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Wider die Zwangsverwaltung von Erdoğans Gnaden

murat 2.jpg Murat Bay / sendika.org

Anmerkung der Redaktion: Seit der Ernennung des AKP-Mitglieds Melih Bulu als Rektor der Boğaziçi Universität durch Präsident Erdoğan am 1. Januar protestieren die Studierenden und große Teile der Lehrenden der Universität gegen Bulu. Die Boğaziçi Universität gilt als beste staatliche Universität des Landes und besitzt eine lange Tradition der Selbstverwaltung und eines liberal-humanistischen Geistes. Seit langem ist die Universität ein Dorn im Auge der AKP, weil sie die Universität nicht kontrollieren kann. Seit langem versucht die AKP, die Autonomie der Universität zu zerschlagen.

Gegen Bulu wird demonstriert, weil er nicht von den Mitgliedern der Universität gewählt wurde und daher zurecht als Zwangsverwalter von Erdoğans Gnaden gesehen wird, der die Universität brechen und auf Linie bringen soll. Die Demonstrierenden protestieren aber ebenfalls gegen die unzähligen anderen vom Regime eingesetzten Stadtverwalter – zumeist anstelle gewählter HDP Bürgermeister*innen – oder Rektoren an anderen Universitäten.

Die Proteste eskalierten Ende Januar erneut, nachdem eine Ausstellung von Studierenden attackiert wurde und wegen den angeblich religionsfeindlichen Inhalten eines Bild dieser Ausstellung eine staatliche Kampagne gegen LGBTI+ Individuen gestartet wurde. Der Innenminister Süleyman Soylu sprach in einem Tweet von „LGBT Perverslingen“ und zwei Studierende wurden verhaftet. Im Laufe der letzten Woche weiteten sich daraufhin die Proteste aus auf Izmir, Ankara, Istanbul und andere kleinere Städten, die meist mit Polizeigewalt und hunderten von Festnahmen beantwortet wurden. Das Regime ist offensichtlich in Panik über eine Protestwelle, die so etwas ähnliches auslösen könnte wie die Gezi-Bewegung 2013.

Gestern wurde der Ton noch einmal rauher, als Erdoğan selbst in den Ring stieg. Er sagte, mit Bezug auf die Forderung nach dem Rücktritt von Melih Bulu, dass die Protestierenden doch den Rücktritt des Präsidenten, also von ihm, fordern sollten, wenn sie genug Mut hätten. In der selben Rede referierte er auf den liberalen Mäzen Osman Kavala, der seit Jahren inhaftiert und als „Organisator der Gezi-Proteste“ angeklagt ist, und dessen Frau Prof. Ayşe Buğra, eine international anerkannte Wissenschaftlerin, die seit vielen Jahren an der Boğaziçi Universität unterrichtet. Erdoğan nannte sie „die Frau von Kavala“. In der Nacht kam dann die nächste Attacke: Per Präsidialdekret wurden neue Fakultäten an der Boğaziçi Universität gegründet, unter anderem der Jurisprudenz und Kommunikation. Es ist offensichtlich, dass das Ziel ist, regimetreue Kader an die Uni zu bringen, um Unterstützung für Melih Bulu zu organisieren. Kurz darauf veröffentlichte die Boğaziçi-Solidarität einen offenen Brief an den Präsidenten, den wir hier vollständig in Übersetzung und mit zusätzlichen redaktionellen Anmerkungen dokumentieren.

Offener Brief an den 12. Präsidenten der Türkei

Wir hatten schon zuvor Melih Bulu mit dem Gedicht „Gedichtversuche über einen Provokateur“ geantwortet. Es ist erfreulich, dass Sie verstanden haben, dass der eigentliche Verantwortliche Sie selbst sind und dass Sie uns geantwortet haben. Bisher haben Sie über die Stiftung TÜRGEV [Türkische Stiftung für Jugend und Bildung; der Sohn Erdoğans sitzt im Leitungsgremium, Anm. d. Red.] unter der Hand mit uns Kontakt aufgenommen. Jetzt versuchen Sie also über die Medien mit uns zu diskutieren. Wir mögen keine Mittelspersonen und bevorzugen es, direkt und offen für alle in Kontakt zu treten. Wir hoffen, dass auch Sie auf diese Art weitermachen werden.

Zuerst möchten wir Sie noch einmal an die Gründe unserer Proteste und an unsere Forderungen erinnern:

Sie haben die Studierenden und Lehrenden unserer Universität ignoriert und einen Zwangsverwalter eingesetzt. Ist das, was sie gemacht haben, legal? Ja, wie Sie ja auch bei jeder Gelegenheit betonen, ist es legal, aber legitim ist es nicht. Diese Einsetzung bringt jeden in dieser Gesellschaft, der oder die auch nur ein Krümelchen Gerechtigkeitsbewusstsein besitzt, dazu, sich dagegen zu erheben!

Obendrein eröffnen Sie dann auch noch in einer Schnellschusserklärung Freitag nachts Fakultäten und setzen Dekane ein, um die Lehrenden, Studierenden, Arbeiter*innen und die ganze Institution zu unterdrücken. Es ist ein Ausdruck der politischen Krise, in der Sie sich befinden, dass Sie versuchen, unsere Universitäten mit ihren eigenen politischen Militanten zu besetzen. Die Opfer dieser Krise werden jeden Tag mehr!

Wir nutzen unsere von der Verfassung garantierten Rechte, um alle Teile der Gesellschaft auf die Ungerechtigkeit, die uns angetan wird, aufmerksam zu machen. Unsere Forderungen sind:

- Alle unsere Freund*innen, die während der Proteste festgenommen wurden, sollen sofort freigelassen werden!

- Die diskreditierenden Kampagnen gegen unsere LGBTI+ Freund*innen und alle anderen als Zielscheibe ausgegebenen Gruppen müssen enden!

- Alle Zwangsverwalter sollen zurücktreten, allen voran Melih Bulu, der der Grund für diese Festnahmen, Verhaftungen und Sündenbockpolitik ist!

- An den Universitäten sollen demokratische Rektoratswahlen stattfinden, an denen alle Teile der Universitäten teilnehmen!

Sie haben einen Satz gesagt, der mit den Worten „wenn sie mutig genug sind“ anfängt. Ist es ein von der Verfassung garantiertes Recht, den Präsidenten zum Rücktritt aufzufordern? JA! Seit wann ist es dann eine Frage des Mutes, ein von der Verfassung garantiertes Recht in Anspruch zu nehmen? Verwechseln Sie uns nicht mit jenen, die sich Ihnen bedingungslos unterwerfen. Sie sind kein Sultan und wir nicht Ihre Untertanen.

Aber da Sie schon von Mut gesprochen haben, wollen wir auch darauf eine Antwort geben:

Wir haben überhaupt keine Immunität! Sie aber agieren seit 19 Jahren unter einem Panzer an Immunität.

Der Innenminister lügt und missbraucht dafür religiöse Empfindlichkeiten. Aber wir halten dagegen, dass wir keine Selbstzensur anwenden werden.

Ihr nennt unsere LGBTI+ Freund*innen Perverslinge, aber wir sagen, dass die Rechte von LGBTI+ Individuen Menschenrechte sind.

Ihre Parteifreunde treten in Soma Bergarbeiter [1], wir hingegen stehen Seite an Seite mit den Arbeiter*innen und werden das auch weiterhin tun.

Sie halten die ehemaligen Vorsitzenden der HDP ohne rechtliche Grundlage im Gefängnis. Ebenso Journalist*innen und Gewerkschafter*innen. Wir hingegen sind eins mit denjenigen, die ohne Furcht die Wahrheit laut hinausrufen, und sind gegen alle Zwangsverwalter.

Sie lassen die Mutter von Berkin Elvan auf Kundgebungen ausbuhen. Wir sagen, wir stehen an der Seite Berkin Elvans. [2]

Sie pöbeln Ayşe Buğra an und machen sie zur Zielscheibe, indem Sie sagen: „die Ehefrau von Osman Kavala ist auch unter diesen Provokateuren”, und erwähnen dabei nicht einmal ihren Namen. Mit dieser rohen Ausdrucksweise, die suggeriert, die einzig nennenswerte Eigenschaft einer Frau sei es, die Ehegattin von einem Mann zu sein, bringen sie eine sexistische, einfältige Überzeugung zum Ausdruck. Wir hingegen sagen: „Ayşe Buğra ist unsere geschätzte Dozentin und eine Wissenschaftlerin.“ Wir sagen: „Einen Angriff auf sie verstehen wir als einen Angriff auf uns.“

(Wir wissen, dass Sie wegen dieses Briefes dutzende Verfahren eröffnen werden wegen Verherrlichung von Verbrechern oder Beleidigung des Präsidenten, aber wir wissen auch, dass wir niemals aufgeben werden, das Richtige zu sagen!)

Sich mit neugegründeten Fakultäten und einem aufgeblähten Lehrkörper auf den Beinen zu halten, da Ihre Kraft nicht ausreicht, um den von Ihnen selbst eingesetzten Rektor an der Uni zu halten, ist kein sonderlich wagemutiger Schritt. Aus diesem Grund nehmen wir das, was Sie über Mut sagen, nicht ernst.

Uns ist bewusst, dass weder die Boğaziçi Universität die wichtigste Einrichtung der Türkei ist, noch die Einsetzung von Melih Bulu als dessen Zwangsverwalter das größte Problem des Landes. Geht es um die Forderung nach Ihrem Rücktritt, so rufen wir Sie nicht aus diesem Grund zum Rücktritt auf. Warum?

Wenn Sie zurücktreten würden, wären sie schon längst zurückgetreten,

als Hrant Dink ermordet wurde! [3]

als in Soma 301 Minenarbeiter ermordet wurden!

als in Roboski 34 Kurd*innen ermordet wurden! [4]

nach dem Zugunfall in Çorlu! [5]

als Sie gesehen haben, dass Sie Tausende von Staatsbürger*innen arbeitslos und damit mittellos gemacht haben, allen voran die durch Präsidialdekrete Entlassenen! [6]

als die Wirtschaft so tief in der Krise steckte, dass das Volk in die Verarmung getrieben wurde. Sie hätten dann Verantwortung übernommen, statt ihren Schwiegersohn zu opfern. [7]

Es gibt noch weitere Beispiele, aber Sie sind nie zurückgetreten. Statt, um es mal mit Ihren Worten zu sagen, Mut zu bekennen, haben Sie es bevorzugt, sich so darzustellen, als seien Sie naiverweise betrogen worden. [8]

Warum sollten wir Sie jetzt zum Rücktritt aufrufen?

Solange Melih Bulu auf seinem Rektorsstuhl sitzt, werden wir unsere Proteste verstärken und fortsetzen.

Ob Sie in dieser Frage die notwendigen Schritte setzen werden, das müssen Sie selbst wissen.

Wir sind an der Seite derer, die ihrer demokratischen Rechte und Freiheiten beraubt wurden! In der Hoffnung, dass Sie verstehen, dass Sie die Unterdrückten dieses Landes nicht zum Schweigen bringen können dadurch, dass sie von den Plätzen und Rednerpulten schreien und drohen.


Der Brief wurde aus dem Türkischen ins Deutsche übersetzt von Max Zirngast und einer Genossin.


Anmerkungen:

[1] Beim durch einen Kohlenbrand ausgelösten Grubenunglück in Soma vom 13. Mai 2014 starben 301 Minenarbeiter*innen. Es war das opferreichste Grubenunglück der türkischen Geschichte. Obwohl Untersuchungen herausfanden, dass zentrale Sicherheitsvorkehrungen willentlich und bewusst nicht eingehalten wurden, so dass es einerseits überhaupt zum Unfall kommen konnte und andererseits der Unfall so viele Opfer forderte, folgten zu erst keine Konsequenzen. Erst vier Jahre später wurden drei Verantwortliche des Unternehmens unter anderem wegen fahrlässiger Tötung verhaftet. Staatspräsident Erdoğan relativierte anfangs den Vorfall mit dem Verweis darauf, dass solche Unfälle überall auf der Welt passieren. Ein Bild, auf dem zu sehen ist, wie ein Bodyguard von Erdoğan mithilfe der Polizei auf einen protestierenden Minenarbeiter schlug, wurde zum Symbolbild des Umgangs der Regierung mit dem Ereignis.

[2] Berkin Elvan war 14 Jahre alt, als er während der Gezi-Proteste am 16. Juni 2013 Brot einkaufen ging und dabei auf eine Polizeipatrouille stieß. Diese schossen ihm eine Tränengaskartusche in den Hinterkopf. Nach 14-tägigem Koma verstarb Elvan im Krankenhaus. Die Mörder wurden nicht belangt, Erdoğan nannte Elvan einen „Terroristen“.

[3] Hrant Dink, ein berühmter armenischer Journalist, wurde am 19. Januar 2007 auf offener Straße von einem fanatischen Nationalisten erschossen. Die Untersuchungen ergaben, dass hohe staatliche Stellen bis hin zur Spitze des Geheimdienstes der Polizei im Mord involviert waren oder zumindest im vornherein davon wussten. Bis zum heutigen Tage wurde die Verantwortung des Staates am Mord nicht hinreichend geklärt, ein letztes Verfahren läuft immer noch weiter. Die offizielle Version der Regierung, die sich im Laufe der Jahre je nach innerstaatlicher Bündnispolitik der AKP geändert hat, lautet mittlerweile, dass im Staat organisierte Anhänger des Predigers Fetullah Gülen den Mord organisiert hätten. Bevor das Bündnis zwischen AKP und Gülenisten zerbrach hieß es, nationalistische Cliquen unter dem Namen Ergenekon hätten den Mord organisiert, um die Gesellschaft zu destabilisieren. Nach dem Bruch zwischen AKP und Gülen wurden alle Personen, die als Mitglieder von Ergenekon inhaftiert waren, freigesprochen.

[4] Als Uludere-Massaker (türkisch) oder Roboski-Massaker (kurdisch) benennt man eine Luftwaffenoperation der türkischen Armee in der Nacht vom 28. Dezember 2011. Dabei wurden unweit der irakischen Grenze 34 kurdische Zivilisten, zumeist Schmuggler, umgebracht. Die Türkischen Streitkräfte (TSK) gingen davon aus, dass es sich um Kämpfer der kurdischen Guerillaorganisation PKK gehandelt habe. Obzwar später durchsickerte, dass die türkische Armee auf ungesicherten Informationen operiert hatte und zudem der Geheimdienst (MIT) falsche Informationen weitergeleitet hatte, wurden die Untersuchungen in ein mögliches Fehlverhalten der Armee und des Geheimdienstes auf Eis gelegt. Es folgten keine Konsequenzen für die Involvierten.

[5] Am 8. Juli 2018 entgleisten mehrere Zugwaggons auf der Zugstrecke zwischen Istanbul und dem bulgarischen Swilengrad, 25 Menschen starben. Obwohl sich im Nachhinein herausstellte, dass das Transportministerium und die Staatliche Eisenbahnbehörde der Türkei (TCDD) fahrlässig gehandelt und nicht alle Sicherheitsvorkehrungen für die Strecke getroffen hatten, spielten Gerichte und Ministerien die Angelegenheit herunter. Bis heute streiten die betroffenen Familien für Gerechtigkeit.

[6] Nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15./16. Juli 2016, den Erdoğan als „Segen Gottes“ bezeichnete, wurden Zehntausende oft gar nicht mit dem Putsch oder der Gülen-Gemeinde im Zusammenhang stehende Staatsbedienstete mittels Präsidialdekreten ihres Amtes enthoben, sozial geächtet, mit Ausreisesperren versehen und sonstig schikaniert.

[7] Die Türkei erlebte eine beispiellose wirtschaftliche Volatilität in den Jahre 2018-20, die sich vor allem für die normale Bevölkerung in einer sehr hohen Inflationsrate für Alltagsgüter und damit einhergehender Armut ausdrückte. Als Konsequenz legte der Wirtschafts- und Finanzminister, Berat Albayrak, der Schwiegersohn von Erdoğan, Ende letzten Jahres sein Amt nieder.

[8] Die Autor*innen spielen auf Erdoğan an, der nach dem Bruch zwischen AKP und Gülen gesagt hatte, dass sie von den Gülenisten „betrogen“ wurden.

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