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"Eine radikale Linke muss im Sozialen verankert sein"

Potere al Popolo Potere al Popolo

Die italienischen Regierungswahlen in diesem Jahr haben den erwarteten starken Rechtsrutsch in Italien bestätigt. Während den alten politischen Parteien wie dem Partito Democratico (PD, zu diesem gehört etwa der frühere Premier Matteo Renzi) und der Forza Italia (der Silvio Berlusconi angehört) eine Absage erteilt wurde, erlebten Proteststimmen wie die rassistische Lega (ehemals Lega Nord (LN)) im Norden und die Populist*innen des Movimento 5 Stelle (M5S) einen massiven Aufschwung. Mittlerweile ist klar, dass die M5S und die Lega die neue Regierung bilden werden. Doch die bisher abgeschlossenen Verträge zeigen kaum einen Bruch mit dem herkömmlichen Kurs des PD, sondern lediglich eine Akzentuierung neoliberaler und repressiver Maßnahmen. Sie sind weitaus nicht so antieuropäisch wie erwartet. Für die Prekarisierten und auch die Arbeiter*innen so wichtige Wahlversprechen wie die Rückgängigmachung des Jobs Act oder der Rentenreform werden im Vertrag nicht erwähnt, ebenso wenig die Einführung des Grundeinkommens (ein schillerndes Wahlversprechen der M5S). Nach mehrmonatigen Verhandlungen stimmte nun Staatspräsident Sergio Mattarella einem Vorschlag von M5S und Lega zu: Ministerpräsident wird aller Voraussicht nach der Jurist Giuseppe Conte, ein der M5S nahestehender Technokrat. Damit wird die dritte Republik eingeläutet. Linke Ideen fanden bei diesen Wahlen wenig Ausdruck, auch ehemalige linke Parteien stehen vor einem Scherbenhaufen. Doch die aktuelle politische Lage bringt auch neue linke Kräfte auf den Plan. Wir führen unsere lose Reihe zu Italien fort und spüren diesen neuen Gegenbewegungen nach.

Dazu zählt neue kommunistische Bewegung «Potere al Popolo», die inzwischen italienweit aktiv ist. Der Impuls dazu entstand bereits im Jahr 2014 in einem sozialen Zentrum in Neapel als eine Art Netzwerk von lokalen Basisinitiativen. Diese haben sich innerhalb des letzten Jahres national und international vernetzt und der Zusammenschluss trat bei den Wahlen in Italien im März 2018 als politische Bewegung an. Unsere Autorin Maja Tschumi hat mit dem Aktivisten Maurizio aus Neapel über die Entwicklung der kommunistischen Bewegung, über ihre Grundsätze, über Erfolge und Herausforderungen und nicht zuletzt über die notwendigen Kämpfe gesprochen, welche die junge Bewegung auch in Bezug auf die erstarkenden neofaschistischen Kräfte in Italien vor sich hat.

Maja Tschumi [re:volt]: Euch gibt es nun seit knapp vier Jahren, bekannt wurde euer Name aber vor allem im letzten halben Jahr. Welche Vorgeschichte hat die kommunistische Bewegung «Potere al Popolo»?

Maurizio: Dazu müssen wir einige Schritte zurückgehen. Seit den 2000er Jahren befinden wir uns in Italien in bewegten, aber schwierigen Zeiten. Die Krise der institutionellen Repräsentanz der Linken gipfelte in den Ausschluss der letzten Kommunist*innen aus dem Parlament im Jahr 2008. Die soziale Bewegung war trotz größeren Mobilisierungen unfähig, Angriffe auf die Arbeiter*innenklasse abzuwehren. In diesen Jahren wurden die nationalen Tarifverträge ausgehöhlt, der Kündigungsschutz aufgehoben, die Löhne eingefroren und Formen prekärer Verträge, vor allem für junge Arbeiter*innen, vervielfältigt. Nach und nach verlor die soziale Bewegung also an Mobilisierungskraft, Demonstrationen verwandelten sich zu ritualähnlichen Anlässen, an denen wir uns immer im engeren Kreis wiederfanden. Dann, 2014, wurde rund um das Kollektiv «Clash City Workers», das mit ihrem Buch «Dove sono i nostri» [1] grundsätzliche Fragen innerhalb der sozialen Bewegung in Italien hineintrug, ein erstes italienweites Netzwerk gegründet. Die soziale Bewegung hatte sich vom politischen Subjekt verabschiedet, welches der Motor der sozialen Veränderung sein kann. Für den größten Teil der Bewegung wählte die Arbeiter*innenklasse rechts, in einigen politischen Ansätzen gab es sozialen Klassen und daher den Klassenkampf schon gar nicht mehr. Wir haben die Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung gebracht und starteten italienweite Treffen. In der Folge lancierten wir einen Prozess, welcher ausgehend von der Analyse der Zentralität des Klassenkonflikts zwischen Kapital und Arbeiter*innen die politische Arbeit neu zu interpretieren versuchte: Es ging nicht nur mehr darum, vor den Fabriktoren oder während Demonstrationen mit einem Flugblatt zu erklären, was Ausbeutung ist und wie wir darauf antworten müssen, sondern zu fragen, was die aktuellen Bedürfnisse der sehr heterogenen Arbeiter*innenklasse sind, zusammen mit Arbeiter*innen diese Fragen und Probleme zu diskutieren und entsprechende Mobilisierungsmöglichkeiten zu finden. Denn auf dem ganzen italienischen Territorium wird gekämpft, diese Kämpfe bleiben aber territorial isoliert. Denken wir an die Kämpfe der Logistikarbeiter*innen im Norden Italiens oder an die 25-jährige Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon, NoTAV.

Maja Tschumi [re:volt]: Das heißt ihr habt versucht, die unterschiedlichen Kämpfe in Italien wieder gemeinsam zu denken und zusammenzuführen. Wie war denn die Lage in Neapel zu dieser Zeit?

Maurizio: Für uns in Neapel war das Jahr 2015 ein wichtiges Jahr. Im März haben wir, das sind die «Clash City Workers», zusammen mit dem Studierendenkollektiv CAU und dem Schüler*innenkollektiv SAC, ein ehemaliges psychiatrisches Gefängnis besetzt, welches seit 2007 leer stand: Das «Ex OPG». So konnten wir einen qualitativen Sprung nach vorne machen. Wir hatten nun einen Ort und eine Struktur zur Verfügung, auf deren Basis die Aktivitäten in den Quartieren und mit den Arbeiter*innen zusammen entwickelt werden konnten. Innerhalb von drei Jahren haben wir zahlreiche soziale Aktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen Hilfe (Mutualismus) vorangetrieben, welche jede Woche hunderte Menschen zusammenbringen: vom medizinischen Ambulatorium zur Anlaufstelle für Migrant*innen, von der proletarischen Arbeiter*innenkammer zu kulturellen und Sportaktivitäten und vieles mehr. [2].

Maja Tschumi [re:volt]: Im November 2017 wurde «Potere al Popolo» dann als eine größere politische Bewegung ins Leben gerufen, welche sich auf das Terrain der Wahlen wagte. Was war die Ausgangslage für die Ausweitung zu einer nationalen Bewegung?

Maurizio: Potere al Popolo, verstanden als Zusammenschluss linker Organisationen und Basisinitiativen, wurde auf der Basis der obengenannten Entwicklungen geboren. Wir stehen vor massiven sozialen Problemen und Konflikten, die organisiert bekämpft werden müssen. Die Arbeitsmarktreform Jobs Act und die Bildungsreform «buona scuola» haben eine uferlose Flexibilität eingeführt, vor allem für junge Arbeiter*innen, die nun schon während der Schulzeit unentgeltet Praktikas in Betrieben akzeptieren müssen; Schwarzarbeit ist mittlerweile zu einem Strukturmerkmal des Arbeitsmarktes geworden; jährlich migrieren 124.000 Italiener*innen ins Ausland (England, Deutschland, Schweiz die ersten Zielländer) [3], 40 Prozent davon sind 24- bis 34-jährige, 50 Prozent aus dem «Mezzogiorno» (dem Süden Italiens). Täglich sterben drei Arbeiter*innen am Arbeitsplatz und 1700 Arbeitsunfälle werden gemeldet. Die Mitte-Links-Koalition (Partito Democratico, PD) sprang schon vor Längerem auf den repressiven und fremdenfeindlichen Zug einer rechtskonservativen Politik auf, links davon scheiterten alle Versuche der Neuzusammensetzung einer alternativen politischen Kraft. Daraufhin haben wir uns entschlossen, den Spieß umzudrehen: Wenn wir – damit gemeint sind junge Männer, Frauen*, Prekäre – von niemandem repräsentiert werden, warum repräsentieren wir uns nicht einfach selbst und stoßen von den zahlreichen Basisinitiativen ausgehend einen eigenen Organisierungsprozess an? Das war am 14. November 2017. Nach einem entsprechenden Aufruf in den Sozialen Medien versammelten sich nur vier Tage später, am 18. November 2017, im «Teatro Italia» in Rom 800 Basisaktivist*innen aus ganz Italien, um eine gemeinsame Perspektive und unsere Rolle bei den anstehenden nationalen Wahlen zu diskutieren. Das war ein großer Erfolg und ein deutliches Zeichen, dass wir mit unserer Einschätzung einen Nerv getroffen haben.

Maja Tschumi [re:volt]: Warum der Name «Potere al Popolo»? Welche Rolle spielt darin die Idee eines linken Populismus und welche Konnotationen hat der Begriff «Popolo» in Italien?

Maurizio: «Popolo» ist sowohl ein soziologischer, als auch ein politischer Begriff. Soziologisch entspringt er der aktuellen Analyse: Die nun seit über zehn Jahren andauernde Krise und die politischen Antworten der Bourgeoisie haben nicht nur die klassischen «proletarischen» Arbeiter*innen empfindlich getroffen und in die Armut getrieben, sondern auch Teile der Mittelschicht prekarisiert. Wir müssen also die Neuzusammensetzung der Klasse auf der Basis dieser politischen und ökonomischen Dynamiken fassen: Deindustrialisierungsprozesse, prekäre Schwarzarbeit in den boomenden Sektoren (Tourismus, Gastronomie, Hotelbranche, Call Center), Biographien zwischen Arbeitslosigkeit, Stellensuche und prekären Jobs, ein massiver Abbau sozialer Dienste, in erster Linie im Gesundheits- und Bildungssektor. Politisch können wir uns nicht darauf beschränken, zum «klassischen Proletariat» zu sprechen. «Popolo» integriert in dieser Perspektive all diejenigen sozialen Subjekte, die als Arbeitslose, Kleinhändler*innen, erwerbslose Hausarbeiterinnen etc. «proletarische Existenzen» leben.

Zudem ist der Name Potere al Popolo historisch auf eine bestimmte politische Tradition zurückzuführen. Wir denken da konkret an die Erfahrungen der «Black Panther Party», welche die politische Organisierung der schwarzen Bevölkerung in den USA und die soziale Gleichheit zwischen Schwarzen und Weißen zum Ziel hatte. Bekannt wurden sie durch die Bilder von bewaffneten Männern in schwarzer Lederjacke und Barett. Weniger bekannt sind ihre Basisaktivitäten – die kostenlosen Frühstücke, welche sie den Armen verteilten, die medizinischen Ambulatorien, die sie für die Communities aufbauten oder auch die Alphabetisierungsprogramme für Schwarze. Sie gingen also von konkreten sozialen Bedürfnissen von gesellschaftlich Marginalisierten aus, um ihre sozialen Aktivitäten aufzubauen und politische Organisierung vorzubringen. Wir befinden uns heute natürlich in einer historisch total anderen Situation, doch wir stellen fest, dass der freie Markt und der Staat immer mehr Menschen vom sozialen Reichtum ausschliesst. Von diesen historischen Erfahrungen gibt es also jede Menge zu lernen. Potere al Popolo stellt sich in diese theoretische und politische Perspektive.

Maja Tschumi [re:volt]: Welche Analyse habt ihr von der Linken Italiens – wo steht sie und warum braucht es eine Bewegung wie «Potere al Popolo»?

Maurizio: Nicht nur die italienische Linke, sondern die Linke insgesamt hat in den letzten drei Jahrzehnten den Bezug zu den Ausgebeuteten und Unterdrückten fast komplett verloren oder aufgegeben. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass linke Parteien bürokratische Apparate geworden sind und sich viele politische Aktivist*innen jenseits der konkreten Probleme der Arbeitenden verstehen. Wir verstehen uns als einen Teil dieser sozialen Gruppe. Wir arbeiten prekär und haben – mit oder ohne Universitätsabschluss – kaum Zukunftsperspektiven. Im Süden Italiens beträgt die Arbeitslosenquote unter 20-30jährigen im Schnitt 36 Prozent, in gewissen Regionen sogar über 50 Prozent. Für uns kann sich eine radikale Linke nur dann neu konstituieren, wenn sie im Sozialen verankert ist. Das Prinzip, das wir hier verfolgen, ist der Mutualismus. Dabei geht es uns um folgendes: Zu erforschen, was die alltäglichen Probleme und Bedürfnisse der arbeitenden Klasse sind, Formen der Organisierung zu finden, um diese Probleme angehen zu können und über angemessene Mobilisierungsstrategien kollektive Kämpfe zu starten – immer mit dem Ziel, unsere existenziellen Bedürfnisse zu garantieren und zurück zu erkämpfen, wo sie bedroht sind. Das geht von selbstverwalteten Kinderkrippen über kulturelle und Sportangebote (Theater, Tanzkurse, Boxgym) bis hin zu selbstorganisierten medizinischen Ambulatorien und «Camere Popolari del Lavoro» (proletarische Arbeiter*innenkammern). Diese Aktivitäten und Strukturen stellen eine Art «Trainingsorte» des politischen Kampfes dar: Über die Mobilisierungen und Kämpfe wird Partizipation, Organisierung und Selbstverwaltung geübt, evaluiert und wenn möglich auf eine neue Ebene gehoben. Im Grunde genommen machen wir aber nichts Neues, sondern knüpfen an die Tradition der ersten sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Erfahrungen an, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts über mutualistische Aktivitäten und in den von den Arbeiter*innen gebauten «Case del Popolo» (Volkshäuser) breite Bewegungen zu organisieren vermochten.

Maja Tschumi [re:volt]: In eurem Programm steht die «Verteidigung der Verfassung» an erster Stelle. Ihr sprecht an verschiedenen Stellen immer wieder von Demokratie – ist euer erklärtes Ziel nicht Sozialismus beziehungsweise Kommunismus und eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Gesellschaft?

Maurizio: Unser Programm ist das Resultat von Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen politischen Kräften, die sich in Potere al Popolo versammeln. Um den Bezug auf die Verfassung zu verstehen, müssen drei Dinge erklärt werden: Erstens geht die italienische Verfassung aus dem Partisanenkampf gegen den Faschismus hervor, sie beinhaltete also historisch wichtige Elemente für die Befreiung der Arbeiter*innenklasse. Zweitens ist der Punkt zur Verteidigung der Verfassung in unserem Programm in einen konkreten historischen Kontext zu setzen: Im Dezember 2016 wurde in Italien ein Referendum gegen die Verfassungsreform gewonnen. Ministerpräsident Matteo Renzi (PD) wollte das wenige Progressive, was die Verfassung heute noch beinhaltet, auch noch verabschieden und ein Präsidialsystem einführen, welches seine Macht noch mehr zentralisieren sollte. Das Referendum wurde auch dank wichtigen Mobilisierungen von unten gewonnen. Drittens könnte es zwar den Anschein erheben, dass unsere Forderungen rund um die Verfassung uns ausschliesslich in einem bürgerlich-demokratischen Rahmen situieren, doch wir denken, dass im gegebenen historischen Kontext solche Auseinandersetzungen und Mobilisierungen für ein größeres Stück vom Kuchen als Sprungbrett dienen können, um sich die ganze Bäckerei zu nehmen. Klar, wir stehen hier vor objektiven Grenzen des Kapitals, in dieser Krisenzeit überhaupt was abgeben zu können. Doch (leider) ist eine kommunistische Perspektive heute nicht erreichbar. Darum sind intermediäre Auseinandersetzungen, Mobilisierungen und Kämpfe notwendig. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Kämpfe für die Erlangung von Arbeitsverträgen von illegalisierten Arbeiter*innen, die Anerkennung des medizinischen Ambulatoriums von Seiten der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen etc. Kämpfe darstellen, dank denen wir uns als Kommunist*innen wieder einen sozialen und politischen Raum erarbeiten und Hoffnung und Begeisterung auslösen können für größere Ziele. Ohne diese «Zwischenschritte» ist es schwierig, eine kommunistische Perspektive zu denken. Denn wir stehen auch vor kulturellen Schwierigkeiten: Wir werden tagtäglich medial mit Nachrichten bombardiert, die die Klasse spalten und im materiellen Leben die Ausgebeuteten und Unterdrückten in eine noch nie dagewesene kapitalistische Konkurrenz beziehungsweise einen «Krieg unter den Armen» stürzen. Wir müssen also auch einen Weg finden, mit unseren Worten die Ausgebeuteten und Unterdrückten zu erreichen. Dazu gehört, aktuelle politische Diskurse aufzugreifen und eine eigenständige Analyse und Antwort darauf zu geben. Nur so können Mobilisierungen funktionieren und Kämpfe angestossen werden.

Maja Tschumi [re:volt]: Ihr versucht die Basisarbeit und den Straßenkampf mit der Teilnahme an den Wahlen, das heißt einem Weg über die Institutionen, zu verbinden. Welches sind die Hürden, die sich dabei stellen und wie habt ihr vor, sie zu überwinden?

Maurizio: Die Entscheidung, als neue politische Kraft an den nationalen Wahlen im März 2018 teilzunehmen, erlaubte uns, den im 2014 angestoßenen Prozess der Vernetzung zu intensivieren und in ganz Italien Basisversammlungen zu organisieren, an denen hunderte von Aktivist*innen teilnahmen: Alte Genoss*innen, die aber seit Jahren nicht mehr organisiert waren; junge Menschen, die sich zuvor noch nie in einem Kollektiv organisiert hatten; Basisaktivist*innen, die sich in den letzten zehn Jahren auf ihre sozialen Aktivitäten fokussierten und nun mit Potere al Popolo eine politische Perspektive wiederentdeckten. Von Anfang an pochten wir darauf, nicht einfach eine neue Partei oder eine Wahlkoalition zu sein, die Parlamentsmitglieder stellt, sondern diesen medialen Moment zu nutzen, um die Aufmerksamkeit auf die vielen sozialen Aktivitäten zu richten, die im ganzen Land von Genoss*innen vorangetrieben werden. Wir kritisieren dieses Modell der politischen Repräsentation durchaus und halten trotz Teilnahme an den nationalen Wahlen an dieser Kritik fest. Denn ohne Mobilisierungen und Anstöße von unten ist es unmöglich, auch auf der Ebene der institutionellen Repräsentanz Einfluss nehmen zu können. Die nationalen Wahlen stellten für uns in erster Linie auch eine Möglichkeit dar, auf einer nationalen Ebene sichtbar und hörbar zu werden und an Kraft zu gewinnen. Von Anfang an war also klar, dass es nicht lediglich um die Wahl von Potere al Popolo gehen kann und auf institutioneller Ebene für die Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Viel zentraler war für uns der Versuch, das Vertrauen an direkte und kollektive Aktionen zu stärken und dafür den Kontext der nationalen Parlamentswahlen zu nutzen. Uns ist natürlich bewusst, dass dies Gefahren mit sich bringt und lediglich eine schöne Absichtserklärung bleibt, wenn nicht weiterhin Basisarbeit in Form von lokalen Organisierungen und Mobilisierungen geleistet wird. Für uns sind die sozialen und mutualistischen Aktivitäten der einzige Weg, um eine starke Bewegung aufzubauen.

Maja Tschumi [re:volt]: Wer wurde zur Kandidatur aufgestellt?

Maurizio: Die Kandidatinnen* und Kandidaten von Potere al Popolo waren territoriale Aktivist*innen von allen politischen Strukturen. Es waren also nicht große und bekannte Namen, sondern die entlassene Call-Center Arbeiterin, die in den letzten 18 Monaten einen Arbeitskampf gegen die Entlassung von 1666 Mitarbeitenden angeführt hat, Aktivist*innen der NoTAV-Bewegung gegen die Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin-Lyon, Aktivist*innen der «Brigate di solidarietà attiva», welche sich vor etwa acht Jahren gebildet haben, um während den Naturkatastrophen wie Überschwemmungen oder Erdbeben direkte Hilfe zu leisten und so weiter. Die Kandidat*innen waren also immer Ausdruck lokaler Kämpfe, Mobilisierungen und Basisinitiativen. Damit wollten wir auch zeigen: Politik ist nicht nur institutionelle Repräsentanz in Hemd und Anzug, sondern auch Widerstand, sich die Hände schmutzig machen, Hoffnung auf tatsächliche Veränderung, Enthusiasmus von unten.

Maja Tschumi [re:volt]: Ihr seid ganz klar eine klassenkämpferische «Bewegung». Wie würdet ihr die Klasse der Arbeiter*innen heute in Italien fassen?

Maurizio: Die massive Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Rentenreform, welche das Rentenalter erhöhte, die Schulreformen, welche immer mehr junge Menschen in einen hochprekarisierten Arbeitsmarkt drängen, der Ab- und Umbau des öffentlichen Gesundheitssystems (in zehn Jahren sind alleine in der Stadt Napoli zehn Notfallstationen geschlossen worden), ein Migrationssystem, welches vor allem im Süden des Landes die informelle Arbeit aufbläst und vieles mehr haben sowohl die soziale Zusammensetzung der Arbeiter*innenklasse, wie auch die Widerstands- und Organisierungsformen verändert. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise die wichtigsten Mobilisierungen der letzten Jahre in Sektoren organisiert wurden, in denen die migrantischen Arbeiter*innen dominieren, nämlich in der Logistikbranche im Norden und bei den landwirtschaftlichen Hilfsarbeiter*innen im Süden. Zudem hat sich die Integration der jungen Arbeiter*innen in den Arbeitsmarkt in den letzten Jahren verändert, Schwarzarbeit und Vertragslosigkeit – obwohl schon seit jeher Strukturmerkmal des (süd-)italienischen Arbeitsmarktes – haben sich weiter verbreitet und sind zur Normalität geworden. Schliesslich werden ältere Arbeiter*innen, die in den 1980er Jahren noch in den Genuss der erkämpften Errungenschaften der 1970er Jahren kamen (automatische Lohnanpassung, Kündigungsschutz, gute Renten) zunehmend prekarisiert. Das sind nur einige Beispiele, welche die Dynamiken der Klassenzusammensetzung abbilden. Die andere Seite der Medaille sind die neuen Organisationsformen, die von der Klasse ausgehen. Dabei denken wir an die vor wenigen Wochen gegründete Gewerkschaft der Riders, an die seit Jahren nun immer grössere Bedeutung der Basis- und an den politischen Niedergang der konföderalen Gewerkschaften und so weiter.

Maja Tschumi [re:volt]: Welche Strategien verfolgt «Potere al Popolo» auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene?

Maurizio: Kernpunkt unserer politischen Struktur sind die territorialen Versammlungen, von denen in den letzten sechs Monaten über 150 in ganz Italien entstanden sind. Die territorialen Versammlungen sind offen, jede* und jeder kann seine Themen einbringen. An den Versammlungen werden politische Analysen generiert sowie Aktionen und Kampagnen organisiert. Ende Mai wird eine nationale Versammlung organisiert, bei der es um die Frage geht, wie wir uns in naher Zukunft national – und international – organisieren und vernetzen wollen. Wir bestehen darauf, dass überall «Case del Popolo» (Volkshäuser) nach dem Vorbild der Besetzung Ex-OPG in Napoli entstehen sollen, in denen man sich treffen kann, soziale Aktivitäten und Aktivitäten der gegenseitigen Hilfe vorangetrieben, politische Kämpfe organisiert, Solidarität in Unterdrückungs- und Ausbeutungserfahrungen erfahren oder auch einfach eine soziale und politische Gemeinschaftlichkeit gelebt werden kann. Wir wollen einen Ort schaffen, der sich auf diskursiver und praktischer Ebene gegen einen individualisierten Alltag zur Wehr setzt und antirassistische, antisexistische und solidarische Beziehungen innerhalb der Klasse fördert und bewahrt. Während der Wahlkampagne haben wir viele Kontakte im Ausland knüpfen können. Es waren vorwiegend Auslanditaliener*innen, teils von der alten Migration, proletarische Arbeiter*innen, die in den 1960er, 1970er migriert sind und in den Strukturen der damaligen Kommunistischen Partei und der Gewerkschaften eine «politische Heimat» hatten, teils von der neuen Migration, also Junge, die nach Abschluss ihres Studiums ausgewandert sind und heute entweder an Universitäten Forschung betreiben, oder eben auch in den italienischen Restaurants in der Küche oder als KellnerInnen arbeiten. Die soziale Zusammensetzung der Potere al Popolo-Kollektive im Ausland ist also sehr heterogen, was wiederum den Reichtum dieser Kollektive darstellt. Mittlerweile gibt es Potere al Popolo-Kollektive fast in jeder größeren europäischen Stadt. Ja, sogar in Mexiko-City wurde ein Kollektiv gegründet. Diese Strukturen sind natürlich fundamental für unsere internationalistische Perspektive. Darüber hinaus sind wir international mit vielen Kollektiven, Organisationen und Parteien einen Austausch getreten: Vom Arbeiter*innenkollektiv «Berlin Migrant Strikers» über die antifa Gruppe «antifascisti Bruxelles», die Rosa-Luxemburg-Stiftung bis hin zu Parteien wie der Kommunistischen Partei Belgiens (PTB), La France Insoumise (LFI), der katalanischen CUP oder der brasilianischen Landlosenbewegung MST (movimento sem terra).

Maja Tschumi [re:volt]: Die Wahlen selbst sind dann eher katastrophal zu Gunsten der Populist*innen des MS5 und des rechts-konservativen und neofaschistischen Lagers ausgefallen (eine Analyse dazu schrieb Raffaele Traini für re:volt). In Napoli erreichte der MS5 sogar über 50 Prozent der Stimmen. Potere al Popolo erreichte 1,13 Prozent. Warum konnten die Wähler*innen nicht mit linken Argumenten abgeholt werden?

Maurizio: Es wäre naiv gewesen zu denken, wir könnten mit einer kaum vier Monate jungen politischen Bewegung ein besseres Resultat erreichen als wir jetzt erreicht haben. Zudem haben wir eine starke mediale Marginalisierung und Verdrehung erlebt. So wurden während der Wahlkampagne in diversen Städten Treffen von neofaschistischen Gruppen wie CasaPound oder Forza Nuova organisiert, wogegen auf Antira- und Antifa-Demonstrationen mobilisiert wurde. Die Zeitungen sprachen aber zum Beispiel kaum von der großen Demonstration in Macerata Anfang Februar, nachdem ein durchgeknallter Neofascho auf sechs Schwarze Menschen schoss, an der über 20.000 Menschen teilnahmen und für die wir tausende Aktivist*innen von Potere al Popolo aus ganz Italien zusammenbringen konnten. Wenn über uns gesprochen wurde, dann nur in einem Atemzug mit den «Extremen» von Rechts – der bekannte Diskurs der «opposti estremismi». Für uns ist entscheidend, dass wir in dieser kurzen Zeit eine mediale Präsenz über Italien hinaus erreicht haben. In Italien haben uns fast 400.000 Personen gewählt, in den Städten und Stadtteilen, in denen wir sozial und politisch aktiv sind, haben wir bis zu 8 Prozent Stimmanteil geholt. Diese Stimmen zeigen uns, dass wir weitermachen müssen und unsere Forderungen auf offene Ohren stossen. Selbstkritik ist aber insofern angebracht, als auch wir es nicht geschafft haben, bei den Wähler*innen eine breite Sensibilität für linke Themen zu wecken. Erstens haben wir die Populist*innen des M5S falsch eingeschätzt: Wir dachten, sie hätten ihren Zenith erreicht und die linken Wähler*innen, die bisher M5S wählten, kämen nun dank einem linken, alternativen Angebot in unsere Reihen. Das war nicht der Fall. Im Gegenteil: Die M5S konnte ihren Wahlanteil vor allem im Süden massiv ausbauen, ohne jedoch eine soziale Präsenz in den Territorien zu haben. Zweitens haben wir es nicht vermocht, mit unseren Argumenten über den traditionellen linken Wähler*innenanteil hinaus zu überzeugen und zu mobilisieren. Wir müssen verstehen, warum das so ist und daran arbeiten.

Maja Tschumi [re:volt]: Italien nach den Wahlen. Was sind die Herausforderungen und wie geht es mit Potere al Popolo weiter?

Maurizio: Es gibt drei große mittel- und langfristige Herausforderungen. Erstens muss es uns gelingen, die vielen territorialen, sozialen und mutualistischen Aktivitäten zu intensivieren, zu verallgemeinern und zu organisieren. Nur so können wir die gesellschaftlichen und politischen Konflikte auf die Spitze treiben und ausgehend von lokalen Mobilisierungen eine nationale oder gar europaweite Bewegung etablieren. Zweitens müssen wir die politische Schulung unserer Aktivist*innen vorantreiben, um unsere Analyse- und Interventionsinstrumente zu schärfen und für die raschen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen «bewaffnet» zu sein. Diesbezüglich sind wir mit anderen internationalen Bewegungen im Kontakt, um von ihren Erfahrungen zu lernen, zum Beispiel mit der Landlosenbewegung Brasiliens MST. Sie hat mit der Eröffnung ihrer Schule «Florestan Fernandez» im Jahre 2005 zu einer Verbindung von alltäglichem und politischem Wissen beigetragen und so viele Aktivist*innen ausbilden können, die langfristig im Kampf des MST engagiert sind. Trotz unterschiedlicher historischer und sozioökonomischer Kontexte können wir davon viel lernen. Drittens müssen wir uns eine organisatorische Struktur geben, die über die einfache Summe vieler Kollektive und Organisationen hinausgeht. Ein medizinisches Ambulatorium in Neapel ist eine unmittelbare Antwort auf die Krise des Gesundheitssystems der Stadt und eine proletarische Arbeiter*innenkammer kann Arbeitsverträge für eine Gruppe von illegalisierten Arbeiter*innen erkämpfen. Denn ohne die Strukturierung über ein Netzwerk hinaus bleiben wir machtlos gegenüber den massiven Angriffen des Kapitals, welche wir heute erleben. In diesen Herausforderungen und Prozessen befinden wir uns im Moment.


Fußnoten:

[1] Hier findet sich eine deutsche Buchbesprechung von Clash City Workers, Dove sono i nostri. Lavoro, classe e movimenti nell’Italia della crisi, la casa usher, Lucca 2014. 202 Seiten.

[2] Als Mutualismus verstehen wir eine Methode, um das Politische und das Soziale zu verbinden: Durch die Praxis der gegenseitigen Hilfe werden Probleme identifiziert, konkrete Antworten von unten darauf gegeben und durch kollektive Mobilisierungen und Kämpfe politisiert. Diese Methode knüpft an die Erfahrungen der ersten sozialistischen Bewegungen Mitte des 19. Jahrhunderts an.