Angeklagt wegen sozialistischer Parteigründung
Mithatcan Türetken wurde am 11. September 2018 gemeinsam mit unserem Genossen und Kollegen Max Zirngast, sowie Hatice Göz und Burçin Pekdemir aufgrund des Vorwurfs der „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ inhaftiert. Mithatcan ist Gründungsmitglied der sozialistischen Toplumsal Özgürlük Partisi (TÖP). Wir haben darüber beim re:volt magazine berichtet.
Am 24. Dezember 2018 wurde Mithatcan gemeinsam mit Max und Hatice aus der Haft entlassen, aber das absurde Verfahren dauert an. Am 11. April 2019 fand nun der erste Prozesstag statt. Die Solidaritätskampagne #FreeMaxZirngast hat einen ausführlichen Bericht zum ersten Gerichtstermin sowie die Verteidigungsrede von Max öffentlich zugänglich gemacht. Wir haben die Verteidigungsrede von Hatice veröffentlicht; hier nun diejenige von Mithatcan. Freiheit für alle politischen Gefangenen!
Sehr geehrtes Gericht,
bevor ich zu den Behauptungen und Bewertungen, die in der Anklageschrift gegen mich vorgetragen werden, Stellung nehme, möchte ich zuerst meine Meinung kundtun zu einigen verzerrten und unwahren Darstellungen hinsichtlich einiger Aktivitäten oder Personen.
Was ist Toplumsal Özgürlük?
Ich bin aktives Gründungsmitglied der Toplumsal Özgürlük Partisi (TÖP; dt.: Partei für Soziale Freiheit). In der Türkei eine sozialistische Partei zu gründen ist ein von der Arbeiter_innenklasse und den Werktätigen erkämpftes Recht; und ich arbeite innerhalb dieses Rahmens dafür, eine legale Partei zu gründen, was immer die Erfordernisse sein mögen. Mit Materialien wie Zeitungen, Flyer, Plakate, Broschüren und so weiter, die die politische Linie unserer Partei den Menschen näherbringen sollen, beschäftige ich mich und verteile sie. Ich schreibe für unsere Monatszeitung und verteile sie in meinem Umfeld. Ich nehme an Sitzungen, Presseerklärungen, Demonstrationen und dergleichen zu politischen Entwicklungen in der von uns bewohnten Region teil und drücke meine Gedanken innerhalb dieses Rahmens aus.
Unsere Partei ist jedoch kein verlängerter Arm einer anderen politischen Struktur oder Organisation, wie in der Anklageschrift behauptet wird. Toplumsal Özgürlük ist nichts außer der Form, in der sie sich selbst zum Ausdruck bringt. Ihre ganze Arbeit ist legal und legitim. Alle ihre Aktionen, Aktivitäten und Ankündigungen und die jeweiligen Umsetzungen macht sie öffentlich via soziale Medien, Zeitungen, Nachrichtenagenturen oder anderen Kommunikationskanälen bekannt. Ihre Arbeit und Politik sowie ihren ideologischen Rahmen bestimmt sie ausschließlich in ihren eigenen Organen und Einheiten. Sie formt mit keiner anderen Organisation ein bestimmendes Verhältnis in diesem Sinne. Selbstverständlich tritt sie in Verbindung zu und kommt zusammen mit vielen Parteien oder Vereinen, denen sie sich nahe fühlt und die offene, legale politische Arbeit machen. Jede geknüpfte Verbindung macht sie offen, für alle einsehbar und im Wissen der Öffentlichkeit. Sie geht keine verdeckten oder geheimen politischen Verbindungen ein.
Wir positionieren unsere politische Arbeit innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Kräfte. Gemeinsam mit Feministinnen*, jungen Menschen, Öko-Aktivist*innen, Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden, Glaubensgruppen, deren Kultur, Sprache und Traditionen innerhalb der bestehenden Ordnung unterdrückt werden und in der Mehrheitsgesellschaft aufgelöst werden sollen, Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihrer Identität diskriminiert werden, und Arbeiter*innen, die ohne Gewerkschaft für niedrigen Lohn und unter prekären Bedingungen arbeiten und systematisch Arbeits„morden“ ausgesetzt sind versuchen wir, unsere Gründung zu verwirklichen. Wir versuchen, uns so zu positionieren, dass sich diese gesellschaftlichen Kräfte für sich selbst ein freies Leben aufbauen können.
Außerhalb unserer Partei entwickeln wir solidarische Beziehungen zu institutionalisierten demokratischen Massenorganisationen und Vereinen dieser besagten popularen Kräfte und wir übernehmen in diesem Rahmen auch Verantwortungspositionen in einigen Organisationen und Vereinen.
Mit den in der Anklageschriften genannten Organisationen wie dem Mor Dayanışma Frauenverein, den Campushexen, die Serüven Kulturzentren, die Emekçi Gençlik Dernekleri (Arbeiter*innenjugendvereine), die Özgürlükçü Gençlik Dernekleri (Freiheitliche Jugendvereine) und so weiter gehen unsere Freund_innen eine solidarische Beziehung ein; es handelt sich dabei um legale Strukturen, in denen sie innerhalb des instutionalisierten Rahmens Verantwortung übernehmen. Die Verbindungen zu diesen Vereinen und Initativen sind bekannt und werden offen geführt. Diese Vereine sind unabhängige legale Strukturen, die gemäß ihrer eigenen Organe Entscheidungen treffen. Es gibt keinen Verbotsentscheid gegen auch nur einen dieser Vereine. Ihre Statuten und Gründungsdeklarationen sind vom Vereinsamt bestätigt worden.
Haben wir organische Beziehungen zu einer „Terrororganisation“?
Aus den Materialien aus unseren Wohnungen und der Observation und Abhörung ist klar ersichtlich: Es gibt keinen einzigen Beweis, der es zuließe, eine Verbindung zwischen uns und der Organisation, deren legale Frontorganisation wir sein sollen [In der Anklageschrift ist hier von der Türkischen Kommunistischen Partei / Kıvılcım (TKP/K) die Rede, Amn. Red.], herzustellen. Weder TÖP noch ein anderer der genannten Vereine ist der verlängerte Arm oder die Frontorganisation einer anderen Struktur. Die Behauptungen werden wir einfach nicht akzeptieren, wir weisen sie entschieden zurück!
Dass es keine Verbindung zwischen uns und der Organisation, deren Frontorganisation wir sein sollen, gibt, ist von der Anklagebehörde höchstselbst nachgewiesen worden. Daher ist die Behauptung, gemäß der wir Rekrutierungsarbeit für die TKP/K machten und den Anordnungen der Organisation entsprechend handelten, das Ergebnis eines realitätsfernen, unbewiesenen und nicht ernst zu nehmenden Plots. Wo haben wir denn mit dieser Struktur Verbindung aufgenommen? Mit welchem Mitglied haben wir uns getroffen und Befehle entgegen genommen? Welches Mitglied von uns ist mit dieser Struktur in Verbindung getreten? In welchem unserer Publikations- oder Propagandaorgane haben wir irgendein Wort hinsichtlich dieser Struktur verloren? Fragen dieser Art bleiben unbeantwortet. Wie auch unsere Anwälte ausgeführt haben, ist nicht einmal die Existenz der infrage stehenden Organisation TKP/K bewiesen.
Des Weiteren wird in der Anklageschrift selbst ausgeführt, dass wir an keiner einzigen gewalttätigen Aktion teilgenommen haben und darüber hinaus unsere Arbeit von Gesellschaft und Staat unterstützt werden müsse. Da unsere politische und soziale Arbeit laut derselben Anklageschrift jedoch der Rekrutierung für eine illegale Struktur diene, wurde sie zum Gegenstand dieses Prozesses. Allerdings wurde keine Verbindung gefunden, die Gegenstand einer Untersuchung werden könnte.
Wer war Hikmet Kıvılcımlı?
Ich möchte kurz eine Erklärung machen zu den Büchern und Gedanken von Dr. Hikmet Kıvılcımlı, die in der Anklage als Beweis geführt werden.
Dr. Hikmet Kıvılcımlı kämpfte als junger Mann auf Seiten der Kuvâ-yı Milliye [„Nationale Kräfte“; in den Jahren 1918-1921 erste irreguläre Militärkräfte des türkischen Unabhängigkeitskrieges, gebildet aus ehemals jungtürkischen Offizieren und Milizen; Anm. d. Red.] in der Zeit des Befreiungskrieges und politisierte sich so sehr früh. Er ist jemand, der in seinem bewegten Leben unzählige Bücher verfasst, in verschiedenen Parteien seine Gedanken zum Ausdruck gebracht hat und im Übrigen einer der wenigen bedeutenden Philosoph_innen, Politiker_innen, Gesellschaftswissenschaftler_innen, Forscher_innen und Autor_innen ist, die unser Land hervorgebracht hat. Seine Forschungen und Bücher zur osmanischen Geschichte, der Geschichte des Islams, der Entwicklung des Kapitalismus in der Türkei und in diesem Zusammenhang auch seine Arbeiten zu Frauen, der Jugend oder der Nationalitätenfrage werden noch heute an den Universitäten und auf Symposien diskutiert und zum Vorbild genommen. Er war eine sozialistische Führungspersönlichkeit, der sein Leben der Befreiung der Arbeiter_innenklasse widmete. Seine Bücher sind vielerorts erhältlich. Sein Leben war Gegenstand eines Dokumentarfilmes des TRT [Türkisches Staatsfernsehens; Anm. d. Red.] in Rahmen einer Serie, die Intellektuelle, Autor_innen und Philosoph_innen aus unserem Land behandelte. Jedes Jahr an seinem Todestag wird ihm an seinem Grab gedacht, verschiedene Institutionen sind in ihrem Gedankengut von ihm beeinflusst und darüber hinaus ist er Gegenstand von universitären Seminar- und Abschlussarbeiten.
In unseren politischen Ideen und unserer politischen Ausrichtung profitieren wir von unzähligen Quellen. Leben und Denken aller Philosoph_innen, Politiker_innen und Revolutionär_innen ist für uns wertvoll. In diesem Sinne lese ich natürlich die Bücher eines so vielfältigen und bedeutenden Menschen, der noch dazu aus unserem Land stammt. Ich habe seine Bücher zuhause und ich lese sie regelmäßig. Es gibt keinen Konfiskationsentscheid über irgendeines der Bücher von Hikmet Kıvılcımlı. Im Zuge der Polizeirazzia wurden seine Bücher jedoch besonders ausgewählt, um den Eindruck einer Verbindung zu der infrage stehenden Organisation zu erwecken. Dies ist eine gegenstandslose Form der Beweisfindung, die eine bestimmte Wahrnehmung entstehen lassen soll. Über die Bücher, die wir lesen, eine Verbindung zu einer illegalen Organisation herzustellen und uns darauf basierend anzuklagen, ist nur ein weiteres negatives Attribut für das Rechtssystem dieses Landes. Bücherlesen kann nicht als Beweis für die Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation gelten.
Was ist ein „Beweis“ und was nicht?
Nun zu den Behauptungen in der Anklageschrift. Ich betone nochmal, dass die Materialien, die aus unseren Häusern genommen wurden – wie Bücher, Broschüren, Plakate, Zeitungen – zu einem Großteil offizielle Dokumente der Partei und der Vereine waren, an deren Aktivitäten wir beteiligt sind. Alle diese Materialien sind meine und nichts davon stellt einen Straftatbestand dar. Die Bewertungen hinsichtlich der monatelangen polizeilichen Observationen bestehen ausschließlich aus den Cafés, in die wir gingen, sowie den Sitzungen und Veranstaltungen, an denen wir teilnahmen. Keine anderen Indizien wurden gefunden. Diese monatelange Observation von uns allen brachte keine Resultate außer den Aufwandskosten. Mein Facebookprofil, meine Telefongespräche und meine Internetkorrespondenz sind quasi als Gesamtheit als Beweis vorgetragen wurden, jedoch wurden keine geheimen verdeckten Codes entdeckt und können auch nicht entdeckt werden. In diesem Sinne ist in den gesamten 8000 Seiten der Beweisaufnahme nichts Ernstzunehmendes zu finden. Ich gebe einige Beispiele für die Absurdität.
- Ein Transparent, das wir am 6. Mai bei einem Kleinfeldfußballmatch gezeigt haben, wurde als Propaganda für eine Organisation klassifiziert. Bekanntlich ist der 6. Mai [1972] der Tag, an dem Deniz Gezmiş [zentraler Aktivist der 68er-Bewegung in der Türkei; Gründer der antiimperialistischen, linkskemalistischen Untergrundorganisation THKO; Anm. d. Red.] und seine Genossen erhängt wurden. Deniz und seine Freunde gehören zu den wenigen revolutionären Jugendführern in dieser Region. Ihrer zu gedenken ist kein Straftatbestand. Das Transparent in Frage war keine Propaganda für irgendeine Organisation, sondern wie aus seinem Inhalt und seiner Anwendung ersichtlich ein Protest gegen die Todesstrafe.
- Die Anklageschrift behauptet, dass die von uns im Tuzluçayır-Viertel von Ankara/Mamak organisierten Solidaritäts- und Sommerkurse für Kinder der Rekrutierung von Kadern für die Organisation dienten. Dieser Vorwurf ist niederträchtig und völlig inakzeptabel. Kindern in ärmeren Vierteln kostenlosen Mathematik- und Englischunterricht zu geben ist keine Straftat. Es stellt keine Straftat dar, die Kreativität von Kindern mit Workshops zu kreativem Drama, Musik und Malen zu fördern. Wir stehen hinter diesen Aktivitäten und wir werden weitermachen damit. Wenn das Gericht will, kann es die Familien der jeweiligen Kinder anhören. Wenn auch nur ein Elternteil etwas Negatives über uns berichtet, nehmen wir gerne Stellung hierzu. Aber so, wie die Vorwürfe in der Anklageschrift aufgelistet sind, darauf Bezug zu nehmen und uns zu „verteidigen“, wäre geradezu eine Beleidigung unserer selbst und der Kinder. Das Rekrutieren von Kindern für illegale Organisationen ist die Mentalität des IS. Sie können uns nicht auf dieser Grundlage verurteilen.
- Es wird behauptet, dass es ein Straftatbestand sei, Flyer und Plakate von TÖP zu verteilen oder aufzuhängen. Diese und ähnliche Aktivitäten sind Bestandteil der Gründungsinitiative unserer Partei und werden offen durchgeführt. Mit der genannten illegalen Organisation haben sie rein gar nichts zu tun. Eine solche Behauptung aufzustellen, ohne einen Beweis für die Verbindung zu dieser besagten Organisation vorzubringen, bedeutet schlicht und einfach uns das Recht auf eine legale Parteigründung zu rauben.
- Der Serüven Kulturverein in Ankara, in dem ich einen Bağlama-Kurs [Musikinstrument, Anm. Red.] geleitet hatte, wurde als Beweis für meine Verbindung zur infrage stehenden illegalen Organisation angeführt. Den Serüven Kulturverein gibt es in vielen Städten. Es handelt sich um einen legalen Verein, in dem sich junge Menschen mit Kunst und Kultur auseinandersetzen. Dabei meinen Beitrag zu leisten und gratis einen Kurs anzubieten, war und ist für mich eine soziale Aktivität. Dass dieser Verein keine irgendwie geartete Verbindung zur TKP/K hat, versteht sich ohnehin schon aus der Anklageschrift. Vereine dieser Art auf diese haltlose Weise zum Gegenstand einer Untersuchung zu machen ist gewiss keine rechtliche, sondern eine mutwillige Herangehensweise.
Anstatt auf die vielen sich ähnelnden Behauptungen einzeln einzugehen, glaube ich mich mit meinen Ausführungen ausreichend selbst erklärt zu haben. Ich komme zum Schluss.
Was wollen wir?
Wir sind Sozialist*innen. Wir fordern das freie Leben in unserem Land. Unsere politische Arbeit zielt auf die Bewahrung erkämpfter Rechte und auf weitergehende Forderungen nach einer demokratischen Verfassung, die das Recht auf Mobilität, Wohnen, Gesundheit, Bildung und so weiter garantiert. Wir wollen eine demokratische Republik statt des bestehenden despotischen politischen Verwaltungs- und Exekutivsystems, das auf Femiziden, Arbeiter*innen„morden“, Ausbeutung der Arbeit, Naturzerstörung und konfessionell-sektiererischer Politik aufgebaut ist. Wir sind dafür angeklagt, Dinge getan zu haben, die wir nicht getan haben, und Mitglieder einer Organisation zu sein, der wir nicht angehören. Diese Anklage ist ganz deutlich darauf gerichtet, andersdenkende Oppositionelle in Schach zu halten und abzuschrecken. Die Parteigründung der TÖP soll auf diese Weise verhindert werden und dadurch wird das Recht auf Parteigründung beschnitten. Unsere Gedanken und Tätigkeiten sind offen und klar. Und wir werden in dem Rahmen, den ich hier beschrieben habe, unsere politische Arbeit fortsetzen.
Aus dem Türkischen übersetzt von Max Zirngast; leicht redaktionell bearbeitet von der Redaktion.