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Die Rückkehr des Saakaschwili

saakaschwili.jpg wikipedia

Michail Saakaschwili ist zurück. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Ausbürgerung von Saakaschwili durch seinen Amtsvorgänger Petro Poroschenko rückgängig gemacht und ihn zum „Berater für Reformen“ benannt. Der Vater des „georgischen Wirtschaftswunders“ soll nun in der Ukraine ein zweites Wunder vollbringen. Zum zigsten Mal wird angekündigt, die Korruption nun endgültig zu beenden. Saakaschwilis Parole lautet: „Mehr Konkurrenz, weniger Filz“.

Ein kapitalistischer Revolutionär

Der 52-jährige Saakaschwili schaut auf eine abwechslungsreiche politische Karriere zurück. 2003 kam er in Georgien in der Folge der so genannten „Rosenrevolution“ an die Macht. Die semi-friedlichen Proteste gegen Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen stürzten den ehemaligen sowjetischen Funktionär Eduard Schewardnadse. Saakaschwili und seine Partei „Vereinte Nationale Bewegung“ (VNB) setzten sich bei den Neuwahlen durch. Zur Überraschung aller Beobachter*innen gelang der neuen Regierung etwas Einmaliges im postsowjetischen Raum: Ausgerechnet im seit der Sowjetzeit wegen Korruption berüchtigten Georgien begann sich die Situation rasant zu ändern. Verkehrspolizist*innenen hörten auf Schmiergeld anzunehmen, Tourist*innen verloren die bis dahin sehr begründete Angst vor Straßenkriminalität, das marode Straßennetz wurde erneuert.

Saakaschwilis Rezepte waren einfach, deren Durchsetzung rabiat. Im Gegensatz zur Ukraine, wo sich eine starke Protestbewegung gegen Korruption entwickelte, fand in Georgien eine marktliberale „Revolution von oben“ statt. Der Großteil des Staatsapparates wurde gefeuert und durch im Westen ausgebildete junge Spezialist*innen ersetzt. Die neuangestellten Beamt*innen, besonderes bei der Polizei und Staatsanwaltschaft, bekamen mehr Geld als die gefeuerten Vorgänger*innen, galten jedoch als unabhängig von den lokalen Netzwerken. Das oberste Ziel der VNB war dann, das Land attraktiv für ausländisches Kapital zu machen: Noch übriggebliebenes Staatseigentum wurde privatisiert, die Steuern gesenkt und die Formalitäten bei der Unternehmensgründung maximal erleichtert. Gegen die organisierte Kriminalität, die noch zur Sowjetzeit ein Faktor der lokalen Politik bildete, wurden drakonisch vorgegangen. Die Reformer machten sich den Ehrenkodex der Oberkaste der kriminellen Welt, der „Diebe im Gesetz“ [1] zu Nutze, der es verbietet, den eigenen Status zu verleugnen. Ein Geständnis dazu zu gehören, reichte aus, um zu sieben Jahren Haft verurteilt zu werden. Ein weiter Tatnachweis musste nicht erbracht werden. In den Gefängnissen wurden die „Generäle“ der kriminellen Welt von ihren „Armeen“ strikt isoliert. Die Gefängnisrevolten gegen diese Praxis wurden mit Waffengewalt niedergeschlagen. Im Bildungsbereich vergab der Staat „Bildungsgutscheine“, die Eltern und Studierende bei den staatlichen oder privaten Bildungseinrichtungen einlösen konnten, was die Konkurrenz befeuerte. Arbeitsschutzgesetze aus der Sowjetzeit wurden abgeschafft, die Arbeitsaufsichtsbehörde aufgelöst, der Arbeitsmarkt dereguliert, gewerkschaftliche Aktivitäten eingeschränkt.

Vor dem Hintergrund des nun einsetzenden Rekordwirtschaftswachstums galt Georgien im Westen als ein Musterland der „Transformation“, ein Labor der monetaristischen Wirtschaftspolitik. Auch ein verlorener Krieg gegen Russland im August 2008 schien den Ruf Saakaschwilis nicht erschüttert zu haben. Jedoch ließ die auf die Bedürfnisse der Tourismusbranche ausgerichtete Wirtschaftspolitik nach und nach die Zustimmung der Bevölkerung im Agrarland Georgien schwinden. Dazu kamen die Arbeitslosigkeit und die überfüllten Gefängnisse, die wiederum direktes Ergebnis des Antikorruptionskampfes waren. Nachdem 2012 die VNB die Wahlen verlor, endete 2013 Saakaschwilis Amtszeit. Nochmal kandidieren durfte er laut Verfassung nicht und die neue Regierung begann, diesmal gegen ihn selbst wegen Korruption zu ermitteln. Einem Haftbefehl entzog sich der „Vater des georgischen Wirtschaftswunders“ durch die Flucht in die USA.

Neoliberale Antikorruption

2015 wurde Saakaschwili samt einem Team ausgewählter georgischer Reformer in die Ukraine eingeladen. Ein anderer „postrevolutionärer“ Präsident, Petro Poroschenko, machte ihn zum Gouverneur der Region Odessa. Der Versuch die „Revolution von oben“ zu wiederholen scheiterte diesmal schon im Ansatz. Einen Austausch der kompletten Staatsführung konnte das Provinzoberhaupt nicht bewerkstelligen und jeder Versuch, in Odessa eine „zero tolerace“-Politik umzusetzen, stieß auf den Widerstand der gut vernetzten Freund*innen der lokalen Größen aus anderen Regionen. Saakaschwili beschuldigte den Zoll, die Odessaer Staatsanwaltschaft, das Innenministerium und sogar den Geheimdienst SBU in Schmuggel und Schutzgelderpressung verwickelt zu sein. Er beschuldigte ebenso die größten Unternehmen vor Ort der Monopolbildung und beklagte die schlechten Bedingungen für ausländische Investor*innen und einheimische Kleinunternehmer*innen. Das brachte allerdings nicht nur die Eigentümer*innen, sondern auch die zahlreichen Mitarbeiter*innen der von der Korruption profitierenden Unternehmen gegen den georgischen „Polittouristen“ auf. Die Prinzipien der „fairen Marktkonkurrenz“ schienen nicht für alle an oberster Stelle zu stehen. Als sich Saakaschwili dann auch noch mit dem Innenminister Arsen Awakow, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj und schließlich auch mit dem Präsidenten Poroschenko verscherzte, wurde er im November 2016 nicht nur des Amtes enthoben, sondern erneut genau mit denselben Korruptionsvorwürfen konfrontiert, mit denen er seinerseits nie geizte. Er soll laut Anklage sogar insgeheim mit seinem Erzfeind Putin im Bunde gewesen sein.

Zurück auf die Barrikaden

Aber der von der Auslieferung nach Georgien bedrohte Saakaschwili wollte nicht aufgeben. Jetzt versuchte er es mit der Bewegung von unten. Er ging zu den protestierenden Arbeiter*innen vor dem Kiewer Parlament und kündigte eine neue „Antielitenrevolution“ an. Weitere Verzögerung der radikalen Marktreformen seien fatal für die Ukraine und schadeten dem Kampf gegen Moskau, so seine Botschaft. An die enttäuschten Hoffnungen des Maidan-Aufstands appellierend gründete er seine eigene Partei, die „Bewegung der neuen Kräfte“ (RNS). Seine Anhänger*innen lieferten sich Schlachten mit der Polizei und schützten den Expräsidenten und Exgouverneur bis zuletzt vor Festnahme und Abschiebung. Nachdem im Februar 2018 der nun offiziell staatenlose Saakaschwili dennoch nach Polen abgeschoben wurde, versuchte er weiterhin Einfluss auf die ukrainische Politik zu nehmen. Erst unterstützte er die Präsidentschaftskandidatur der Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko, die selber immer wieder im Mittelpunkt von Korruptionsskandalen stand. Danach rief er seine Anhänger dazu auf, die Partei des neuen Präsidenten Selenskyj zu wählen. Scheinbar hat dieser Move ihm das Comeback in die ukrainische Politik ermöglicht. Allerdings gilt der politische Neuling Selenskyj als mit dem Oligarchen Kolomojskyj eng affiliiert. Neue Konflikte dürften also nicht lange auf sich warten lassen.

Die ersten Schritte

Seit dem 7. Mai dieses Jahres ist Saakaschwili der Vorsitzende des „Nationalen Rates für Reformen“, eines Gremiums, das bisher lediglich beratende Funktionen hat. Eine parlamentarische Mehrheit für ihn als Vize-Regierungschef war mit Selenskyjs Partei Sluha narodu“ („Diener des Volkes“), die das Parlament dominiert, nicht zu haben. Saakaschwilis „Bewegung der neuen Kräfte“ (RNS) bekam bei der letzten Parlamentswahl von 2019 lediglich 0,46 Prozent der Stimmen. Aus den Drohungen mit einem neuen Maidan-Aufstand ist nichts geworden und Saakaschwili agiert wieder als „Revolutionär von oben“, allerdings ohne die Vollmachten, die er in Georgien hatte.

Seine Vorschläge sind für die Kenner*innen des „georgischen Wirtschaftswunder“ nicht neu. Allerlei Behörden seien aktuell nur Apparate zur Gelderpressung, so Saakaschwili. In dem Punkt kann keine Kenner*in der Ukraine ihm groß widersprechen. Also, so der Reformator, soll das Personal ausgetauscht und die Behörden zu reinen Servicezentren umgewandelt werden. Der Staat soll es als seine oberste Aufgabe sehen, die unternehmerische Tätigkeit seiner und ausländischer Bürger*innen zu erleichtern.

Gleichzeitig ruft Saakaschwili zum Überdenken des Sicherheitskonzepts auf. Als überzeugter Befürworter des NATO-Beitritts plädiert er für die Entlassung von Militärs, die der Korruption verdächtigt werden, und die Unterstellung der Armee unter diejenigen Kommandeure, die sich bei den Kämpfen im Osten des Landes seit 2014 bewährt haben. Besonderes Anliegen ist ihm die Reform der Polizei nach georgischem Vorbild. Dabei steht ihm aber Arsen Awakow, der das Amt des Innenministers seit 2014 bekleidet, im Weg. Saakaschwili möchte ihn durch seine georgische Mitstreiterin Chatia Dekanoidse ersetzen. Schließlich soll den Bürger*innen das Tragen von Waffen erlaubt sein. Anknüpfend an die bereits im Frühling von Selenskyj umgesetzte Agrarreform, die das Moratorium für den Verkauf von Grund und Boden aufhob, möchte Saakaschwili die Exportzölle für Düngemittel senken, einerseits um den Farmern zu helfen und andererseits um die Oligarchen, die die einheimische Düngemittelindustrie kontrollieren, zu schwächen, so die offizielle Begründung.

Proteste für „good governance“?

Die Empörung über die Korruption in der Ukraine, wie auch in vielen anderen osteuropäischen Staaten eint verschiedene gesellschaftliche Kräfte. Sie basiert aber meist auf der Gegenüberstellung und Perspektive auf eine „richtig funktionierende Marktwirtschaft“, in der die Konkurrenz mit wirtschaftlichen Mitteln stattfindet und vom Staat als neutraler Gewalt beaufsichtigt wird. Wenn aber in solchen Staaten wie der Ukraine die kapitalistische Reichtumsvermehrung nicht gut funktioniert und ohne Anzapfen der staatlichen Ressourcen (Subventionen, Aufträge, Nutzung des Gewaltapparates gegen die Konkurrenz) keine große Geschäfte abgewickelt werden, ist Korruption eben keine Ausnahme, sondern Regel des wirtschaftlichen Lebens. Die Antikorruptionsproteste halten aber Korruption für die Ursache der Probleme des Kapitalismus in ihren jeweiligen Ländern, nicht umgekehrt den peripheren Kapitalismus als Ursache des Verwachsens von Staats- und Geschäftsinteressen. Die Maßstäbe für eine „richtig funktionierende Marktwirtschaft“ werden aus den erfolgreichen kapitalistischen Ländern entlehnt und auf die Ukraine angewendet in der Hoffnung, dass das Land bald auch so funktionieren werde. Das führt dann oft zu größeren sozialen Auseinandersetzungen. Die Oligarchen mobilisieren nicht nur Medien und Politiker*innen, sondern auch ihre Arbeitnehmer*innen gegen alle Versuche, ihr inniges Verhältnis zum Staat zu stören.

Diejenigen, die bereit sind empört auf die Straße zu gehen, übersetzen ihre soziale und gesellschaftliche Probleme in den Vorwurf, es läge ein Versagen ihrer Regierung vor. Ihre bisherigen staatlichen Machthaber*innen scheiterten an ihren eigentlichen gemeinwohldienlichen Auftrag, so der Tenor. Sei es aus niederen Motiven der privaten Bereicherung, aus mangelnder Integrität oder aus fehlendem Behauptungswillen gegenüber ausländischen Interessen, die Politiker seien ihrem Volk den Dienst guten Regierens schuldig. Derzeit wird gegen Korruption im Namen des „richtigen“ Kapitalismus gekämpft. Der Bruch mit dieser Logik wäre eine Herausforderung für die geschwächten linken Kräfte.


Anmerkung:

[1] „Diebe im Gesetz“ ist die Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Kriminellen, die sich in postsowjetischen Ländern gebildet haben. Diese zeichnen sich durch eigene Verhaltenscodices, dem „Diebesgesetz“, aus, um sich gegen andere Kriminelle abzugrenzen. Anm. d. Red.

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