Streiken trotz Erdoğan
Im chauvinistischen Furor der sich rasend beschleunigenden Faschisierung seit dem misslungenen Militärputsch vom 15. Juli 2016 hoffte das Regime darauf, den Frust der Arbeiter*innen in andere Richtungen kanalisieren und den restlichen Arbeiter*innenwiderstand vollends zerdrücken zu können. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sprach diesbezüglich unmissverständlich klare Worte: Bei einer Unternehmer*innen-Veranstaltung im Juli 2017 polterte er (bezugnehmend auf Kritiken am Ausnahmezustand seitens der Wirtschaft): „Wir haben den Ausnahmezustand verhängt, um dafür zu sorgen, dass die Wirtschaft problemlos funktioniert. Hat denn die Wirtschaft irgendwelche Probleme gehabt wegen dem Ausnahmezustand? Wir nutzen den Ausnahmezustand dazu, um Streiks zu verhindern. So klar ist die Sachlage.“
Und in der Tat, der Militärputsch wurde seitens des Regimes auch dazu genutzt, vehement gegen Arbeiter*innen und Arbeiter*innenrechte vorzugehen. In einem ausführlichen Bericht vom 20. Juli 2017 zu den Auswirkungen des seit 21. Juli 2016 quasi in Permanenz verhängten Ausnahmezustandes hält die linke Gewerkschaftskonföderation DISK fest: „Der Ausnahmezustand wirkte sich desaströs auf Werktätige aus. Er wurde geradezu zu einer Garantie für das Kapital, während er andererseits zu einer Missachtung von Arbeiterrechten führte.“
Entlassungen, Schließungen, Streikverbote
Die gröbsten Missachtungen fanden dem Bericht zufolge beim Recht auf Arbeit statt: Mehr als 113.000 Beschäftigte des öffentlichen Sektors wurden ohne Beweise, ohne Anklage und ohne Recht auf Verteidigung mittels Gesetzesdekreten und anderen Maßnahmen entlassen, über 20.000 Personen wurde die Lehrlizenz entzogen. Mit unterschiedlichen Maßnahmen wurde dafür gesorgt, dass die Betroffenen kaum eine andere Arbeit mehr annehmen, noch das Land verlassen können. Dass es dabei nicht um „Terrorbekämpfung“, sondern um Ausschaltung jeder Opposition oder Abweichung im Staat ging, geht daraus hervor, dass es neben angeblich „Gülen-nahen“ Personen Tausende linke Akademiker*innen, Lehrer*innen, Gewerkschafter*innen und Angestellte von kurdischen Kommunen betraf.
Zum anderen wurden laut dem DISK-Bericht über 2.000 Institutionen (Universitäten, Krankenhäuser, Medienunternehmen, usw.) geschlossen und ebenfalls per Gesetzesdekret beschlossen, dass den Arbeitenden der betroffenen Institutionen alle Rechte wie Lohnfortzahlung, Abfindung oder sonstige Einnahmen versagt werden.
Ebenfalls per Gesetzesdekret und rechtswidrig wurden 19 Gewerkschaften und Gewerkschaftskonföderationen mit über 50.000 Mitgliedern geschlossen. Zusätzlich wurden zahlreiche arbeitskampf- oder arbeitsrechtsbezogene Presseerklärungen, Treffen und Demonstrationen von Gewerkschafter*innen mit Verweis auf den Ausnahmezustand verboten und durch polizeiliche Intervention aktiv verhindert. Nicht zuletzt wurden im Zeitraum allein seit dem Militärputsch mittlerweile sechs große Streiks mit über 150.000 beteiligten Arbeiter*innen de facto verboten. Und als Gipfel des Ganzen wurden mittels Gesetzesdekreten Veränderungen an über 100 Gesetzen in einer Form vollzogen, die offensichtlich nichts mit „Terrorbekämpfung“ zu tun hat: So wurden unter anderem weitere Einschränkungen des Gewerkschafts- und Streikrechts oder auch Subventionen an Unternehmen aus dem Arbeitslosenfonds beschlossen.
Strike no more? Aber hallo!
Aber trotz aller Repression stellt sich die derzeitige Türkei auch in Bezug auf den Arbeiter*innenwiderstand weitaus weniger als ein geschlossener und oppositionsloser autoritärer Block dar, als gemeinhin angenommen wird. Im Gegenteil: Aller Repression zum Trotz sollte kürzlich der größte Streik im türkischen Metallsektor seit 1991 stattfinden. Als sich im Dezember 2017 nach zwei Monaten fruchtloser Verhandlungen die drei großen Gewerkschaftskonföderationen des Metallsektors mit dem Arbeitgeberverband MESS auf keinen neuen Kollektivvertrag verständigen konnten, einigten sich die Gewerkschaftsverbände auf Initiative der linken Birleşik Metal-İş stattdessen untereinander darauf, ab 2. Februar 2018 gemeinsam in den Streik zu treten. 130.000 Arbeiter*innen in 179 Betrieben wurden hierfür mobilisiert. Schon ab Dezember 2017 fing die DİSK-Teilgewerkschaft Birleşik Metal-İş mit Protestmärschen in den Pausenzeiten und großen Kundgebungen an. Allerdings wurde der Streik zehn Tage vor seinem Beginn seitens der Regierung mit dem Verweis auf die „nationale Sicherheit“ wie so oft „aufgeschoben“ und damit de facto verboten. Die Arbeiter*innen ließen sich aber nicht beeindrucken: Während die DISK-Teilgewerkschaft Birleşik Metal-İş ankündigte, den Streik dennoch durchzuführen, fing auch die Türk Metal-İş mit vorübergehenden Arbeitsniederlegungen an und kündigte mehr Aktionen an. Letztlich lenkte die MESS ein und es wurde ein Tarifvertrag beschlossen, der zum Großteil den Forderungen der Gewerkschaften entsprach: Über zwei Jahre gibt es durchschnittlich knapp 25 Prozent Lohnerhöhung, die Sozialbeiträge der Unternehmensseite werden um 23 Prozent erhöht und der Versicherungsstatus der Arbeiter*innen verbessert. Bei gleichbleibender Inflation (jährlich derzeit 10-11 Prozent) wird davon zwar nicht allzu viel übrigbleiben. Es zeigt sich aber, dass auch in den industriellen Beziehungen Widerstand und partielle Siege trotz ausufernder Repression möglich sind und dass die Dynamik der Arbeitskämpfe eher zu- als abnimmt.
Denn der Kampf der Metaller*innen ist nur die Spitze des Eisberges. Als 6.000 Arbeiter*innen in allen neun Betrieben des Glasproduzenten Şişecam im Mai 2017 in den Streik für einen besseren Tarifvertrag treten wollten, wurde dieser ebenfalls von der Regierung verboten. Die Arbeiter*innen bedienten sich stattdessen anderer Kampfmethoden wie der Arbeitsverlangsamung und verließen nach den Schichten das Gelände nicht mehr. Nach zwei Wochen lenkte das Unternehmen ein und die Arbeiter*innen konnten ein für damalige Verhältnisse ordentliches Ergebnis erzielen. Einige Monate später, im Oktober 2017, erkämpften dieselben Arbeiter*innen mit Protestmärschen und öffentlichen Kundgebungen, dass 91 rechtswidrig und ohne Abfindung gekündigte Arbeiter*innen wiedereingestellt wurden oder ihre Abfindungen bekamen.
Auf ähnliche Art und Weise erzwangen 1863 Arbeiter*innen des Petrochemiegiganten PETKIM im Juni 2017 nach monatelangen fruchtlosen Verhandlungen und trotz Streikverbot mithilfe von Fabrikbesetzung und Widerstand gegen gewalttätige Polizeieinsätze einen Tarifvertrag, der zu 90 Prozent ihren eigenen Forderungen entsprach und unter anderem die fast vollständige Schließung der Lohnunterschiede zwischen alten und neuen Arbeiter*innen beinhaltete.
Wenn’s sein muss mit der Pumpgun...
Auch außerhalb der großen Industriebetriebe finden überall weiterhin kontinuierlich landesweit Arbeitskämpfe im Kleineren statt: ob nun seitens der ehemaligen Lehrtätigen, die in Form von Mahnwachen oder Hungerstreiks gegen ihre rechtswidrigen Entlassungen kämpfen; oder auf zahlreichen Baustellen im ganzen Land, wo Arbeiter*innen gegen zurückgehaltenen Lohn oder rechtswidrige Kündigung streiken.
Als Kernforderungen der Arbeitskämpfe der letzten Jahre haben sich generell die nach inflations-, produktivitäts- und/oder umsatzgekoppelten Lohnerhöhungen, besseren Arbeitsbedingungen (insbesondere bezüglich der Aufhebung der Spaltung in Kernbelegschaften und Leiharbeiterschaften sowie Arbeitsplatzsicherheit), Einhaltung von Arbeitsrechten und freie Gewerkschaftswahl und -organisation herauskristallisiert. Seit dem Militärputsch 2016 treten insbesondere in von den „Säuberungen“ betroffenen Sektoren wie dem Bildungswesen politische Forderungen wie die Aufhebung des Ausnahmezustandes, die Wiedereinstellung der Entlassenen und der Stopp der politischen Repression und Willkür in den Arbeitsbeziehungen in den Vordergrund.
Es ist allerdings festzuhalten, dass sich mit der gewerkschaftlichen Organisation die Grundlage von gewerkschaftlichen Kämpfen schon länger im Rücklauf befindet. Der effektive gewerkschaftliche Organisierungsgrad (Anteil der Beschäftigten, die von Kollektivverträgen profitieren) befand sich 2014 auf einem historischen Tiefstand von 6-7 Prozent, wobei klassischerweise die großen staatlichen Metall- und Automobilbetriebe die Hochburgen der Gewerkschaften ausmachen. Die Gründe für diesen extrem niedrigen gewerkschaftlichen Organisierungsgrad liegen in einem restriktiven Gewerkschafts- und Streikrecht (inklusive der Befähigung der Regierung, Streikbeschlüsse zu brechen) sowie in den weitverbreiteten Methoden des union-busting.
Wo es keine oder kaum gewerkschaftliche Organisierung gibt, da findet trotzdem oft ein individueller Widerstand statt. Arbeiter*innen, die zu Unrecht gefeuert werden oder ihren Lohn nicht erhalten, organisieren individuell permanente Demonstrationen vor den Fabriktoren, gehen in Hungerstreik oder halten Mahnwachen ab. In letzter Zeit nimmt dieser individuelle Widerstand zunehmend gewalttätigere Formen an: Anfang Januar 2018 stürmte der Bauer Cem Küçüktürk das Büro eines Immobilienhaies in Konya und erschoss drei Menschen mit einer Pumpgun. Er gab an, dass er dies tat, weil er von den anderen Wohnungseigentümer*innen und dem Immobilienhai seit Monaten dazu genötigt wurde, sein Eigentum an seiner Wohnung in einem vierstöckigen Haus zu verkaufen, damit der Immobilienhai es abreißen und ein neues, siebenstöckiges Haus bauen könne. Außerdem versuchten sich in den ersten beiden Monaten des Jahres 2018 vier Arbeiter auf öffentlichen Plätzen selbst zu verbrennen, weil sie mit ihren Einkommen nicht mehr überleben konnten. Ein Arbeiter, der arbeitslos wurde, hat sich erhängt.
Arbeitsbedingungen in der Türkei sind schwer, die Zukunft ungewiss. Die Situation hat sich im Repressionsstrudel seit dem Militärputsch auch für Werktätige extrem verschärft. Dennoch zeigen die Arbeitskämpfe und -widerstände der letzten Monate, dass Siege möglich sind und zwar vor allem dort, wo die Arbeiter*innen gemeinsam und organisiert für ihre Rechte und Ansprüche kämpfen.
Fußnote:
[1] Bağımsız Sosyal Bilimciler (BSB), AKP'li Yıllarda Emeğin Durumu, Istanbul, 2015, S. 269.
Anmerkung:
Dieser Text erschien zu erst bei der Rosa Luxemburg Stiftung. Eine stark gekürzte Version erschien im neuen deutschland vom 10. Februar 2018. Wir danken für die Zweitpublikation.