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Unterwegs zur demokratischen Republik. Ein politisch-gesellschaftliches Programm für die Türkei

istanbul_ysk_protesto_6mayis2019_5.jpg sendika.org

Die Lokalwahlen vom 31. März 2019 brachten erneut Schwung in die Tagesordnung der Türkei. Das Land befindet sich in einer Situation von multiplen Krisen auf verschiedenen Ebenen, aus der das derzeitige Regime aber auch trotz aller Gewalt und „zivilen Putschversuchen“ nicht rauskommt.

Dabei geht es nicht nur um die akute Wirtschaftskrise, die in ihren Wurzeln viel länger zurückliegt und keine konjunkturelle Schwankung ist, sondern der Ausdruck einer Krise des Akkumulationsregimes. Ganz allgemein gefasst befindet sich das derzeitige Regime seit 2013 in einer Hegemoniekrise. Das heißt einerseits, dass sich die Herrschenden nicht darüber einig sind, wie die Gesellschaft weiterhin regiert werden soll. Sie liegen die ganze Zeit im Clinch miteinander: Der Putschversuch vom Juli 2016 ist dabei nur der brachialste Ausdruck der Widersprüche unter den Herrschenden gewesen. Die soziale Hauptgrundlage der Hegemoniekrise ist aber die Verweigerung der Zustimmung von mindestens der Hälfte des Landes zu einem sich faschisierenden Regime. Trotz all der Gewalt der letzten Jahre, der Installierung eines de facto diktatorialen Präsidialsystems, der Annullierung von „unerwünschten“ Wahlergebnissen und Hunderttausenden von entlassenen Staatsbediensteten und ebenfalls Hunderttausenden in den Gefängnissen setzt sich der Unmut in breiten Teilen der Gesellschaft fort und führt zu vielen kleinen und manchmal auch größeren widerständigen Aktionen.

Zum ersten Mal seit dem 7. Juni 2015 konnten die Hauptoppositionsparteien diesen Unmut und diese Widerständigkeit an der Wahlurne zu einem partiellen Sieg für sich organisieren. Gerade weil aber der Unmut und die Widerstände keine originären politischen Organisationsprozesse hervorgebracht haben und Parteien wie die republikanische CHP oder die MHP-Abspaltung IYI-Parti grundlegend etatistisch ausgerichtet und deshalb zu einer grundlegenden Opposition nicht fähig sind, blieb der Unmut bisher in weiten Teilen der Gesellschaft diffus, unorganisiert und im Großen und Ganzen ineffektiv. Die Aufgabe der Hauptoppositionsparteien ist es, eine Integration des widerständigen Potentials in der Gesellschaft in die bestehende Ordnung zu organisieren, um die vom derzeitigen Regime zunehmend gefährdete Fortführung der Hegemonie der Herrschenden zu garantieren. Deshalb sind sie auch nicht in prinzipieller Opposition zum Präsidialsystem an sich und setzen eine grundlegende Verfassungsänderung auch nicht auf die Tagesordnung. Wie auch immer es sich konkret ausdrückt, so ist ihr Hauptanliegen, dass die derzeitigen wirtschaftlichen, politischen und globalen Instabilitäten beseitigt werden sollen ohne dass an den Grundfesten der bestehenden Ordnung gerüttelt wird. Diese Hauptoppositionsparteien sind deshalb als restaurative Kräfte zu begreifen.

Wie groß das Risiko sein wird, dass sie dabei eingehen werden, hängt einerseits von der Schärfe der Hegemoniekrise ab: Gerade weil sich diese verschärft, sind CHP und IYI in ihrer Opposition – gemessen an ihren eigenen Standards – im letzten Jahr auch „wahrnehmbarer“ geworden. Andererseits aber werden sie nicht so weit gehen, dass die staatliche Einheit und die Einheit der Ordnung gefährdet wird. Ihnen ist klar, dass sie Zugeständnisse an die widerständigen popularen Kräfte machen müssen, um überhaupt Opposition betreiben zu können: In der bisher kurzen Phase der Bürgermeisterschaft des CHP-Kandidaten von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, wurden der 8. März zum Feiertag für Frauen erklärt und Imamoğlu beteiligte sich aktiv an der 1. Mai-Kundgebung. Darüberhinaus gab es Initiativen für Verbilligung des öffentlichen Verkehrs oder auch des Wassers sowie eine Rhetorik gegen Korruption und für Transparenz – angesichts der enormen Teuerung einerseits und der weitverbreiteten Korruption sind das Maßnahmen, die Anklang finden. Die Gefahr für die Kräfte der Restauration liegt dabei gerade darin, dass die im Sinne der Beschwichtigung betriebene Opposition und Symbolpolitik zu viel Raum öffnet – Raum für eine eigenmächtige und unabhängige Entfaltung der popularen Kräfte.

Auf Grundlage einer solchen Realität – einer permanenten, sich verschärfenden Hegemoniekrise, eines massenhaften widerständigen Potentials und Integrationsbemühungen desselben durch die Restaurationskräfte – stellt sich für Linke und Kommunist*innen die Frage: Wie könnte eine politische Perspektive aussehen, die die widerständigen Potenziale der popularen Kräfte auf Grundlage ihrer eigenen Macht und Interessen organisiert und sich dabei nicht in das Projekt der Restaurationskräfte integrieren lässt? [1]

Historische Untiefen

Wir gehören zu den Linken, die in letzter Instanz die Überwindung des Kapitalismus in Richtung einer kommunistischen Gesellschaftsformation für gut heißen. Abstraktes Beharren auf Slogans wie „diese Ordnung muss grundlegend umgewälzt werden“ oder „der Sozialismus ist die Lösung“ bringen uns jedoch nicht weiter, sondern führen einzig zu Verbalradikalismus. Der Sozialismus ist keine fertige Form, die nur noch auf die Wirklichkeit angewendet werden muss, sondern kann nur ein neuer gesellschaftlicher Metabolismus sein, der im Konkreten und materiell aufgebaut werden muss. Deshalb benötigen wir auch ein umfassendes gesellschaftliches und politisches Programm, das die popularen Kräfte zu Subjekten ihrer eigenen Umstände macht und weite Teile der Bevölkerung umfasst.

Der Name eines solchen Programmes in der Türkei ist die demokratische Republik. Den Grund dafür finden wir in der Geschichte der Türkei. Die Entwicklung des Kapitalismus und der Moderne in der Türkei ist ein Prozess gewesen ohne aktiver Beteiligung der popularen Kräfte. Unter anderem deshalb wurde die moderne Türkei niemals zu einer voll entwickelten bürgerlichen Demokratie. Die despotische Staatsstruktur, die das Osmanische Reich wiederum von Byzanz übernahm und transformierte, passte sich den Anforderungen des Kapitalismus an und setzte sich, dementsprechend umformiert, in der Türkischen Republik fort.

Auch in sozioökonomischer Hinsicht lässt sich feststellen, dass weder die Jungtürkische Revolution von 1908 [2] noch die Kemalistische Revolution [3] auf einer fortschrittlichen Industriebourgeoisie gründeten. Die Träger dieser Revolutionen waren bestimmte Kräfte innerhalb der Staatstradition des Osmanischen Reiches. Diese Kräfte waren die Staatsklassen, die sich auf die ältesten eigenständigen Formen des Kapitals, das Wucher- und Handelskapital, die ihre Profite mittels Preisaufschlag, Zins und Rente generierten, und das darauf gründende schwache anatolische Kapital stützten. Innerhalb der Staatsklassen waren es dabei insbesondere die Militärs (seyfiye), die die treibende revolutionäre Kraft darstellten. Auch wenn sie in ihrem Wunsch nach „westlicher Zivilisation“ eine Reihe moderner Reformen umsetzten, kamen sie doch aus den Bedingungen, die sie vom Osmanischen Reich erbten, nicht heraus und jeder ihrer „modernistischen“ Fortschritte war schwach, halbfertig oder entstellt.

Die Kemalistische Revolution war dazu gezwungen, sich auf das ökonomische Modell der Prellerei und der Willkür zu stützen, nicht auf eine revolutionäre Industriebourgeoisie. Zusätzlich fand die Kemalistische Revolution in einem geschichtlichen Kontext des reaktionären Finanzkapitals des Hochimperialismus statt – eine Zeit, in der sich die progressiven Elemente des Kapitalismus zurückbildeten, der Weltkrieg als Austragungsform kapitalistischer Konkurrenz genutzt wurde, der Kapitalexport in Form von Schulden und Krediten gefördert und die Kolonisierung der Länder, die verspätetet in den Kapitalismus übergingen, sowie die Erdrosselung ihrer eigenständigen Entwicklung betrieben wurde. Eine Entwicklung im wahren Sinne war unter diesen Umständen unmöglich ohne eine sofortige Initiative der Schwerindustrialisierung und der umfassenden nationalen Einheit. Aber die Revolutionen von 1908 und 1923 zeichneten sich nicht dadurch aus, dass sie eine Entwicklung des Handwerks und der Manufakturen hin zur Industrie förderten, sondern im Gegenteil das reichhaltig entwickelte Handwerk und die Manufakturen erwürgten und nur eine sehr begrenzte Industrialisierung ins Leben riefen.

Das Wirtschaftsverständnis, das die Revolutionäre vom Osmanischen Reich übernommen hatten, gründete auf einen originären Etatismus. Die Kapitaleigentümer, die gute Beziehungen zu den Staatsklassen pflegten, bereicherten sich mittels öffentlicher Aufträge sowie Prellerei und Wucher. Sie fokussierten sich mehr auf Land- und Währungsspekulation sowie große Bauaufträge als auf eine Industrialisierung, die sie für zu „riskant“ und „anstrengend“, sprich unprofitabel erachteten. Dementsprechend spielten merkantilistische Erwägungen eine größere Rolle als industrielle und entwicklungstechnische; die handeltreibenden Fraktionen nahmen eine prominente Rolle innerhalb der Bourgeoisie ein, der Staat selbst verbot den „freien Markt“. Diese Grundlagen wurden weder von der Kemalistischen Revolution noch später vollständig bekämpft, sodass sie bis heute eine gewichtige Rolle spielen.

Wenn wir es von der Perspektive des Staates und des Regimes her betrachten, so lässt sich festhalten, dass der tributäre und willkürliche Staatstypus mit der sumerischen Zivilisation entstand. In anderen Regionen wie zum Beispiel Europa, in denen es auch Kapitalakkumulation und Konzentration von Reichtümern gab, entstand eine entwickeltere Zivilgesellschaft. Diese Entwicklungen begünstigten eine „demokratischere“ Entstehung des Staates. Zugleich entwickelte sich das menschliche Potenzial, Produktion und Technologie entwickelten sich schneller. Demokratie wurde zu einem immanenten Bestandteil des Staates. Der Kampf zwischen Stadt und Land, also zwischen der zentralistischen Struktur und den lokalen Kommunen, ermöglichte die relative politische und ökonomische Autonomie der burgher, der mittelalterlichen Stadtbewohner, und begrenzte die Macht der zentralistischen Despotie. Das ist jetzt alles sehr schematisch und die Geschichte entwickelte sich auch in Europa nicht geradlinig, aber grob ist das der Weg gewesen, der bürgerlich-demokratische Revolutionen möglich machte.

Im Nahen Osten lief es anders ab. Ein anderes Entwicklungsmodell führte mittels einer Verkastung zu einer anderen Form der Verstaatlichung. Kräfte, die dem Despotismus hätten ein Ende setzen können, wurden von ihm stranguliert. Die unteren Klassen oder die städtische Opposition wurden unterdrückt. Die Entwicklung der Produktion spielte keine Rolle, denn wichtig waren nur die Tributzahlungen und die Prellerei des Wucher- und Handelskapitals; die Bedürfnisse des Volkes waren peripher. Die zentral bestimmten Provinzgouverneure (vali) herrschten über die beschlagnahmten Ländereien und führten den Reichtum zum Zentrum hin ab. Als Kollaborateure der zentralen Macht besaßen die Provinzgouverneure weitgehende militärische und verwaltungstechnische Befugnisse; im Namen des Zentrums trieben sie die Steuern ein, rekrutierten die Soldaten und unterdrückten die Bevölkerung, wo nötig. Dieses System erbte sich von der sumerischen Zivilisation fort an Byzanz, von dort an das Osmanische Reich und letztlich vom Osmanischen Reich an die Türkische Republik.

Das Erbe des Despotismus

Es ist natürlich richtig, dass die Türkische Republik nicht identisch ist mit dem byzantinischen oder Osmanischen Staat und dass die Türkische Republik kein tributärer Expansionsstaat ist. Aber die despotische „Seele“ der von ihm besiegten und beerbten Staaten setzte sich in neuen Formen, die nun die Kapitalakkumulation ermöglichten, fort. Auch heute existieren weiterhin despotisch-zentralistische Institutionen wie der Provinzgouverneur oder der Provinzuntergouverneur (kaymakam). Wesentliche Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über lokale und provinzielle Politik liegt in den Hängen dieser vom Präsidenten ernannten Gouverneure und Untergouverneure und nicht bei den gewählten Vertreter*innen. An ihre Stelle gehört die Stärkung der Macht der lokalen Bevölkerung, die gerade von jenen Institutionen unterdrückt wird.

Auf Grund der Gesamtheit dieser Verhältnisse und ihres Erbes machte sich das kemalistische Regime an eine Nationengründung ohne Lösung der demokratischen Probleme, was zum Desaster führte. Die enorme demokratische Energie, die mit der Französischen Revolution und auch anderen Revolutionen zum Vorschein kam, führte letzten Endes dahin, dass die unterschiedlichsten Schichten der Bevölkerung in die jeweiligen Regime integriert wurden; noch heute können deshalb die unterschiedlichsten ethnischen Gruppierungen im Rahmen einer „gemeinsamen Nation“ miteinander verschmelzen. Die verschiedenen Regime in unserem Land versuchten nicht einmal demokratischen Energien zum Durchbruch zu verhelfen; sie versuchten im Gegenteil, jene Energien überall dort zu erwürgen, wo sie entstanden. Die vereinheitlichende Ideologie wurde per Zwang von oben aufoktroyiert. Im Rahmen dieser vereinheitlichenden Ideologie gerieten alle in Widerspruch zum Regime, die nicht türkisch und sunnitisch waren beziehungsweise sind. Insbesondere Kurd*innen und Alevit*innen wurden seitdem immer wieder zum „Problem“ für die Herrschenden.

Von der Perspektive der Gesellschaft aus betrachtet lässt sich festhalten, dass die ungleiche und entstellte Entwicklung zu großen Verwerfungen führte. Staat und reaktionäres Kapital versuchten immer, das menschliche Potenzial zu erdrücken. Das Schwerwiegendste hierbei ist, dass sich keine verfassungsrechtlich abgesicherte demokratische Kultur fest etablieren konnte. Zwar amalgamierten sich die ebenfalls von den früheren Gesellschaftsformationen ererbten kommunalen und kollektiven Widerstandsformen der Unterklassen mit den neuen Realitäten der Werktätigen im Kapitalismus: In Zeiten wie den 1960ern und 1970ern, als die Kämpfe der Werktätigen stark waren, konnten viele Errungenschaften erkämpft und der Despotismus bis zu einem gewissen Grad zurückgedrängt werden. Aber die despotische Tradition wurde nicht final geschlagen und konnte sich als Garant der Kapitalakkumulation erneut geltend machen. Der Mangel an Organisations- und Meinungsfreiheit, die fehlende verfassungsrechtliche Verankerung unterschiedlicher Muttersprachen und Glaubensrichtungen, die eingeschränkte Pressefreiheit, das in jeder Regierungsperiode zig mal veränderte und unsystematische Bildungssystem, die mangelnde Anerkennung der Menschenrechte, das Fehlen eines ökologischen und tierfreundlichen Verständnisses, die Marginalisierung der Forderung nach Gleichheit der Geschlechter und viele andere Probleme und Mängel müssen von der Gesellschaft angegangen werden.

Andererseits war die Kemalistische Revolution eine Kaderrevolution. Die aus ihrem despotischen Charakter erwachsende Unfähigkeit und mangelnde Kraft darin, über einen bestimmten Kreis hinaus integrativ zu wirken, sorgte auch für eine sehr lose Bindung der ländlichen Teile an die zentralen Teile und die Revolution weitete sich nicht gleichermaßen auf das gesamte Land aus. Die große Divergenz zwischen einigen zentralen Gebieten und den ländlich-rückständigen Anatoliens, in die die Revolution nicht derart eindringen konnte, wurde zu einem großen Hindernis für die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Diese Divergenz, die sehr unterschiedliche Mentalitäten, Lebensstile und -welten beinhaltete und herbeiführte, diente gleichermaßen den unterschiedlichen Fraktionen der Bourgeoisie im Kampf miteinander als Quelle ihrer jeweiligen Ideologien. Die Aktionseinheit zwischen Zentrum und rückständigeren Gebieten herzustellen, ist heute eine der Hauptprobleme revolutionärer Strategie.

Die demokratische Republik als Fluchtpunkt der popularen Kämpfe

Die demokratische Republik ist eine wichtige und notwendige Zwischenstufe für eine kommunistische Revolution in der Türkei. Die Forderung nach einer demokratischen Republik ist derzeit der gemeinsame Fluchtpunkt der unterschiedlichen popularen Kräfte und ihrer Kämpfe. Außerhalb dieser Kämpfe zu stehen, verdammt die Kommunist*innen dazu, sich zu isolieren. Nur dadurch, dass Kommunist*innen inmitten dieser Kämpfe stehen und sie anfachen, können sie effektiv dahingehend wirken, die entstehende Republik in Richtung einer sozialistischen Revolution zu radikalisieren. Ebenfalls können die Werktätigen die sehr materiellen und reellen Spaltungen innerhalb der Klasse – in Kurd*innen und Türk*innen, in Alevit*innen und Sunnit*innen usw. – nur in einem Kampf um eine demokratische Republik überwinden, indem sie durch gemeinsame Tätigkeit diese überwinden, sich selbst ermächtigen und auf Grundlage dieser Praxen ein revolutionäres Selbstbewusstsein herausbilden.

Die verfassungsrechtliche Verankerung der demokratischen Republik ist unerlässlich. Erdoğan macht uns vor, wie wichtig die verfassungsrechtliche Verankerung eines Regimes ist. Nachdem er sein „Präsidialsystem“ de facto errichtete, wirkte er auf eine rechtliche Absicherung desselben hin. Das Programm einer demokratischen Republik kann unmöglich dasjenige der „alten“ Verfassung sein, also der Verfassung vor der AKP-Ära. Noch kann es darin bestehen, an der derzeitigen Verfassung ein bisschen „herumzudemokratisieren“. Wir brauchen eine vollständig neue demokratische Verfassung.

Diese neue Verfassung muss zuvörderst die Erfüllung der minimalen Bedürfnisse der Bevölkerung wie Ernährung, Behausung, Gesundheit, Bildung und Transport garantieren. Um dies real zu gewährleisten, muss die Besteuerung von der derzeit dominanten Form der indirekten Besteuerung (wie zum Beispiel über Verbrauchersteuern) ersetzt werden durch eine Dominanz der direkten Besteuerung und der progressiven Vermögenssteuer. Zentrale Produktionszweige müssen zumindest teilweise in öffentliches Eigentum umgewandelt werden. Zugleich muss die Zentralbank von gewählten Vertreter*innen der Bevölkerung kontrolliert werden, damit sie im Sinne der Erfüllung jener minimalen Bedürfnisse arbeitet.

Die neue Verfassung muss die Pluralität der ethnischen und religiösen Identitäten der Türkei anerkennen. Die Verfassung einer demokratischen, laizistischen und multinationalen Republik kann keine einzelne ethnische oder religiöse Identität privilegieren. Die grundlegenden Zivil- und Menschenrechte wie die Presse- und Meinungsfreiheit, die Organisationsfreiheit, die Gewerkschafts- und Streikfreiheit, das Recht auf kostenlosen, wissenschaftlichen und gleichen Unterricht in den jeweiligen Muttersprachen, das Recht auf Behausung und dergleichen müssen anerkannt werden.

Ebenfalls von großer Bedeutung ist es, dass Kriterien für die mehrheitlich von Frauen geleistete soziale Reproduktionsarbeit erarbeitet werden, die diese unsichtbare Arbeit sichtbar macht und sie dementsprechend anerkennt (zum Beispiel mittels Renten für Hausfrauen). Ebenso muss die Gleichheit der Geschlechter verfassungsrechtlich gestärkt und die ökonomische Unabhängigkeit der Frauen garantiert werden. Selbstverständlich müssen auch gleichgeschlechtliche Ehen oder Partnerschaften, das heißt das Recht jedes Menschen mit jedem beliebigen anderen Menschen eine wie auch immer gestaltete Partnerschaft einzugehen, solange ein festgelegtes Mindestalter und beidseitiger Konsens gegeben sind, verfassungsrechtlich anerkannt werden.

Die Überreste des despotisch-zentralistischen Verwaltungsapparats des Osmanischen Reiches wie das Gouverneurs- und Untergouverneursamt müssen abgeschafft, die Lokalregierungen und die Initiative der jeweiligen Bevölkerung gestärkt werden. Andere zentralistische Institutionen wie der Hochschulrat (YÖK), der die Universitäten von oben kontrolliert, oder das Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet), das landesweit die Ausübung einer offiziell sanktionierten Religion privilegiert und kontrolliert, müssen ebenfalls abgeschafft werden.

Der Schutz der Natur, die der Quell unseres Lebens ist, muss unter den Schutz der Verfassung gestellt werden, Naturschutzgebiete ausgeweitet und neue gegründet werden. Weitflächige Wiederaufforstung, der Schutz natürlicher Wasserquellen, die Reinigung von Flüssen, Seen und Meeren, das Verbot von natur- und menschenschädlichen Wirkstoffen und die Lebensmittelsicherheit müssen ebenfalls auf Verfassungsebene gehoben werden.

Die Räte

Während der gesamten Geschichte der modernen Türkei waren die breiten Massen der Bevölkerung, die werktätigen Klassen und gewöhnlichen Menschen niemals das politische Subjekt. Dies ist die objektive Realität, die die demokratische Republik erforderlich macht. Deshalb lautet unsere Grundfrage wie folgt: Welches sind die politischen Subjekte, die im Stande dazu sind, mittels einer demokratischen Revolution eine demokratische Republik und eine demokratische Verfassung zu konstituieren; oder genauer: Wie können die hierzu erforderlichen Prozesse der Subjekt-Werdung angestoßen werden?

Das Wesen der demokratischen Republik besteht in der Integration aller gewöhnlichen, sprich die Produktion und Reproduktion der Türkei aufrechterhaltenden werktätigen Menschen unterschiedlichster Ethnien und Glaubensrichtungen in den Entscheidungsprozess. Letztendlich ist es genau das, was eine Subjekt-Werdung im politischen Sinne bedeutet. Dadurch dass Schwierigkeiten und Probleme des Alltags durch die Partizipation in den Räten gelöst werden, dass durch diese Erfahrungen dazugelernt und Entfremdung durch Partizipation überwunden werden, entstehen neue Subjekte. Diese Art der Subjekte werden der Bürokratisierung und Entfremdung entgegenwirken und den Grundstein einer klassenlosen Gesellschaft legen können. Denn der kürzeste Weg zur klassenlosen Gesellschaft ist jener, der über die demokratische Republik führt.

Wir benötigen Mechanismen, durch die sich eine demokratische Verfassung in die Praxis umsetzen lässt. Der Wille, von dem die Umsetzung der demokratischen Republik abhängen wird, wird seine Kraft nicht aus der Bourgeoisie, sondern an erster Stelle von der Arbeiter*innen- und allgemein den unteren Klassen beziehen, da das Interesse der türkischen Bourgeoisie an einer Demokratisierung offensichtlich gering ist. Dieser Wille der Neugründung kann seinen Ausdruck im konstituierenden Rat finden.

Auch wenn sich unser Programm einer demokratischen Republik hinsichtlich ihres Inhaltes einer bürgerlichen Demokratie ähnelt, unterscheidet sie sich mit Blick darauf, welche Klassen das Heft in der Hand halten. Die demokratische Republik unterscheidet sich von einer bürgerlich-demokratischen Republik dadurch, dass sie einerseits die politische Partizipation der arbeitenden Klassen und andererseits deren politische Kontrollfunktionen sichert. Es versteht sich von selbst, dass eine solche demokratische Republik nicht „rein“ und vom Reißbrett aus entsteht, sondern dass Klassenkonflikte stets eine Reihe von intermediären Zuständen und nicht-homogene Regime hervorbringen können. Es besteht immer die Möglichkeit, dass Zwischenformen entstehen, in denen zum Beispiel bestimmte Bereiche von der Bourgeoisie und andere von popularen Kräften dominiert werden. Falls wir es schaffen, eine demokratische Republik zu errichten, wird sie aus der Realität der gesellschaftlichen Beziehungen heraus entstehen. Die Kräfteverhältnisse und der Klassenkampf innerhalb der demokratischen Republik werden bestimmen, in welcher Form sich das neue Regime konkretisieren wird.

Schlussendlich kann eine neue Verfassung ausschließlich seitens einer konstituierenden Versammlung in die Tat umgesetzt werden. Diese kann nicht die Große Nationalversammlung der Türkei [Name des türkischen Parlaments, Anm. d. Übers.] sein. Diese neue konstituierende Versammlung müsste der Ausdruck eines konstituierenden Kongresses sein, in dem die popularen Kräfte partizipieren. Die wichtigste und entscheidende Eigenschaft einer solchen Versammlung müsste es sein, sich gegen die existierende Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit innerhalb und außerhalb der Produktionssphäre zu positionieren. Sie muss darauf abzielen, den breiten Massen, die das Leben und die gesellschaftlichen Beziehungen produzieren und reproduzieren, ebenfalls die Fähigkeit zur Regierung zu geben.

Das alles ist absolut keine utopische Idee. Es gibt viele historische Beispiele, wo genau dies der Fall war. Beispielsweise in der Pariser Kommune, in den russischen Sowjets, den italienischen Arbeiter*innenräte und viele mehr. In der heutigen Türkei stellt sie keine Utopie dar, sondern ist eine Notwendigkeit geworden zur Lösung der drängendsten Probleme.

Neubegründung der Gesellschaft

Das von uns vorgeschlagene politische Programm gilt es, auf dialektische Weise, sprich immanent und von einem gesellschaftlichen Standpunkt aus zu betrachten. Die Gesellschaft der Türkei verfaulte und befindet sich in einem desolaten Zustand. Dieser Zustand lässt sich auch nicht einfach durch eine Reihe juristisch-politischer Maßnahmen aus der Welt schaffen ließen. Derlei juristisch-politische Maßnahmen setzen ja gerade eine starkes gesellschaftliches Fundament voraus.

Es ist hier die Rede vom allgemeinen politischen Klima, das in Folge des Militärputsches vom 12. September [1980, Anm. d. Übers.] und des anschließenden Zusammenbruchs des Sozialismus vom Gefühl der Niederlage, vom Defätismus bestimmt wird. Zweifelsohne ist aus der Perspektive der sozialistischen Linken auch die Niederlage eine Form des Kampfes, jedoch führten die lang anhaltenden Jahre des Misserfolges schlussendlich dazu, dass sich eine Stimmung der tief sitzenden Hoffnungslosigkeit breitmachen und bestimmend werden konnte.

Das Kapital und die politische Macht beziehen ihre Stärke eben auch aus den zynischen Gefühlen, die die Gesellschaft durchdringen. Die nackte Gewalt des Regimes, die Willkür und Dreistigkeit der Macht der verschiedenen Staatsapparate führen dazu, dass sich im gesellschaftlichen Unbewussten pessimistische Reflexe ausbilden. Dieser Pessimismus ist der Grund dafür, weshalb der Glaube entsteht, man könne angesichts der nackten Gewalt und der herrschenden Willkür nichts unternehmen.

Die ungezügelte Herrschaft des Neoliberalismus in der Türkei gründet auf diesem zynischen Gefühl. In einer scheinbar unipolaren Welt – und obendrein in einem Land wie dem unsrigen, in dem die Linke von einem Militärputsch zerschlagen wurde – konnte er sich ohne große Widerstände und mit rasender Geschwindigkeit breitmachen und alle gesellschaftlichen Sphären besetzen.

Das Kapital nahm Tag und Nacht des Menschen in Beschlag und machte sich überall breit. Es errichtete seine Macht im Alltag der Menschen – der Arbeiter*innenklasse, der Mittellosen, der Unterdrückten und der popularen Kräfte. Das Alltagsleben wurde zu einem Feld, auf dem einzig und allein nach Pfeife des Kapitals getanzt wird. Denn es traf auf keinen langatmigen und organisierten Widerstand – obwohl es natürlich eine Menge von Widerständen gab, die diese Entwicklung aber bedauerlicherweise nicht aufhalten konnten.

Die Generationen, die nach dem Putsch [1980, Anm. d. Übers.] und dem Zusammenbruch des Sozialismus aufwuchsen, bemerkten diesen Siegeszug nicht einmal. Für sie und ihr alltägliches Leben ist diese Macht des Kapitals das Natürlichste, was es gibt. Schließlich waren Klassenkämpfe ja angeblich nicht mehr von Bedeutung (!). Aufgrund dieser leidvollen und gnadenlosen Prozesse wurden zunehmend breitere Teile der Bevölkerung aus der Politik entfernt, das alltägliche Leben der Menschen seitens des Kapitals belagert.

Aber der Gezi-Aufstand 2013 ist ein gesellschaftliches Ereignis gewesen, das die neoliberale Hegemonie gebrochen und in Stücke zerschlagen hat. Die historische und populare Energie dieses Aufstandes konnte sich durch eine ganze Reihe von Höhen und Tiefen hindurch erhalten und sich sogar, unzähliger Repressionen und Wahlbetrügereien zum Trotz, in Wahlergebnissen niederschlagen. Die neoliberale Belagerung des Kapitals muss durch eine popular-demokratische Kraft, hinter der die Energien des Gezi-Aufstands stehen, aufgebrochen und im alltäglichen Leben mit einer Gegenhegemonie zerschlagen werden.

Eingepfercht zwischen Hammer und Ambos von Armut und Entbehrung müssen die Lebensbereiche, die der Belagerung des Kapitals unterliegen, also die Stadtteile und Nachbarschaften, die Arbeitsplätze, die Häuser und Straßen ihrerseits durch einen popularen Gegenangriff rückerobert werden. Arbeiter*innen, die an extremer Ausbeutung und Entfremdung leiden, müssen die Arbeiter*innenvereine wiederbeleben und sich in den neuen Gewerkschaften abermals engagieren. Sie müssen sich hier auf verschiedenen Ebenen weiterbilden und Erfahrungen mit Blick auf rechtliche und gesundheitliche Themen sammeln und sich in künstlerische Tätigkeiten einbringen.

In den Kulturhäusern und Quartiersvereinen muss darauf hingearbeitet werden, Prozessen der Entfremdung, der Atomisierung und Vereinsamung, der Entsolidarisierung und dem Verlust von Subjektivität Werte und Praxen der gemeinsamen Produktion, des Teilens, der Subjekt-Werdung, des Zusammenhalts und der Solidarität entgegenzusetzen. Das unwissenschaftliche und anti-demokratische Umfeld an den Sekundarschulen und Universitäten muss wiederum kompensiert werden durch alternative Kultur- und Kunstzentren. Frauen und LGBTI+-Personen, denen es nicht einmal erlaubt wird, Gedanken im Hinblick auf ihre Körper frei zu äußern, müssen im Rahmen von Solidaritätsnetzwerken ein Gegenbewusstsein und eine alternative politische Praxis entwickeln, in denen ihre Körper anerkannt und respektiert werden und die alltägliche Gewalt und Herabstufung zu Menschen zweiter Klasse bekämpft wird.

Kinder, allgemein die kommenden Generationen, die bildungstechnisch und gesellschaftlich am meisten vernachlässigt werden, müssen durch alternative Bildungsangebote in Sommerschulen und Solidaritätsvereinen in den Quartieren aufgefangen werden und auf deren Entfaltung muss hingearbeitet werden.

All diese Prozesse machen es unerlässlich, ein breites und auf gesellschaftlicher Solidarität basierendes Netz an Freiwilligen zu organisieren. Eine Organisation dieser Art ist nichts weiter als die fortlaufende Ausweitung der kleinen und größeren selbstorganisierten Räte und Solidaritätsnetzwerke.

Quellen unserer Hoffnungen

Vor dem Hintergrund der sich seit den März-Wahlen zusehends vertiefenden ökonomischen und politischen Krisen, müssen die Forderungen nach einer demokratischen Republik und einer demokratischen Verfassung klar und deutlich formuliert und künftige gesellschaftliche Verhältnisse in ihren Grundzügen gesetzt werden; wir müssen die Solidarität vergesellschaften und Schritte in Richtung ihrer Institutionalisierung machen.

Aufgrund der herrschenden Ungewissheit, in der der Faschismus Auftrieb hat und versucht, die popularen Kräfte psychologisch wie an sich zu zertrümmern, wird manch einer fragen, wie so etwas bewerkstelligt werden soll. Sorgen dieser Art haben ihre Berechtigung. Schließlich sehen wir, dass die Taktiken der herrschenden Regierung in den letzten Jahren prinzipiell darauf abzielt, die Organisierung der Bevölkerung in höchstmöglichem Maße zu verhindern, die Werktätigen zu desorientieren, ihre Hoffnungen zu zerstören und stattdessen durch Krieg, Gewalt, Massaker und Bomben Mauern der Angst zu errichten, und wenn es nötig ist auch politische Putsche anzuordnen.

Trotz alledem ist der gesellschaftliche Widerstand zu keiner Zeit erloschen. Von Frauen bis hin zu LGBTI+-Personen, von Kurd*innen bis hin zu den Alevit*innen sind weiterhin alle Widerstandsdynamiken aktiv. Kämpfe wie die der Flormar-Arbeiter*innen [erfolgreicher Arbeitskampf seitens der Arbeiter*innen des Kosmetikwarenherstellers Flormar, Anm. d. Übers.] und der Arbeiter*innen am 3. Flughafen von Istanbul zeigen, dass auch die Arbeiter*innenklasse jederzeit bereit ist, Widerstand zu leisten. Alle diese Widerstände und Kämpfe sind eben so viele Quellen der Hoffnung und der Stärkung unserer Moral. Das oben beschriebene Programm stellt den Rahmen dafür dar, all diese gesellschaftlichen Dynamiken revolutionär vereinen zu können – für das Ziel einer besseren, freieren Gesellschaft für den Großteil der Menschen in unserem Land.


Anmerkungen:

[1] Taktische, vorübergehende Bündnisse sind dabei selbstverständlich möglich und auch wahrscheinlich, vor allem da die Kräfte der Restauration im Moment die „Opposition“ anführen. Letztlich sind weite Teile der Basis der jeweiligen Hauptoppositionsparteien selber für eine demokratische Alternative zu gewinnen.

[2] Im Juli 1908 organisierten die radikalen Elemente der sogenannten Jungtürkischen Bewegung einen erfolgreichen Aufstand mit dem Zentrum in den mazedonischen und bulgarischen Gebieten des Osmanischen Reiches gegen den Absolutismus des Sultanats und für die Bewahrung des türkischen Reiches. Sultan Abdülhamid II. beugte sich ihrer Forderung nach der Wieder-Einführung der Verfassung und die kurzweilige „Zweite Verfassungsperiode“ (İkinci Meşrutiyet) begann; Anm. d. Red.

[3] Die Errichtung der Türkischen Republik aus den Trümmern des Osmanischen Reiches infolge des Nationalen Unabhängigkeitskrieges (Kurtuluş Savaşı, 1919-23) unter dem General (Paşa) Mustafa Kemal wird auch als „kemalistische Revolution“ bezeichnet, da sie die radikale Loslösung vom Erbe des Osmanischen Reiches beabsichtigte; Anm. d. Red.