Doch keine „Terrornacht der Nafris“. Ein antirassistischer Nachschlag
In der Silvesternacht 2015/16 entdeckte Deutschland plötzlich den Sexismus und das Patriarchat. Davor gab’s das hier wohl nämlich nicht. Obwohl bis heute nur feststeht, dass auf der Kölner Domplatte zahllose massive Übergriffe auf Frauen seitens (zum Teil als Flüchtling gelabelten) Männern stattfanden, war das multimedial durchgepeitschte Erklärungsmuster parat: Gangs an Flüchtlingen aus arabischem oder afrikanischem Raum hatten sich organisiert, um „unsere“ deutschen Frauen zu überfallen. Eine Welle antisexistischer Empörung, gepaart mit einer gehörigen Portion Rassismus und Kulturalisierung, schwappte über ganz Deutschland.
Die „Terrornacht der Nafris“...
Danach gab es in den Augen Vieler (vor allem Männer) in Deutschland wieder keine patriarchalen Zustände mehr, die Stimmen kritischer Frauen* wurden kaum mehr gehört, die Proteste gegen sexualisierte Gewalt als unnötig abgetan. Bis zur zweiten Kölner Silvesternacht 2016/17, da drang das Patriarchat wieder von außen nach Deutschland ein. Das Szenario, das von Polizei und Medien verbreitet wurde, muss man sich nochmal auf der Zunge zergehen lassen, hier fehlte kein rassistischer Stereotyp: Gangs an Ausländern aus dem gesamten Umland hatten sich per Internet koordiniert und organisiert, um kollektiv den deutschen Frauen am selben „Tatort“ wie im Jahr zuvor wer weiß was anzutun: Sie zu belästigen, zu bedrängen, ja vielleicht sogar zu vergewaltigen. Täter- und Opfergruppen, wie Schablonen ausgesägt und den wartenden Boulevard-Leser*innen vorgeführt. Warum denn notorische und doch so gut organisierte Triebtäter so dumm sein sollten, dasselbe wie ein Jahr davor am selben Ort zu wiederholen, dafür hatte Alice Schwarzer die Erklärung parat: Sie wollten eben „eine Machtprobe“ demonstrieren und den Staat vorführen. Schwarzer hielt die Täter wahlweise für „fanatisierte Anhänger des Scharia-Islam“ oder für „entwurzelte, brutalisierte und islamisierte Männer vorwiegend aus Algerien und Marokko“. Zum Glück war Vater Staat, wie ein guter Patriarch, mit Hunderten Polizeibeamt*innen da, kesselte 674 Personen vor dem Kölner Hauptbahnhof über Stunden lang präventiv ein und rettete damit angeblich „unsere“ deutschen Frauen. In derselben Nacht plapperte die Polizei per Tweet aus, dass das fahndungsrelevante Klientel „Nafris“, also „nordafrikanische Intensivtäter“, waren. Es habe, so der damalige Kölner Polizeipräsident Jürgen Mathies, eine „aggressive Grundstimmung“ gegeben, die „Anlass zur Sorge“ gegeben habe. Außerdem seien 98% der Kontrollierten ebensolche „Nafris“ gewesen. Der Verkehrsminister Dobrindt (CDU) legte ganz unverblümt nach: Die Menschen würden eben vor Nafris geschützt werden wollen.
Der sowieso schon schwache Protest gegen das offensichtlich rassistische und zudem rechtswidrige Verhalten der Polizei (einfach mal Hunderte Menschen auf allergröbsten Verdacht hin über Stunden festsetzen) wurde von einem riesigen Shitstorm gekontert, der diese Demonstration der Staatsgewalt in den Himmel lobte. Was hätte die Polizei denn anderes tun sollen? Klar, der ein oder andere habe Unrecht erlitten, das sei zu bedauern. Dafür seien aber potenziell geradezu Millionen von deutschen Frauen gerettet worden. Es habe doch Sinn, dass aus dem „afrikanischen“ und „arabischen“ Raum kommende junge Personen kontrolliert werden! Die würden doch viel eher übergriffig werden als der deutsche Rentner. Das sei doch kein Racial Profiling, sondern genaue Polizeirecherche. Bilder, auf denen große, dünne, weiße Frauen mit wallendem schönen blonden Haar und verzweifeltem, hilfesuchenden Blick – aus blauen Augen, versteht sich – von einem Zombieheer an vor Vergewaltigungslust rasenden dunkelhäutigen Männern begrabscht werden, die Kleidung ganz zerrissen, die Brust nur halb verdeckt, und ähnliche machten in den Sozialen Medien die Runde. Neben den „Deutsche Frauen gehören uns, nicht den Anderen“-Brüllaffen gab es aber auch die ganz einfühlsamen, nachdenklichen, populärsozialwissenschaftlich bewanderten kritisch-solidarischen Rassist*innen. Ja, die Araber und die Afrikaner. Man müsse die ja auch verstehen, sie wüssten quasi nicht was Sex und Sexualität seien. Außerdem seien sie gewohnt, Frauen nur als Objekte zu begreifen und ihre Männlichkeit sei durch all die Verwerfungen, denen sie ausgesetzt waren, heftig in Mitleidenschaft gezogen. Deshalb würden sie durch übergriffiges Verhalten ihre Männlichkeit wieder herstellen.
… gab’s nicht
Alles erstunken, erlogen, unwahr oder schlicht herbeiphantasiert. Wie hätte es auch wahr sein sollen? Es hatte in der zweiten Kölner Silvesternacht keine Übergriffe im Format des vorherigen Jahres gegeben und wer da kontrolliert wurde und was gegen die Kontrollierten vorlag oder nicht, das wusste noch nicht einmal die Polizei. Aber da hatte sich der Shitstorm und der pseudowissenschaftlich gekleidete Rassismus schon ausgebreitet und der Hass normalisiert. Als dann die „Erkenntnisse“ kamen, da war kein Raum mehr für Massensolidaritätsbekundungen oder kritisch-solidarischen Selbstreflexionen. Zuerst erklärte die Kölner Polizei nach zwei Wochen, dass nur eine Minderheit der 674 kontrollierten Personen tatsächlich aus dem nordafrikanischen Raum stammte. Der Polizei war also die Wundertat, Menschen allein aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes einer Region zuzuordnen, die ungefähr so groß ist wie ganz Europa und aus zig Staaten, Ethnien, Nationen usw. besteht, nicht gelungen.
Aber erst jetzt, vermutlich bewusst nachdem genug Zeit ins Land floss, gehen die Bomben hoch. Am Donnerstag, 21. September 2017, stellte die sogenannte „Arbeitsgruppe Silvester“ auf einem Symposium mit dem wohlklingenden Namen „Silvester 2017 – Zurück schauen. Nach vorne denken“ ihre Untersuchungsergebnisse vor. Hier wurde festgestellt: Es waren kaum „Nafris“ unter den Kontrollierten, keiner von ihnen gehörte zu den Verdächtigen der Silvesternacht 2015/16, überhaupt kaum einer war vorbestraft, die Männer hatten sich nicht per Internet als Gruppen organisiert, sie waren nicht besonders aggressiv und wollten den Staat nicht vorführen, sondern schlicht spontan Silvester in Köln feiern. Eine Konsequenz daraus zog die Kölner Polizei nicht, sie versuchte sich im Gegenteil damit zu rechtfertigen, dass es Probleme mit alkoholisierten Jugendliche gegeben hätte. Aber was hat das mit der „Nafri“-Kiste und dem offensichtlich völlig unbegründeten präventiven Freiheitsentzug für 647 Menschen über Stunden hinweg zu tun?
Rassistische Phantasmagorien helfen nicht gegen Sexismus
Die gesamten Erklärungsmuster und Szenarien bezüglich der Silvesternacht 2016/17 entpuppten sich also als eine Phantasmagorie und zwar eine erzrassistische. Rassistische Hirngespinste helfen aber nicht gegen Sexismus, sondern sie fördern Autoritarismus, Hass auf die „Anderen“, die ein nationales „Wir“ bedrohen und den Ruf nach einem starken Staat. Gegen den Sexismus helfen sie nicht, denn sie lokalisieren das Problem, patriarchale Herrschaftsverhältnisse und Strukturen, außerhalb von Deutschland. Dabei zeigte doch schon die Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu Gewalt an Frauen aus dem Jahre 2004 (also von einer staatlichen, eher zögerlich forschenden Institution), dass 40 Prozent aller Frauen in Deutschland seit ihrem 16. Lebensjahr physische oder sexuelle Gewalt und 42 Prozent psychische Gewalt erlitten haben. Die Studie stellte ebenfalls fest, dass nur fünf Prozent derjenigen, die sexuelle Gewalt erlitten hatten, überhaupt je Anzeige erstattet haben. Beratungsstellen und Frauen*kollektive, die zu dem Themenfeld arbeiten, machen diese eklatante Diskrepanz zu Recht an den frauenfeindlichen und täterschützenden, patriarchalen Strukturen dieses Landes fest.
Die Polizeistatistik zum Oktoberfest in München zeigt ähnliche Zahlen: Man kann, bei aller Vorsicht in der Belastbarkeit solcher Vergleiche und Aufrechnungen, eine Dunkelziffer von 200 Vergewaltigungen pro Oktoberfest ermitteln. Das ist mehr, als für beide Kölner Silvesternächte zusammen vermutet wird. Dafür wird dieser hausgemachte, „biodeutsche“ Sexismus aber kaum so thematisiert wie der, der womöglich von Geflüchteten ausgeht. Thematisiert und bekämpft man aber nur den Sexismus der „anderen“ – den es, im Übrigen, ganz fraglos gibt und gegen den genauso gekämpft werden muss – und nicht den „eigenen“, dann kämpft man nicht wirklich gegen Patriarchat und Sexismus. Im zutiefst Verachteten, das lehrt die Psychoanalyse, zeigt sich immer der Neid desjenigen, der*die da Phantasien projektiert. Deshalb hat das, was man verachtet, immer auch Züge dessen, wovon man selbst phantasiert, aber nicht haben darf oder soll, weshalb es eben nur das Verachtete hat, das dann mit Sanktionen belegt wird. Das uralte koloniale Phantasma vom brutalen, barbarischen aber muskulösen und potenten „dunkelhäutigen Wilden“, der die (eigentlich unsere!) wunderschöne weiße Frau verführt und/oder „in Besitz nimmt“, sagt vermutlich viel mehr aus über den Triebhaushalt deutscher Männer als über den von Männern aus nordafrikanischen Regionen.
Aber vor allem nutzen diese polizeilichen Präventionsmaßnahmen nichts, sie fördern nur den Autoritarismus – und letztlich auch den Ruf nach Überwachung, Abschottung und Aufrüstung, den die Rechten mit Vorliebe vorantreiben. Die Verteidiger*innen des Polizeieinsatzes von der Silvesternacht 2016/17 müssten nur mal ihre eigene Logik weiterdenken: Um Vergewaltigungen von Frauen aufzuhalten, müsste die Polizei entsprechend dieser Logik bei jedem Oktoberfest das ganze Fest regelrecht belagern und jeden einzelnen männlichen Besucher einer präventiven Personenkontrolle inklusive Freiheitsentzuges über Stunden hinweg unterziehen. Es müsste überhaupt jeder Mann präventiv als Sexualstraftäter festgesetzt und kontrolliert werden, da diesbezüglich eben Teil des fahndungsrelevanten Klientels. Dafür bräuchte es eine Polizei mit unendlich vielen Beamt*innen sowie einer Normalisierung von tatbestandsunabhängigen Präventionsmaßnahmen. Achja, und natürlich eine staatliche Oberaufsichtsbehörde, die „Pässe“ verteilt, die den wirklich aufgeklärten Männern bestätigen, dass sie nicht zum fahndungsrelevanten Klientel gehören. Der Polizeistaat lässt grüßen.
Eine bessere Idee wären wohl starke antirassistische und antistaatliche und vor allem feministische Bewegungen, die überall den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Patriarchat führen. Die Erfolgschancen wären dann bedeutend höher. Und man könnte auch gleich noch einige andere Probleme der Gesellschaft angehen.