Eingeklemmt zwischen Merkel und Baerbock
Seit dem Sommer der Migration 2015 und dem Merkelschen Ausruf „Wir schaffen das!“ gibt es eine merkwürdige Verschiebung im linken Diskurs und linker Politik. Plötzlich finden sich Linke in Diskussionen auf einer Seite wieder mit CDUler*innen, liberalen Grünen und Sozialdemokrat*innen, wenn sie Corona-Maßnahmen rechtfertigen oder Putin kritisieren. Neben der AfD ist nun auch „Russland“ zu einem gemeinsamen Feindbild eines liberalen Bündnisses geworden. Die militärische Invasion Russlands in der Ukraine hat dieses Bündnis ein weiteres Mal verstärkt. Es gehe um die Verteidigung demokratischer, westlicher Werte, sei es gegen die AfD oder gegen Putin. Wie weit das liberale Bündnis schon gediehen ist, wurde und wird deutlich, als Teile der linksradikalen Szene in Leipzig im November 2020 auf einer Gegendemonstration den querdenkenden Massen „Maske auf! Maske auf!“ zuriefen oder Linke sich heute für Waffenlieferungen an das ukrainische Militär aussprechen.
Gerade in Zeiten der Pandemie sind staatliche Beschlüsse oder auch ein gewisser Gehorsam gegenüber staatlichen Einschränkungen nicht immer einfach abzulehnen. Allerdings reihen sich die Phänomene, die von einem zunehmenden Konsens mit Teilen der Herrschenden zeugen, ein in eine größere Problematik der Linken, die seit 2015 andauert: Während in den frühen 2010er-Jahren noch klar war, dass Angela Merkel, die CDU und die EU das für viele mit Hoffnung verbundene linke Projekt SYRIZA in Griechenland autoritär erwürgten, mutierte Angela Merkel im Sommer der Migration von 2015ff. zu einer heimlichen Sympathie-Figur vieler Linker, die sich an den Demonstrationen gegen PEGIDA und anderen AfD-Veranstaltungen beteiligten. Während wenige Zeit später Tausende aufgebracht gegen die herrschende Corona-Politik demonstrierten, befand sich die Linke endgültig im strategischen freien Fall, strauchelnd zwischen AfD und Angela Merkel. Die Linke schaffte es nicht, einen eigenen Gegenpol zur Corona-Politik öffentlichkeitswirksam und kämpferisch zu vertreten. Und heute: Während an den staatlichen Gebäuden und öffentlichen Institutionen des Landes die ukrainische Nationalfahne hängt, binden sich Demonstrant*innen massenhaft die gelb-blauen Farben um den Kopf und rennen – gewollt oder ungewollt – unter Beifall der gesamten Medienlandschaft gegen Putin auf die Straße, um die „westlichen Werte“ zu verteidigen. So ist die Linke heute eingeklemmt zwischen dem Erbe der Merkelschen Innenpolitik und Baerbocks Außenpolitik. Kommt sie da nicht raus, sieht es nicht gut aus, weder für die LINKE als Partei noch für die gesellschaftliche Linke in Deutschland.
Einbindung durch passive Revolution
Mit der Linken ist in den 2010er-Jahren etwas geschehen, was Antonio Gramsci passive Revolution nennt. Sie wurde in Einzelfragen, Mikropolitiken und Partikularismen zerlegt, um ihren radikalen Stachel beschnitten und in domestizierter Form in Regierungsdiskurse und liberale Bündnisse integriert. Dadurch hat sich die Linke nicht nur von denjenigen getrennt, für die sie ursprünglich Politik machen wollte – die Deprivilegierten von der Hartz4-Empfängerin, dem Migrant und dem Kioskbesitzer bis hin zur Amazonbeschäftigten –, sondern auch ihren grundlegenden Antagonismus zum bürgerlich-neoliberalen Block an der Macht verloren.
Ihren großen Vorgänger hat diese Art der passiven Revolution in der Sozialpartnerschaft des 20. Jahrhunderts: Kapital, Gewerkschaftsführungen und der Staat schufen ein enges institutionelles Korsett für künftige Klassenkämpfe und beteiligten im Gegenzug breite Teile der Lohnabhängigen des Industriesektors durch steigende Löhne am Wirtschaftswachstum. Dieser Klassenkompromiss in der sozialen Frage hat den sozialen Großkonflikt der kapitalistischen Industriegesellschaften nachhaltig befriedet. Zwar kam es auch in Deutschland in den 1970er Jahren immer mal wieder auch zu wilden Streiks, doch waren diese eher die Ausnahme.
Spätestens seit den 1990er Jahren wird der Kreis der besser gezahlten und gewerkschaftlich organisierten Kernbelegschaften allerdings wieder kleiner. Der alte Klassenkompromiss wurde im Neoliberalismus von Seiten der Unternehmen und des Staates zunehmend aufgekündigt. Im Rahmen der Agenda 2010-Reformen der 2000er-Jahre schrumpfte die Zahl der gesicherten und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten noch einmal weiter und wurde durch eine Armee prekärer Erwerbstätiger ergänzt. Immer mehr schwankt seitdem die Gewerkschaftsarbeit zwischen Klientelpolitik für Kernbeschäftigte und Versuchen der kämpferischen Erschließung von Bereichen des Dienstleistungssektors und prekärer Arbeitsverhältnisse. Die teilweise erfolgreichen Kampagnen der Gewerkschaft Ver.di an den Krankenhäusern für mehr Personal sind ein Ausdruck des letzteren. In Bezug auf die soziale Frage scheint die korporatistische passive Revolution allmählich von oben und unten aufgekündigt. Ganz anders sieht das im Bereich des Feminismus, Antirassismus, des Pandemie-Bekämpfung oder der Friedens- bzw. Außenpolitik aus.
Der Feminismus war von einer derartigen passiven Revolution betroffen. Quoten, Integration von Frauen in Erwerbsarbeit, Gleichstellungs- und Diversity-Politik sind heute Teil der politischen Versprechungen auch von CDU und FDP. Das heißt nicht, dass sie falsch sind und dass ihre Durchsetzung nicht einen Erfolg der Linken darstellt, sondern, dass sie Allgemeinplätze bürgerlicher Politik geworden sind in einer Form, wie sie die wesentlichen Probleme der Menschen nicht nachhaltig angehen. Denn Antirassimus und Feminismus sind im Rahmen der Diversity-Politiken ein Hohn, wenn gleichzeitig der NSU jahrelang Menschen töten konnte und Frauen immer noch fast die gesamte Reproduktionsarbeit machen und weiterhin weniger Lohn bekommen. Weder zielt Merkels »Wir schaffen das« noch Annalena Baerbocks »feministische Außenpolitik« auf die Lösung der grundlegenden Probleme von Migrant*innen und Frauen* in der Welt.
Die Linke hat es den Rechten überlassen, Opposition gegen die Regierung zu betreiben. In der Corona-Krise wurde das nur allzu deutlich. Dabei hätten wir gerade in Zeiten der Pandemie allen Grund, gegen die Regierung auf die Straße zu gehen. Die Regierung schonte die Konzerne und sparte bei der Bevölkerung. Industriebetriebe und Logistik wurden nicht geschlossen, während die ganze Kultur dicht gemacht wurde, was einen großen Sektor traf, der wirtschaftlich eine geringere Lobby hat. Karstadt/Kaufhof, TUI und die Lufthansa wurden mit Milliarden gerettet, während die kleinen Ladenbesitzer*innen und kleine Dienstleister*innen kaum etwas erhalten und massenhaft dicht machten. Die Produktion wird geschont, die Reproduktion belastet. Lohnabhängig Beschäftigte hatten lange Zeit kein Recht auf Home-Office, müssen ihre Kinder zuhause betreuen und sollen für sie Aushilfslehrer spielen. Es gäbe großes Potential für Proteste, das die Linke hätte mobilisieren müssen.
Volksfront gegen Putin?
Der Krieg in der Ukraine hat Linke von Anarchist*innen über Reformist*innen und Sozialdemokrat*innen bis hin zu jahrzehntelangen Holzkopf-Anti-Imperialisten, die plötzlich für den Kampf gegen Russland votierten, in eine Volksfront gegen den Autokraten Putin getrieben. Plötzlich ist die Forderung nach „Waffen für die Ukraine“ en vogue geworden und die Ampel-Koalition liefert zunächst nur Helme, dann Panzerfäuste und schließlich Flugabwehrgeschütze. In der Folge kündigt sie eine in der BRD bisher noch nie gesehene militärische Aufrüstungsagenda an, ohne dass es nennenswerten Widerstand dagegen gäbe. Der einzige Lichtblick in dieser Angelegenheit ist „Der Appell“. Ansonsten scheinen aber die alten linken Grundforderungen, dass Deutschland raus muss aus dem angeblichen Verteidigungsbündnis der NATO, keine Waffen in Konfliktregionen liefern und sich an keinen Kriegen beteiligen darf, passé.
Die Thematisierung des großen Anteils des Westens an der Eskalation mit Russland – was freilich die derzeitige Invasion der Ukraine keineswegs rechtfertigt – wird mittlerweile verschrien als „Putinversteherei“. Damit ist auch ein weiterer Grundstein für die vollkommene Integration der Linkspartei und der Linken in die herrschende hegemoniale Ordnung gelegt, diesmal in ihrer außenpolitisch-militaristischen Grundorientierung, war doch die Haltung vieler Genoss*innen in der Linkspartei zur NATO zumindest medial immer wieder zur Gretchenfrage von Regierungsbeteiligungen gemacht worden. Während der Corona-Pandemie haben viele Linke begonnen, ein derartiges Vertrauen in die bürgerlichen Medien zu hegen, dass ihnen heute in der vollkommen einseitigen Berichterstattung zum Ukraine-Krieg die Kritikfähigkeit abhandengekommen ist. Der einzige Wermutstropfen ist, dass auch die AfD in dieser Frage bisher kaum eine starke eigene politische Position in der Öffentlichkeit zu vertreten bereit ist.
Künftig wird die Klimakrise die knifflige Konstellation der Linken eingekeilt zwischen grün-rot-schwarzem Machtblock auf der einen und der AfD auf der anderen Seite noch weiter verschärfen. So fordern die Klimaproteste zu Recht ein Raus aus der Kohle, ein Ende des grenzenlosen Wachstums sowie des ökologisch zerstörerischen Konsumismus. Die AfD wird sich angesichts dieses ökologischen Transformationsdrucks als Retter sozial benachteiligter aber auch konservativer Kreise der Arbeiter*innenschaft aufspielen können. Die Linken dürfen dann nicht auf der Seite irgendwelcher Konsumkritiker*innen und der Grünen stehen und den arbeitenden Normalos ein falsches Konsumieren vorwerfen. Spätestens dann ist die antagonistische Politik gegen das Kapital und den bürgerlich-liberalen Block an der Macht eine Überlebensfrage der Menschheit.