewalt gegeben. Auf ein solches Szenario wären wir nicht vorbereitet gewesen.


21. Februar:

Der erste Infektionsfall in Codogno wird gemeldet. Angesichts der Tragödie eine schon fast komische Wendung: Von der Millionenstadt Wuhan zu einer kleinen, unbekannten Stadt im Nichts der Lombardei zwischen den Städten Piacenza und Crema.

Wir gehen aus, trinken und treffen Leute. Wuhan erscheint unglaublich weit weg, aber auch Codogno liegt gefühlt noch in der Ferne. Die Meldungen laufen in den Nachrichten. Es ist nicht vorstellbar, was noch kommen wird. Die Stadt Wuhan steht seit dem 23. Januar unter Quarantäne. Obwohl diese Welt eine globalisierte und vernetzte ist, scheint es uns an der Fähigkeit zu mangeln, Informationen zu empfangen, zu verstehen und in konsequentes Handeln zu überführen. Das Coronavirus in China erschien bloß wie ein mediales Spektakel, gedreht auf einem anderen Planeten.

Während wir eher fasziniert, als erschrocken die ersten aufgeregten Live-Übertragungen aus den Dörfern der unteren Po-Ebene verfolgten, von denen wir hier in der Großstadt noch nie etwas gehört hatten, fühlten wir uns noch immer gut vor dem geschützt, was wir auf den Fernseherbildschirmen sahen und in den Schlagzeilen lasen. In unseren Kreisen machte sich eine gewisse Skepsis breit. Dazu trat der bittersüße Geschmack, der mit der Vorstellung einherging, eine Apokalypse live mitverfolgen zu können und die Widersprüche und die Hysterie des Systems gleichsam bewundern und kommentieren zu können, während unser Alltag davon jedoch schlussendlich unberührt bleiben würde.


23. Februar:

Die Suche nach Quarantäne-Einrichtungen in den betroffenen Gebieten in Italien beginnt. Es wird an Hoteliers appelliert, ihre Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. In Mailand werden die Schulen vorerst für eine Woche lang geschlossen.

Das erste Dekret des Ministerrats mit präventiven Maßnahmen wird erlassen. Verbot des Ein- und Ausreisens in und aus den von dem Virus betroffenen Orten in den Regionen Veneto und Lombardei; Aussetzung von Demonstrationen oder anderweitigen Versammlungen jeglicher Natur und Form an öffentlichen Orten, einschließlich kultureller, sportlicher und religiöser Stätten; vorübergehende Schließung von Bildungseinrichtungen für Kinder und junge Erwachsene auf allen Ebenen; Aufhebung aller Bildungsreisen innerhalb und außerhalb Italiens; vorübergehende Schließung von Museen und aller weiteren kulturellen Institutionen des öffentlichen Lebens; Reduzierung der Dienste staatlicher und städtischer Ämter bis auf das Nötigste; Schließung aller kommerziellen Einrichtungen, mit Ausnahme derer, die es zur Grundversorgung der Bevölkerung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung benötigt; Verpflichtung zur Einhaltung bestimmter Vorsichtsmaßnahmen und dem Tragen bestimmter Schutzausrüstung; Aussetzung von Beförderungsdienstleistungen für Güter und Personen über Land, Schienen und Binnengewässer; Aufhebung der Produktionstätigkeit von Unternehmen, sowie Arbeiter*innen in den betroffenen Gebieten.

Nervosität greift um sich. Die Menschen strömen in die Supermärkte und leeren die Regale. Dieser Moment schwebte zwischen dem Unglauben, dass das Virus und die fatalen Auswirkungen, die es mit sich bringt, immer näherkommt und der schleichend durchsickernden Angst, die zu unbewussten Gesten führt. Auch in der wirkungsschwachen Debatte innerhalb der „antagonistischen“ Mikrowelt der linken Bewegung spiegelt sich diese Zerrissenheit wider. Es gibt auf der einen Seite diejenigen, die sich bemühen, die Virulenz der Epidemie zu verneinen und sich an den verabschiedeten staatlichen Sondermaßnahmen abzuarbeiten. Andererseits gibt es die, die dazu aufrufen, den Ernst der Lage zu begreifen. Am darauffolgenden Tag werden die Maßnahmen in Mailand verschärft: Restaurants und Bars müssen nach 18.00 Uhr schließen.


28. Februar:

Nachdem die Schulen geschlossen worden sind und die Medien registrieren, dass die Ansteckungen stetig steigen, beginnt die Wirtschaft Mailands zu leiden. Die Menschen konsumieren nicht mehr genug. Es wird nicht genug zu Abend gegessen in den Restaurants, nicht genug Aperitivos getrunken, zu wenig „shoppen“ gegangen. Die Wirtschaft gerät zunehmend ins Stocken. Mailand fängt an zu zittern.

Die Lokale dürfen wieder öffnen. Dabei gilt die Empfehlung, nur am Tisch zu bedienen – was in den meisten Fällen nicht eingehalten wurde. Der Mailänder Bürgermeister Guiseppe Sala dreht eine Art Videospot mit dem Hashtag #Milanononsiferma (#Milanoschließtnicht). In diesem Video fordert er dazu auf, den Konsum ohne Angst wieder aufzunehmen. Der Sekretär des PD (Partido Democratico) Nicola Zingaretti lässt sich bei einem Bier an den Kanälen in Mailand ablichten. Einige Tage später wird er positiv auf das Covid-19-Virus getestet. Der Mailänder Confcommercio (Handels- und Unternehmervereinigung) lädt die Bevölkerung dazu ein, den normalen Lebens- und Einkaufszyklus wiederaufzunehmen, auszugehen und einzukaufen. Es wird noch einige Tage dauern, bis auch der Ruf in der Lombardei immer lauter wird, nicht mehr auszugehen, um die Ansteckungen zu stoppen.

Die Regierung scheint zwischen dem Bewusstsein über den Ernst der Lage und dem wirtschaftlichen Druck gefangen zu sein – und ist bemüht, so bald wie möglich wieder zum Normalzustand überzugehen. In der Tat gilt diese Zerrissenheit für alle Bürger*innen, auch für uns. Wir sind unvorbereitet, naiv und ungläubig. Die Anweisungen sind widersprüchlich. Die politischen Institutionen fordern eine Verlangsamung des gesellschaftlichen Lebens, die wirtschaftlichen fordern ein Weiter-So.


06. März:

Der Präsident der Republik Sergio Mattarella spricht zur Nation: „Wir müssen Vertrauen haben“.


07. März:

Die Zahlen sprechen für sich. Die Epidemie breitet sich explosionsartig aus - vor allem im Norden Italiens. Es ist kaum zu glauben, doch der Entwurf eines Dekrets erreicht vorzeitig die Zeitungen, während er noch im Ministerrat diskutiert wird. Das Dekret besagt, dass die Lombardei und 14 andere Provinzen in Norditalien abgeriegelt werden sollen. Die Zeitungen bringen die Meldung über Nacht auf die Titelseite. Das Chaos gewinnt an Fahrt.

Im Einzelnen umfassen die Maßnahmen: Verbot des Betretens, wie Verlassens besagter Gebiete. Ausgenommen sind nachgewiesen Arbeitswege oder Bewegungen in Notfallsituationen. Es ist erlaubt, an den Heimatort, sowie an den Wohnsitz oder in die eigene Wohnung zurückzukehren. Es gilt ein absolutes Mobilitätsverbot für diejenigen, die Quarantänemaßnahmen unterliegen. Öffentliche Veranstaltungen und Sportwettbewerbe werden ausgesetzt. Einrichtungen in den Skigebieten werden geschlossen. Alle bereits organisierten Demonstrationen sind suspendiert. Die Bildungsdienste für Kinder sind ausgesetzt. Die Eröffnung von Gotteshäusern ist an strenge Bedingungen geknüpft. Museen und andere kulturelle Einrichtungen und Orte werden geschlossen. Restaurant- und Baraktivitäten sind nur noch von 6.00 bis 18.00 Uhr erlaubt. Der Urlaub des Gesundheits- und technischen Personals wird ausgesetzt. Fitnessstudios, Sportzentren, Schwimmbäder, Schwimmzentren, Wellnesszentren und Kurbäder werden geschlossen.

Panik macht sich breit. Die Entschuldigung der Regierung für die Fehlkommunikation und die Betonung der restriktiven Maßnahmen werden alsbald folgen. Bis kurz davor wird über die Situation gelacht oder diese zumindest belächelt. Niemand sah das kommen, was kam. Bis vor Kurzen sollte noch die Wirtschaft funktionieren. Und es ist noch immer von „nicht mehr“ als einer einfachen Grippe die Rede. Es scheint immer noch alles „unverhältnismäßig“. Man nimmt einen Freund, der sagt, er bleibe zu Hause, immer noch nicht ernst, versteht den Ernst der Lage nicht. Nach dem wir nun mehr als eine Woche zu Hause eingesperrt sind, nach dem es immer mehr Todesfälle gibt und Ärzte, die krank werden, die Reanimationsstätten überlastet sind, fühlen wir uns rückblickend wie unverantwortliche Arschlöcher.

Man fühlt sich wie infantilisiert. Wir sind auf externe Informationen und Anweisungen angewiesen. Und wir ärgern uns, wenn sie uns nicht sagen, was wir tun sollen. Eine Autonomie (Autonomia) zu organisieren, sich eine andere Welt vorzustellen, eine Revolution im Lichte dieser Ereignisse zu machen, erfordert viel mehr Ernsthaftigkeit, Bescheidenheit und Arbeit von unserer Seite. Ein positives Element scheint aus dieser Krise hervorzugehen: die Trennung des Individuums vom Nicht-Individuum/nicht individuellen - diese ethische, politische Kategorie scheint endlich eine direkt wahrnehmbare Inkarnation zu erfahren.

Die Kürzungen der öffentlichen Gesundheitsversorgung sind beschissen. In den Bergen Skifahren zu gehen, während man in Quarantäne sein sollte, ist ein beschissenes Verhalten. 100 Rollen Toilettenpapier (oder irgendein anderes Produkt) für sich selbst zu kaufen, und anderen dadurch zu berauben, ist scheiße.

Einige mobilisieren in die entgegengesetzte Richtung; für alle, für das Kollektiv. In Mailand zum Beispiel gründen einige Genoss*innen die „Brigate per l'Emergenza“ (Notfallbrigaden), die viele Freiwillige (ausgebildet und geschützt) zusammenbringen und koordinieren. Sie organisieren Menschen, die in der Lage sind, anderen Menschen, die in Schwierigkeiten sind, zu helfen. Denjenigen, die Informationen benötigen, denjenigen, die jemanden brauchen der für sie einkauft oder Medikamente besorgt. Während eine Flut von Ärzten und Krankenpfleger*innen in den Krankenhäusern unserer Region grausame Schichten übernehmen und sich selbst dabei anstecken, ist es unsere Aufgabe, sich um die Bedürftigen zu kümmern.

Jetzt gilt für uns: Ein Angriff auf das Kapital bedeutet, dass man sich um die Gemeinschaft kümmert, in diesem Moment nützliche Dienste für ihr Überleben zu leisten, und dabei effektiv und glaubwürdig zu sein.


08. März:

Menschen strömen zu den Bahnhöfen Mailands und versuchen zu ihrem Heimatort zu gelangen. Es ist eine leichtsinnige Reaktion, die nicht das Risiko einer Weiterverbreitung des Virus in andere Teile Italiens bedenkt. Sie ist Ergebnis der konfusen Kommunikation der Regierung. Und sie ist Folge von einem Mangel an Empathie und eines Individualismus, welcher in vielen weiteren Reaktionen in diesen Tagen zur Geltung kommt.


09. März:

Es gibt Aufstände in 26 italienischen Knästen mit zwölf Toten in weniger als zwei Tagen. Es ist das erste Mal in unserer jüngeren Geschichte, dass sich Gefängnisaufstände wie ein Waldbrand in ganz Italien ausbreiten. Und es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass Gefangene* die Kontrolle über einzelne Bereiche, oder sogar ganze Knäste übernehmen. Den stärksten Aufruhr gab es in Modena, wo Gefangene* das gesamte Gefängnis für ein paar Stunden unter ihre Kontrolle gebracht haben. Aber es handelt sich hier auch zugleich um einen der blutigsten Kämpfe. Mehr als zehn Gefangene* sind bei dem Aufstand gestorben. Bisher hat sich der Staat nicht einmal bemüßigt gefühlt, eine offizielle Version der Todesumstände vorzulegen.

Bei den vielen Bildern dieses Tages, sind jene vielleicht die Eindrücklichsten: Verschiedene Gruppen von Frauen* und Unterstützer*innen (Mütter, Ehefrauen und Kinder der Gefangenen) vor den Toren der Knäste in Mailand, Neapel, Rom, Ferrara, Bologna, Rieti und Pescara, besorgt um die Gesundheit ihrer Liebsten und lautstark fordernd „Lasst sie frei, begnadigt sie, Amnestie“. Ein anderes eindrückliches Bild ist jenes von Gefangenen* während des Aufstands, die auf das Gefängnisdach in San Vittore (Mailand) klettern und ein Banner mit der Aufschrift „Freiheit“ halten, während im Hintergrund schwarzer Rauch aus einem angrenzenden Gefängnisbereich in den Himmel steigt. Ein letztes Bild ist jenes der Flucht von über 40 Gefangenen aus dem Knast in Foggia - aufgenommen von Überwachungskameras.

Italienische Knäste waren schon vor der aktuellen Situation am Rande des Kollapses. Sie gelten als völlig überfüllt. Die hygienischen und sanitären Bedingungen sind an den Grenzen des Ertragbaren. Als die Coronavirus-Epidemie in Italien immer schlimmer wurde, dachte die Regierung nicht im Geringsten daran, die Gefängnisse zu leeren - wie es sogar von einigen Richtern gefordert wurde. Sie erließ stattdessen absurde Maßnahmen, wie beispielsweise ein Gesprächsverbot (ausgenommen per Video und Telefon), ein Verbot Post entgegenzunehmen oder weitere Beschränkungen des Zutritts und Verlassens des Gefängnisses.

Es folgt das Dekret #iorestoincasa (#ichbleibezuHause). Die „Rote Zone“ wird auf ganz Italien erweitert. Einzelhandelsgeschäfte müssen schließen, Ausnahmen gelten nur für den Verkauf von Nahrungsmitteln und für Güter zur Befriedigung von Grundbedürfnissen. Gaststätten und Restaurants müssen schließen (dazu zählen auch Bars, Kneipen, Eisdielen und Bäckereien). Dienstleistungen mit direktem Kontakt werden ebenso verboten (dazu gehören u.a. Friseure und Kosmetiksalons). Banken, Finanzdienstleistungen und Versicherungen bleiben geöffnet. Ebenso wie die Landwirtschaft und Tierhaltung zur Nahrungsmittelherstellung. Bei den wirtschaftlichen Tätigkeiten wird den Unternehmen empfohlen, so viel Home-Office wie möglich zu nutzen. Lohnabhängige sollen Anreize erhalten, bezahlten Urlaub zu nehmen. Sicherheitsvorschriften zur Kontaktvermeidung werden eingeführt und sanitäre Maßnahmen werden gefördert.


10. März:

In Frankreich verkleiden sich Menschen als Schlümpfe und ziehen unter dem Motto „das Virus wegschlumpfen“ durch die Straßen. „Versteht ihr nicht, was hier los ist?“ - das sind unsere Ansagen an unsere Freund*innen, die weit weg sind - in den USA, in Frankreich oder Deutschland. Es erscheint uns schon verrückt, wie sehr wir uns nach so kurzer Zeit bereits verantwortlich fühlen. Wir haben keinen Krieg, keinen wirklichen Hunger und keine Pest erlebt, doch nun sehen wir uns dennoch mit einer historischen Situation konfrontiert. Im Angesicht der realen Katastrophe, die kein bloßes Gedankenspiel ist, bringen uns die klassischen Diskurse um Biopolitik und die staatliche Kontrolle der Bevölkerung nicht weiter auf dem Weg zu einer kollektiven Antwort.

Sich die Hände zu waschen, sich nicht in Gruppen zu versammeln, zu Hause zu bleiben, jede Form des alltäglichen Lebens zu unterbrechen, sind verantwortungsbewusste Handlungen. Es sind Formen einer grundlegenden Empathie, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Wir müssen verstehen, dass diese Handlungsweisen tatsächlich in der Lage sind uns, unsere Liebsten und all die älteren Menschen, die wir nicht persönlich kennen, zu retten. Es geht darum den Druck von den öffentlichen Krankenhäusern zu nehmen, bei denen die Effekte der vergangenen Einsparungen in der öffentlichen Gesundheit jetzt zu erleben sind.

Die zwingende Notwendigkeit des Augenblicks liegt darin, sich nicht von den Geschehnissen zu entfremden. Es gibt einen realen Ausnahmezustand, der nach wie vor die Ausgeschlossenen, Vergessenen und Überflüssigen am Stärksten trifft. In den Verlautbarungen der „geeinten Nation“ zur Pandemie tauchen etwa Gefängnisse und Fabriken nicht auf.

Es ist nicht die Zeit, um die eine Variante von „antagonistischem“ Denken gegen die andere auszuspielen. Das gliche einem lächerlichen Wettrennen von denjenigen, die nach der einzig wahren Interpretation zur derzeitigen Situation suchen. Ereignisse überkommen uns, wir mussten das immer wieder lernen. Durch diese Ereignisse lernen wir, wie unsere Gedanken (um)geformt werden, wie sie sich in der Realität behaupten müssen. Selbstverständlich beängstigen uns die neuen Sicherheitsmaßnahmen und die Frage, was und wie lange sie bleiben werden, wenn die Notsituation vorbei ist. Wie sie verwendet werden, wie es weitergeht – wenn nicht einmal im Moment des Kollapses die Fabriken und die Gefängnisse geschlossen werden.


10. März:

Die Börsenkurse brechen ein.


11. März:

Der Präsident der Ärztevereinigung der Provinz Varese stirbt.


13. März:

Boris Johnson erklärt: „Gewöhnt euch dran, eure Liebsten zu verlieren“. Der Plan der britischen Regierung scheint es zu sein, 60 Prozent der britischen Bevölkerung zu infizieren, um eine Herdenimmunität zu entwickeln.

Eine Welle von spontanen Streiks findet in ganz Italien statt – initiiert durch die Gewerkschaft Si.Cobas. In den Fabriken wird trotz der Notlage weitergearbeitet. Dies ist ein Auszug aus einem Zeitungsartikel, der von dem Treffen zwischen Regierung und Arbeitgeberverband berichtet und die Situation gut zusammenfasst:

„(…) Die Unternehmen beharren auf eigenverantwortlicher Selbst-Regulierung, die weniger restriktiv und ohne Sanktionen ist. Eine Art freiwilliger Kodex von guten Verhaltensregeln, die Unternehmen befolgen können oder nicht, in vollständiger Unabhängigkeit, ohne dies mit Betriebsräten oder den Arbeiter*innen direkt abstimmen zu müssen. Und ohne zur Schließung gezwungen zu werden, wenigstens für ein paar Tage, um die sanitären Einrichtungen in Ordnung zu bringen (…)“.

Der Bericht eines Arbeiters:

„Ein Freund ist bis gestern zur Arbeit gegangen. Er hatte seinem Vorgesetzen eine E-Mail geschrieben, dass die Arbeitsumstände nicht angemessen seien. Zu viele Menschen im Büro, keine Masken, die Kantine noch in Betrieb. Seine Warnung wurde erst ignoriert und als die Vorgesetzten genervt waren, wurde ihm individuell angeboten von zu Hause zu arbeiten, ohne die Schutzmaßnahmen für die anderen auszuweiten. Am 15. März musste ein Arbeitskollege von ihm wegen der Infizierung mit dem Corona-Virus an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden und zwei weitere Kollegen wurden ebenfalls positiv getestet. Daraufhin ist eine andere Kollegin mit Mundschutz auf die Arbeit gekommen und wurde von den Securities und dem Vorgesetzten aufgefordert, sie abzunehmen, um die Verbreitung von Panik zu vermeiden. Ihre Bitte, diese Anweisung schriftlich zu bekommen, führte dazu, dass auch sie von zu Hause arbeiten konnte. Am nächsten Tag folgten viele dem Beispiel und kamen mit Mundschutz, um nicht mehr im Betrieb arbeiten zu müssen.“

Das Kapital und die Bosse werden immer das Geld und den Profit über das Leben und die Gesundheit der Menschen stellen – das ist keine neue Einsicht, aber in der jetzigen Situation umso offensichtlicher.


14. März:

Chinesische Hilfe für Italien: Material, Experten und die Arbeitsergebnisse von tausenden Ärzt*innen.


15. März:

In Italien gibt es nach offiziellen Angaben mindestens 20.603 Infizierte, 1.809 Tote, 2.333 Geheilte und 1.672 Personen in Intensiv-Behandlung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO erklärt die Corona-Virus-Epidemie zur Pandemie. Sie merkt eine „Alarmierende Untätigkeit der Regierungen“ an.


16. März:

27.980 Infizierte in Italien. In 24 Stunden gibt es 2.470 Fälle mehr, die Gesamtzahl der Gestorbenen liegt bei 2.158. Die Anzahl der Toten steigt um 349 an nur einem Tag. 7.000 Tote gibt es bereits weltweit. Die EU isoliert sich selbst und schlägt die Schließung der Außengrenzen vor. In Italien ist Sizilien isoliert. Das Betreten, wie Verlassen der Insel ist verboten.

Es folgt ein Börsencrash. Die Regierung kündigt ein weiteres Maßnahmenpaket an: D1 „Cura Italia“. 25 Milliarden Euro für Unternehmen und Familien. Die Gefängnisse in der Lombardei „kollabieren“. Der Haftrichter bittet Minister Bonafede alle Haftstrafen unter vier Jahren und verringerte Haftstrafen in Hausarrest umzuwandeln, weil die Gefängnisse zu platzen drohen. Das Risiko von Ansteckungen sei sehr hoch und es könnten neue Aufstände ausbrechen.

Die USA testen den ersten Impfstoff gegen Covid-19 mit einem Meerschweinchen. Die Stadt New York schließt Schulen, Bars und Restaurants. In Las Vegas gehen die Lichter in den Casinos aus.


Es handelt sich um die Übersetzung eines Textes von unterschiedlichen Genoss*innen aus Mailand durch das malaboca-Kollektiv. Viele sind nun auch in den „Brigate Volontarie per l’emergenza“ aktiv.