Neue Widerstandskultur in Brasilien
São Paulo – Zwischen Besetzung und Biennale
Im Oktober 2018 hingen zwei große Mandacarú-Kakteen an zwei Eisenkonstruktionen kopfüber von einem großen Gebäude in der Innenstadt von São Paulo. Diese Installation war ein Teil des Beitrags des brasilianischen Künstlers Nelson Felix zur 33. São Paulo Biennale. Zudem weilte er 24 Stunden in besagtem Gebäude und fertigte Zeichnungen an, die anschließend in der Hauptausstellung der Biennale gezeigt wurden. Nun, gut ein halbes Jahr später, stehen wir im Erdgeschoss und schauen uns die inzwischen hinter dem zugemauerten Eingang des Gebäudes angebrachte Installation an. Sie ist Teil einer größeren Ausstellung von Felix mit dem Titel Esquizofrenia da Forma e do Êxtase (Schizophrenie der Form und Extase) in der hier ansässigen Galeria Reocupa. Dass es sich bei dieser um keine kommerzielle und auch keine gewöhnliche Galerie handelt, deutet der Name bereits an. Vielmehr ist sie Teil des Ocupação 9 de Julho (Besetzung des 9. Juli), dem größten besetzten Gebäude des Movimento dos Sem Teto do Centro, MSTC (Bewegung der Obdachlosen im Zentrum), in São Paulo. Anfangs von etwa 20 Familien bewohnt, sind in dem 2016 besetzten Gebäude inzwischen insgesamt 500 Personen ansässig. Die meisten gehen kleineren Arbeiten in der informellen Ökonomie São Paulos nach, etwa als Straßenverkäufer*in von gekühlten Getränken oder als Uber-Fahrer*in. Einer der jüngeren Bewohner nutzt unsere Anwesenheit, um seine beiden Plastikbälle aus dem ansonsten abgeschlossenen, aber nach oben in das Treppenhaus offenen Raum zu holen. Die Bälle hatten sich neben die Installation gesellt. Sie wirkten beinahe wie ein Teil von dieser. Laura, eine der Aktivistinnen des Squats, erklärt uns, dass viele Künstler*innen Sympathien mit dem MSTC hegten, was die enge Anbindung des besetzten Gebäudes an die Kunstszene erklärt. Sie selbst arbeitet als Ausstellungsproduzentin. Die Präsentation der Biennale Kunst führe aber nicht nur zu einer höheren Sichtbarkeit des Anliegens des MSTC und schaffe Raum für kollektiven Austausch und Aufbau, sondern habe auch den praktischen Nebeneffekt, dass das Gebäude schwerer von der Polizei zu räumen sei. Denn immerhin muss die Polizei nach einer Räumung Sorge dafür tragen, dass die Besitztümer der Besetzer*innen aus dem Gebäude abtransportiert und diesen später wieder zugänglich gemacht werden. Der Transport einer teuren Kunstinstallation werde so zu einer besonderen Herausforderung für die Polizei.
Besonderen Schutz und Aufmerksamkeit kann der MSTC und das Squat sicherlich gut gebrauchen. Denn bereits im Januar 2019, im Monat seines Amtsantritts, kündigte der neue rechte brasilianische Präsident Jair Bolsonaro via Twitter an, mit dem MSTC und verwandte Bewegungen, wie der berüchtigten Landlosenbewegung Movimento dos Sem Terra, (MST) aufzuräumen und ihre Besetzungen künftig in den Rang eines terroristischen Akts zu erheben. Sollte er das wirklich gesetzlich umsetzen, könnten die Aktivist*innen dieser Bewegungen für die Beteiligung an Besetzungen problemlos zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt werden. Besonders der MST ist in Brasilien eine Massenbewegung, die zehntausenden von Familien geholfen hat, landwirtschaftliche Flächen zu besetzen, die Großgrundbesitzer zu Brachland hatten verkommen lassen. Bolsonaro und anderen Vertreter*innen der brasilianischen herrschenden Klasse, die seit je her eng mit dem Besitz von riesigen Ländereien verbunden ist, sind diese mobilisierungsstarken Bewegungen mehr als ein Dorn im Auge. Der MSTC ist daher seit dem Amtsantritt Bolsonaros darum bemüht, seine öffentliche Sichtbarkeit zu erhöhen und die in der Mehrheitsgesellschaft bestehenden Vorurteile gegenüber Besetzer*innen abzubauen. Statt auf viele kleinere Besetzungen setzen diese daher vor allem darauf, die Ocupação 9 de Julho zu ihrem Leuchtturmprojekt auszubauen.
Eine der größeren Aktivtäten neben den kulturellen Projekten, die auch Konzerte, Lesungen und Diskussionen beinhalten, sind die monatlich veranstalteten öffentlichen Mahlzeiten. Die Küche im drittten Stock gleicht inzwischen einer Industrieküche. Die professionellen Geräte konnten mit dem Erlös aus einer Versteigerung von gespendeten Kunstwerken angeschafft werden. Sie waren bitter nötig, denn nahmen an den öffentlichen Küchen anfangs etwa 80 Personen teil, so werden inzwischen 800 Essensrationen pro Abend ausgegeben. Laura meint, dies zeige an, wie groß das Interesse der momentan hoch politisierten und tief gespaltenen brasilianischen Gesellschaft an Projekten sei, die Alternativen zu der herrschenden Politik aufzeigen. Auch das sich in dem Haus treffende Netzwerk von oppositionellen Gruppen wachse mit jedem Treffen an. Selbst Gruppen aus dem bürgerlichen Lager schlössen sich in den letzten Monaten verstärkt an. Was jetzt noch fehle, sei die Organisation eines massiven und lang anhaltenden Straßenprotests gegen die rechte Regierung um Bolsonaro.
Rio – Zwischen Kunst und Kirche
Eine etwas andere Form der widerständigen Organisation lernen wir in Rocinha, einer Favela am südwestlichen Rand von Rio de Janeiro, kennen. Dort hat eine Gruppe von jungen Künstler*innen, die teilweise in dem Viertel aufgewachsen sind, die Igreja do Reino da Arte (Kirche des Königreichs der Kunst) gegründet. Wie sie erklären, ist diese aus dem Mangel an Organisationen geboren, die ein Zusammenkommen von Künstler*innen ermöglichen, um kritisch über eine von reichen Sammler*innen dominierte Kunstwelt nachzudenken und sich gegen deren Zumutungen zu organisieren. Mit einem verwegenen Lächeln erklären sie, dass es sich bei ihrer „Kirche“ wirklich um eine Glaubengemeinschaft und nicht um eine Kunstaktion handele. So wurde der dem Kollektiv angehörende Maler Maxwell Alexandre, der aus einer evangelikalen Familie stammt, vor seiner ersten Einzelausstellung nach den Riten der Igreja do Reino da Arte getauft, damit er mit der vereinten Kraft der Kirche in die Kunstwelt eintrete. Seine großen, von der Wandmalerei inspirierten Bilder, sprechen von Polizeigewalt, Rassismus und Diskriminierung in den abgehängten Vierteln Rios. Es ginge ihnen mit dem Kollektiv aber nicht um Missionierung, so Alexandre, denn dies werde schon genug von den evangelikalen Kirchen betrieben. Stattdessen wollen sie Menschen, die in der Kunstwelt unsichtbar gemacht werden, supporten. So lernen wir die Transfrau Anna kennen, die gerade eine Residenz in der „Igreja“ absolviert. Sie berichtet uns, dass Brasilien eines der Länder mit dem höchsten Konsum an Trans-Pornos ist und gleichzeitig eine der höchsten Mordraten an Trans-Personen weltweit aufweise. Ihr Vorhaben bestünde nun darin, während der Residenz ein Plakat zu entwerfen, das auf die Sichtbarkeit von Trans-Personen in Rocinha zielt und diese zu einer Versammlung in die Kirche einladen will.
Belo Horizonte – Zwischen Ausstellung und Afrobrasilianischer Kultur
Ein Projekt, das sich mit Fragen der Favela und der Religion beschäftigt, ist auch das Museu dos Quilombos e Favelas Urbanos, genannt Muquifu in Belo Horizonte. Das Museum entwickelte sich ausgehend von einer Gruppe Frauen*, die sich in den 1970er Jahren wöchentlich in einer katholischen Basisgemeinde zum Tee trinken trafen. Es will den Bewohner*innen der Favela Bewusstsein über ihre eigene Kultur vermitteln und so auch Widerstandsbewusstsein schaffen, das sich aufgrund von verschärften Polizeirazzien, Gentrifizierungsprozessen und Vertreibungsplänen seitens der Regierung dringend notwendig ist. Antonio berichtet uns davon, dass dies zunehmend schwieriger werde, da viele Bewohner*innen der Favela in den letzten Jahren sich den Evangelikalen zugewendet hätten. Zudem werde der Bezug auf die Quilombos, die ehemaligen Siedlungen geflohener Sklav*innen, nicht von allen Bewohner*innen positiv aufgenommen. Die afrobrasilianische Widerstandstradition sei leider nicht selbstverständlich. Dabei zeigt das Museum eindrücklich, welch widerständiges Potential einer Ausstellung inne wohnen kann. So werden etwa Objekte, wie kitschige Vasen und Teller, gezeigt, die Hausangestellte von ihren Chefs als „Dank“ für ihre Arbeit geschenkt bekommen hatten. Diese Objekte zeugen von der Geringschätzung der Hausangestellten, deren Chefs für sie nicht viel mehr als den Abfall ihrer Zivilisation vorsehen. An einer anderen Stelle hängen Fotos von Einheimischen in ihren Häusern, bevor diese auf Anweisung der Regierung abgerissen wurden. Weitere Installationen bestehen aus Einrichtungen, die bei afrobrasilianische Riten verwendet werden. So hält das Muquifu die Erinnerung an die afrobrasilianischen Gebräuche und Wurzeln der brasilianischen Gesellschaft fest, die das unter dem immer stärkeren Einfluss evangelikaler Freikirchen stehende Mehrheits-Brasilien nur allzu oft verdrängt.
Weitermachen!
So unterschiedlich diese Projekte auch sein mögen, sie legen Zeugnis von einer lebendigen, widerständigen Kultur ab, die sich der von Bolsonaro und seinen Verbündeten entfesselten rechten Gewalt gegen die armen, schwarzen und indigenen Teile der brasilianischen Bevölkerung entgegenstellen. Dass sie in schwierigen Zeiten leben und es einen langen Atem braucht, um sich der jetzigen rechten Hegemonie in Brasilien entgegenzustellen, war allen bewusst, die wir trafen. Doch das einzige was hilft, ist, eine widerständige Kultur am Leben zu halten und den Rechten eine andere, linke Politik von unten entgegen zu setzen. Aus den Mandacarú-Kakteen in der Installation von Nestor Felix im Keller des Ocupação 9 de Julho wuchsen inzwischen kleine, grüne Ableger heraus. Sie werden sich einmal in große Kakteen verwandeln. Dies ist auch den vielen widerständigen Projekten in Brasilien zu wünschen.
Kurzer Nachtrag, 16.06.2019:
Langsam scheint sich auch der Protest auf der Straße gegen Bolsonaro zu entwickeln. Am 15. und 30. Mai waren bereits hunderttausende bei Aktionstagen zur Verteidigung des Bildungssystems auf der Straße. Am Freitag, den 14. Juni wurde zu einem Generalstreik gegen die Rentenreform aufgerufen, an dem vor allem die gewerkschaftlich gut organisierten Sektoren teilgenommen haben. Dabei kam es zu einer Beteiligung von 45 Millionen Menschen im ganzen Land. Weitergehende Infos finden sich auf labournet.