„Nieder, nieder mit Al Sisi!“
Letzten Freitag nachts sind die Menschen in mehreren großen Städten Ägyptens auf die Straße gegangen und haben ihrer Empörung gegen Präsident Al Sisi Luft verschafft. Endlich bricht etwas auf: Seit 2014 hatte es keinen Protest mehr gegeben, als Al Sisi das 2011 gestürzte Militärregime wieder installiert hatte.
Obwohl die Teilnahme an Demonstrationen in Ägypten mit bis zu drei Jahren Haft bestraft wird und das Regime gegen früheren Protest auch Schusswaffen eingesetzt hat, war die Demo unglaublich selbstbewusst und energiegeladen. Eine längerfristige Mobilisierung ist zu erwarten, was konkret heißt, dass sich für den morgigen Freitag – da beginnt in Ägypten das Wochenende – Demos mit vervielfachter Teilnehmerzahl ankündigen.
Ich habe die Demonstration in Kairo beobachtet und habe mit fünf Genossinnen, sämtlich Aktivistinnen der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo aus dem Jahre 2011, über die aktuelle Mobilisierung diskutiert.
Derzeit kommt es global zu neuen Kämpfen: gilets jaunes, Hongkong, Algerien, Frauenstreik, Klimaprotest. Vielleicht kündigt sich nach 2009–2012 ein neuer globaler Kampfzyklus an. Da die Revolution in Ägypten besonders fulminant war – in der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo hatte zeitweise eine Million Menschen eine ansatzweise revolutionäre Kultur gelebt – ist essentiell, was dort gerade passiert.
Und plötzlich wieder Tahrir
Der Bauunternehmer Mohamed Ali hatte per Video dazu aufgerufen, ein wichtiges Fußballspiel am letzten Freitag zum Protestieren zu benutzen, sozusagen als Rechtfertigung, um in die Innenstadt zu kommen und so zu tun, als würde man die Fernseh-Übertragung kucken. Gegen 21 Uhr bildeten sich dann auf dem symbolträchtigen Tahrir-Platz verschiedene Gruppen. Die Demo selbst wurde rasch von der Polizei aufgelöst, wobei die Demonstrierenden laut rufend in die Shopping-Zone hinein getrieben wurden, wo allerdings viele Passanten sofort der Demo zuströmten. In die Demorufe „Nieder, nieder mit Al Sisi“ und „Tahrir, Tahrir“ einfallend, packten sie ihr Smartphone aus, begannen zu filmen und liefen in Richtung Demo.
Dort konnten sie allerdings nicht lange bleiben, da Tränengasgranaten von den Dächern geschossen wurden und die Menschenmenge wie panisch auseinanderrannte. Als die Verkäufer und Straßenhändler aus der Distanz die Demo mitbekamen, rafften sie hektisch ihre Ware zusammen und ließen die Eisenrollos herunter. In Windeseile verwandelte sich die Shopping-Meile in eine Demo-Zone mit geschlossenen Schotts.
Während noch das beißende Tränengas die Luft erfüllte, sammelten sich die Leute aber schon wieder, begannen zu filmen und noch wütender zu rufen. Autos konnten nicht mehr weiter und begannen die Straßen zu verstopfen, aber die Autofahrer unterstützten mit lautem Gehupe die Demo. Überhaupt gab es nur wenige, die von der Demo weggingen, Männer, die „ihre“ Frauen und Kinder in Sicherheit bringen, und natürlich die notorischen „Neutralen“. Aber da flogen auch schon wieder die nächsten Granaten von den Dächern, und die Masse ergoss sich an ihnen vorbei in die Straßen. So ging es dann die nächsten Stunden weiter.
Insgesamt dürften es etwa 10.000 Demonstranten, fast ausschließlich junge Männer, gewesen sein, wobei sich schwer sagen lässt, wer wirklich „auf der Demo“ war und wer bloß zusah, oder zumindest so tat als ob, um sich dann wieder der Demo anzuschließen. Die Polizei, die die Zugänge zum Tahrir-Platz mit Absperrgittern und gepanzerten Riot Cops versperrte, schickte nun auch Schlägertrupps in Zivilkleidung mit Schlagstöcken in die Shopping-Zone und begann mit Verhaftungen. Insgesamt sollen in Kairo mindestens 76 verhaftet worden sein.
Alle gegen Sisi?
Zu der Demo aufgerufen hatte der Bauunternehmer Mohamed Ali, der von der Regierung um mehrere Millionen Euro beschissen wurde. Dieser warf nun der Regierung Korruption vor. Abgesehen von diesem eher persönlichen beef eines reichen Kapitalisten mit Al Sisi geht es dem Protest tatsächlich im Augenblick in erster Linie um den Sturz Al Sisis, das heißt nicht zwangsläufig um den Sturz der Militärdiktatur als solcher. Es gab über die Willkürlichkeiten der Militärdiktatur hinaus in den letzten Jahren, insbesondere aber in den letzten Monaten Entscheidungen Al Sisis, die allgemeine Empörung hervorgerufen haben. Die Proteste fordern zwar Demokratie statt Diktatur – eine ihrer Forderungen ist auch die Freilassung aller politischen Gefangenen –, aber sie scheinen im Augenblick eher darauf zu setzen, dass sogenannte gute Militärs durch die Unterstützung der Straße gegen Al Sisi putschen und für eine Lageverbesserung sorgen.
Aufgebracht sind die Leute auf den ersten Blick durch verschiedene politische Entscheidungen Al Sisis. Unter anderem hat er sich eine erhebliche Amtszeitverlängerung gegönnt und zwei für das nationale Selbstbewusstsein wichtige Inseln an Saudi-Arabien abgetreten. Die Empörung gegen Sisi hat aber ganz wesentlich soziale Gründe, nämlich die enorme Inflation seit Al Sisis Amtsantritt 2014, die ganz handfest das Leben schwer macht: Der Benzinpreis pro Liter ist um das Achtfache gestiegen. Die Metrotickets kosten zum Teil das Siebenfache. Auch Grundnahrungsmittel haben sich verteuert, was in einer Gesellschaft, in der ein Viertel der Menschen von weniger als zwei US-Dollar am Tag lebt, hammerhart ist. Der fixe Wechselkurs zum US-Dollar wurde unter Sisi aufgegeben, was zur Verteuerung des Dollars geführt hat, mit entsprechenden Folgen für die vielen Importprodukte. Wohnen in Kairo wurde absurd teuer für ägyptische Verhältnisse (WG-Zimmer: 200 Euro). Die Gehälter sind natürlich nicht entsprechend gestiegen. Und was macht der Präsident? Er baut mit Unsummen eine neue Regierungshauptstadt außerhalb Kairos, die aber durch ihre Lage und Befestigung vor allem eine erneute Blockade des Staates wie 2011 verhindern soll. Er gönnt seinen Offizieren Gehaltserhöhungen und sich selbst elf neue Präsidentenpaläste, und sagt dann auch noch, er hätte die zum Wohle des Volkes gebaut.
Da muss man sich ja verarscht vorkommen. Während vor fünf Jahren die Unterstützung für Al Sisi ganz breit war und er tatsächlich auch zum Präsidenten gewählt wurde, weil er mit starker Hand die Wirren und auch die Gewalt und hohe Kriminalität der Protestzeit beendet hatte, wendet sich seit einigen Monaten die Stimmung mehr und mehr gegen ihn. In den Straßen und Cafés ist die Luft ganz dick vor Ärger. Ein Straßenhändler jammert mich im Vorbeigehen an, dass es jetzt wirklich nicht mehr so weitergehen kann und dass endlich Schluss sein müsse mit Al Sisi. Der Taxifahrer fängt, kaum bin ich eingestiegen, eine ausufernde Analyse von Al Sisis Missetaten an. Die Hostel-Mitarbeiterinnen muss man nur kurz auf den Protest ansprechen, schon sprudeln sie los. Hingehen wollen sie am Freitag alle. Und bei Genossinnen zuhause ist der Protest natürlich sowieso das Thema Nummer Eins.
Eine neue Protestwelle?
Meine Genossinnen waren am Freitag zuhause und vom Protest recht überrascht. Sie hatten zwar die wachsende Antipathie gegen Al Sisi registriert, es war aber tatsächlich eine völlig neue Protestgeneration, die am Freitag den ersten Aufschlag für die hoffentlich anstehende große Protestwelle gegeben hat.
Die Stimmung unter den Aktivistinnen war in den letzten Jahren ziemlich gedrückt oder besser gesagt total am Boden. All der Aufbruch, all die Hoffnungen aus dem Ereignis „Tahrir“ waren schließlich zunichte, und am Ende hatte sich ein noch repressiveres Militärregime als das 2011 gestürzte etabliert. Damals waren Freunde ums Leben gekommen, und viele saßen oder sitzen immer noch im Knast. Viele sind emigriert, weil sie in Ägypten – wollten sie nicht Gefängnis riskieren – überhaupt nicht politisch, wissenschaftlich oder journalistisch arbeiten konnten, andere, weil ihnen unmittelbar Gefängnis drohte. Auch wer für Streiks organisiert, landet im Knast, und selbst wenn du als Anwältin einen politischen Gefangenen vertrittst, kannst du im Knast landen. Knast ist dabei eine völlig andere Erfahrung als hierzulande: Niemand weiß, in welches Gefängnis man kommt, niemand wird benachrichtigt, und es wird regulär gefoltert. Anklagen werden nach Bedarf geschneidert, verurteilt wird so, wie es der Staat braucht. Dabei hatten viele liberale Aktivistinnen 2013 das Militär mit Demos und Unterschriftenlisten unterstützt, um die Muslimbrüder von der Macht zu drängen.
Es gibt bei den Aktivistinnen das Gefühl, dass Politik in Ägypten vollkommen sinnlos ist und einfach nichts mehr geht. Da ist nun die Freude natürlich groß, dass sich neue junge Leute endlich wieder auf die Straße trauen und mit neuem Selbstbewusstsein ihre Rechte einfordern. Endlich bricht etwas auf. Die Einschätzung der Lage ist trotzdem pessimistisch. Es erscheint ihnen derzeit nicht realistisch, dass die Macht des Militärregimes gebrochen werden kann, und das wäre natürlich die Grundlage für jedwelche substantielle Änderung. Ihnen zufolge gibt es aber derzeit Konflikte innerhalb des Militärs, was auch erklären könnte, warum die Polizei am Freitag so überraschend wenig gewalttätig war (es kurisert sogar eine Aufforderung eines Offiziers an Riot Cops zur Gewaltlosigkeit vom letzten Freitag auf youtube). Fraktionen im Militär wollen, wie meine Genossinnen vermuten, die Proteste nutzen, um gegen Al Sisi zu putschen.
Daher finden sie die Proteste zwar gut, sind aber auch distanziert: Niemand hat Bock, erneut wie 2013 den Steigbügelhalter für einen neuen General zu spielen. Und ändern würde sich ohne den Sturz des Militärregimes ja ohnehin nichts. Die einen werden der Demo am kommenden Freitag daher tatsächlich fernbleiben. Die andern gehen nur hin, weil sie finden, dass irgendeine Bewegung überhaupt besser ist als gar nichts.
Der morgige Freitag wird zeigen, in welche Richtung es geht: Wie wird sich die Polizei diesmal verhalten? Werden die Massen wirklich die Straßen erneut übernehmen?