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The Republic Strikes Back?

photo_2024-04-02 20.22.34.jpeg Kemalist Rebel Alliance

Man kommt nicht umhin, die Ergebnisse der Lokalwahlen in der Türkei vom 31. März 2024 als überraschend und verblüffend zu bezeichnen: Zum ersten Mal in der AKP-Ära und überhaupt seit 1977 wurde die von Mustafa Kemal Atatürk gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) zur stärksten Partei im Land. Sie ergatterte rekordverdächtige 37,76% der gültigen Wähler*innenstimmen für Stadt- und Regionalparlamente beziehungsweise 33,17% der Bürgermeisterwahlen. Die AKP hingegen musste mit 35,48% respektive 30,26% der Stimmen ihre bis dato schwerste Wahlniederlage hinnehmen. [1] Und nicht nur das: Die CHP gewann auch mehrere Hochburgen der AKP und ihres Bündnispartners, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), in Anatolien. Sprich dort, wo sie traditionell sehr schwach ist und seit Jahrzehnten nicht mehr regierte – darunter sogar eine Provinz, in der sie seit dem Übergang ins Mehrparteiensystem im Jahr 1950 nie die Wahl gewonnen hatte (Balıkesir). Niemand hatte ein solches Ergebnis erwartet, zumal noch vor 10 Monaten trotz der schwersten Wirtschaftskrise des Landes seit 2000-01 und trotz des schwersten Erdbebens in der Geschichte der modernen Türkei Erdoğan als Präsidentschaftskandidat und das von der AKP angeführte Regierungsbündnis bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023 für die Umstände entsprechend recht mühelos über die Opposition siegten. Die türkische Satirezeitschrift Zaytungbringt die Verblüffung über den Wandel ironisch auf den Punkt: Die Türkei, eine „Demokratie vom Typ borderline“, das eine Jahr so gewählt, das nächste Jahr das direkte Gegenteil, ohne erkennbaren objektiven Grund, der einen solchen großen Wandel erklären könnte. Man kann die Ergebnisse jedoch rational erklären, ohne ihnen abzusprechen, dass sie überraschend und unvorhergesehen waren.

Die elektorale Erosion der AKP

Der erste Grund: Schon seit den nationalen Wahlen 2018 nehmen die elektoralen Werte der AKP im engeren Sinne sukzessive bei allen Wahlen ab. Darin spiegelt sich die steigende Unzufriedenheit auch der AKP-Wähler*innenbasis wider: Es geht dabei primär um die ökonomische Situation, aber auch um die zunehmende Polarisierung, die ausufernde Korruption, die Beschränkung der Meinungsfreiheit und die Politisierung der Religion. Erdoğan thront jedoch weiterhin als Majestät über seiner Partei, er ist daher von der Erosion der AKP bisher nicht betroffen. Die meisten Unzufriedenen wandten sich bislang anderen Parteien im Regierungsblock zu – hauptsächlich der nationalistisch-faschistoiden MHP oder, seit neuestem, der islamistischen Yeniden Refah Partisi (YRP). Nur selten, wie in Istanbul und Ankara bei den Lokalwahlen 2019, gingen sie „zur anderen Seite“, zum Oppositionsblock, über. Was Politik- und Sozialwissenschaftler*innen als „negative Identifikation“ bezeichnen, das heißt Selbst-Identifikation hauptsächlich durch Ablehnung der „anderen Seite“, hatte weitestgehend Bestand.

Diese Erosion verschärfte sich nun insbesondere aufgrund der ökonomischen Situation. Das spiegelt sich einerseits in der Zunahme von Wahlabstinenz und von ungültigen Stimmen wider; beides gemeinsam macht mittlerweile 25% aller Stimmen aus (hierzu und zum Folgenden siehe hier, hier, hier, hier, hier und hier). Lag die Wahlbeteiligung 2023 noch bei 88% und bei den Lokalwahlen 2019 bei 84%, ging sie bei den aktuellen Lokalwahlen auf etwas weniger als 79% zurück. Es ist davon auszugehen, dass es insbesondere AKP und MHP waren, die dadurch an Stimmen verloren, da diese anteilig mehr Stimmen verloren, als andere Parteien hinzugewannen. Die Erosion der AKP spiegelt sich aber auch im fortgesetzten Aufstieg der einst völlig unwichtigen islamistischen Splitterpartei YRP wider, die von etwa 2% bei den Parlamentswahlen 2023 auf nun über 6% gesprungen ist. Insbesondere in Anatolien und im Osten/Kurdistan machte sie in Hochburgen der AKP dieser ihre Führungsposition mit zweistelligen Prozentwerten streitig und gewann sogar die Bürgermeisterschaft in zwei Provinzen, eine in Zentralanatolien und eine in Kurdistan (Yozgat und Urfa). Die YRP scheint eine gangbare Alternative für konservativ-islamistische Wähler*innen zu sein, die mit der Regierungspartei unzufrieden sind: Wie die AKP unter Erdoğan steht sie für eine anti-queere, anti-feministische und islamistisch-konservative Perspektive und hatte im Kampf um die nationalen Wahlen im Mai 2023 noch gemeinsam mit dieser zum Erhalt „unserer Werte und Normen“ aufgerufen. Gleichzeitig übt sie aber scharfe Kritik an der Wirtschaftspolitik, der Korruption und dem inkonsequenten Verhalten der AKP gegenüber Palästina und Israel und bringt damit den Unmut in der AKP-Basis zum Ausdruck. Wer die YRP wählt, der kann seine schwere Missbilligung und Abweichung von der AKP in vielen Politikfeldern zum Ausdruck bringen, ohne zugleich in das Lager der „Schwulen/Queeren“ (Erdoğan über die Opposition) überzugehen.

Am plausibelsten und einfachsten scheint mir daher die Erklärung der (fortgesetzten und vertieften) Schwächung der AKP zu sein. Damit ist aber noch nicht viel über den überragenden Erfolg der CHP gesagt.

Die republikanischen Lokomotiven Istanbul und Ankara

Kommen wir daher zum zweiten Grund. Insbesondere die Wirkung von positiver Performanzlegitimität in Istanbul ist für die Entwicklungen nicht zu unterschätzen. Damit ist das Erringen von Legitimation aufgrund erfolgreicher politischer Handlungen gemeint, oft in Form von guten ökonomischen Ergebnissen. Die wichtige Rolle von Istanbul in der Türkei hat was mit der spezifischen Form der Industrialisierung und Modernisierung zu tun. Diese lief nicht geographisch dezentral ab, sondern stark konzentriert auf wenige Regionen, mit Istanbul als Motor und Lokomotive dieser Prozesse. Istanbul ist nicht Berlin, ist nicht Paris, ist nicht London. Istanbul ist nicht bloß eine kosmopolitische (de facto) Hauptstadt: Istanbul ist die Türkei en miniature, das ganze Multiversum des Landes konzentriert in einer Stadt. Sie ist seit 1950 um über das Zehnfache gewachsen und hat Migration aus allen Enden und Ecken des Landes empfangen. Sie beherbergt daher alle unterschiedlichen Regionen und Identitäten des Landes, wobei die Migrierten weiterhin soziale Banden in ihre Ursprungsregionen, -Städte und -Dörfer behalten. Erfolg und Misserfolg in Istanbul haben daher das Potenzial, in Richtung des gesamten Landes auszustrahlen.

In Ankara und Istanbul war die erfolgreiche Kommunalpolitik der CHP der letzten fünf Jahre das Schlüsselelement, die in diesen Städten sowieso schon aufgeweichten Polarisierungen zwischen pro-AKP- und anti-AKP-Block weiter im Sinne der CHP zu verschieben. Die landesweit beobachtbare Polarisierung greift in Istanbul und Ankara weniger, da in beiden Städten aufgrund der verdichteten Differenzen der Kontakt zwischen den ideologischen und kulturellen Lagern im Alltag stärker ist, und weil die ökonomische Situation, insbesondere die Mietensituation, hier für den Großteil der Bevölkerung bedeutend schlechter ist als in der restlichen Türkei. Fünf Jahre zeigten zudem, dass nicht alles den Bach runtergeht, wenn es nicht die AKP ist, die die Großstädte verwaltet. Im Gegenteil: Öffentliche Dienstleistungen wie auch populistische Redistributionspolitiken verbesserten sich, da – ohne die Rentenverteilungspolitik an AKP-nahe islamistische Organisationen und Unternehmer*innen – mehr Ressourcen zur Verfügung standen.

In Istanbul hat die CHP das Rennen mit Ekrem Imamoğlu als amtierenden und nun wieder gewählten Bürgermeister einfach und mit großen Abstand gewonnen (mit grob 50% gegen 40%), in Ankara hat sie mit Mansur Yavaş als amtierenden und nun ebenfalls wiedergewählten Kandidaten die AKP regelrecht abserviert (mit grob 60% gegen 30%). Zudem hat sie diesmal auch die Mehrheit in beiden Stadtparlamenten errungen (2019 gewann die CHP nur die Bürgermeisterschaften, die Parlamente blieben bei der AKP) sowie viele neue Bürgermeisterschaften in den Vierteln der beiden Städte; darunter seit Jahrzehnten von der AKP und ihren Vorgängerparteien regierte eher konservativ-islamisch geprägte Viertel wie Üsküdar, Eyüpsultan oder Keçiören, aber auch das Herzstück des modernen Istanbuls, Beyoğlu. In Istanbul und Ankara ist es deutlich sichtbar, dass die CHP auch Stimmen vom Regierungsblock gewinnen und damit die Barrieren der Polarisierungen teilweise einreißen konnte.

Die demokratische Volksfront von unten

Ein dritter Grund für die Wahlergebnisse ist die de facto Fortsetzung des Hauptoppositionsbündnisses, welches 2018 gegründet wurde, von unten, das heißt vonseiten der Wähler*innen statt von den Parteispitzen – und ihre partielle Unterstützung durch den linken Oppositionsblock. Ausnahmsweise mal ganz richtig titelt die regierungsnahe Revolverpresse daher: „Das Bündnis der Nation [das Hauptoppositionsbündnis] lebt fort in der CHP“. Diese Entwicklung ist meines Ermessens das überraschendste und erfreulichste Ergebnis der Lokalwahlen vom 31. März 2024 und ist überhaupt nicht selbstverständlich gewesen.

Die Entwicklungen in der offiziellen politischen Sphäre der Opposition seit der Wahlniederlage im Mai 2023 erweckten nämlich den Eindruck, die Oppositionsparteien hätten das System Erdoğan mit ihrer Wahlniederlage akzeptiert und seien jetzt nur mehr darauf aus, kleine Pöstchen im Machtkampf mit ehemaligen Alliierten zu gewinnen. Das wirkte eher demoralisierend als mobilisierend. Beide oppositionellen Wahlbündnisse fransten aus: Das Bündnis der Nation (Millet Ittifakı) aus CHP und fünf anderen Parteien zerlegte sich komplett, aber auch das linke Bündnis für Arbeit und Freiheit (Emek ve Özgürlük Ittifakı) ging auseinander. Innerhalb der CHP entbrannte ebenfalls ein Machtkampf um die Kontrolle der Partei und kleine parteiinterne Machtposten. Nach außen hin hielt die CHP aber zu den ehemaligen Bündnispartner*innen die Hand ausgestreckt und reagierte nicht oder nur sanft auf Polemiken und Anschuldigungen derselben. Dennoch gingen alle konstitutiven Parteien des CHP-geführten Bündnisses schließlich, im Gegensatz zu den Lokalwahlen 2019, mit eigenen Listen in den Wahlkampf. Auch in – so glaubte man zu Beginn der Vorwahlzeit – auf der Kippe stehenden Städten wie Istanbul und Ankara.

Auch die pro-kurdische, linke DEM (ehemals HDP) stellte fast überall ihre eigenen Kandidat*innen auf. Die Entscheidung lässt sich diskutieren, es sollte aber festgehalten werden, dass dieser ein legitimer Groll der kurdischen Bevölkerung zugrunde lag: Ihre Unterstützung von außen für das Hauptoppositionsbündnis im Mai 2023 und insbesondere für den damaligen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu, damals Chef der CHP, wurde stillschweigend als gegeben angenommen – jeder öffentliche Kontakt, jede Wertschätzung oder Machtteilung mit der damaligen HDP jedoch gemieden. Die ungleiche Behandlung der Oppositionspartner*innen fand ihren Gipfel in einem erst nach den Wahlen öffentlich gemachten Protokoll, demzufolge Kılıçdaroğlu dem rechtsextremen Nationalisten Ümit Özdağ, der etwas mehr als 2% der Wähler*innenstimmen im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl auf sich vereinigen konnte, Ministerien und Behörden versprach (angeblich das Innenministerium sowie den Geheimdienst), falls er mit dessen Unterstützung die zweite Wahlrunde gewinnen sollte. Das Protokoll hielt auch fest, dass die bisher von der Regierung betriebene Praxis des Austauschs von gewählten Bürgermeister*innen durch von der Zentralregierung beorderte Zwangsverwalter unter Umständen fortgesetzt werden sollte. Von dieser Praxis waren fast ausschließlich die kurdischen Bürgermeister*innen betroffen. Das Hauptoppositionsbündnis versuchte also, die Wahlen im Mai 2023 unter dem Deckmantel der „Demokratisierung“ durch Anbiederung an die nationalistische und konservative Rechte zu gewinnen (ich habe ausführlich dazu geschrieben, inwiefern auch sonst seit Jahren eine Anbiederung vonseiten des Hauptoppositionsbündnisses an die Rechte stattfand). Es ist nur allzu verständlich, dass die Kurd*innen darauf im Nachklapp mit Groll reagierten.

Was hier nun vor sich ging, ist tatsächlich verblüffend: Die empirisch nachweisbare Demoralisierung der oppositionellen Wähler*innen (s. u.) und der aus den dargestellten Gründen gerechtfertigte Groll der kurdischen Wähler*innen schlug sich, entgegen aller Erwartungen, nicht negativ in den Wahlergebnissen nieder. Ganz im Gegenteil. Die Wähler*innen des ehemaligen Hauptoppositionsbündnisses stimmten fast durchgehend für die CHP und straften den Opportunismus der einzelnen anderen Parteien ab. Oppositionelle Kleinstparteien, oft entstanden aus Abspaltungen von der AKP, verschwanden in die elektorale Bedeutungslosigkeit und die ehemals zweitgrößte Oppositionspartei, die nationalistische IYI Parti, wurde mit rund 4% der Stimmen auf den Status einer Kleinstpartei degradiert.

Zu den Kurd*innen ist zu sagen, dass sie wieder mal disziplinierter als die preußische Armee waren und in ihrem eigenen Sinne gegen die AKP und für das Potenzial von Demokratisierung stimmten: säuberlich aufgeteilt, im Westen (insbesondere in Istanbul) strategisch für die CHP, im Osten/Kurdistan hingegen für die DEM. Bei den Wahlen 2023 war die HDP/DEM noch zu stark auf die Niederlage Erdoğans und seines Regierungsbündnisses fokussiert: Sie machte deshalb in Bezug auf ihre eigenen Positionen zu viele Eingeständnisse und befremdete ihre eigene Wähler*innenbasis. In der aktuellen Kampagne pochte sie indes (zu sehr?) auf ihr eigenes Programm und lenkte nur hinter vorgehaltener Hand ein (wiederum vor allem in Istanbul). In Kurdistan wurde ihr dies positiv quittiert: Sie gewann mehr Provinzen hinzu, als sie verlor. In einigen kurdischen Provinzen, hauptsächlich Şırnak und Bitlis, wirkte indes die (auch durch Videoaufnahmen bestätigte) Wahlmanipulation wahlentscheidend und brachte der AKP den Sieg [2] – ansonsten wäre der Wahlerfolg der DEM im Osten/Kurdistan noch überwältigender gewesen. Während ich diesen Artikel fertig stelle, geht die politisierte Justiz schon gegen die DEM vor und entzieht ihr unter fadenscheinigen Gründen einzelne Bürgermeisterschaften. Das Kalkül, das neben der Unterdrückung der DEM zentral ist, ist so klar wie altbekannt: Die CHP dazu zu zwingen, eine eindeutige Position bezüglich der DEM einzunehmen. Ist diese positiv, kann man die CHP als PKK-Sympathisantin brandmarken, ist diese negativ oder ausweichend, führt dies zu einer Abkehr der Kurd*innen von der CHP. Und da sieht man wieder, wie der von der bürgerlichen Opposition mit angefachte Nationalismus zu einer Waffe gegen die bürgerliche Opposition selbst wird.

Es ist jedenfalls bezeichnend für den nationalistischen und beschränkt demokratischen Konsens der politischen Eliten und Parteien sowie der Öffentlichkeit im Land, dass die Wahlmanipulationen im Osten/Kurdistan kaum thematisiert wurden und eher untergingen im Jubel über den CHP-Erfolg. Noch kurz vor den Wahlen wurde davor gewarnt, dass die Kurd*innen der AKP zuarbeiten würden, während nun ihre strategisch vernünftige Wahloption im Westen des Landes kaum genügend und auf Augenhöhe gewürdigt wird.

Ähnliches wie für die bürgerliche Opposition galt auch für linke und sozialistische Parteien: Dort, wo sie in kleinlichen Machtspielchen und Opportunismen versunken das „große Ganze“ – das Zurückdrängen des Regierungsblocks – vollständig zugunsten ihres partikularen Wahlerfolges ignorierten, wurden sie abgestraft. Das trifft vor allem auf das megalomanisch wirkende Vorgehen der Arbeiter*innenpartei der Türkei (TIP) in Istanbul-Kadiköy, Hatay-Defne und Hatay-Stadt zu. Die TIP erlag aufgrund ihrer Popularität und ihres respektablen Erfolgs bei den Wahlen 2023 offensichtlich der Illusion, ihre Popularität sei ihr allein als individueller Partei zu verdanken – und nicht der Stärkung einer allgemeinen linken Perspektive und Gegenhegemonie, zusammen mit den Kurd*innen und einem großen Teil der linken und sozialistischen Parteien, die sich in den letzten Jahren aus den sozialen Kämpfen und politischen Praktiken landesweit und vor allem in den Erdbebengebieten entwickelte. Durch das kleinliche, nur auf die Wahlergebnisse ihrer eigenen Partei bedachte Kalkül der TIP, mit der sie sogar nationalistische und islamistische Personen aufgrund ihrer angeblichen Popularität als Kandidat*innen aufstellte, wirkte sie daran mit, diese zaghaft gebildeten Elemente einer linken Gegenmacht und das in die Linke gesetzte Vertrauen partiell zu enttäuschen. An Orten, wo hingegen Linke und Sozialist*innen zusammenarbeiteten, um eine realistische Alternative zur AKP (und CHP) zu bilden, da konnten sie teils sogar gewinnen (das linke Bündnis in Hatay-Samandağ um die TIP ist hierfür ein Beispiel) oder beachtliche Achtungserfolge erzielen. Beispiele sind das linke Bündnis in Hatay-Defne um die TKP, das fast siegte, im Unterschied zu TIP und SOL, die dort abgestraft wurden und dazu beitrugen, dass das linke Bündnis knapp verlor; aber auch die TIP selbst, nämlich im Bündnis mit CHP und DEM in Kocaeli-Gebze.

Es lässt sich daher festhalten, dass oppositionelle Wähler*innen trotz aller Demoralisierung eines eint: Wer es mit der Opposition gegenüber eines sich faschisierenden Regimes nicht ernst meint, der wird abgestraft; wer es aber schafft, seine eigene Position und damit sich selbst als Alternative überzeugend zu präsentieren, dabei aber das „große Ganze“, das Zurückdrängen des Regierungsblocks, nicht aus den Augen lässt, der kann das Vertrauen der oppositionellen Wähler*innen gewinnen.

Die Konjunktur des Dammbruchs

Warum insbesondere der erste und der zweite Grund nicht schon im Mai 2023 dazu geführt haben, dass die AKP-geführte Regierungsallianz und Erdoğan als Präsidentschaftskandidat verloren haben, ist eine sehr wichtige Frage. Ich sehe hierfür, viertens, mehrere konjunkturelle Gründe:

Im Mai 2023 hatten die Wähler*innen des Regierungsblocks noch einmal ihre Hoffnung in die Regierungskoalition gesetzt. Zwischenzeitlich hat sich die ökonomische Situation der Masse der Bevölkerung aber nicht verbessert. Die AKP hatte nach den Mai-Wahlen 2023 eine nicht ganz konsistent durchgezogene Rückkehr zu klassischer neoliberaler Austeritäts- und Deflationspolitik vollzogen. Daher wird oft von einem „hybriden“ wirtschaftspolitischen Regime gesprochen: Eine Mischung aus orthodox-neoliberal und heterodox-antineoliberal, deflationär-rezessiv und expansionistisch-developmentalistisch. Greifbare Beispiele hierfür sind die immensen zusätzlichen Staatsausgaben für Wiederaufbau nach dem Erdbeben sowie zur populistischen Geldredistribution an die Bevölkerung, was das Staatsdefizit antrieb, bei gleichzeitiger Erhöhung aller Steuern, um dadurch das Defizit wieder zu balancieren. Beides wirkte und wirkt inflationsfördernd, während die geldpolitische Wende deflationär orientiert ist. Die inkonsistente Umsetzung der Rückkehr zu einem orthodoxen neoliberalen Regime wiederum befeuert die Entwertung der Lira und wirkt aufgrund der Importabhängigkeit der Türkei damit ebenfalls inflationsfördernd.

Nicht konsistent ist die Rückkehr daher, weil die makroökonomischen Parameter (insbesondere die Inflation und die riesige Schere zwischen Inflation und Leitzins) solch desaströse Züge angenommen hatten, dass ein sofortiger radikaler Wandel ziemlich sicher zu einer Finanzkrise wegen Preisverfalls von Wertpapieren und Kreditausfällen bei Schuldnern mit flexiblen Zinsraten geführt und wohl eine tiefe Wirtschaftskrise ausgelöst hätte. Aber auch schlicht aus Gründen des makroökonomischen Populismus, sprich, um durch die (für die Zukunft angekündigte) Stärkung der Nachfrage mithilfe vorübergehender expansionistischer Maßnahmen die Zustimmung zum Regime im Vorlauf zu den Wahlen im März 2024 zu erhalten. Das führte zu widersprüchlichen Resultaten wie zu einer Kontraktion im Kreditmarkt und in der Aktivität bestimmter wirtschaftlicher Sektoren, somit zu einer leichten Zunahme der Arbeitslosigkeit, bei erneuter Beschleunigung des Anstiegs der Inflation. Ist aber ein Hyperinflationsniveau erreicht, können auch populistische expansionistische Maßnahmen kaum mehr zur Stabilisierung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung beitragen und werden selbst, nebst den anderen inflationsfördernden Maßnahmen, zu Beschleunigern der Inflation, wie mittlerweile auch Erdoğan selbst öffentlich zugibt. Daher wurde jetzt erst dasprospektive in die Regierungskoalition investierte Vertrauen zurückgezogen und diese abgestraft.

Das ökonomistische Argument, dass es den Menschen heute wesentlich schlechter geht als 2023, und dass dies den starken Rückgang der Zustimmung der AKP erklärt, überzeugt indes nicht ganz. Zum einen hat sich an den wesentlichen makroökonomischen Parametern nichts Wesentliches verändert. Zum anderen ist ein Großteil der Bevölkerung nicht erst seit 2024 sehr unzufrieden über die ökonomische Situation, sondern schon seit Jahren. Der Anteil der Unzufriedenen ist innerhalb des letzten Jahres nicht wirklich gestiegen. Ökonomistische Analysen übersehen oft, dass Menschen nicht ausschließlich aus unmittelbar ökonomischen Gründen politisch handeln oder wählen, sondern die ökonomischen Umstände gefiltert durch Subjektivierungs- und Identitätsmuster wirken. Es ist die Kombination aus Fortsetzung einer für die Masse der Bevölkerung untragbaren ökonomischen Situation einerseits und Verlust der Hoffnungen auf das Einsetzen einer Verbesserung durch die Politik des Regierungsblocks andererseits, die wesentlichen Anteil daran hat, dass die sinn- und identitätsstiftenden Praktiken und Diskurse der AKP nun stärker einbrachen – und demgegenüber die erfolgreiche Performanzlegitimität der CHP in Istanbul und Ankara in den Vordergrund treten und auf den Rest des Landes stärker ausstrahlen konnte. Aus diesem Grund fiel es Regierungsblockwähler*innen nun leichter, die CHP zu wählen.

Zudem sind Lokalwahlen offener für Abweichungen und „explorative Testversuche“, da in ihnen nicht über die zentralen Institutionen des Landes entschieden wird; daher greift auch die Polarisierung während Lokalwahlen weniger stark. Wie Fatih Erbakan, der Chef der YRP, die auf nationaler Ebene in einer Koalition mit der AKP, in den Lokalwahlen aber in starker Konkurrenz zur AKP stand, konzise hervorhob, ging es diesmal nicht „um’s Ganze“, sprich darum, den feindlichen Block von der Macht fernzuhalten, sondern „nur“ um die lokalen Verwaltungen. Daher sei eine allianzinterne Konkurrenz gerechtfertigt, vor allem, da die YRP in vielen einzelnen Politikfeldern unterhalb der „großen nationalen“ Fragen nach Identität und Ideologie stark von der AKP abweicht. Für den „Versuchscharakter“ der Wahlentscheidung vieler ehemaliger MHP- und AKP-Anhänger*innen spricht, dass in einigen anatolischen Provinzen, deren Bürgermeisterschaftswahl die CHP gewonnen hat, das jeweilige Provinzparlament dennoch von der AKP dominiert wird (bspw. Afyonkarahisar, Burdur, Kütahya, Adıyaman, Kastamonu, Sinop, Giresun, Ardahan). Wie schon 2019 in Istanbul und Ankara wählten also AKP- und MHP-Wähler*innen in diesen Provinzen weiterhin mehrheitlich ihre eigene Partei, gaben aber dem Oppositionskandidaten für das Bürgermeister*innenamt eine Chance.

Nicht zuletzt scheint die Veränderung innerhalb der CHP mobilisierend gewirkt zu haben, obwohl diese nicht massiv und schnell wieder die „Luft raus“ war. Der alte Vorsitzende der CHP, Kemal Kılıçdaroğlu, dem die Schuld an der Wahlniederlage von 2023 gegeben wurde, der sich aber weigerte, zurückzutreten, wurde zu einem außerordentlichen Kongress dazu gezwungen. Überraschenderweise gelang es dort einer oppositionellen Fraktion der Unzufriedenen um den dann zum Vorsitzenden gewählten Özgür Özel, die Mehrheit zu erlangen. Zu dieser Fraktion gehört auch der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoğlu, dessen nationale Repräsentation dadurch weiter wuchs. Allerdings verschwand ein stark links orientierter Programmvorschlag von Özgür Özel schnell in der Bedeutungslosigkeit, Imamoğlus kontrafaktischer und inkonsistenter Versuch der Demokratisierung von Nationalismus und religiösem Glauben, also die fortgesetzte ideologische Anbiederung an die Rechte, trat in den Vordergrund. In der politischen Praxis gewann die CHP keine nennenswerte Initiative und machte eher den Eindruck eines Versunkenseins in inneren Grabenkämpfen. Starke Kandidaten wie der ehemalige Bürgermeister von Izmir, der links tendierende und mit den Kurd*innen zusammenarbeitende Tunç Soyer, wurden diesen Kämpfen geopfert, während in Ungunst geratene Kandidaten wie Lütfü Savaş in Hatay aufgrund ihrer angeblichen Popularität auch bei nationalistisch-konservativen Wähler*innen beibehalten wurden. In beiden Fällen wurden die Entscheidungen durch die Wähler*innen quittiert: In Izmir, einer CHP-Hochburg, gewann die CHP zwar die Wahl, musste aber empfindliche Einbußen hinnehmen; Hatay, ebenfalls eine CHP-Hochburg seit fast 20 Jahren, verlor sie hingegen komplett.

Darüber hinaus scheint jedoch der Wechsel der Spitze und die zunehmende Bedeutung von Imamoğlu mobilisierend gewirkt zu haben, letzteres jedoch durchaus auch aus sehr volatilen Gründen: Eine Studie stellt fest, dass sich allgemeiner Frust und/oder Demoralisierung bei Regimewähler*innen wie auch Oppositionswähler*innen aufgrund des Mangels an Veränderung und der Alternativlosigkeit breit macht und dass daher starke Führer wie Erdoğan und Imamoğlu attraktiv erscheinen. Dies jedoch ist unter den gegebenen Umständen von steigendem Frust, Unmut und politischer Apathie eine sehr labile, instabile Form der Zustimmung und schließlich aus der Perspektive einer demokratischen und sozialen Zukunft der Türkei eine gefährliche Kombination.

Potenziale und Gefahren der Hegemoniekrise

Zusammenfassend hat ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren zum Ergebnis bei den Wahlen vom 31. März 2024 geführt. Nebst der fortgesetzten elektoralen Erosion der AKP aufgrund der wirtschaftlichen Situation konnte die CHP insbesondere in Istanbul und Ankara die Barrieren negativer Identifikation durch ihre Leistungen in den letzten fünf Jahren partiell einreißen. Oppositionelle Wähler*innen zeigten trotz Demoralisierung einen erstaunlich starken Willen, den Regierungsblock zurückzutreiben und straften allzu partikulare und opportunistische Machtkalküle innerhalb des eigenen Lagers ab. All dies fand in einer einzigartigen Konjunktur statt, in der das von AKP-Wähler*innen in die AKP gesetzte Vertrauen aufgrund der ökonomischen Entwicklungen weiter einbrach, der potenzielle „Explorationscharakter“ von Lokalwahlen die Polarisierung schwächte und dadurch Wandel im Kleinen ermöglichte, während Imamoğlu und die neue CHP-Führung zumindest den Schein von Veränderung und starken Persönlichkeiten verbreiten konnten.

Alle diese einzelnen Faktoren zusammengenommen hätten jedoch auch zu eher kleineren Verschiebungen im Großen und Ganzen führen können, wie es noch bei den Lokalwahlen 2019 der Fall war. Dass sie zu vergleichsweise großen Veränderungen geführt haben, hat wenig mit einer „Borderline Demokratie“ zu tun und viel mit der Hegemoniekrise im Land, die die sozialen Widersprüche verschärft und unvorhergesehene Sprünge ermöglicht. Identitäten und Subjektivitäten sind grundlegend instabil geworden und daher in einer günstigen Konjunktur offen für Veränderung. Die Möglichkeit des Eintretens von Unvorhergesehenem, von erst im Nachhinein Erklärbarem, wächst.

Das elektorale Verschwinden von rechten, rechtsextremen und islamistischen oppositionellen Kleinstparteien zeigt eindrücklich, dass Opposition auch ohne diese geht. Zudem widerlegt es liberale Thesen, nach denen man es allen recht machen muss, wenn man die AKP besiegen will. Das Wahlergebnis vom 31. März 2024 zeigt, dass man prinzipiell mit einer überzeugenden Alternative in einer günstigen Konjunktur hervortreten und das Alte absterben lassen kann, anstatt durch Anbiederung zu dessen Fortleben beizutragen. Nun trägt aber andererseits auch die heutige CHP den seit 1980 dominierenden allgemeinen Rechtsruck mit, auch wenn sie sich derzeit gegen ihre autoritärste und autokratischste Ausformung wendet. Dass sie die Gunst der Stunde nicht nutzt, um eine grundlegende Alternative zu verankern, damit gehen auch große Gefahren einher.

Zum einen folgt daraus, dass die CHP sofort wieder Wählerzustimmung verlieren kann, wenn AKP und MHP „liefern“ können, das heißt, insbesondere die ökonomische Situation für die Masse der Bevölkerung verbessern können. Dazu wird es kurzfristig vermutlich nicht kommen, es scheint weiterhin die Verschärfung der neoliberalen Orthodoxie auf dem Programm zu stehen. Doch in einer Situation nach einer Restabilisierung der makroökonomischen Situation ab Ende dieses, Anfang nächsten Jahres könnte es erneut zu einer Restabilisierung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung auf einem unteren bis mittleren Niveau kommen. Das Regime spekuliert wohl in diese Richtung. Devlet Bahçeli, Chef der MHP, argumentiert, der ökonomische Unmut habe sich verallgemeinert auf die politische Sphäre niedergeschlagen und dazu beigetragen, dass die CHP mithilfe der Kurd*innen und der günstigen konjunkturellen Stimmungen Profit daraus schlug. Diese „Konjunktur“ zu beheben, das wird das Hauptanliegen des Regimes in den nächsten Monaten und Jahren sein. Die nächsten Parlamentswahlen stehen offiziell erst in etwas mehr als vier Jahren an. Es ist also noch viel Zeit vorhanden im normalen Lauf der Dinge.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass insbesondere die Stimmen der Kurd*innen in Städten wie Istanbul und Ankara nur „leihweise“ an die CHP übertragen wurden, um die AKP zu besiegen. Diese Stimmen werden bei den nächsten Wahlen wieder zur pro-kurdischen linken Partei, derzeit DEM, fließen. Der Groll über den Nationalismus hält zudem weiterhin an. Was mit den Stimmen von Wähler*innen anderer Oppositionsparteien passiert, bleibt offen; sie sind jedenfalls noch nicht beständig und stark genug bei der CHP, als dass der Vertrauensvorschuss nicht wieder zurückgezogen werden könnte.

Folgenschwerer ist, dass die CHP potenziell zur Rechtsverschiebung im Land beiträgt. Noch kann die CHP zwischen einem Demokratisierungsversprechen unter anderem an die Kurd*innen und einem nationalistisch-konservativen Angebot an Rechte und Traditionalist*innen hin und her oszillieren. Bei weiteren Siegen, insbesondere auf nationaler Ebene, muss sie den Worten jedoch Taten folgen lassen. Dann wird der Spagat schwieriger oder sogar unmöglich. Hält sich mit Zutat der CHP der Rechtsruck weiter aufrecht, bleiben die Demokratisierungsperspektiven der Türkei trübe. Es kommt hinzu, dass die CHP gerade davon profitiert, dass es die AKP ist, die eine Wirtschaftspolitik umsetzt, die sich auch die CHP (viel weniger „hybride“ artikuliert) zum Programm gemacht hat, nämlich eine neoliberale Orthodoxie. Diese ist nicht umsonst ein wesentlicher Grund für den elektoralen Einbruch der AKP: Sie zeitigt desaströse Auswirkungen auf den Lebensstandard der Bevölkerung und ist daher aus einer linken Perspektive weiterhin abzulehnen.

Für die Linke eröffnen sich ähnliche Chancen wie für die CHP. Ihre wenigen Wahlerfolge zeigen, dass die Linke sich durch erfolgreiche Praxis und Strategie auch elektoral verankern kann. Die prinzipielle Öffnung der Wahlbevölkerung für Alternativen öffnet auch ihren Spielraum. Zudem haben oppositionelle Wähler*innen bewiesen, dass ein starker Wille nach Veränderung besteht; soziale Kämpfe setzen sich unvermindert fort; Großereignisse wie der 8. März und Newroz, das kurdische Frühjahrsfest, wiesen dieses Jahr sogar eine teils bedeutend stärkere und kämpferischere Beteiligung auf. Dafür muss die Linke aber heraus aus kleinlichem Kalkül. Sie muss ihre Punkte durchstreiten, ohne das große Ganze und die Errichtung von Gegenhegemonie aus dem Blick zu verlieren.


Anmerkungen:

[1] Wo nicht anders angegeben nutze ich die Zahlen der offiziellen staatlichen Agentur Anadolu Ajansı (AA) in der Aufbereitung von Haber Türk. Großen Dank an Evrim Muştu und Johanna Bröse für ihre Redaktion des Textes.

[2] Mit Videoaufnahmen belegt ist der Missbrauch einer besonderen gesetzlichen Bestimmung, nach der Beamt*innen im Dienst während den Wahlen für die Abgabe ihrer Stimme nicht an eine spezifische Wahlurne gebunden sind. Auf Videos ist zu sehen, wie Hunderte von Polizist*innen und Soldat*innen in Bussen in kurdische Bezirke gebracht werden, um dort konzertiert zu wählen. Die DEM gibt im Abgleich mit Wähler*innenregistern und den ihr vorliegenden Wahlresultaten insgesamt an die 46.000 Stimmen an, die in dieser Form missbräuchlich genutzt wurden. In manchen kurdischen Gebieten waren wenige Tausend Stimmen genug, um das Wahlergebnis entscheidend zu beeinflussen.