Kreuzchen machen für die Revolution
Dabei hatte der Tag so gut begonnen! Und nun das. Kreischen, Brüllen, Hauen und Stechen: „WAS, du wählst DIEE?“ – „Reformistin!“ – „Auuu!“ – „Ich sag nur SPDML“ – „wie kannst du nur!" – „LOL!“ – „Niemals!“ Hier und da flog ein Stuhl durch den Raum, Wände wackelten, Fenster zerbarsten. Irgendwann war die letzte Munition verschossen und es verzog sich der Rauch. Die Redaktion hatte gesiegt. Tolle Projekte sind schon an ähnlich dringlichen Auseinandersetzungen – die Wahl des Lieblings-Aufstrichs, die Enthüllung, wer Katzen- und wer Hundemensch ist, usw. – grandios gescheitert. Nicht so wir! Lest im Folgenden die Kondensate einiger Redaktionsmitglieder zum Thema: Wo bitte kann ich das Kreuz für die Revolution setzen?
Es ist verbaler Radikalismus, die Wahlen nicht wahrzunehmen
»Wahlen sind ein Legitimationsinstrument der herrschenden Klasse. Gleichzeitig sind sie durch die deutsche Arbeiter_innenbewegung erkämpfte Errungenschaft. Viele Errungenschaften der Arbeiter_innenbewegung wie soziale Rechte und bürgerliche Freiheiten stehen aber gerade von Rechts und seitens der Großen Koalition zur Disposition. Seien es die immer schärferen Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte und Pressefreiheit, die Verschärfung des Demonstrationsrechts, der Ausbau der militärisch-zivilen Kooperation: Der Abbau sozialer und ziviler Rechte ist inzwischen seit mehreren Jahrzehnten Staatsprogramm. Begleitet wird diese Entwicklung vom Aufstieg der nationalistischen bis neofaschistischen AfD und der um sie gruppierten offen neonazistischen Kräfte. Bei den kommenden Wahlen wird die neue rechtsradikale Partei nach der Mehrheit der derzeitigen Umfragen nun mit mindestens 8% in den Bundestag einziehen, andere Umfragen sehen die Partei bei 10%. Gleichzeitig befindet sich die radikale Linke in einer Neuorientierungsphase. Zwar werden Ansätze der Basisorganisierung und revolutionären Organisation diskutiert, breit und konzeptionell stimmig umgesetzt sind diese Ansätze jedoch noch nicht. Die radikale Linke ist zersplittert wie nie. In der Masse der Bevölkerung sind Positionen dieser Nicht-Partei-Linken daher nach wie vor marginalisiert. Ironischerweise ist es jedoch genau dieser Teil der Linken, der am vehementesten einen Wahlboykott fordert. Und dass angesichts der eigenen organisatorischen Schwäche, in der – um ein klassisches Argument zu bringen – real nicht die Gefahr besteht, dass bereits revolutionär organisierte Arbeiter_innen auf parlamentarische Irrwege geleitet werden, weil diese schlicht und ergreifend nicht mal ansatzweise revolutionär organisiert sind – und zwar von keiner Strömung der Nicht-Partei-Linken. Angesicht dieses Szenarios und des Aufstiegs der radikalen Rechten ist es rein verbaler Radikalismus, die Wahlen nicht wahrzunehmen, um zumindest der besonders terroristischen Form bürgerlicher Herrschaft – der AfD – Prozente abspenstig zu machen. Wie wir uns zu Wahlen verhalten, sollte eine taktische und keine prinzipielle Frage sein – wie es unsere Haltung gegenüber anderen bürgerlichen Freiheiten eben auch ist. Die radikale Linke muss nicht zu Wahlen aufrufen, aber wir sollten wählen gehen. Auf dem Zettel stehen vier linke Parteien und immerhin eine weitere, die ,,sehr gut ist‘‘. Wir brechen uns keine Hand ab, wenn wir diese fortschrittlichen Positionen am Wahlsonntag mit unserem Kreuz unterstützen – insbesondere gegen den neuen Faschismus.«
Den Faschismus hält man nicht mit Wahlen auf, sondern mit Menschen in Bewegung
»Alle paar Jahre kommen Fragen nach einer Wahlbeteiligung, Gang zur Wahlurne oder zum Wahlboykott und weitere auf in der emanzipatorischen und revolutionären Linken. Zu Recht, schließlich ist die Zeit des bürgerlichen Wahlkampfes für unsere Bewegung äußerst bedeutend, unabhängig davon, ob man nun eine linke Partei im Wahlkampf oder auf dem Stimmzettel unterstützt, oder ob man von vornherein den Wahlboykott proklamiert. Ich halte in der aktuellen Zeit, trotz der Schwäche unserer Bewegung und trotz des Arguments, man müsse die AfD aus dem Parlament „heraus halten“ durch die bürgerliche Wahl, die Agitation für den bewussten Boykott der bürgerlichen Wahlen für den korrekten Umgang damit. Dies hat verschiedene Gründe. Das wesentliche, was mit dieser Agitation erreicht werden soll (im Übrigen geht es nicht einfach nur platt darum, alle Leute, die einfach so nicht wählen gehen, als Korrektheit und Stärke der eigenen Linie zu verklären) ist ein Aufbrechen des Gedankens in den Köpfen der Menschen, dass sie mit dem „Abgeben“ ihrer Stimme alle paar Jahre ihren Soll erfüllt haben. Dieses Rufen nach Stellvertreter_innen ist in Deutschland heftig verbreitet. Selbst wenn Menschen bereits unzufrieden mit ihrer Situation sind, suchen sie immer und immer wieder jemanden, der die Probleme schon für sie löst. Bloß nicht selber in Probleme kommen. Und genau das ist das Problem. Den gesellschaftlichen Rechtsruck wird man eben nicht verhindern mit einer „Wahl des kleineren Übels“. Das hat genauso wenig jüngst in Frankreich funktioniert - mit Macron gegen Le Pen, um den Rechtsruck zu verhindern! Die Botschaft „wähle irgendwas mehr oder weniger linkes, um die AfD aufzuhalten“ ist schlicht und ergreifend falsch. Die AfD ist stark geworden ohne Beteiligung am deutschen Parlament. Die AfD nährt sich nicht zentral aus der parlamentarischen Arbeit. Eine Faschisierung des Staatsapparates gibt es auch ohne AfD im Parlament – siehe die Einschnitte in die Demonstrationsfreiheiten und Bürgerrechte, politische Urteile und „Anti-Extremismus-Kampagnen“ der letzten Jahre, insbesondere vor und nach dem G20-Gipfel in Hamburg. Den Faschismus hält man nicht mit Wahlen auf, sondern mit Menschen in Bewegung. Wenn wir selber den Gedanken entwickeln, verfolgen und im schlimmsten Fall auch noch propagieren, man müsse wählen, um die AfD aufzuhalten, und das steht konträr zu unseren sonstigen Ansichten und unserer Propaganda - wie können wir dann von anderen Menschen erwarten, dass sie auf die Straße gehen für ihre Interessen und gegen den Faschismus? Den Parlamentarismus, die bürgerlichen Parteien und insbesondere die Rolle der AfD als zusammenhängendes politisches System zu entlarven und Alternativen aufzuzeigen ist die richtige und konsequente Herangehensweise, auch wenn es aktuell eine marginalisierte Position ist. Aber wir können richtige Positionen nicht mit dem Argument wegwischen, dass gerade nicht viele Menschen dafür sind – dann könnten wir wahrscheinlich unsere komplette Bewegung vergraben gehen.«
Wählen ist nicht unsere Hauptarbeit, die Radikalisierung der Kämpfe ist es
»Wahlen in bürgerlichen Gesellschaften sind einerseits erkämpftes Recht der Werktätigen und Unterdrückten (etwa der Frauen), andererseits Legitimationsinstrument der Bourgeoisie, das strukturell die Position der Subalternen schwächt. Denn über den Großteil des Staates wird nie abgestimmt, mitreden kann die Mehrheit sowieso nicht. Außerdem wird der bürgerliche Staat als Garant der bürgerlichen Ordnung von einem repressiven Zentralkern an Geheimdiensten, Armee und politischer Polizei zusammengehalten und geschützt. Während man als Linke*r oder Linksradikale*r über diesen Grundzusammenhang keinerlei Illusionen hegen sollte, darf man die Bedeutung der Legitimation nicht übersehen: Das Parlament hat eine Tribünenfunktion. Zugeständnisse und Kompromisse werden gemacht, wenn genug Druck seitens gesellschaftlicher Kräfte kommt. Wir sind in Deutschland aber noch weit entfernt von dem Punkt, wo die revolutionären Massen das bürgerliche Parlament als solches infrage stellen oder Zugeständnisse als Anzeichen von Schwäche der Bourgeoisie deuten und sich noch weiter radikalisieren. Wahlabstinenz ist hier schwach entwickelt und drückt jedenfalls, genauso wie in Frankreich, Italien oder Griechenland, eher Resignation und Frust denn aktiven revolutionären Kampf gegen die bürgerlichen Institutionen aus.
Wenn man als Linke_r oder Linksradikale_r deshalb nicht in der Lage ist, auch im und in Beziehung auf das Parlament zu kämpfen, Kompromisse durchzufechten, dabei stets den eigenen Standpunkt hervorzukehren und die Machenschaften der Bourgeoisie Schritt auf Tritt zu entlarven, und sich stattdessen auf revolutionäre Reinheit zurückzieht, wird sich die Bourgeoisie schlicht weiterhin diesen Raum als ihr Legitimationsterrain erobern. Zwar sind wir auf diesem Terrain strukturell schwächer als die Bourgeoisie aufgestellt – die Medien marginalisieren linke Inhalte, wir sind Repressionen ausgesetzt, werden mit den dümmsten „Stalin“-Klischees an die Wand gestellt und der Staat sowie die bürgerliche Öffentlichkeit sind Orte, wo sich strukturell die Macht und Autonomie der Subalternen nicht entfalten kann. Aber kämpfen wir nicht auch auf diesem Terrain, dann werden wir schlicht noch schwächer und revolutionärer nur in Worten und Absichten.
Ich werde ohne Illusionen die PdL wählen. Ich weiß, dass die PdL eine modifizierte Reformpartei ist („Transformation“ statt früher „evolutionärer Übergang“), in fast allen Landes- und Städteregierungen, in denen sie beteiligt war, Scheiße gebaut hat und in Teilen ihrer Spitze sowohl zu einem rückschrittlichen Nationalismus (Wagenknecht), als auch zur Aufweichung ihrer sozialen und antimilitaristischen Grundsätze (Gysi, Bartsch, etc.) tendiert. Es ist aber schlicht Fakt, dass es die Existenz der PdL in den Parlamenten und der Öffentlichkeit war, die, getragen von den Massenprotesten gegen Hartz I-IV, den neoliberalen turn der SPD am aktivsten delegitimierte und die Thematisierung von Armut und Privatisierungen sowie der imperialistischen Kriegsführung zum nationalen Thema erhob und organisierte. Sie schaffte dies besser als alle revolutionären Organisationen und Parteien zusammengenommen. Eine Stimme für die PdL heißt für mich deshalb, dass es weiterhin auch eine Stiftung gibt, in der MLer und Autonome AKs zur marxistischen Theorie betreiben sowie Hartz IV weiterhin öffentlich wahrnehmbar gebrandmarkt wird – beim besten Wissen darum, dass die PdL eines Tages mit großer Wahrscheinlichkeit auseinanderbrechen wird an der Frage des Co-Managements des deutschen Kapitalismus. Ich wähle also aus defensiver Position heraus. Letzten Endes kann das Wählen und der Fokus auf die bürgerlichen Politikinstitutionen auch nicht unsere Hauptarbeit sein – sondern die gesellschaftliche Radikalisierung der Opposition gegen den neoliberalen Vormarsch des deutschen Kapitalismus. Dafür brauchen wir mittelfristig andere Kampforgane, die es derzeit nicht gibt oder die nicht effektiv sind.«
Meine Stimme wird verschenkt
» In der radikalen Linken gibt es keine einheitliche Positionierung zum Umgang mit Wahlen.Viele linke Strukturen und Einzelpersonen lehnen den Parlamentarismus und das Wählen von Linkspartei oder anderen Parteien mit mehr oder weniger guten Gründen ab. Warum das verständlich ist, zeigen die vergangenen Jahre und Jahrzehnte deutlich: Der Abbau der Sozialsysteme, die zunehmend prekären Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt, die Ausgaben für Rüstung und Militär und die als „humanitäre Intervention“ getarnten imperialistischen Kriege überall auf der Welt, die menschenverachtende Flüchtlingspolitik in der Republik aber auch an und über die Grenzen Europas hinaus – all das haben auch die vermeintlich linken und progressiven Kräfte in den jeweiligen Regierungen mitgetragen. Sie taten das mit Pragmatismus, mit Unwohlsein oder gar mit Protest. Aber sie hatten keine Wahl. Auch der Linkspartei kommt als Mitglied im Parlament qua Regierungsauftrag die Funktion zu, Wiederstände einzudämmen und einzuhegen, statt den Klassenkampf voranzubringen. Auf lange Frist hilft sie dabei mit, die bestehenden Verhältnisse zu stärken, statt sie zu Fall zu bringen. Viele Genoss_innen kämpfen aber innerhalb ihrer eigenen Strukturen und auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene um eine konsequente antiimperialistische, klassenkämpferische und internationalistische Perspektive. Manche von ihnen sind auch in explizit kommunistischen Parteien engagiert. Für mich wird es, trotz vieler Kritik und einigen Überlegungen in den letzten Monaten, die DKP sein, bei der ich mein Kreuz setzen werde. Ich wähle sie aus Pragmatismus angesichts einer grundlegenden revolutionären Alternative. Damit meine ich konkret einer Organisierung, die gesellschaftliche Klassen- und Kräfteverhältnisse und sozialrevolutionäre Entwicklungen weltweit in ihren Widersprüchen begreift, vielfältige Unterdrückungsverhältnisse wahrnimmt und bekämpft und dabei die grundlegende Solidarität mit den „Verdammten der Erde“ nicht nur in theoretischen Abhandlungen zum Thema angeht. Und: Die aktiv gegen patriarchale Strukturen eintritt, auch in den eigenen Reihen. Für verschenkt halte ich meine Stimme in der Form, dass ich sie an ein Bekenntnis für bestimmte Inhalte aufwende, meine Stimme also einer inhaltlichen Aussage „schenke“. Was sich innerhalb des Bundestags vor und nach den unsäglichen Wahlen abspielt, ist nicht durch uns als Bürger_innen zu beeinflussen, hier haben ganz andere Strukturen das Sagen. Das sehen wir an den Entscheidungen, die beim G20-Gipfel getroffen wurden, genauso, wie in Frankreich, wo gegen den legitimen Protest Hunderttausender neoliberale Arbeitsrechtsreformen durchgesetzt werden. Aber was wir beeinflussen können in den Wahlmonaten ist unsere Lautstärke. Die Möglichkeit, klare Positionen innerhalb der linken Parteien auch mit einer Reichweite zu diskutieren, die wir sonst nicht haben: Politische, wirtschaftliche wie soziale Missstände in den Medien sichtbar zu machen, uns gegenseitig Kraft zuzusprechen - auch nach der nächsten mäßig besuchten Veranstaltung zu Krieg, Krisen und Ausbeutung, oder gegen die altbekannte Stigmatisierung und Kriminalisierung unseres Protests.«