Heute kümmern wir uns nicht! Frauen*streik in der Schweiz
Am Morgen des 14. Juni ist die Vorfreude auf den Tag fast mit den Händen greifbar. Als ich mich durch die Straßen Berns Richtung Hirschengraben bewege, auf dem Weg zu einem Treffen mit einer ersten Gruppe von Frauen, sehe ich die Vorboten überall: Die aufgesprühten Streiklogos, lila Luftballone und Transparente: „We don’t care“, „Patriarchat abschaffen“, „Wenn Frau* will, steht alles still“. Ich bemerke, wie ich bei jeder Person, die lila trägt, überlege, ob sie streikt. Jene, die streiken, werfen mir dann meist irgendwann einen Blick zu, der sagt: Wir sehen uns später! Eine Frau entschuldigt sich, dass sie arbeiten geht und nicht zum Streik kommt. Was für ein Tag, an dem sich mal nicht jene entschuldigen, die erwerbslos sind (der systematischen neoliberalen Disziplinierungs- und Abwertungsrhetorik gegenüber Menschen ohne Lohnarbeit sei Dank!), sondern umgekehrt. Bereits am Morgen liegt eine Energie in der Luft, aufgeladen von einer monatelangen Mobilisierung. Ich merke, wie es auch mich packt: aufgeregt rufe ich noch einmal meine Schwester an, sage ihr, sie müsse unbedingt zum Frauen*steik kommen. Sie ist selbstständig und Mutter von drei Kindern. Noch ist sie unschlüssig, ob sie kommen kann.
Bereits in der Nacht haben Frauen* in Zürich und in anderen Städten rasselnd und trommelnd zum Streik aufgerufen. Aktionen und kleinere Demoumzüge begannen schon in den frühen Morgenstunden. Am Ende des Tages werden sich in der gesamten Schweiz an die 500'000 Frauen* beteiligt haben: Sie* sind auf die Strasse gegangen, haben an Aktionen teilgenommen oder ihre* Arbeit niedergelegt. Der Frauen*streik vom Juni 2019 ist die grösste politische Demonstration der jüngeren Schweizer Geschichte. Und es ist nicht der erste Streik.
Während die zahllosen Frauen*streiks in Spanien, Deutschland und Italien am 8. März 2019 stattfanden, rief der Frauen*kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) im Januar 2018 zum Frauen*streik am 14. Juni 2019 auf. Man wollte damit an den historischen Tag vom 14. Juni 1991 anschliessen, an dem zum ersten Mal rund eine halbe Million Frauen* an Protest- und Streikaktionen teilnahmen. Anlass zum Streik 1991 war das zehnjährige Jubiläum der Verankerung des Gleichstellungsartikels in der Bundesverfassung. Der SGB rief damals zum Streik auf, weil die Umsetzung des Artikels nur zögerlich vorangetrieben wurde und nach wie vor gravierende Ungleichheiten und Ausgrenzungen bestanden. Man versuchte, einige zentrale Problemlagen anzugehen, die zuvor noch nicht einmal Thema politischer Auseinandersetzungen waren: So gab es – neben den zentralen Feldern der Lohnungleichheit und der sozioökonomischen Diskriminierung von Haus-und Carearbeit – zum Beispiel noch keinen gesetzlichen Mutterschutz. Der Frauenstreik 1991 führte natürlich nicht zur vollständigen Behebung von Lohnungleichheit und Diskriminierung. Dennoch sind seine Erfolge beträchtlich: Mitte der 1990er Jahre wurde vom Parlament verbindliche Regeln für die Umsetzung des Gleichstellungsartikels aufgestellt, darin war auch ein Verbot der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz. Dies war für die damalige Deregulierungseuphorie bemerkenswert. Und 2004 stimmte das Volk nach drei erfolglosen Anläufen einer Mutterschaftsversicherung zu. Damit wurde eine Verfassungsartikel von 1945 endlich umgesetzt.
Auch der diesjährige Frauen*streik beklagt die anhaltenden systematischen Ungleichheiten trotz gesetzlicher Verankerung der Gleichstellung in der Bundesverfassung. In vielen Forderungen von damals ist die Schweiz nämlich auch heute nicht viel weiter. Die Schweiz hat das teuerste Kinderbetreuungssystem der Welt. Meist lohnt es sich für Frauen* mit zwei Kindern nicht mehr, Vollzeit zu arbeiten, weil so ihr ganzer Lohn direkt für die Kinderbetreuung ausgegeben werden müsste. Zudem haben bis heute Väter lediglich einen Tag Vaterschaftsurlaub und die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen* für gleiche Arbeit beträgt noch immer im Schnitt um die 20 Prozent. Dies alles führt zu einer systematischen Benachteiligung der Frauen* auf dem Arbeitsmarkt, in der Altersvorsorge und in der Kinderbetreuung.
Internationale Streikvorposten und Mobilisierung
Der diesjährige Frauen*streik verdankt seinen Schwung in der Mobilisierung diesmal nicht einem Jubiläum, sondern einer internationalen Bewegung, die 2016 in Argentinien und dann in ganz Südamerika unter dem Hashtag #NiUnaMenos aufkam und der #Metoo-Debatte in Europa und den USA. So kam es 2018 in 177 Ländern zu Demonstrationen und Kundgebungen, wobei Spanien mit einem Generalstreik für die Gleichberechtigung, an dem mindestens fünf Millionen Menschen teilnahmen, besonders hervorstach. Im Folgenden wurde die Idee eines Streiks auch in anderen Ländern, etwa in Deutschland, Polen (dort mit dem Fokus auf dem Recht auf legale und staatlich finanzierte Abtreibung) und der Schweiz, aufgegriffen.
Auch wenn in der Schweiz die Gewerkschaften den Frauen*streik aktiv vorantrugen, handelte es sich nicht um einen klassischen, von Gewerkschaften initiierten Streik. So kam dann auch von einigen Seiten die Kritik, man würde damit den Begriff des Streiks aushöhlen: Die zentrale Demonstration fand um 17.30 Uhr statt und Frauen* konnten auch nach der Arbeit teilnehmen. Dennoch gab es bereits tagsüber tausende Aktionen und den Aufruf an alle Frauen*, um 15.24 Uhr ihre Arbeit niederzulegen. Bei einer klassischen nine-to-five-Woche (auf Vollzeitstellen gerechnet) beginnen dort nämlich täglich die rund 20 Prozent unbezahlte Arbeit von Frauen*.
Es macht sehr viel Sinn, von einem Streik zu sprechen: Es handelt sich um einen politischen Streik. Der Begriff verweist neben den Protestaktionen und der Demonstration auch auf die ungesehene, unbezahlte oder unterbezahlte Arbeit, die von Frauen* gleistet wird – in der Reproduktion wie auch in der Produktionsphäre. Klassische Streiks im Sinne einer Arbeitsniederlegung fanden vorwiegend im öffentlichen Sektor, im Bereich der Altenpflege und in der Reinigung statt. Dort wurden teilweise auch wichtige Erfolge verzeichnet: in Luzern erreichten zum Beispiel Angestellte einer Reinigungsfirma nach drei Stunden Arbeitsniederlegung, dass Reise und Vorarbeitsarbeiten in Zukunft bezahlt werden. Die Mobilisierung war sehr breit abgestützt und ging von sehr verschiedenen Gruppen aus. Das machte es möglich, dass über eher klassisch feministische Streikforderungen – nach gleichem Lohn, mehr Betreuungsmöglichkeiten für Familienangehörige und dem aktiven Kampf gegen Sexismus – auch durchaus antikapitalistische und antifaschistische Forderungen im breiten Bündnis mitgetragen wurden.
Den ganzen Tag über erscheinen immer neue Meldungen über Streikposten und erfolgreiche kreative Aktionen gegen reaktionäre Rollenbilder, antifeministische politische Kampagnen, die rassistische und sexistische Migrations- und Austeritätspolitik und vieles mehr.
Und dann sagt auch meine Schwester zur Demonstration am Abend zu. Wir treffen uns um 17 Uhr in Bern. Als wir uns treffen, werden wir beide von der Euphorie ergriffen. Wir fühlen uns stark, mutig, aufgehoben und schön. Ich merke, dass uns beide diese Erfahrung prägen und weitere Kämpfe daran anknüpfen werden. Meine Schwester und ich sind beide selbstständig arbeitend: ich als Dokumentarfilmregisseurin, sie als Naturmedizinerin mit drei Kindern. Beide erfahren wir auf unterschiedliche Weise die Einschränkungen und Hindernisse aufgrund der patriarchalen Verhältnisse und unseres Geschlechts. Um nur ein Beispiel zu nennen: Meine Schwester muss sich als Mutter immer wieder rechtfertigen, dass sie «ernsthaft» arbeitet und ich realisiere immer mehr, dass ich mich in einem Beruf bewege, in dem es kaum Strukturen für die Vereinbarkeit von Beruf eine Familie gibt und darüber hinaus Frauen* im Lohn und in der Sichtbarkeit - strukturell - stark diskriminiert werden. Es braucht viel Kraft, sich dagegen immer wieder zu behaupten. Wir haben aktuell diese Kraft, doch wir würden sie gerne für anderes einsetzen.
Ist das erst der Anfang?
Die Schweiz hat kaum eine Streikkultur. Daher trug der Frauen*streik auch zur Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit bei, sich diesem Kampfmittel wieder mehr anzunhähern. Unter diesem Begriff setzten die Frauen* den Tag nicht nur in die Tradition des Kampfes um Gleichstellung, sondern auch des Klassenkampfes. Und das ist wichtig, denn es sind vor allem bürgerliche Frauen*, die sich auf einem patriarchal ausgerichteten Arbeitsmarkt behaupten können, weil sie über die Mittel verfügen, die Reproduktionsarbeit auf eine andere – meist migrantische oder weniger gut situierte – Frau* auszulagern.
Die Forderungen des Frauen*streiks dieses Jahr sind nicht neu. Nichtsdestotrotz müssen sie mit neuer Vehemenz eingefordert werden. Und die Teilnahme von 500'000 Menschen am Frauen*streik 2019 hat ein deutliches Zeichen für die Dringlichkeit dieser Forderungen gesetzt. So gingen in Zürich 160'000 Frauen* auf die Strasse, in Basel 40'000 und in Bern 40'000 und in Lausanne 30'000. Aber auch in kleineren Städten wurde gestreikt. Es nahmen zahlreiche Frauen* am Streik teil, die Diskriminierung und Ungleichbehandlung direkt an ihrem Körper, in ihrem Leben oder in ihrer Familie erleben, ohne jedoch direkt politisch oder gewerkschaftlich organisiert zu sein. Bereits in den frühen Morgenstunden war eine aussergewöhnliche Stimmung in den Städten und die Solidarität zwischen lila gekleideten Frauen* bereits zu spüren. Es war für einmal ein Tag, an dem sich Frauen* entschuldigten, zur Arbeit zu gehen. An den Demonstrationen war die Stimmung euphorisch. Zentral war an diesem Tag aber nicht nur die materielle Arbeitsniederlegung, sondern auch sich in die Augen zu schauen und zu erkennen, dass man mit den eigenen Problemen und Wünschen nicht alleine ist. Das macht Mut, gibt Kraft und ist der Anfang von einer Organisierung. Die Demonstrationen bestanden zu 80 Prozent aus Frauen* - aus allen Schichten, Altersklassen und auch Frauen* mit Migrationshintergrund nahmen teil.
Neben den Erfolgen in konkreten Arbeitskämpfen, war wohl der grösste Verdienst der Frauen* an diesem Tag, ihre Forderungen kämpferisch sichtbar gemacht zu haben und auch untereinander die grosse und überschwängliche Solidarität untereinander gespürt zu haben, die diesen Tag ausmachte. Selten wurde so viel und auf so differenzierte Weise über die Lage der Frauen* in der Schweiz debattiert wie im Vorfeld des Frauen*streiks. Jene Frauen*, die am 14. Juni dabei waren, werden diesen Tag nicht so schnell vergessen. Auch wenn die Forderungen an diesem Tag sehr breit und heterogen waren, haben wir alle zumindest eines ganz klar gespürt: Wir sind nicht allein und wir können, wenn wir solidarisch sind, eine ungemeine Kraft entfalten: Gegen das Patriarachat, gegen den Kapitalismus, gegen Ausbeutung und Diskriminierung.
Auch bei „Friday for Future“ und in verschiedenen migrantischen Bewegungen sind es international die Frauen* die sich gegen kapitalistische Ausbeutung und rechtskonservative und faschistoide Politiken und Mobilisierungen zur Wehr setzen. Das wird nun auch besonders mit diesem Streik deutlich. Die langfristige politische und organisatorische Wirkung des zweiten nationalen Frauen*streiks bleibt noch abzuwarten. Was aber definitiv klar ist: er wird in die Geschichte eingehen!