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Landnahmen in der Behindertenhilfe

(ohne Titel) Herbert Z.

Mein großer Bruder – sein Name ist Julian, wir nennen ihn Juli – ist schwer mehrfach geistig behindert. Ich kenne diese Formel seit ich ein kleines Kind bin: „schwer mehrfach geistig behindert“. In den Unterlagen aus der Klinik in Tübingen, wo meine Eltern nach seiner Geburt sorgenvolle und langwierige Monate verbracht haben, während Tests und Untersuchungen an Juli vollzogen wurden, steht: „geistige und seelische Behinderung“. Was soll das sein, eine seelische Behinderung? Eine Behinderung an der Seele? Meine ganze Kindheit über plapperte ich diese Formeln nach, wenn mich jemand danach fragte, oder auch einfach, wo ich gescheit wirken wollte, und habe es doch bis heute nicht verstanden: Mein Bruder – eine behinderte Seele.

Wir verbrachten unsere Kindheit in einem schwäbischen Dorf. Juli besuchte Sonderschulen in Lauffen und Neckarsulm, wir – seine drei Schwestern – gingen auf die nächstgelegene Grundschule. Juli wurde morgens vor unserer Haustüre mit dem Taxi abgeholt – wir liefen zur Bushaltestelle. Seine Klasse bestand neben ihm aus drei weiteren Mitschüler*innen, er hatte einen Schulbegleiter und nahm an Reit- und Bewegungstherapie, Ergotherapie und Logopädie teil, bastelte oder machte Musik, während wir das Alphabet und die Grundrechenarten lernten, um später auf die Realschule oder das Gymnasium zu wechseln. Die Familie war unser gemeinsames Refugium: Wir saßen gemeinsam in der Badewanne und shampoonierten uns gegenseitig ein, zelteten im Sommer, kloppten uns manchmal, verschworen uns gegen unsere Eltern, schliefen gemeinsam vor dem Fernseher ein. Hätte uns jemand nach Julis Teilhabe am familiären Leben gefragt, – wir hätten ihm vermutlich den Vogel gezeigt.

Zur subjektiven gesellt sich die objektive Seite: Julis Behinderung heißt Lennox-Gasteau-Syndrom. Das ist eine Form frühkindlicher Epilepsie, die bei Juli eine, so der Wissenschaftsjargon, geistige Retardierung, schwere Intelligenzminderung und autistische Züge zur Folge hatte. Da die verbale Kommunikation beinahe vollständig eingeschränkt ist, teilt sich Juli über Gesten, Gesichtsausdrücke, Laute und Berührungen mit. Julian hat – um es in den Worten der Behindertenpädagogik zu formulieren – in seiner Selbstpflege, Eigenversorgung und gesamten Alltagsbewältigung einen umfassenden Hilfebedarf, der zumeist stellvertretend oder begleitend übernommen werden muss. Dies trifft auch auf Kontaktaufnahme, Kommunikation, Beziehungsgestaltung und Tagesstrukturierung zu.

Seit dem Mai 2016 wird Juli, der letztes Jahr 32 Jahre alt wurde, fast ausschließlich von uns, das heißt von seiner Familie betreut. Abgesehen von einer einmal wöchentlich stattfindenden Reittherapie und gelegentlichen Wochenendfreizeiten der Offenen Hilfen e. V., gibt es keine externe Unterstützung. Vonseiten derjenigen Einrichtung, die regional betrachtet für die Unterstützung von Juli zuständig wäre, wird sein Recht auf Selbstbestimmung, aber vor allen Dingen sein Recht auf persönliche und freizügige Entfaltung grundlegend angegriffen. Aus Gesprächen und Briefwechseln wird ersichtlich, dass Juli aus der ordnungspolitischen Perspektive der Behindertenhilfe meist nur als eines erscheint: als ein problematisches Objekt, das es mit den geringstmöglichen Mitteln zu verwalten gilt. Die Art und Weise, wie mit ihm umgegangen wird, kann als ein Beispiel für kapitalistische Landnahmen in der Behindertenpolitik angesehen werden. [1]

Was aber ist kapitalistische Landnahme?

Das Prinzip der kapitalistischen Landnahme

Aus den Schriften von Karl Marx und Rosa Luxemburg leitet sich das Konzept ab, wonach die kapitalistische Produktionsweise zu ihrer eigenen Aufrechterhaltung ständig neue Inseln nichtkapitalistischer, gesellschaftlicher Formationen besetzen, in Land nehmen muss. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die kapitalistische Produktionsweise stets auf das Vorhandensein eines Außen angewiesen bleibt, das sie in Besitz nehmen kann. Luxemburg hatte dabei vor allem Bereiche nichtkapitalistischer Produktion, also die ehemaligen Kolonien der imperialistischen Großmächte, im Blick. In den 1960er-Jahren sollte der Gedanke der Landnahme aufgegriffen und von einigen feministischen Theoretiker*innen aus Bielefeld erkannt werden, dass sich diese nichtkapitalistischen Inseln auch im Inneren eines Wirtschaftssystems selbst befinden können. Als nichtkapitalistisch lassen sich ganz allgemein all diejenigen sozialen Formen oder Beziehungen bezeichnen, die sich nicht maßgeblich durch den in Geldform vermittelten Warenaustausch bestimmen oder charakterisieren lassen. Nicht nur geht es also bei dem Begriff der Landnahme um die bloße Inbesitznahme fremden Eigentums an Grund und Boden, obgleich auch dieses unmittelbare landgrabbing ein Phänomen unserer Zeit ist. Das auf Profitmaximierung angelegte Wirtschaften braucht vielmehr ständig neue Lohnarbeiter*innen, neue Konsumenten*innen, Dienstleistungen und andere Waren. Um sich zu verallgemeinern, kolonisiert es zwischenmenschliche Residuen.

Kommodifizierung der sozialen Arbeit

Das Landnahmetheorem diente einigen Theoretiker*innen als Erklärungsmodell für die postfordistischen, neoliberalen Entwicklungen der 1980er- und 1990er-Jahre, und hier im Besonderen für die grundlegenden Umwälzungen der Bedingungen der Reproduktionsarbeit, das heißt der bei der Herstellung und Erhaltung von Leben verausgabten Arbeit. Zunehmend wurden die bis dahin unbezahlten Arbeiten des Haushaltens, der Fürsorge und Erziehung in einen bezahlten Sektor überführt, der seitdem Care-Sektor genannt wird und sogenannte personenbezogene Leistungen unter sich versammelt. Ziel dieser neoliberalen Politiken war es, das Problem der sinkenden Produktivitätsraten der 1960er- und 1970er-Jahre zu lösen. Um die nach der fordistischen Prosperitätsphase eintretende wirtschaftliche Stagnation auszugleichen, wurden neben vielerlei anderen Maßnahmen vor allem Frauen in die Lohnarbeitsverhältnisse eines „neuen“ Wirtschaftssektors der personenbezogenen Leistungen integriert.

Mit Care-Tätigkeiten sind Leistungen gemeint, die auf der Beziehung zwischen einem in welchem Sinn auch immer auf eine Leistung angewiesenen, hilfebedürftigen und einem die Leistung tragenden, verantwortlichen Menschen gründen. Ein Gefälle zwischen Betreutem und Betreuendem findet sich in jeder personenbezogenen Leistung: In Erziehung, Bildung, Pflege, medizinischer Behandlung oder Sterbebegleitung. Anders als etwa in der Güterproduktion sind Produktion und Konsumtion hier nicht durch einen vermittelnden Markt voneinander getrennt, sondern gehen in der Form einer zwischenmenschlichen Beziehung unmittelbar ineinander über.

Menschen mit Behinderungen sind prädestinierte Bezieher*innen von Care-Leistungen, das heißt bezahlten oder unbezahlten personenbezogenen Leistungen wie der Pflege, Förderung oder Betreuung. Umbrüche in der Ökonomie von Pflegeleistungen wirken sich unmittelbar auf ihre Lebenssituation aus, da sie aufgrund körperlicher, psychischer oder sozialer Beeinträchtigungen auf Pflegeleistungen angewiesen sind.

In ökonomischer Hinsicht sind die bezahlten Sorgetätigkeiten ein produktivitätsarmer Sektor [2], dessen Kosten sich im Vergleich zur Produktion von Gütern stets vergrößern. Weder wirft er in den meisten Fällen überhaupt einen konkreten Ertrag ab, noch lassen sich die Prozesse der Pflege, Betreuung oder Erziehung beschleunigen oder zu standardisierten Abläufen gestalten. Dennoch wird versucht mittels einer effizienten Gestaltung, Vereinheitlichung und Zerlegung der Abläufe die Arbeit zu vereinfachen und zu beschleunigen, um Geld für das Personal einzusparen, das sich ohnehin im schlechtbezahltesten und in Hinsicht auf die Arbeitsstandards prekärsten Sektor befindet: In den Institutionen der Behindertenhilfe führt der sozialpolitische Effizienzdruck zu einer Personalpolitik, die Befristungen der Arbeitsverhältnisse und Personaleinsparungen vorsieht. Lässt der befristete Arbeitsvertrag die Arbeitnehmer*in einerseits im Ungewissen über das Fortbestehen ihrer Arbeit, verunmöglicht er andererseits jede engagierte Arbeit an einer stabilen, kontinuierlichen Beziehung mit der hilfebedürftigen Person. Erschwert wird das gegenseitige Kennenlernen und die Aufmerksamkeit und Sorge um den jeweiligen Menschen mit Behinderung, wenn aufgrund von Personaleinsparungen Mehrfachbetreuungen notwendig werden, die die theoretisch festgelegten Betreuungsschlüssel [3] alltäglich überschreiten.

Dem Stellenabbau im pflegerischen Bereich entspricht eine Aufblähung des Verwaltungsstabs, in dem sich Fallmanager*innen, Teamkoordinator*innen und Bürokaufleute über Entwicklungsberichte und Zeugnisse von unbekannten Menschen beugen, mit denen sie selbst kaum je Zeit verbringen werden. Es werden sich hier und andernorts Checklisten für das sogenannte Qualitätsmanagement beispielsweise der Pflegedienstleistungen in einem Wohnheim für Menschen mit Behinderung ausgedacht, deren Logik und Vokabular betriebswirtschaftlicher Art sind. Es wird an Betreuungsstandards, Pflegestandards, dem Anschein nach sogar an Standards der Zuneigung und Sorge getüftelt. Können solche Standards vielleicht innerhalb der Produktion von Waren Gültigkeit beanspruchen, so berauben sie in Anwendung auf das Miteinander zweier Menschen beide ihrer Besonderheit. In dem Moment, da Typen von Dienstleistungen auf Typen von Behinderungen spezialisiert und anhand weniger Parameter qualitativ bewertet werden sollen, wird eine Beziehung von vornherein erschwert – ein Netz, das aus Zeit und Mühe gesponnen werden muss, um zwei Einzelne einander nahezubringen. Erst die Beziehung ermöglicht es, einen Zugang zu den Fragen, Unsicherheiten, Bedürfnissen, Eigenarten, Fähigkeiten des Anderen zu finden und diesem angemessen zu begegnen. Die Standardisierung der Tätigkeiten der Pflege und Betreuung jedoch gibt Handlungsmuster für den Umgang mit einem abstrahierten Gegenüber vor, die es nahelegen, sich auf den konkreten gar nicht erst einzulassen.

Welche Art derInklusion“?

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird es nicht verwundern, dass auch das Verständnis von Behinderung und die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen heute einer zunehmenden Ökonomisierung ausgesetzt sind. Es sind die Begriffe der Inklusion und des Empowerments sowie die Ablösung des sogenannten medical model durch das social model, die sowohl von öffentlich-politischer Seite als auch von den disability studies beworben werden und den gegenwärtigen Diskurs stark beeinflussen. Bemerkenswerter Weise erwuchs dieser Diskurs just zu jener Zeit Mitte der 1990er, als sich die reale Exklusion schwer mehrfach geistig behinderter Menschen verschärfte und sich die Behindertenpolitik zunehmend als Arbeitspolitik gebärdete. Das, was in ihnen als emanzipatorisches Verständnis von Behinderung anklingt , dass der Einzelne nicht behindert ist, sondern behindert wird! – wird dadurch faktisch korrumpiert.

Die Kritiken und Vorhaben der Behindertenbewegungen der 1960er Jahre wurden hierbei ähnlich wie in anderen Bereichen erfolgreich in den neuen Geiste des Kapitalismus (Boltanski) integriert und darüber ihre eigentliche Absicht der Vergessenheit anheimgegeben. So wird heute an der Vielfalt der Instrumente, die es Menschen mit Behinderung nach ihrem Haupt- oder Sonderschulabschluss ermöglichen sollen, eine Arbeit zu finden, unter dem Motto der Inklusion fleißig getüftelt, ohne dass sich jemand darüber empört, dass durch diese Aktivierungsstrategien gerade diejenigen gesellschaftlichen Gruppen in den Verwertungskreislauf des Kapitals einbezogen werden sollen, die der fordistische Kapitalismus unter dem Titel „Klassenkompromiss“ noch aus seiner Verwertungslogik freistellen konnte. Arbeit wird als der primäre Ort der Inklusion begriffen, obwohl die heutige Arbeitsmarktsituation vor allem prekäre Arbeitsverhältnisse und geringes Einkommen verspricht. Während die heutigen Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) allem Anschein nach primär das Ziel der Eingliederung behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt verfolgen, waren die Werkstuben und Beschützenden Werkstätten in ihrer Gründungsphase in den 1970er Jahren noch auf der Suche nach einem neuen Verständnis von Arbeit und einem Weg, das gemeinnützige Prinzip dem betriebswirtschaftlichen überzuordnen:

In den Werkstätten sollte sich eine neue Arbeit durchsetzen, eine Arbeit, die eng mit Bildung, Entwicklung und Freude verbunden ist, eine Arbeit als Mittel zum Zwecke der Persönlichkeitsförderung. Es sollte eine neue Gemeinschaft entstehen, die sich von den althergebrachten Hierarchien und Zwängen lösen darf und kann, die den Nächsten nicht nach einem sozialen oder wirtschaftlichen Wert misst, der aus seiner Arbeitsfähigkeit und Arbeitsleistung resultiert. Der neue, der humanistische Maßstab war die Akzeptanz der Ungleichheit Aller und der gleichzeitige Respekt vor der gleichen Menschenwürde eines jeden einzelnen. […] In den Werkstätten wollten wir eine konstruktive Gegenwelt verwirklichen, einen Lebensraum schaffen, der diesen Namen verdient.“ [4]

Gemäß der Gesetzgebung des § 136 Abs. 2 SGB IX werden heute Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen, die kein „Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen“ können, aus den Werkstätten für behinderte Menschen ausgegliedert und, insofern es das Budget und das regionale Angebot zulassen, in separate Tagesförderstätten integriert. Nicht nur erfahren die Betroffenen dadurch materielle und rechtliche Nachteile, sondern überdies häufig eine soziale Segregation und Herabwürdigung zu der Gruppe der Behinderten, die allein unter dem Aspekt ihrer Erwerbsunfähigkeit betrachtet und zur Sondergruppe definiert werden. Die zunehmend unter ökonomistischen Kriterien stattfindende Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Obdachlosen, die wie die Forschungen zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ in Deutschland zeigen, in der Breite der bundesdeutschen Gesellschaft verankert sind, bestimmen auch das öffentliche Meinungsbild im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen. [5] Die Behindertenhilfe darf sich nicht in die Gefahr begeben, dieser Auffassung Nahrung zu verschaffen. Dies geschieht etwa, wenn eine sich als Anwältin der Menschen mit Behinderung dünkende Autorin in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschehen (23/2010) „Arbeitschancen“ mit „Lebenschancen“ gleichsetzt. [6]

Was aber wird nun jenen angeboten, die nicht „nutzbar“ gemacht werden können?

Juli – Inklusion durch „Einschluss ins Zimmer“?

Da die Pflege und Betreuung von Juli nicht länger im familiären Rahmen, insbesondere durch meine Eltern gewährleistet werden kann, aber auch, weil wir als Familie Juli das Recht einräumen wollen, an außerfamiliären Freundschaften und Gemeinschaften teilzuhaben, suchen wir seit Mai 2016 nach einer geeigneten Betreuung für ihn. Da Julis drei Schwestern und beide Elternteile seit Jahrzehnten im Bereich der Behindertenhilfe und Heilpädagogik arbeiten, können wir unsere Vorstellungen für eine geeignete Förderung und Betreuung sehr genau formulieren. Wir gehören also nicht zu denjenigen Familien, von denen es im Bundesteilhabebericht heißt, dass sie aufgrund ihres mangelnden Fachwissens eine reale Benachteiligung im Bereich der Betreuungs- und Pflegeangebote erfahren. Bei uns ist das Gegenteil der Fall.

Wir wandten uns dafür an die regional nächstgelegene Einrichtung für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die ev. Stiftung L., für die auch die Eltern von Juli als Heilerziehungspfleger*innen tätig sind. 2016 traten wir in Gespräche, mit den für eine Neuaufnahme zuständigen Sachbearbeiter*innen. Uns wurde versichert, dass man an einer „kooperativen Zusammenarbeit“ in „beidseitiger konstruktiver Haltung“ und „im Sinne von Julian“ interessiert sei. Aus den folgendem Schriftverkehr wird dann ersichtlich: Die Definitionsmacht darüber, was „im Sinne von Julian“ von Bedeutung wäre, sprechen die Vertreter*innen der Einrichtung allein sich selbst zu. So hieß es mit einem Mal, ihr „fachlich erarbeitetes“ Angebot für Julian stelle keine „Verhandlungsbasis“ dar, sondern sei „unabdingbar“. Die damit verbundenen Voraussetzungen müssten von den Angehörigen, wollten diese nicht zu einem anderen Anbieter wechseln – alle Gesprächsteilnehmer*innen wissen, dass es einen solchen Anbieter wohnortnah nicht gibt –, hingenommen werden. In Zeiten von Bewegungen für das selbstbestimmte Leben behinderter Menschen, da in der Behindertenrechtskonvention Behinderung als gesellschaftliche Konstruktion und nicht länger als psychische oder physische, natürliche Mangelerscheinigung definiert wird, scheint hier offensichtlich immer noch die Annahme vorzuherrschen, richtige Entscheidungen könnten nur von „Fachleuten“ getroffen werden. Doch, wo finden sich hier Julians Wunsch- und Wahlrecht, seine Möglichkeit der Partizipation und Selbstbestimmung?

Einige Aspekte des Angebots, das uns als „unabdingbar“ unterbreitet wurde, möchte ich beispielhaft herausstellen:

Da eine Unterbringung Julians aus Sicht der zuständigen Mitarbeiter*innen nur im Rahmen eines intensiv betreuten Wohnens (LIBW) möglich wäre, in räumlicher Nähe jedoch der Arbeitsort von Julians Vater, einem Angestellten der ev. Stiftung L. liege, sei dessen Arbeitsplatzwechsel „zwingend erforderlich“. Bis heute liegt uns weder eine mündliche noch eine schriftliche, konkrete Begründung dieser, vermeintlich, „zwingend erforderlichen“ Maßnahme vor. Die Nähe zur Familie wird in Bezug auf die Unterbringung von Betroffenen in der Behindertenrechtskonvention als der Leitlinie der deutschen Behindertenhilfe als höchste Priorität eingestuft. Unser Vater arbeitet seit über 40 Berufsjahren auf einer Wohngruppe mit Menschen mit geistiger Behinderung. Nun soll er dort seine Beziehungen abbrechen, weil es sonst zur „Vermengung von Lebenswelten“ käme, das heißt in anderen Worten: weil Juli ab und an seinem Vater begegnen würde?

Ferner erachtete die Stiftung L. es als notwendig, dass Julian für die Zeit, in der kein zusätzliches Personal eine 1:1-Betreuung und -Aufsicht leisten können wird sowie im Falle von „schlechtem Benehmen“ eine „geschlossene Unterbringung im Zimmer“ erhalte. Einem Gespräch vom 8. August 2017 ließ sich entnehmen, dass es sich dabei für Julian, der während seiner 32 Lebensjahre mit der Familie zu keinem Zeitpunkt in dieser Weise eingeschlossen wurde, um mehrere Tagesstunden täglich handeln könnte.

Schließlich wird eine „Tagesstruktur auf der Wohngruppe“ für sinnvoll gehalten, sodass es im regulären Alltag nicht vorgesehen sein soll, dass Julian den Wohnbereich verlässt. Nicht nur Julians Fähigkeiten etwa bei hauswirtschaftlichen Tätigkeiten im Freien zu helfen (Wäsche ausfahren, Müll wegbringen, Laub bündeln usw.), sondern auch sein starker Bewegungsdrang und seine Freude an Spaziergängen scheinen uns im Rahmen einer „Tagesstruktur auf der Wohngruppe“ keine Berücksichtigung zu erfahren. Wo nicht einmal vorgesehen ist, den Wohnbereich zu verlassen, ist es auch weiter nicht erstaunlich, dass laut einer Statistik der Zeitschrift Teilhabe Menschen mit schwerer geistiger Behinderung in vollstationären Wohneinrichtungen neben dem Betreuungspersonal durchschnittlich nicht mehr als zwei bis drei Personen im Jahr zu Gesicht bekommen. [7]

Die ev. Stiftung L. gibt sich medial einen humanitären, karitativen Anstrich: Das Ziel aller Angebote sei die Verbesserung der Lebensqualität für Menschen mit Unterstützungsbedarf; das christliche Menschenbild stifte die Orientierung für ihre Arbeit. Man könnte also denken, dass sie zumindest die Mängel einer Leistungs- und Arbeitsgesellschaft kompensiert, wenn sie ihr auch nicht ideell die Stirn bietet; das heißt, dass sie eine Entlastung und Förderung für jene Menschen bietet, die schwer geistig behindert sind und kein „Mindestmaß an gesellschaftlich verwertbarer Arbeitszeit“ (SGB) leisten können. Aber nicht einmal mehr als Opiat zur Behandlung der Symptome kann dieses Angebot fungieren. Vollends ist es selbst zum bloßen Symptom einer Gesellschaft geworden, die nach Integration schreit und ihr zeitgleich den eigenen Strukturbedingungen nach wesentlich im Wege steht.

Wo Inklusion durch den „Einschluss im Zimmer“ geschaffen werden soll, muss der Mensch mit Behinderung um seiner Selbstbestimmung willen auf seiner Exklusion beharren – wir sollten ihm helfen, diese Möglichkeit neu in Land zu nehmen.


Das Bild ist von Herbert Z., mouth painter. Die Autorin ist per Email zu erreichen unter akin.helen@gmx.de.


Anmerkungen:

[1] Der Fokus meines Beitrags liegt auf dem Kollektiv der schwer mehrfach behinderten Menschen und den Formen ihrer Ausgrenzung und vernachlässigt daher andere Bereiche. Dass unter dem Titel Inklusion möglicherweise auch Reformen eingebracht wurden, die für andere Gruppierungen der Menschen mit Behinderung von Vorteil waren, vernachlässige ich aus diesem Grund.

[2] Die Debatte darüber ist lang und an dieser Stelle möchte ich nur kurz festhalten, dass ich Care-Arbeit sowohl im unmittelbaren als auch im mittelbaren Sinne für eine wertschöpfende Arbeit halte. Wo beispielsweise im Bereich der Reha-Medizin gearbeitet wird, werden maßgeblich Arbeitskräfte, die aufgrund von Arbeitsunfällen oder Behinderung ausfielen, rehabilitiert. Folgt man Marx’ Gleichung von Arbeitskraft = Ware für seine Definition von wertschöpfender Arbeit, ist auch diese vermeintlich nur reproduktive Leistung eine Warenproduktion.

[3] Der Betreuungsschlüssel ist in Bereichen der Pflege und Betreuung eine Angabe über die Anzahl der Personen, die für die Betreuung anderer Personen vorgesehen sind.

[4] Dieter Gröschke, Arbeit, Behinderung, Teilhabe. Anthropologische, ethische und gesellschaftliche Bezüge, Kempten, 2011, S. 80.

[5] Vgl. Eva Maria Groß, Andreas Hövermann, „Die Abwertung von Menschen mit Behinderung - Ein Element der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Fokus von Effizienzkalkülen“, in: Behindertenpädagogik. Vierteljahresschrift für Behindertenpädagogik in Praxis, Forschung und Lehre und Integration Behinderter, 52(4) 2013, S.117-129.

[6] Lisa Pfahl, „Draußen vor der Tür. Die Arbeitsmarktsituation von Menschen mit Behinderung“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 23, 2010, S. 33.

[7] Vgl. Annette Van der Putten, „Tausendfüßler – Erkenntnisse zur Unterstützung von Menschen mit (sehr) schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen“, in: Teilhabe 2018/2, S. 55-63.


Hintergrundliteratur:

Katharina Gundrum, „Die Inklusionsdebatte im Kontext des aktivierenden Sozialstaats“, in: Zeitschrift für Sozialpädagogik, Heft 2, 2018, S. 138-149.

Klaus Dörre, „Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus“, in: Ders. et al., Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte, Frankfurt am Main, 2009, S. 21-86.

Tove Soiland, „Das Theorem der Neuen Landnahme: Eine feministische Rückeroberung“, in: Denknetz, Jahrbuch 2013, Zürich, S. 99-118.

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