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Metropolenchauvinismus und Projektion

Internationalismus Rojava Open Source

Während die Türkei den nord-syrischen Kanton Afrin besetzt und damit droht, auch die restlichen Kantone Rojavas und damit die fortschrittliche kurdische Selbstverwaltung militärisch zu zerschlagen, wird in und außerhalb der deutschen Linken weiter über den Charakter des gesellschaftlichen Projekts in Rojava und die Haltung der deutschen Solidaritätsbewegung diskutiert. In diesem Zusammenhang erschien vergangenen Oktober ein Artikel von mir, in dem eine kritische Reflexion der Positionen der hiesigen Solidaritätsbewegung mit Rojava eingefordert wurde. Daraufhin meldete sich der kurdische Genosse Erdal Firaz mit einem Replik, in dem er seine Erfahrungen in der deutsch-kurdischen Zusammenarbeit darlegte und sie mit dem Stichwort des Metropolenchauvinismus zusammenfasste. Meine nachfolgende Antwort stimmt diesem Befund einerseits zu. Allerdings, so meine ich, ist dieser als Vorwurf gegenüber eines dringend notwendigen Debattenstarts der deutschen Solidaritätsbewegung über die Bedeutung des gesellschaftlichen Projekts in Rojava für den deutschen Kontext problematisch und kann schlussendlich auch nicht im Interesse der kurdischen Befreiungsbewegung sein.

Das unreflektierte Privileg der Metropole

Der existierende Metropolenchauvinismus – die eurozentristische Haltung von Linken in Deutschland, Kämpfe in anderen Teilen der Welt an der eigenen Bewegungsgeschichte messen zu wollen – ist gleich in mehrfacher Hinsicht problematisch und falsch. Zum einen wird dabei davon abgesehen, dass der gesellschaftliche und ökonomische Kontext in anderen Ländern grundsätzlich anders ist, sich etwa in verschiedenen gesellschaftlichen Räumen auch verschiedene Widersprüche herausbilden. In der Konsequenz heißt das, dass Kämpfe zwangsläufig sowohl andere Formen annehmen, als auch andere Inhalte formulieren als in Deutschland. Zum anderen wird davon abgesehen, dass in den neoliberalen, imperialistischen Zentren aufgrund der relativen Freiheit von Repression [1] andere Kämpfe um rechtliche Fortschritte möglich und für das Kapital schlussendlich akzeptabel waren, da zum Beispiel die partielle Integration ehemals „abweichender“ Identitäten ohne Widerspruch zur Auspressung der Werktätigen vollzogen werden konnte. Daraus erklärt sich unter anderem der relative rechtliche und gesellschaftliche Fortschritt in den europäischen Ländern in puncto Frauen-, Kinder- und Homosexuellenrechten. [2] Das gleiche gilt für das Recht auf nationale Selbstbestimmung: Es umfasst etwa den Luxus der Reise- und Bewegungsfreiheit als StaatsbürgerIn. Für viele (linke) Menschen in der Bundesrepublik ist dies alltäglich und selbstverständlich, während es zeitgleich für viele Menschen weltweit aufgrund der Unterdrückung ihrer Nationalität nicht oder nur eingeschränkt existiert. [3] Und auch die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat ist kein Garant für die Aufhebung nationaler Unterdrückung. Wie wir anhand des EU-Grenzregimes und der unterschiedlichen Behandlung der Geflüchteten im Asylverfahren aufgrund des Herkunftslandes sehen können, ist Pass eben nicht gleich Pass.

Summa Sumarum: Das Problem des Metropolenchauvinimus entsteht aus dem unzulässigen Voraussetzen der eigenen Privilegien in anderen Ländern und zugleich aus der Ignoranz gegenüber den grundlegend verschiedenen gesellschaftlichen Ausgangspositionen. Aus dieser Haltung heraus werden oft genug progressive Bewegungen außerhalb der imperialistischen Metropolen als nationalistisch, religiös oder reaktionär gebrandmarkt. [4] Der Metropolenchauvinismus besorgt durch das Gegeneinanderausspielen von Widersprüchen in progressiven Bewegungen die „links“ kostümierte Legitimation zur Aufrechterhaltung globaler imperialistischer Herrschaft und Ungleichheit, da entsprechende Positionen zwangsläufig immer zur Entsolidarisierung und damit zur Schwächung dieser Bewegungen führen. Siehe die neuesten Auswüchse der deutschen NATO-Linken im Zuge der brutalen Besetzung Afrîns durch den untergeordneten türkischen Imperialismus.

Der Wunsch nach der Utopie in der Fremde

Die Kehrseite des Metropolenchauvinismus ist die Projektionsfläche. Sie setzt die Privilegien ebenfalls unreflektiert voraus, spielt diese aber im Zuge dessen nicht gegen die jeweilige Bewegung außerhalb der Metropole aus, sondern macht die Widersprüche, in denen sich jene bewegt, schlicht unsichtbar. Diese Perspektive vollzieht sich in der kritiklosen Übernahme von Informationen und Propaganda der jeweiligen Bewegung und in der Glorifizierung der jeweiligen Ideologie, Organisation und Praxis. Widersprüche in der Bewegung, die dem Bild vom revolutionären Befreiungsmoment widersprechen, werden ausgeklammert. Lediglich die genehmen, da mit den europäischen Privilegien übereinstimmenden, Aspekte der jeweiligen Bewegung werden aufgeschnappt und überhöht. Gleichzeitig wird von Bewegungen und Organisationen eine moralische Reinheit und Abstinenz von ,,Menschenrechtsverbrechen“ [5] gefordert – insbesondere von Gruppen, die sich in bewaffneten Konflikten mit hohem Brutalisierungsgrad befinden. Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Position wird oft in den Verdacht der Sympathie für den Gegner gestellt oder gleich zum Verrat erklärt. Es gibt nur ganz oder gar nicht, schwarz oder weiß, Solidarität oder Verrat. Das geht so meistens eine Zeit lang gut, findet jedoch spätestens dann abrupt sein Ende, sollte die so verklärte Bewegung sich dann der ,,moralischen Unreinheit“ (zum Beispiel der Menschenrechtsverletzungen oder des Aufgebens der Revolution) schuldig machen, oder sich in Widersprüche hineinbegeben, die nicht mehr den westlichen Maßstäben, die ihren Ausgang in zur Voraussetzung gemachten Privilegien haben, entsprechen. Die Reaktion seitens der deutschen Linken ist immer gleich: Wie viele zeigten Solidarität mit dem sozialistischen Vietnam nach dem Sieg des Vietcong? Wie viele zeigten Solidarität mit dem sozialistischen Kuba nach dem Sieg gegen Batista? Wie viele blieben in El Salvador oder Nicaragua bei der Stange? Oder bei den beiden ältesten Guerillagruppen in Kolumbien FARC-EP und ELN? Es waren und sind nicht viele. Die Übriggebliebenen sehen sich den Denunziationen ihrer ehemaligen GesinnungsgenossInnen ausgesetzt, eine korrumpierte Bewegung oder Regierung zu unterstützen.

Summa Summarum: Die Projektionsfläche ist der Zwillingsbruder des Metropolenchauvinismus, indem sie den gleichen Maßstab, nämlich die europäischen Privilegien, zum Ausgangspunkt der Haltung macht. Beide Haltungen verweisen aufeinander und sind wesentlich eurozentristisch. Sie führen zugleich zu dem Effekt, dass sich weder mit den Inhalten der Bewegung befasst, noch diese unabhängig von ihrem eigenen Narrativ organisatorisch und in ihrer sozialen Zusammensetzung untersucht werden. Beide Haltungen nivellieren jede kritische Auseinandersetzung. Im einen Fall in der kategorischen Delegitimation von Anfang an, im anderen Fall im Glattschleifen von gesellschaftlichen Prozessen, die eben auch schmutzig sein können und nicht immer in eine perfekte Praxis münden.

Die Voraussetzungen eines seriösen Internationalismus

Internationalismus steht zweifelsohne immer in der Gefahr, in die Falle von Metropolenchauvinismus oder Projektionsfläche zu geraten. Da ist die Schwierigkeit der Sprache, die Entfernung, die oftmals fremde politische Kultur, oft kann die Region nicht aufgesucht, sich ein eigenes Bild nicht erarbeitet werden. Dennoch gibt es die Möglichkeit, eine seriöse Perspektive und Praxis zu entwickeln. Das würde jedoch für den oder die AktivistIn bedeuten:

1) Von Bewegungen in nicht-europäischen Ländern nicht zu erwarten, dass sie eine Politik durchführen können oder wollen, die nach europäischen oder deutschen Maßstäben funktioniert. Das heißt, die kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Koordinaten des jeweiligen Landes kennen zu lernen und das Programm beziehungsweise die Praxis einer Bewegung an diesen und nicht an den hiesigen zu messen.

2) Positionen und Haltungen der Bewegungen solidarisch aufzunehmen und zu unterstützen, gleichzeitig aber nicht unkritisch zu glorifizieren, sondern gemessen an den Maßstäben des Landes kritisch-solidarisch zu begleiten. [6]

3) Die internationalistische Praxis nicht als einseitigen Lernprozess aufzufassen – nach dem Motto ,,Was können wir von dort lernen?“ – , sondern als gegenseitigen Austausch und Lernprozess, der in der gegenseitigen Stärkung von sozialen Bewegungen in beiden Ländern mündet. In diesem Prozess wird nicht nur aufgenommen, sondern auch vermittelt.

4) Das im eigenen politischen Kontext nicht vorfindbare revolutionäre Element nicht woanders finden zu wollen, sondern alles daran zu setzen, die Voraussetzung für revolutionäre Politik in Deutschland auch in Deutschland zu schaffen. Die Praxis kann dabei durchaus von anderen Bewegungen inspiriert sein, wenngleich sie aufgrund der Ungleichzeitigkeit globaler gesellschaftlicher Prozesse nie dieselbe Form annehmen wird.

Warum Rojava?

Dass der vergangene Artikel sich insbesondere an der Rojava-Thematik abarbeitet, ist der Tatsache geschuldet, dass das Thema neben der Griechenland-Solidarität der zentrale Bezugspunkt in der deutschen Linken in puncto Internationalismus in den vergangenen zehn Jahren darstellte und auch aktuell außerordentlich präsent ist. Die kurdische Bewegung wäre gut beraten, kritische und reflektierte Debatten in der bundesdeutschen Linken etwa in Bezug zur Funktion der Kaderpartei, zu den verschiedenen revolutionären und nicht-revolutionären Strömungen in der kurdischen Befreiungsbewegung, zur Möglichkeit eines kurdischen Nationalstaats oder der Wiedereingliederung als föderales Gebiet in ein demokratisches Syrien, das Verhältnis zum US- und russischen Imperialismus und so weiter nicht als metropolenchauvinistisch zu denunzieren, sondern diese gemeinsam mit den GenossInnen zu gestalten.

Das falsche, beziehungsweise zu einfache, Bild von Rojava als rein basisdemokratischer Räteverwaltung mit ,,antinationalen“ und genuin ,,antiautoritären“ Prinzipien ist Teil der hiesigen Projektionsfläche der deutschen Linken. Diese will die Konzepte von revolutionären Organisierungen nach dem Ende des Realsozialismus nicht mehr diskutieren, die gesellschaftlichen Schwierigkeiten im Bürgerkrieg und unter imperialistischem Druck nicht sehen und klammert deshalb die Kaderpartei und alles, was das oben skizzierte Bild in Frage stellt, schlicht und einfach aus. Es ist notwendig, klarzumachen, dass es im Angesicht eines brutalisierten Kriegsszenarios nicht möglich ist, allen demokratischen, feministischen und ökologischen Standards des revolutionären Programms gerecht zu werden, auch wenn man alle Anstrengungen dort hineinsetzt. Wir – als deutschsprachige Linke – sollten unsere kurdischen GenossInnen nicht als ,,Jesus Christus mit der Knarre“ [7] verklären, sondern als GenossInnen, die trotz einer unglaublich schwierigen Situation versuchen, einen demokratischen Aufbau zu gestalten. Mit Fehlern, mit Menschenrechtsverletzungen, mit zum Teil autoritären Maßnahmen. Das frühzeitig zu benennen schwächt nicht, sondern stärkt eine solidarische Haltung. Und es könnte verhindern, dass die bundesdeutsche Linke eine erneute Episode der abgebrochenen internationalen Solidarität erlebt – zum Beispiel wenn es eines Tages in Rojava nicht mehr so „perfekt“ laufen sollte oder eben im Rückblick erst gar nie ,,perfekt‘‘ lief, wie man sich das von der heimischen Warte zurechtgelegt hatte.

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Anmerkungen:

[1] Hier soll nicht verniedlicht werden, dass es auch in der BRD Repression bis hin zu politischen Morden gab. Dennoch war der Grad an Repression in nicht-europäischen Ländern mitunter auch aufgrund der von westlichen Regierungen installierten Terrorregimes dermaßen hoch, dass zumeist schon nur die Forderung nach bürgerlichen Freiheiten und gemäßigten Sozialprogrammen zu massenhafter Verfolgung und Massakern führten. Als Beispiel können hier die Befreiungsbewegungen Lateinamerikas genannt werden.

[2] Diese wurden natürlich von einer starken feministischen und radikalen Bewegung erkämpft, sind jedoch heute in Deutschland weitestgehend integriert in den bürgerlichen Mainstream.

[3] Beispielhaft ist es vielen PalästinenserInnen nur unter den Schikanen der israelischen Besatzung möglich, sich in andere Teile des Landes zu bewegen.

[4] Ein gutes Beispiel war die soziale Bewegung in Brasilien 2013, die stellenweise aufgrund der Benutzung brasilianischer Fahnen auf den Demonstrationen durch Protestierende als nationalistisch verunglimpft wurde. Hier wurde ein vermeintlicher Nationalismus gegen das soziale Anliegen der Proteste gegen Polizeigewalt, miserable Bildung und Preiserhöhungen, gewandt. Ein aktuelleres Beispiel wäre die katalanische Unabhängigkeitsbewegung.

[5] Hier soll nicht das legitime Anliegen denunziert werden, dass revolutionäre und linke Bewegungen auch an moralischen Maßstäben, zum Beispiel der Achtung der Würde der Ausgebeuteten gemessen werden. Gleichzeitig ist eine kriegerische Auseinandersetzung, ein bewaffneter Aufstand, eine Revolution oder sogar nur Selbstverteidigung gar nicht denkbar ohne Menschenrechtsverletzungen. Und der liberale Begriff nivelliert grundsätzlich den Unterschied zwischen legitimer befreiender Gewalt gegen Unrecht und unterdrückender Gewalt zur Aufrechterhaltung von Herrschaft – er hat angeblich keinen Klassenstandpunkt und damit den Standpunkt der im konkreten bestehenden Ordnung, also den Klassenstandpunkt der herrschenden Klasse.

[6] Besonders zynisch empfand ich in diesem Zusammenhang die Glorifizierung von (häufig minderjährigen) YPJ-Kämpferinnen. Die Tatsache, dass junge Frauen sich, um sich überhaupt noch gegen die endgültige Degradierung zum Objekt wehren zu können, bewaffnen müssen, ist nichts, was zu glorifizieren wäre.

[7] Anschließend an die historische Verklärung Che Guevaras.